Bahai Briefe/Heft 6/Text

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[Seite 127] BAHÁ'I-

BRIEFE


BLÄTTER FÜR

WELTRELIGION UND

WELTBEWUSSTSEIN



AUS DEM INHALT:


Das Geheimnis göttlicher Kultur

Geht die Menschheit ins Ungewisse?

Bahá’í - Sommerschulen 1961

Der Tempelbau im Taunus


OKTOBER 1961 HEFT 6

Postverlagsort Frankfurt/Main


[Seite 128] [Seite 129]



Dies ist der Tag,
da das Menschengeschlecht
das Angesicht des Verheißenen schauen
und Seine Stimme vernehmen wird.
Gott hat Seinen Ruf erhoben,
und das Licht Seines Antlitzes
ist über den Menschen aufgegangen.
Es ziemt einem jeden,
die Spuren aller eitlen Worte
von der Tafel seines Herzens zu löschen
und mit offenen, unvoreingenommenen Sinnen
auf die Merkmale Seiner Offenbarung,
die Beweise Seiner Sendung
und die Zeichen Seines Glanzes
zu schauen.
Bahá’u’lláh

(Ährenlese VII)


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‘Abdu‘l-Bahá:

Das Geheimnis göttlicher Kultur (III)[Bearbeiten]

Eroberer und wahre Herrscher

Wenn die Kriegsvorbereitungen im heutigen Umfang fortgeführt werden, erreichen die Rüstungen eines Tages einen Stand, auf dem sie der Menschheit unerträglich werden. Wie aus den bisherigen Ausführungen hervorgeht, bestehen Ruhm und Größe des Menschen nicht darin, daß er nach Blut dürstet und wie ein Tiger scharfe Klauen besitzt, daß er Städte zerstört und Verwüstung anrichtet, ganze Armeen und Scharen friedlicher Bürger abschlachtet. Dagegen würde es eine glänzende Zukunft für ihn bedeuten, wenn er für seine Gerechtigkeitsliebe bekannt wäre, allem Volk, ob hoch oder niedrig, Güte bezeigte, Länder und Städte, Dörfer und Provinzen aufbaute, das Leben erleichterte und für seine Mitmenschen glücklich und friedvoll gestaltete, wenn er die Grundsätze des Fortschritts niederlegte, den Lebensstandard und Wohlstand der ganzen Bevölkerung erhöhte.

Sehet, wie in der Geschichte so mancher König seinen Thron auf Eroberungen gründete. Unter ihnen waren Dschingis Khan und Tamerlan, die sich den weiten Erdteil Asien unterwarfen, Alexander von Mazedonien und Napoleon I., die ihre anmaßenden Hände über drei der fünf Kontinente ausstreckten. Und was brachten alle ihre machtvollen Siege ein? Kam dadurch irgendein Land zur Blüte? Wurde Glück hervorgerufen? Blieb einer ihrer Throne bestehen? Oder haben nicht vielmehr ihre Dynastien bald wieder die Macht verloren? Abgesehen davon, daß Asien in den Flammen zahlloser Schlachten aufging und in Asche fiel, brachten seine Eroberungen Dschingis Khan, dem Kriegsherrn, nichts ein. Tamerlan erntete von all seinen Triumphen nur die Gewalt über Völker, die in alle Winde zerstoben waren, und allgemeines Elend. Alexander hatte von seinen gewaltigen Siegen nichts, als daß sein Sohn vom Throne stürzte und die Diadochen die Herrschaft über die Länder, die er regierte, an sich rissen. Und was erreichte Napoleon I. aus der Unterwerfung der Könige Europas anderes als die Zerstörung blühender Länder, den Niedergang ihrer Bewohner, die Verbreitung von Not und Schrecken über ganz Europa und, am Ende seiner Tage, seine eigene Gefangenschaft? Soviel über die Eroberer und die Denkmäler, die sie sich setzten.

Vergleichet damit die ruhmreichen Tugenden und die vornehme Größe Anûshirváns des Edlen und Gerechten1). Als dieser hochgesinnte Herrscher an die Macht kam, war der einstmals festgegründete Thron Persiens dem Zusammenbruch nahe. Mit göttlich begabtem Urteilsvermögen legte er die Grundlagen der Gerechtigkeit, rottete Unterdrückung und Gewalt aus und sammelte das Volk Persiens unter den schützenden Schwingen seiner Herrschaft. Dank dem erneuernden Einfluß seiner ständigen Bemühungen wurde Persien, das trostlos und verdorrt am Boden lag, neu belebt und erholte sich rasch. Er baute die zerschlagenen Kräfte [Seite 131] seines Staates wieder auf und stärkte sie neu. Der Ruf seiner Redlichkeit und Gerechtigkeit erscholl über die ganze Welt, bis sich die Völker aus ihrer Erniedrigung und ihrem Elend zu den Höhen des Ruhmes und des Glücks erhoben. Obwohl er ein Magier war, sagte Muhammad von ihm: „Ich wurde zur Zeit eines gerechten Königs geboren“, und Er frohlockte, daß Er während seiner Herrschaft auf diese Welt gekommen war. Hat nun diese erlauchte Persönlichkeit ihre erhabene Stufe durch bewundernswürdige Eigenschaften erlangt oder etwa dadurch, daß sie dazu ausholte, die Erde zu erobern und das Blut ihrer Völker zu vergießen? Bedenket, er erwarb sich einen so hohen Rang im Herzen der Welt, daß seine Größe durch die Unbeständigkeit der Zeiten bis auf unsere Tage dringt und er ewiges Leben erwarb.

Keine Macht der Erde kommt gegen die Armeen der Gerechtigkeit an, und jede Feste muß vor ihnen fallen; denn die Menschen beugen sich willig unter den siegreichen Schlägen dieser entscheidenden Waffe, und zerfallene Städte blühen wieder auf unter den Füßen dieser Schar. Zwei mächtige Banner sind es, deren Schatten, wenn er auf die Krone eines Königs fällt, bewirkt, daß der Einfluß seines Regiments rasch und leicht wie das Licht der Sonne die ganze Erde umfängt. Das erste ist das Banner der Weisheit, das zweite dasjenige der Gerechtigkeit. Gegen diese beiden mächtigsten Streitkräfte können selbst Berge von Eisen nichts ausrichten, und die Mauer Alexanders bricht vor ihnen in Stücke. Das Leben in dieser vergänglichen Welt ist so flüchtig und unbeständig wie der Morgenwind. Wie glückhaft ist es deshalb um jene Herrscher bestellt, die einen guten Namen und die Erinnerung an ein Lebenswerk hinterlassen, das auf dem Pfade des Wohlgefallens Gottes verbracht wurde.

„Ob unter Thrones Baldachin
ob unter freiem Himmelszelt —
was kümmert’s, wo ein reines Herz
zur letzten Ruh’ sich niederlegt.“
(Sa’adi, „Gulistan“, über die Lebensführung der Könige)

Ein Feldzug kann eine lobenswerte Tat sein, und es gibt Zeiten, zu denen der Krieg die mächtige Grundlage des Friedens, der Untergang das Mittel zum Wiederaufbau werden. Wenn zum Beispiel ein hochgesinnter Herrscher seine Truppen ins Feld führt, um das Vordringen eines Aufrührers oder eines Angreifers von außen abzuwenden, wenn er sich mit Heeresmacht anschickt, ein entzweites Staatsvolk zu einigen, kurz, wenn er eine gerechte Sache verficht, dann ist dieser scheinbare Grimm Gnade, diese äußerliche Gewaltanwendung wirkliche Gerechtigkeit und ein Feldzug der Grundstein des Friedens. Heute ist jedoch die Aufgabe, die einem großen Herrscher zukommt, die Errichtung des Weltfriedens, denn darin liegt die Freiheit aller Völker beschlossen.


Religion - Grundlage der Kultur

Der vierte Abschnitt der früher wiedergegebenen Äußerung 2) über den Weg des Heils lautet: „... die Gebote seines Herrn befolgen.“ Ohne Zweifel besteht des Menschen höchste Würde darin, daß er Gott gegenüber [Seite 132] demütig und gehorsam ist, und seine größte Ehre und Herrlichkeit, seine erhabenste Stufe ist bedingt durch die genaue Befolgung der göttlichen Gebote und Verbote. Die Religion ist das Licht der Welt; Fortschritt, Erfolg und Glück des Menschen sind das Ergebnis seines Gehorsams gegenüber den Gesetzen, die in den heiligen Büchern niedergelegt sind. Kurz, es läßt sich nachweisen, daß in diesem Leben — sowohl nach äußerlichen, als auch nach geistigen Gesichtspunkten betrachtet — die Religion das mächtigste Bollwerk, der sicherste, dauerhafteste und beständigste Schutz für die ganze Welt ist. Sie ist die Gewähr für die geistigen wie die materiellen Vollkommenheiten der Menschheit und beschirmt das Glück und die Kultur der Gemeinschaft.

Es gibt tatsächlich Toren, die die Grundwahrheiten der göttlichen Religionen niemals richtig prüften, vielmehr das Verhalten einiger weniger Heuchler zum Maßstab nahmen und alle gläubigen Menschen mit diesem Zollstock maßen. So kamen sie zu der Auffassung, die Religionen seien ein Hindernis für den Fortschritt, eine Ursache der Teilung, der Böswilligkeit und der Feindschaft zwischen den Menschen. Sie haben nicht einmal bemerkt, daß die Grundsätze der göttlichen Religionen nicht nach den Taten derjenigen gewertet werden können, die nur vorgeben, sie zu befolgen. Auch der erhabenste Gedankenbau, so unvergleichlich er sein mag, kann zu bösen Zwecken mißbraucht werden. Eine brennende Lampe in der Hand eines unwissenden Kindes oder eines Blinden wird nicht das Dunkel zerstreuen und das Haus erhellen, sondern den Träger wie das Haus in Flammen setzen. Können wir da der Lampe die Schuld geben? Nein, bei Gott dem Herrn! Dem Sehenden ist die Lampe eine Führung und zeigt ihm den Weg, aber dem Blinden bringt sie Verderben.


Lästerer gegen Gottes Geist

Unter denen, die den religiösen Glauben verleugneten, befand sich der Franzose Voltaire, der eine große Anzahl Bücher schrieb, in denen er die Religionen angriff — Machwerke, die nicht mehr taugen als Kindertand. Dieser Mensch nahm die Taten und Unterlassungen des Papstes, des Oberhaupts der römisch-katholischen Kirche, und die Streitigkeiten der geistlichen Führer der Christenheit zu seinem Maßstab, tat den Mund weit auf und lästerte gegen den Geist Gottes (Jesus). In seinen verschrobenen Gedankengängen verfehlte er den wahren Sinn der heiligen Schriften; er stieß sich an gewissen Stellen in den geoffenbarten Texten und hielt sich bei den Versen auf, die ihm darin unverständlich waren. „Wir haben vom Qur’án das herniedergesandt, was den Gläubigen Heilung und Gnade bringt; den Frevlern aber wird es das Verderben nur noch vermehren.“ (Qur’án 17:84).

„Der Greis von Ghazna3) sprach in einem Gleichnis,
als er das göttliche Geheimnis pries:
Die Zweifler sehen nichts in dem Qur’án
als eitel Worte; doch wen wundert das?
Von all dem Feuer, das die Sonne schenkt,
erreicht die Wärme nur des Blinden Auge.“
(Rûmí, Mathnavi III 4229—4231)

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„Viele wird Er durch solche Gleichnisse irreleiten, viele den rechten Weg führen; aber nur die Frevler wird Er irreleiten.“ (Qur’án 2:24).

Fürwahr, das stärkste der Mittel, die den Ruhm und den Fortschritt des Menschen bewirken, die höchste Wirkkraft für die Aufklärung und Erlösung der Welt sind Liebe, Kameradschaft und Einigkeit zwischen allen Gliedern der menschlichen Rasse. Nichts in der Welt ist durchführbar, ja nicht einmal denkbar, ohne Einheit und Einklang, und das vollkommene Mittel, Kameradschaft und Einheit zu bewirken, ist wahre Religion. „Hättest Du auch alle Schätze der Erde verschwendet, Du hättest ihre Herzen doch nicht vereinigen können; aber Gott hat sie vereinigt ...“ (Qur’án 8:64).

Jedesmal, wenn die Offenbarer Gottes auftreten, führt ihre Macht, wahre Einheit des Herzens wie auch der äußerlichen Lebensgestaltung zu schaffen, feindselige Völker, die einander nach dem Leben trachteten, unter dem Schutz des Wortes Gottes zusammen. Dann werden hunderttausend Herzen zu einem Herzen verschmolzen, und aus zahllosen Einzelwesen entsteht ein Gemeinschaftskörper.

Wir wollen uns hier mit einigen kurzen geschichtlichen Beispielen begnügen, um zwingend klarzustellen, ob die Religion die eigentliche Grundlage und der Ausgangspunkt der Kultur und der Zivilisation ist oder ob sie, wie Voltaire und seinesgleichen annehmen, allen sozialen Fortschritt, Wohlstand und Frieden vereitelt.

Um Einwänden von seiten irgendeines Volkes der Erde ein für alle Male entgegenzutreten, werden wir unsere Erörterung auf jene bestätigten Chroniken stützen, in denen sich alle Nationen einig sind.


Die Kultur der Israeliten

Als die Israeliten in Ägypten an Zahl so gewachsen waren, daß sie sich über das ganze Land verbreitet hatten, beschlossen die koptischen Pharaonen Ägyptens, ihre koptischen Untertanen zu unterstützen und zu begünstigen, die Kinder Israels hingegen, die sie als fremde Eindringlinge betrachteten, zu erniedrigen und zu entehren. Lange Zeit wurden die Juden, weit verstreut und zersplittert wie sie waren, zu Gefangenen in der Hand der tyrannischen Kopten; von allen wurden sie verlacht und verachtet, und der Geringste der Kopten konnte die vornehmsten Israeliten ungestraft knechten und verfolgen. Das Elend und die hilflose Knechtschaft der Hebräer gingen so weit, daß sie Tag und Nacht ihres Lebens nicht mehr sicher waren und nicht wußten, wie sie ihre Frauen und Kinder vor dem gewalttätigen Zugriff ihrer pharaonischen Zwingherren schützen sollten. Die Splitter ihrer gebrochenen Herzen waren ihre tägliche Speise und ein Strom von Tränen ihr Trank.

In dieser Qual vegetierten sie dahin, bis plötzlich Moses, der Allherrliche, das Licht des Göttlichen aus dem gesegneten Tal, aus der Stätte der Heiligkeit strömen sah und die lebenspendende Stimme Gottes vernahm, wie sie aus der Flamme des Busches sprach, der „weder im Osten noch im Westen“ (Qur’án 24:35) ist. Und Er erhob Sich in der vollen Rüstung Seines Offenbarertums. Wie eine Leuchte göttlicher Führung [Seite 134] erstrahlte Er inmitten der Israeliten, und durch das Licht des Heils geleitete Er jenes verlorene Volk aus den Schatten der Unwissenheit zu Erkenntnis und Vollkommenheit. Er sammelte die zerstreuten Stämme Israels unter dem Schutz des einenden, alles umfassenden Wortes Gottes, und auf den Höhen der Vereinigung pflanzte Er das Banner der Eintracht auf. Auf diese Weise erlangten jene unwissenden Menschen in kürzester Zeit geistige Erziehung; sie, denen die Wahrheit bislang fremd war, fanden sich im Glauben an die Einheit Gottes zusammen, und ledig ihres Elends, ihrer Armut, ihres Unverstands und ihrer Knechtschaft erreichten sie den höchsten Gerad von Ehre und Glück. Sie zogen aus Ägypten fort, machten sich auf nach ihrer ursprünglichen Heimat und kamen nach Kanaan und Philisterland. Zunächst eroberten sie die Ufer des Jordan und Jericho, dann siedelten sie sich in diesem Gebiet an, und schließlich gerieten alle Nachbarländer wie Phönizien, Edom und Ammon unter ihren Einfluß. In der Zeit Josuas waren einunddreißig Staatsgebiete in der Hand der Israeliten, und in jeder edlen menschlichen Eigenschaft — Gelehrsamkeit, Standhaftigkeit, Entschlossenheit, Mut, Ehrenhaftigkeit, Freigiebigkeit — stellte dieses Volk alle anderen auf der Erde in den Schatten. Wenn in jenen Tagen ein Israelite unter andere Menschen kam, tat er sich sofort durch seine vielen Tugenden hervor, und Angehörige anderer Völker, die jemanden loben wollten, sagten, er sei wie ein Jude.

In zahlreichen Geschichtswerken wird darüber hinaus berichtet, daß die Philosophen Griechenlands wie etwa Pythagoras den größten Teil ihrer Weltanschauung — im Sinne der Gottesgelehrsamkeit wie des Naturverständnisses — von den Schülern Salomons erwarben. Und Sokrates, der unermüdlich gereist war, um den berühmtesten Gelehrten und Priestern Israels zu begegnen, führte nach seiner Rückkehr in Griechenland die Grundbegriffe der Einheit Gottes und des ewigen Fortlebens der Menschenseele nach dem stofflichen Tode ein. Schließlich wurde dieser Mann, der die tiefsten Geheimnisse der Weisheit ausgelotet hatte, öffentlich angeklagt von den Unwissenden unter den Griechen, die sich anschickten, ihm das Leben zu nehmen; der Pöbel nötigte den Herrscher, gegen Sokrates vorzugehen, und die Ratsversammlung verurteilte diesen dazu, den Giftbecher zu leeren.

Nachdem die Israeliten auf jedem Gebiet des Kulturlebens vorangeschritten waren und die denkbar größten Erfolge erzielt hatten, fingen sie allmählich an, die Grundgedanken des mosaischen Gesetzes und Glaubens außer acht zu lassen, sich mit Riten und Zeremonien abzugeben und ein ungebührliches Betragen an den Tag zu legen. In den Tagen von Rehabeam, dem Sohn Salomons, brach verheerende Zwietracht zwischen ihnen aus. Einer unter ihnen, Jerobeam mit Namen, schmiedete Ränke, um den Thron an sich zu reißen, und er war es auch, der den Götzendienst einführte. Der Streit zwischen Rehabeam und Jerobeam mündete in jahrhundertelangen Fehden zwischen ihren Nachkommen aus, mit dem Erfolg, daß die Stämme Israels zerstreut und auseinandergerissen wurden.

Kurz, weil sie die Bedeutung des Gesetzes Gottes vergaßen, verfielen sie in einen unwissenden Fanatismus und kamen auf so verwerfliche Taten wie Empörung und Aufruhr. Ihre Geistlichen vermeinten, daß alle [Seite 135] Wesenszüge des Menschentums, die im Heiligen Buche dargetan sind, nur noch tote Buchstaben seien; sie trachteten lediglich, ihre eigenen selbstsüchtigen Belange zu verfolgen und peinigten das Volk, indem sie es in die tiefsten Tiefen der Achtlosigkeit und Unwissenheit sinken ließen. Die Frucht all ihrer Untaten war, daß sich die Herrlichkeit der alten Zeiten, die so lange angedauert hatte, in Erniedrigung verwandelte und sie nacheinander von den Herrschern Persiens, Griechenlands und Roms übermannt wurden. Die Standarten ihrer Selbstbestimmung wurden umgestoßen, und die Unwissenheit, Torheit, Würdelosigkeit und Eigenliebe ihrer religiösen Führer kam durch das Auftreten Nebukadnezars, des Königs von Babylon, ans Licht, bevor dieser sie vernichtete. Nachdem er alles niedergemetzelt, ihre Häuser geplündert und zerstört und sogar ihre Bäume ausgerissen hatte, nahm Nebukadnezar die Reste gefangen, die sein Schwert geschont hatte, und führte sie nach Babylon.


Das Schwert Gottes

Siebzig Jahre später wurden die Nachkommen dieser Gefangenen freigelassen; sie kehrten zurück nach Jerusalem. Hesekiel und Esra richteten in ihrer Mitte die Grundsätze der Heiligen Schrift wieder auf; Tag für Tag machten die Israeliten Fortschritte, und der Morgenglanz der alten Zeit dämmerte wieder herauf. Nach kurzer Zeit jedoch kam es wieder zu Meinungsverschiedenheiten über Glaubenssätze und Lebensführung, und wieder hatten die jüdischen Gelehrten nur die eine Sorge, ihre eigenen selbstsüchtigen Ziele zu verfolgen. Die Reformen, welche die Zeit Esras bestimmten, verwandelten sich in Irrglauben und Entartung. Die Lage verschlimmerte sich so sehr, daß mehrere Male die Heere der römischen Republik das Land Israels erobern konnten. Schließlich zertrat der kriegsgewaltige Titus als Befehlshaber der römischen Streitmacht die Heimat der Juden zu Staub. Die Männer ließ er alle über die Klinge springen, Frauen und Kinder führte er als Gefangene fort; ihre Häuser ließ er dem Erdboden gleichmachen, ihre Bäume ausreißen, ihre Bücher verbrennen und ihre Schätze plündern. Jerusalem und der Tempel wurden in einen Aschenhaufen verwandelt.

Nach diesem überwältigenden Unheil versank der Stern des Reiches Israel ins Nichts, und bis auf den heutigen Tag blieben die Überreste dieses verschollenen Volkes in alle vier Winde zerstreut. „Erniedrigung und Elend drückten auf sie nieder.“ (Qur’án 2:58). Auf diese beiden vernichtenden Heimsuchungen, die Nebukadnezar und Titus brachten, bezieht sich der ruhmreiche Qur’án, wenn gesagt ist: „Und feierlich erklärten Wir den Kindern Israels in dem Buche: ‚Zweimal, wahrlich, sollt ihr Unheil stiften auf Erden, und mit großem Stolz und Hochmut werdet ihr euch erheben.‘ Und als die verheißene Drohung zum erstenmal erfüllt werden sollte, sandten Wir Unsere Diener gegen euch aus: Leute von gewaltiger Macht. Und sie durchsuchten das Innerste eurer Wohnstätten, und erfüllt ward die Drohung ... Als nun die Strafe für eure späteren Sünden vollzogen werden sollte, sandten Wir euch einen Feind, eure Gesichter traurig zu stimmen und in euren Tempel einzudringen wie [Seite 136] schon früher, und zu zerstören und zu vernichten, was er eroberte.“ (Qur’án 17:4 ff.).

Unser Ziel ist zu zeigen, wie wahre Religion Kultur und Würde, Wohlstand und Ansehen, Bildung und Fortschritt eines vormals elenden, unwissenden und versklavten Volkes fördert, und wie der Gottesglauben, wenn er törichten, fanatischen religiösen Führern in die Hände gerät, auf schlimme Art mißbraucht wird, bis sich sein herrlicher Glanz in schwarzes Dunkel verwandelt.


Jesus, der Geist Gottes

Zum zweitenmal hatten sich die unmißverständlichen Zeichen für Israels Zerfall, Erniedrigung, Unterjochung und Vernichtung offenbart. Da erfüllte der heilige Hauch des Geistes Gottes (Jesus) lieblich das Tal des Jordans und das Land Galiläa; die Wolken göttlichen Erbarmens überspannten jene Himmelsstriche und ergossen die Wasser des Geistes über sie. Und nach diesem Regen aus der Fülle des Größten Meeres erblühte und duftete das Heilige Land in der Erkenntnis Gottes. Die Hymnen des Evangeliums erklangen und stiegen auf bis zu den Bewohnern der Himmelsgemächer, und beim Hauch des Odems Jesu erhoben die achtlosen Toten das Haupt aus den Gräbern ihrer Unwissenheit, um ewiges Leben zu empfangen. Drei Jahre lang wandelte diese Leuchte der Vollkommenheiten über die Felder Palästinas vor den Toren Jerusalems, führte alle Menschen in das Morgenlicht der Erlösung und lehrte sie, geistige Eigenschaften und gottgefällige Tugenden zu erwerben. Hätte das Volk Israels an diese herrliche Gestalt geglaubt, so hätte es sich aufgemacht, Ihm mit Leib und Seele zu dienen, und durch den belebenden Hauch Seines Geistes hätte dieses Volk seine alte Schwungkraft wieder erreicht und neue Siege errungen.

Aber ach! Was half dies alles? Sie wandten sich ab und widersetzten sich Ihm. Sie erhoben sich nur, um Ihn zu quälen, Ihn, Der die Quelle göttlicher Erkenntnis, der Dämmerort der Offenbarung war. Alle machten es so außer einer Handvoll Gläubiger, die ihr Antlitz Gott zuwandten, vom Makel dieser Welt gereinigt wurden und den Weg zu den Höhen des unsichtbaren Königreiches fanden. Jede nur denkbare Pein fügte man jenem Brunnquell der Gnade zu, bis es Ihm unmöglich wurde, in den Städten zu weilen, aber dennoch hielt Er das Banner des Heils empor und schuf feste Grundlagen für die menschliche Ehrenhaftigkeit, die der Baugrund wahrer Kultur ist.

Im fünften Kapitel Matthäi, Vers 39, rät Er: „Ihr sollt dem Bösen und dem Unrecht nicht mit gleichen Mitteln entgegentreten; sondern wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, so halte ihm auch die andere hin.“ Und weiterhin, im 43. Vers: „Ihr habt gehört, daß gesagt ist: ‚Lieben sollst du deinen Nächsten, und deinen Feind sollst du nicht mit Feindschaft quälen 4)).‘ Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde, tut wohl denen, die euch hassen, und betet für jene, die euch beleidigen und verfolgen, auf daß ihr die Kinder eures Vaters im Himmel seid; denn Er läßt Seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und sendet den Regen Seiner Gnade hernieder auf Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr die liebet, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr da? Tun das nicht auch die Zöllner?“ [Seite 137]

Zahllos waren die Ratschläge dieser Art, die jener Morgenglanz göttlicher Weisheit brachte, und Menschen, die sich durch solche Eigenschaften der Heiligkeit auszeichnen, sind die Quintessenz der Schöpfung und die Quellen wahrer Kultur.


Leitbild des Lebens

Jesus errichtete sodann das heilige Gesetz auf der Grundlage sittlicher Charakterstärke und völliger Durchgeistigung, und für jene, die an Ihn glaubten, entwarf Er ein Leitbild der Lebensführung, das den höchsten Verhaltensmaßstab auf Erden darstellt. Und obwohl jene Wahrzeichen der Erlösung äußerlich der böswilligen Verfolgung ihrer Peiniger ausgeliefert schienen, waren sie in Wirklichkeit von dem hoffnungslosen Dunkel befreit, das die Juden verschlungen hatte, und sie erstrahlten in immerwährender Herrlichkeit am Morgen dieses neuen Tages.

Das mächtige Volk der Juden stürzte und verfiel, aber jene wenigen Seelen, die unter dem Baum der messianischen Sendung Schutz suchten, gestalteten alles menschliche Leben neu. Alle Völker der Welt waren damals äußerst unwissend, fanatisch und götzendienerisch. Nur eine Handvoll Juden bekannte sich zum Glauben an die Einheit Gottes, und sie waren armselige Ausgestoßene. Jene heiligen Seelen der Christenheit erhoben sich nun, um eine Sache zu verkünden, die den Anschauungen der gesamten Menschenrasse völlig entgegengesetzt und zuwider war. Die Herrscher in vieren der fünf Erdteile faßten den unerbittlichen Entschluß, die Anhänger Christi zu vernichten; und dennoch schickten sich schließlich die meisten von ihnen an, den Glauben Gottes mit ganzem Herzen zu verbreiten. Alle Nationen Europas, zahlreiche Völker Asiens und Afrikas und sogar einige Einwohner der pazifischen Inseln wurden unter dem Schutz der Einheit Gottes versammelt.

Überlege, ob es in der Schöpfung ein Prinzip gibt, das in irgendeiner Hinsicht machtvoller ist als die Religion, ob eine Kraft gedacht werden kann, die durchdringender ist als die zahlreichen göttlichen Offenbarungen, ob ein Mittel irgendwelcher Art wahre Liebe, Kameradschaft und Einheit zwischen allen Völkern hervorbringt, wie es der Glaube an einen allmächtigen und allwissenden Gott vermag, oder ob es außer den Gesetzen Gottes Anzeichen einer Wirkkraft für die Erziehung der ganzen Menschheit auf jeder Stufe redlicher Lebensführung gibt.

Eigenschaften, die die Philosophen erlangten, wenn sie den Höhepunkt ihrer Weisheit erklommen hatten, edle menschliche Attribute, wie sie jene Philosophen auf dem Gipfel ihrer Vollkommenheit auszeichneten, werden von den Gläubigen verwirklicht, sobald sie den Glauben angenommen haben. Bedenke, wie jene Seelen, die die lebenspendenden Wasser der Erlösung aus den huldvollen Händen Jesu, des Geistes Gottes, entgegennahmen und unter den schützenden Schatten des Evangeliums traten, eine solch hohe Ebene sittlicher Lebensführung erreichten, daß Galen, der berühmte Arzt, in seinem Abriß über Platos Republik ihre Taten pries, obwohl er selbst kein Christ war. Die wörtliche Übersetzung lautet wie folgt: „Die Masse der Menschheit ist nicht fähig, eine Folge logischer Argumente aufzunehmen. Deshalb bedarf es der Symbole und [Seite 138] Gleichnisse, die von Belohnung und Bestrafung in der nächsten Welt sprechen. Der Beweis für diese Anschauung ist, daß es heute Leute gibt, die ‚Christen‘ genannt werden, und bei denen der Glaube an Lohn und Strafe in einem künftigen Leben tief verwurzelt ist. Diese Gruppe weist ein hervorragendes Betragen auf, ähnlich demjenigen eines Menschen, der ein wahrer Philosoph ist. So sehen wir alle mit unseren eigenen Augen, daß sie keine Furcht vor dem Tode haben, und ihre leidenschaftliche Liebe zu Gerechtigkeit und Ehrlichkeit ist so groß, daß man sie als wahre Philosophen ansehen sollte.“5)

Zu jener Zeit und in den Augen Galens war der Rang eines Philosophen allen anderen gesellschaftlichen Stufen der Welt übergeordnet. Überlege daher, wie die aufklärende und vergeistigende Kraft der göttlichen Religionen die Gläubigen zu solchen Höhen der Vollkommenheit emporführt, daß ein Philosoph wie Galen, der selbst kein Christ ist, ein derartiges Zeugnis ablegt.

Ein Beweis des hervorragenden Charakters der Christen waren auch ihre Hingabe an gute Werke der Nächstenliebe und die Tatsache, daß sie Hospitäler und andere den Menschen dienende Einrichtungen schufen. So war der erste, der im ganzen römischen Reich öffentliche Krankenhäuser für die ärztliche Pflege der Armen, der Verwundeten und der Hilfsbedürftigen einrichtete, Kaiser Konstantin. Dieser große König war der erste römische Herrscher, der für die Sache Christi eintrat. Er scheute keine Mühe und weihte sein Leben der Verbreitung der Grundlehren des Evangeliums. Das römische Staatswesen, das in Wirklichkeit nur ein System uneingeschränkter Unterdrückung war, gründete er auf Mäßigung und Gerechtigkeit. Sein gesegneter Name erstrahlt aus dem Dunkel der Geschichte wie der Morgenstern, und sein Ruhm, seine Stufe als einer der edelsten und kultiviertesten Persönlichkeiten des Weltgeschehens ist heute noch im Munde der Christen aller Bekenntnisse.

Welch feste Grundlage für hervorragende Charaktereigenschaften wurde doch in jenen Tagen gelegt, dank der Ausbildung hehrer Seelen, die sich aufmachten, die Lehren des Evangeliums zu verbreiten! Wie viele Volksschulen, Hochschulen und Krankenhäuser wurden geschaffen, auch Einrichtungen, in denen elternlose und bedürftige Kinder erzogen wurden! Wie zahlreich waren die Menschen, die ihren persönlichen Vorteil hintanstellten und „aus dem Verlangen, dem Herrn zu gefallen“ (Qur’án 4:115, 2:208 usw.) die Tage ihres Lebens damit verbrachten, die Massen zu lehren!

(Fortsetzung folgt)


1) Sassanidenkönig, der 531 — 578 n. Chr. regierte.
2) Vgl. Seite 106, Heft 5, der „BAHA’I-BRIEFE“.
3) der Dichter Saná’i
4) Die Luther- und die King-James-Bibel lauten: „Ihr habt gehört, daß gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.“ Gegen diese Lesart wenden die Gelehrten ein, daß sie dem bekannten Gesetzestext zuwiderläuft, wie er in 3. Mose 19:18, 2, Mose 23:4-5, Sprüche Salomons 25:21, im Talmud usw. dargestellt ist,
5) vgl. ‘Abdu’l-Bahá, „Gespräche und Lehren“, Kapitel 84, sowie Seine Ansprache vom 6. 11. 1912 in Washington, D. C., wiedergegeben in „The Promulgation of Universal Peace“, Chicago 1925, S. 385; ferner Richard Walzer, „Galen on Jews and Christians“, Oxford University Press, 1949, S. 15. Der Verfasser stellt fest, daß Galens Abriß über Platos Republik, der hier angeführt wird, verschollen und nur in arabischen Zitaten erhalten geblieben ist.

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Des Menschen Freiheit und Abhängigkeit[Bearbeiten]

Wisse, daß alle Menschen in der von Gott, dem Bewahrer, dem Selbstbestehenden, bestimmten Art erschaffen sind. Wie es auf Gottes mächtigen, wohlverwahrten Tafeln verfügt wurde, ist jedem ein vorbestimmtes Maß zugewiesen worden. Die Anlagen, die ihr besitzt, können jedoch nur durch eigenes Wollen offenbar werden. Eure Taten bezeugen diese Wahrheit. Seht, was im Bayán1) den Menschen verboten wurde! Gott hat in jedem Buche und auf Sein Geheiß hin alles als gültig erklärt, was Ihm beliebte, und Er hat kraft Seiner höchsten Macht alles verboten, was Ihm beliebte. Das besagt der Text jenes Buches. Wollt ihr es nicht bezeugen? Die Menschen aber haben wissentlich Sein Gesetz gebrochen. Ist ein solches Verhalten Gott oder ihnen selbst zuzuschreiben?

Seid gerecht in eurem Urteil! Alles Gute ist von Gott und alles Böse von euch. Wollt ihr es nicht begreifen? Diese Wahrheit ist in allen Schriften geoffenbart worden — wolltet ihr sie doch verstehen! Jede Handlung, die ihr vorhabt, ist Ihm so offenbar wie die, welche ihr schon ausgeführt habt. Es ist kein Gott außer Ihm. Sein ist die ganze Schöpfung und die Herrschaft darüber. Alles ist vor Ihm enthüllt, und alles ist in Seinen heiligen und verborgenen Tablets niedergelegt. Dieses Vorherwissen Gottes bedeutet jedoch nicht, daß es die Handlungen der Menschen verursacht hätte, ebensowenig wie eure Vorahnung, daß ein bestimmtes Ereignis eintreten wird, oder euer Wunsch, daß es geschehen möge, jemals sein Eintreffen bewirken kann.

Bahá’u’lláh
„Ährenlese“ LXXVII


1) die wichtigste Offenbarung des Báb

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Sommerschulen: Treffpunkt der Bahá’í[Bearbeiten]

Bahá’í - Sommerschulen, seit vielen Jahren in der ganzen Bahá’í-Welt lieb-gewordene Stätten der Begegnung, fanden auch heuer wieder an verschiedenen Plätzen des europäischen Kontinents statt. In Deutschland hatte der Nationale Geistige Rat zu Sommerschulen nach Berlin, ins Sauerland und nach Bayern eingeladen. Die Bahá’í in Berlin hatten dabei die Freude, erstmals eine derartige Veranstaltung in ihrer Stadt erleben zu dürfen. Die beiden anderen Sommerschulen, in Ohle/Sauerland und Gauting bei München, sahen neben den deutschen Freunden auch solche aus dem Ausland. In Gauting stand ein Haus der UNESCO zur Verfügung. Weitere Sommerschulen vereinten Bahá’í-Freunde in Belgien, in der Schweiz, in Österreich, in England und Frankreich. Auch die Bahá’í in Skandinavien trafen sich in einer gut besuchten Sommerschule.



Ein Schnappschuß aus Ohle




Bahá’í aus zahlreichen Ländern trafen sich in Österreich


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Ein Gruppenfoto fehlt nie. Hier die Bahá’í in Gauting.




In diesem Haus der UNESCO fand die Sommerschule in Gauting statt.


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Geht die Menschheit ins Ungewisse?[Bearbeiten]

Mit der Erschließung der Energie- und Explosivvorgänge auf dem Gebiet der Atomkernspaltung fiel ein großer Schatten auf die Zukunft der Menschheit. Obwohl dieses epochale Forschungsergebnis an sich weder gut noch böse ist, hat sich mit der auf Hiroschima geworfenen ersten Atombombe gegen Ende des zweiten Weltkrieges die Frage der existentiellen Sicherheit der Menschheit zusehends zugespitzt. Seitdem es erstmals in der Sowjetunion gelungen ist, daß ein Mensch die Schwerkraft unseres Planeten überwand, auf gesteuerter Bahn die Erde umkreiste und sicher wieder landete, ist die Vernichtungsgefahr der Völker wahrlich nicht geringer geworden. Atomare und astronautische Technik verändern blitzartig unser Weltbild und die Lebenssituation auf dieser beunruhigten Erde. Man kann sich schwerlich noch des Eindruckes erwehren, daß die weltgeschichtliche Entscheidungsstunde für alle Völker und Rassen angebrochen ist.

Welcher geistigen Situation stehen wir heute gegenüber? In dem Spannungsfeld zwischen dem Osten und dem Westen treten zwei sehr verschiedene Zielbilder einer neuen globalen Gesellschaftsordnung zutage, die eine vornehmlich aus christlicher Schau im Zeichen eschatologischer Erwartung, die andere auf der Grundlage des historischen Materialismus.

Wer sich die Gefahren der atomaren Aufrüstung und die Entfremdung zwischen dem Westen und dem Osten mit allen ihren Konsequenzen vor Augen hält, dem drängt sich bei religiöser Denkungsweise die brennende Frage auf, welche Aufgabe heute der Religion als geistiger, aussöhnender, gemeinschaftsbildender und gewaltloser Macht zukommt. Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus unserer Einsicht in den Zusammenhang von Religion und Geschichte. Wir vergegenwärtigen uns die Geschöpflichkeit des Menschen und seine Abhängigkeit von Gott. Die Geistesgeschichte der Völker läßt deutlich erkennen, daß die Stifter der großen Offenbarungsreligionen schon immer Vermittler geschichts- und kulturwirkender Kräfte und Impulse waren. Karl Jaspers spricht davon, daß „Gottes Offenbarungshandlungen“ die entscheidenden Einschnitte im Menschheitsgeschehen sind.

Wenn der Nobelpreisträger für Physik, Professor Max Born, schrieb, daß das Zeitalter der Atomkernenergie zugleich eine fürchterliche Drohung und eine strahlende Hoffnung in sich schließe, nämlich „die Drohung der Selbstvernichtung der Menschheit, die Hoffnung auf ein Paradies auf Erden“, so wird uns die Diskrepanz zwischen dem naturwissenschaftlichen, technischen Entwicklungsstand, der Herrschaft über die Naturkräfte einerseits und der Erschütterung des Vertrauens in die sittliche und moralische Integrität des Menschen andererseits schmerzlich bewußt. Mißtrauen, Angst und Unsicherheit spiegeln die geistige Situation der Menschheit von heute wider.

Da wir glauben, daß Kulturkrisen letztlich Religionskrisen sind, erkennen wir die tieferen Gründe der existentiellen Gefährdung der Menschheit in der wachsenden Lahmlegung schöpferischer und integrierender Kräfte durch die „Schwächung der Tragpfeiler der Religion“. [Seite 143] Die lebensgestaltenden und aufbauenden Kräfte der überkommenen Hochreligionen sind zweifellos einer anhaltenden Schwächung unterworfen. Die Grundpostulate der Religion finden, so scheint es uns, heute in der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Daseinswelt nicht mehr eine überzeugende und wegweisende Erfüllung.

Wissenschaftliche Fortschrittsgläubigkeit einerseits und Verwerfung transzendenter, religiöser Bindung andererseits führten zu einer Verabsolutierung geschichtlicher Werte wie Nation, Rasse, Klasse. Was aber nottut, ist eine höhere, geistige Integration und Verbundenheit der Völker und Kulturen im Hinblick auf die räumliche Schrumpfung der Völker- und Staatenbeziehungen.

Die religiöse Denkweise verengte sich in zunehmendem Maße in institutionellen, exklusiven und dogmatischen, kaum mehr zu übersehenden Formen. Dem Wesen der Religion entspricht es aber, den Boden echter Verständigung zu schaffen und tragendes Element übernationaler und aufgeschlossener Zusammenarbeit zu werden. Die humanistischen und universalistischen Prinzipien der Religion haben im Kraftfeld der Völkerbeziehungen eine starke Einbuße erlitten. Die tiefste Ursache dieser ordnungshemmenden und teilweise -feindlichen Entwicklung dürfte in der Säkularisierung, d.h. Verweltlichung, des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens liegen.


Ära der Einigung ist angebrochen

Wenn wir nun die schwerwiegende Frage aufwerfen, ob die Menschheit ins Ungewisse geht, so glauben wir, daß es das menschliche Vermögen überschreitet, darauf eine bündige und wahrheitsverbürgte Antwort zu geben. Schon bei dem Versuch, eine Diagnose vom heutigen Krankheitsbild der Menschheit zu geben, geschweige denn bei der Aufstellung einer Prognose für eine Heilbehandlung, würden wir die Grenzen menschlichen Könnens überschreiten. In menschlicher Sicht ist die Zukunft der Menschheit wahrlich ungewiß, dunkel und gefährdet. Es sei in diesem Zusammenhang neben anderen öffentlichen Warnungen von Atomwissenschaftlern auf den Mahnruf von Albert Schweitzer in seiner Osloer Rede vom 23. 4. 1957 erinnert. Sobald wir jedoch versuchen, die uns gestellte Frage in religionsgeschichtlicher Schau zu beantworten, bietet sich dem gläubigen und wachen Menschen ein hoffnungs- und verheißungsvolleres Bild des menschheitlichen Schicksals. Wenn wir geistesgeschichtlich zurückblenden, erblicken wir in dem Jahr 1844 einen Wendepunkt der Weltgeschichte. In einer Zeitspanne von 19 Jahren, 1844 bis 1863, sind in Iran zwei Männer aufgetreten, die von ihrem göttlichen Auftrag an alle Völker kündeten, den göttlich bestimmten Weg zu einer befriedeten und gerechten Weltordnung auf der Grundlage einer neuen Offenbarung zu weisen. Die Bahá’í glauben, daß mit dem 23. Mai 1844, der Erklärung der Sendung des Báb in Shiráz, die Ära der Einigung der Völker und Rassen nach göttlichem Willen in einem gemeinsamen Glauben angebrochen ist.

Im Sinne von Karl Jaspers zweifeln wir nicht, Zeuge des Heraufkommens einer neuen „Achsenzeit“ zu sein — einer weltumfassenden Kommunikation brüderlicher Verständigung, getragen von der neuen [Seite 144] Ausgießung des heiligen, göttlichen Geistes, der Gabe Gottes in diesem Zeitalter — der Erneuerung Seines Bündnisses mit Seinen Geschöpfen aus Seiner grenzenlosen Liebe und Gnade heraus.

Bahá’u’lláh, der Begründer der Bahá’í-Weltreligion, hat vor fast 100 Jahren eine göttlich bestimmte Weltordnung niedergelegt, der die Einheit der Menschheit als vielgestaltige Ganzheit zu Grunde liegt. Im Lichte der Religionsgeschichte ist die Bahá’í-Sendung die jüngste Hoch- und Offenbarungsreligion. Sie reiht sich an die vorausgegangenen Hochreligionen im Sinne fortschreitender Gottesoffenbarung an, „in der ewigen Geschichte und andauernden Entwicklung einer göttlichen und unteilbaren Religion“. (Shoghi Effendi)1). Die Religion ist ihrem Wesen nach evolutiv, dynamisch und schöpferisch und erweist sich so als die führende und erlösende Macht der menschheitlichen Entwicklung und ihres geistigen Wachstums. Arnold Toynbee sagt: „In der Geschichtsschau der Propheten Israels, Judas und des Iran ist die Geschichte kein zyklischer und mechanischer Prozeß. Es ist die meisterhafte und fortschreitende Vollziehung eines göttlichen Planes auf der engen Bühne dieser Welt.“ (Universitas, 4. Jg., Heft 12, S. 1414).

Bahá’u’lláh, der Künder des göttlichen Willens in unserer Zeit, spricht: „Gott hat Seine Boten in die Welt gesandt, damit Sie auf Jesus und Moses folgten und Er wird fortfahren, so zu tun, bis an das Ende, das


Die Einheit der Menschheit
Er, Der die Ewige Wahrheit ist, hat vom Tagesanbruch der Herrlichkeit aus Sein Auge auf das Volk Bahás gerichtet und spricht folgende Worte zu ihm: „Wendet euch der Förderung des Wohlergehens und der Ruhe der Menschenkinder zu. Widmet euren Geist und Willen der Erziehung der Völker und Geschlechter der Erde, damit die Zwietracht, die sie spaltet, durch die Macht des Größten Namens von ihrem Angesicht getilgt und die ganze Menschheit zu Bewahrern einer Ordnung und zu Bewohnern einer Stadt werde. Erleuchtet und heiligt eure Herzen. Laßt sie nicht durch die Dornen des Hasses und die Disteln der Bosheit entweiht werden. Ihr wohnt in einer Welt und seid durch das Wirken eines Willens erschaffen worden. Gesegnet ist, wer sich mit allen Menschen im Geiste äußerster Freundlichkeit und Liebe verbindet.“
Bahá’u’lláh
„Ährenlese“ CLVI


[Seite 145] kein Ende hat, auf daß Seine Gnade aus dem Himmel göttlicher Freigebigkeit fortwährend auf die Menschheit komme.“

Zu den grundlegenden Lehren der Bahá’í-Religion zählt die Erkenntnis, „daß religiöse Wahrheit nicht absolut, sondern nur relativ ist, daß die göttliche Offenbarung wohlgeordnet, dauernd und fortschreitend und nicht starr oder endlich ist“. Aus diesem Grunde ist der Anspruch der Letztlichkeit und Ausschließlichkeit der Bahá’í-Offenbarung ebenso undenkbar wie bei den vorausgegangenen religiösen Sendungen. Bahá’u’lláh hat, wie schon erwähnt, vor nahezu 100 Jahren Seinen göttlichen Ruf an die ganze Menschheit gerichtet. Wir entnehmen Seinen Worten in diesem Zusammenhang folgende: „Wie lange wird die Menschheit in ihrem Eigensinn verharren und Ungerechtigkeit fortbestehen? Wie lange sollen Chaos und Verwirrung unter den Menschen herrschen und Uneinigkeit das Antlitz der Gesellschaft zerwühlen?“2)

„Diese Zivilisation, die so oft von den gelehrten Vertretern der Kunst und Wissenschaft gepriesen wurde, wird, wenn ihr gestattet wird, die Grenzen der Mäßigung zu überschreiten, großes Unglück über die Menschheit bringen ... Wenn sie sich in das Extrem steigert, wird sich die Zivilisation als ein so großer Quell des Übels erweisen, wie sie sich zuvor, in den Grenzen der Mäßigung gehalten, als ein solcher des Guten erwies ... Der Tag ist nahe, da die Flamme der Zivilisation die Städte verwüsten und die Zunge der Größe verkünden wird: ‚Das Reich ist Gottes, des Allmächtigen, des Allgepriesenen!‘ “ „Ihr Siechtum nähert sich einem Zustand äußerster Hoffnungslosigkeit, und der wahre Arzt wird daran gehindert, das Heilmittel zu reichen, während unerfahrene Heilgehilfen zu Ansehen kommen und ihnen völlige Handlungsfreiheit eingeräumt wird...“

Bahá’u’lláh hat prophetisch auf das Atomzeitalter hingewiesen:

„Wahrlich, Ich sage euch: Mäßigung ist in allen Angelegenheiten wünschenswert; wenn sie nicht eingehalten wird, führt dies zu Schaden. Betrachtet die Zivilisation der Völker des Westens: Wie hat sie Aufruhr und Erregung unter den Völkern der Welt hervorgerufen! Es ist ein Hölleninstrument in Erscheinung getreten, durch das eine solche Abscheulichkeit in der Zerstörung von Leben entfaltet wird, wie es noch von keinem Auge der Welt gesehen noch von den Ohren der Nationen gehört wurde. Es ist unmöglich, diese gewaltigen und überwältigenden Übel zu meistern, es sei denn, daß die Völker der Welt in allen Angelegenheiten oder in einer Religion geeinigt werden. Höret auf die Stimme dieses Unterdrückten und haltet euch an den Größten Frieden!
Ein seltsames und wunderbares Mittel ruht in der Erde, aber noch ist es vor dem Menschengeist und den Seelen verborgen. Es ist ein Mittel, das die Macht hat, die Atmosphäre der ganzen Erde zu verändern, und seine Einwirkung verursacht Zerstörung.“
(Worte des Paradieses, IX)

Wir sehen, daß unsere Frage aus göttlichem Munde schon seit einem Jahrhundert beantwortet ist. Schicksalverkündend und prophetisch [Seite 146] wandte sich Bahá’u’lláh an die Welt: „O ihr Völker der Welt! Wisset wahrlich, daß ein ungeahntes Elend im Anzug ist und eine schmerzliche Heimsuchung euer harrt! Denkt nicht, daß die Taten, die ihr begangen habt, vor Meinem Angesicht getilgt worden sind!...“

„Wir haben eine festgesetzte Frist für euch, o Völker! Wenn ihr verfehlt, euch zu jener bestimmten Stunde Gott zuzuwenden, wird Er euch wahrlich gewaltsam erfassen und schreckliche Not von allen Seiten über euch kommen lassen. Wie streng ist dann die Strafe, mit der euch euer Herr strafen wird!“ 3)

Wie Shoghi Effendi, der erste Hüter des Bahá’í-Glaubens, schrieb, stehen wir heute „an der Schwelle eines Zeitalters, dessen Zuckungen Todesängste der alten Zeit und die Geburtswehen der neuen Zeit zugleich zum Ausdruck bringen“. Darin liegt die Zwielichtigkeit der heutigen Situation der Menschheit. Wer sich der Offenbarung Bahá’u’lláhs zuwendet, wird beglückend dessen gewiß, daß nach Gottes Willen sich die uralte Sehnsucht der Menschen nach dauernder Befriedung der Völker und Rassen erfüllen wird.


Die göttliche „Magna Charta”

Wir befinden uns im Anbruch des Menschheitsfrühlings, im Zeichen ihrer geistigen Einigung — durch Überwindung religiöser und anderer Vorurteile — und der Entfaltung wahren Menschheitsbewußtseins. Die Antwort auf unsere Frage liegt in der göttlichen „Magna Charta“ als dem geoffenbarten Heilsplan Gottes für die ganze Menschheit beschlossen, der eine Weltordnung nach organischen Gemeinschaftsprinzipien beinhaltet. Diese Weltordnung ist in authentisch-dokumentarischer Form vom Religionsstifter selbst niedergelegt. In der Sendung Bahá’u’lláhs enthüllt sich uns die Erfüllung der Verheißungen aller Religionen, der Erlösung der ganzen Menschheit. Die Fundamente dieser kommenden Weltordnung sind Gerechtigkeit, Vertrauenswürdigkeit und Liebe.

Es sei hier noch auf das alarmierende Buch von Jaspers „Die Atombombe und die Zukunft des Menschen“ hingewiesen, worin der Verfasser an einer Stelle sagt: „Vor der Drohung totaler Vernichtung sind wir zur Besinnung auf den Sinn unseres Daseins zurückgewiesen. Die Möglichkeit der totalen äußeren Zerstörung fordert unsere ganze innere Wirklichkeit heraus.“ Er zitiert u.a. Born, der wie Einstein die Abschaffung des Krieges, die gewaltlose Politik fordert: „Heute ist nicht mehr viel Zeit verfügbar; es kommt darauf an, daß diese unsere Generation es fertigbringt umzudenken. Wenn sie es nicht kann, sind die Tage der zivilisierten Menschheit gezählt.“

Jaspers sieht den Ausweg nur in einem Appell an die dem Menschen eingeborene Vernunft, seine Umkehr aus freier Entscheidung. „Nur in der Philosophie gibt es die Klarheit gegen die Unphilosophie, d.h. gegen die Verkehrung der Vernunft ... Das Schicksal der Menschheit hängt daran, wie die Gemeinschaft der Vernünftigen in der politischen Wirklichkeit zur Geltung kommt. Keineswegs ist der Erfolg der Vernunft gewiß.“ (!)

Wir hegen berechtigten Zweifel an dem Erfolg menschlicher Vernunft, solange sie nicht göttlich erleuchtet und geführt ist. Wenn Gottes Offenbarungshandlungen die „entscheidenden Einschnitte“ [Seite 147] im Menschheitsgeschehen sind, dürfen wir nicht ungestraft zögern, dem Rufe Bahá’u’lláhs, des Sprechers Gottes in dieser kritischen Weltstunde, mit wachem Verstand und gläubigem Herzen zu folgen. Nur durch göttliche Führung vermögen wir die unbewältigte Vergangenheit zu verstehen und die große Gewißheit zu erlangen, daß Gottes Willen, Seine Liebe und Gnade die Einigung der Menschheit in einem Glauben und einer neuen gerechten Weltordnung zukunftweisend und beglückend offenbar gemacht hat.

In einem weiteren Beitrag in der nächsten Ausgabe der „Bahá’í-Briefe“ sei die von Bahá’u’lláh niedergelegte, göttlich bestimmte Weltordnung zur dauernden Befriedigung einer zerrissenen Welt besonders beleuchtet. Prophetisch spricht Bahá’u’lláh von dieser universalen Ordnung: „Das Gleichgewicht der Welt ist durch den erschütternden Einfiuß dieser größten, neuen Weltordnung ins Wanken geraten. Das geordnete Leben der Menschheit hat durch die Auswirkung dieses einzigartigen, wundersamen Systems, desgleichen sterbliche Augen nie gesehen haben, eine Umwälzung erfahren.“ 4)

Dr. Eugen Schmidt.


1) Vgl. „Die Sendung Bahá’u’lláhs“, Oxford 1948, S. 26 und 30.
2) „Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs“, Frankfurt 1961, S. 141, 224, 30.
3) „Ährenlese“, S. 137 und 140.
4) „Die Sendung Bahá’u’lláhs“, S. 60.



Flehet zu dem einen wahren Gott, Er möge alle Menschen gnädig unterstützen, das zu tun, was in Unseren Augen annehmbar ist. Bald wird die Ordnung dieses Tages aufgerollt und eine neue an ihrer Statt verbreitet werden. Wahrlich, dein Herr spricht die Wahrheit, und Er weiß um unsichtbare Dinge.

Bahá’u’lláh

„Die geistige Sendung Amerikas“, Sendschreiben ’Abdu’l-Bahás zum Göttlichen Plan, 19-Tage-Brief 18/114, 7.2.58.


[Seite 148]



Im Taunus entsteht das europäische „Haus der Andacht"[Bearbeiten]

Das „Haus der Andacht“, welches zurzeit als der erste Bahá’í-Tempel auf europäischem Boden auf einer Taunus-Anhöhe bei Langenhain entsteht, ist in den letzten Monaten in die Höhe gewachsen. Planmäßig hatten im Frühjahr und zu Beginn des Sommers die Ausschachtungs- und Rohbauarbeiten ausgeführt werden können. Im August begann die Montage für die Unterteile der 27 sogenannten „Kuppelrippen“, die inzwischen gleichfalls beendet worden ist. Der Einbau in den Stahlbeton erforderte dabei genaueste Maßarbeit. Die Verankerung der „Rippen“ auf den Fundamenten erfolgte mit Hilfe einer Art von Kugelgelenk. — Für das „Haus der Andacht“ war im November vorigen Jahres in Anwesenheit von über 500 Bahá’í aus allen Teilen Europas der Grundstein gelegt worden. Über Einzelheiten des Baues haben die „Bahá’í-Briefe“ schon in der Nummer 3 vom Januar dieses Jahres berichtet. Über den weiteren Baufortschritt werden die Leser künftig jeweils auf dem laufenden gehalten.


[Seite 149]





Unsere Fotos vermitteln einen Eindruck vom gegenwärtigen Stand der Arbeiten. Das Bild links gibt eine Gesamtansicht der Baustelle. — Das Foto auf dieser Seite oben zeigt einen der Spezial-Lastwagen der niederländischen Firma, welche die fertigen Betonteile anliefert. — Darunter sieht man, wie die „Rippen“ mittels eines Drehkrans eingesetzt werden.




[Seite 150]



Religionswissenschaftliche Kurzinformationen (II)[Bearbeiten]

Die Sabier

Im Qur’án wird an drei Stellen eine Religionsgemeinschaft genannt, die heute nicht mehr besteht: die Sabier (arabisch sábi’ún oder subbát, englisch Sabians). So heißt es in Sure 2,63: „Wahrlich, die Gläubigen und die Juden und die Christen und die Sabier ... sollen ihren Lohn empfangen von ihrem Herrn, und keine Furcht soll über sie kommen.“ (2,63, ähnlich 5,70 und 22,18). In diesen Qur’ánstellen wird den islamischen Staaten die Duldung der Juden, Christen und Sabier zur Auflage gemacht.

Wer sind nun diese Sabier? Man verwechselt sie oft mit den Sabäern, den Bewohnern des Reiches Saba (arabisch Sabá, hebräisch shebâ, englisch Sheba), von Luther mit Reicharabien verdeutscht (1. Könige 10:1 und 13; 2. Chronik 9:1). Diese Sabäer bildeten mit den Stämmen von Ma‘in, Qatabán und Hadramaut zusammen den südarabischen Zweig der semitischen Völkerfamilie. Nach der Eroberung durch die Araber unter Muhammad wurde die südarabische Sprache vom Arabischen stark zurückgedrängt.

Der Name sábi’, „Sabier“, stammt vom aramäischen seba’, „taufen“, und bedeutet also „Täufer“ oder „Taufgesinnter“. Es ist der arabische Sammelbegriff für kleinere religiöse Gemeinschaften, die keine gewöhnlichen Juden, Zoroastrier oder Christen sind, aber die Taufe oder Waschungen ausüben. So wurden im Laufe der Jahrhunderte Elkesäer, Ebioniten, Mandäer und Harraner mit diesem Namen belegt.

Die Elkesäer oder Elkesaiten waren eine im ersten Jahrhundert gegründete Richtung der jüdischen Gnosis, die sich nach ihrem Gründer Elchasai nannte; sie war wohl beim Auftreten Muhammads schon untergegangen.

Die Ebioniten oder Nazoräer (von hebräisch ebjônîm „arme Leute“) bildeten den konservativen Flügel der christlichen Kirche. Sie hatten sich auf dem Apostelkonzil in Jerusalem, wie Apostelgeschichte Kapitel 15 andeutet, von der übrigen Kirche getrennt, weil sie das Gesetz Moses beibehalten wollten. Sie erkannten nur das Matthäusevangelium an. Jesus war ihnen der Sohn Josephs und Marias, sie machten also die dogmatische Entwicklung der übrigen Kirche nicht mit. Als Gegner des Apostels Paulus werden sie auch in Apostelgeschichte 24:5 erwähnt (bei Luther „Nazarener“ genannt, während der griechische Text „Nazoraioi“ lautet). Diese sogenannte judenchristliche Kirche hielt sich im Jordanland, in Syrien und auf Zypern bis ins fünfte Jahrhundert.

Die Mandäer, früher auch Johannes-Christen genannt, bestehen heute noch am Unterlauf des Euphrat als eine Gemeinde von einigen tausend Seelen. Der Name kommt von aramäisch mandâ „Wissen, Erkenntnis“, bedeutet also dasselbe wie griechisch gnosis oder arabisch ma'rifa und ‘ilm. Ihre heiligen Schriften heißen Ginzá (Schatz) und Sidrá d’Yahyâ (Johannesbuch); sie sind in einem von griechischen und hebräischen Einflüssen freien Aramäisch geschrieben. Im Weltgeschehen erkennen [Seite 151] die Mandäer einen Widerstreit zwischen dem Licht und seinen Schatten einerseits und der Gewalt der Finsternis und des Stofflichen andererseits. Sinn des religiösen Lebens ist die Heimkehr der Seele aus den Banden der Finsternis in die himmlische Welt des Lichtes. Dies geschieht mit göttlicher Hilfe durch die Herabsendung eines Offenbarers, der in den Schriften als „Erkenntnis des Lebens“ bezeichnet wird.

Als der Kalif Ma’mún (813 bis 833) gegen Byzanz zu Felde zog, gelangte in Harrán in Irak die Abordnung einer Gemeinschaft zu ihm, deren Gestirnskult vom griechischen Heidentum abstammte, und ersuchte ihn um einen Schutzbrief. Ma’mún befahl ihnen, sich bis zu seiner Rückkehr zu entscheiden, welcher der im Koran genannten Religionen sie angehören wollten. Um der Ausrottung zu entgehen, erklärten sich die Harraner nun zu Sabiern. Diese Falschen Sabier sind bis ins 11. Jahrhundert bezeugt; einer von ihnen war der Vater des großen Astronomen al-Battání (858 bis 929), in Europa Albatenius genannt.

Sabier nannte man also sehr verschiedene Glaubensrichtungen, die durch den Zerfall des alten Heidentums und beim Übergang vom Judentum zum Christentum entstanden waren und Waschungen und die Taufe ausübten. Auch Muhammad Selbst und Seine Muslime wurden von den Heiden in Mekka als Sabier bezeichnet.

In der Bahá’í-Lehre verstehen wir unter Sabiern die Anhänger der Offenbarer vor Abraham und Mose. Im Alten Testament und im Koran werden zwar einige Namen genannt: Enoch, Noah, Sálih, Húd, aber über ihre Lehre und die näheren Umstände ihres Wirkens wissen wir nichts. Es ist unnütz, sich hierüber in Spekulationen zu verlieren, Tatsache ist jedoch, daß in den Jahrtausenden vor Christus im Orient ein fruchtbarer geistiger Mutterboden bestand, dem auch solche geistige Führer wie Pharao Echnaton und der Gesetzgeber Hammurabi entsprossen sind.

Dr. Johann Karl Teufel

Quellen: W. Brandt: Elchasai, Leipzig 1912

D, Chwolson: Die Ssabier und der Ssabismus, Sankt Petersburg 1856, Band 2 (Über die Harraner)

A. J. H. W. Brandt: Die mandäische Religion, ihre Entwicklung und geschichtliche Bedeutung, Utrecht 1889

Mark Lidzbarski: Ginzâ. Der Schatz oder Das große Buch der Mandäer, übersetzt und erklärt, Göttingen und Leipzig 1925

H. I, Schoeps: Theologie und Geschichte des Judenchristentums, 1949


[Seite 152]



Neu auf unserem Büchertisch[Bearbeiten]

„Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs“, Bahá’í-Verlag, Frankfurt/Main, 1961, 240 Seiten, geb. 15,75 DM.

Es gibt kein zweites Werk, das so unmittelbar in die Offenbarung Bahá’u’lláhs hineinführt, wie diese herrliche Auswahl aus seinen Büchern, Abhandlungen und Sendschreiben, die dem deutschen Leser bereits in den Jahrgängen 18-22 der „Sonne der Wahrheit“ (Stuttgart 1948/53) zugänglich gemacht wurde. Eine revidierte Übersetzung ist jetzt in Buchform erschienen.

Der Inhalt der „Ährenlese“ läßt sich in fünf Teile gliedern: 1. der neue „Tag Gottes“, der mit dem Kommen Bahá’u’lláhs angebrochen ist; 2. über die Unfaßbarkeit Gottes und die Bedeutung Seiner Manifestationen; 3. die grundlegenden Fragen der Seele und ihrer Unsterblichkeit; 4. die geistigen Grundlagen der neuen Weltordnung und des „Größten Friedens“, und 5. die ethischen Pflichten jedes Menschen und der Sinn seines Lebens. Wer das Werk viel benützt, wird an dem umfangreichen Namens- und Sachregister große Hilfe finden,

P. M.


Rúhíyyih Rabbani: „Dein Leben — Deine Wahl“ Bahá’í-Verlag. Frankfurt am Main. 223 Seiten, brosch. 6,40 DM, geb. 8,65 DM.

Aus einer Lebensweisheit schöpfend, die sich auf praktische Erwägungen und Beispiele stützt, wurde dieses Buch geschrieben. Zunächst wird jeder einzelne darauf hingewiesen, durch die Besinnung auf sich selbst den Weg zu finden, der zur Gemeinschaft aller Menschen führt, zu einer Einheit in der Mannigfaltigkeit. Nur dadurch wird er wahrhaft glücklich werden, und der Mensch wird erkennen, daß dieses Ziel ohne eine allgemeine religiöse Erneuerung nicht erreicht werden kann. Deshalb ist in jedem Zeitalter ein Gottesgesandter aufgetreten, der die Grundlage hierfür schuf.

In leicht verständlicher, klarer und lebendiger Ausdrucksweise und von innerster Überzeugung durchglüht, wird dargelegt, warum das heute erneut notwendig war und welche Umstände mitwirkten, dieses Ereignis zu einer unleugbaren geschichtlichen Tatsache zu machen. Mit einem Appell an das Gewissen aller wird die Alternative gestellt, den durch Bahá’u’lláh geoffenbarten Plan zur Lösung aller Lebens- und Existenzfragen, welche die Menschheit in der gegenwärtigen Zeit bewegen, anzunehmen oder zurückzuweisen mit allen Folgen, die eine solche Wahl nach sich ziehen würde. Das Buch kann besonders solchen Interessenten empfohlen werden, die Wert darauf legen, über das Beispiel und die Lebensregeln einiger Gottesoffenbarer etwas zu erfahren.

R. Sch.




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