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Bahá’í
BRIEFE
- Zeitschrift
- für Religion und Gesellschaft
- Nr. 66 / Dezember 1994
150 Jahre Erklärung des Báb
90 Jahre Bahá’í-Religion in Deutschland
Die Sieben Täler der Ehe
Die Natur kann ohne uns leben, aber wir nicht ohne sie
INHALT
150 Jahre Erklärung des Báb . . . . . . . . . . . 4
- Festvortrag von Mehdi Varqá
90 Jahre Bahá’í-Religion in Deutschland . . . . . . . . . . . 9
- Ein Abriß der deutschen Bahá’í-Geschichte
- Hermine Mayer-Berdjis
Die Sieben Täler der Ehe . . . . . . . . . . . 15
- Eine Betrachtung über die Sinngebung
- von Ehe und Partnerschaft
- Gunther Hübner
Ein Blick in die Zukunft der Menschheit . . . . . . . . . . . 28
- Auszug aus einer Predigt,
- die Prof. Dr. Levi Herzfeld
- im Jahre 1871 in Braunschweig hielt
Die Natur kann ohne uns leben, aber wir nicht ohne sie . . . . . . . . . . . 33
- Thesen des Physikers
- Hans-Peter Dürr / Global Challenges Network
Bahá’í-Briefe
- Heft 66
- Oktober 1994
- 22. Jahrgang
Die Bahá’í-Briefe wollen eine intensive Auseinandersetzung mit den Inhalten der Bahá’í-Religion fördern und auf der Grundlage zeitgemäßen Denkens zu einem Dialog mit allen beitragen, die sich um die Lösung der Weltprobleme mühen.
Herausgeber: Der Nationale Geistige Rat der Bahá’í in Deutschland e.V., Hofheim-Langenhain
Redaktion:
Jörg Krombach, Wolfgang Peter Löhndorf,
Bijan Sobhani, Uwe Still, Karl Türke jun.
Redaktionsanschrift:
Bahá’í-Briefe, Redaktion,
Eppsteiner Str. 89, D-65719 Hofheim
Namentlich gekennzeichnete Beiträge
stellen nicht notwendig die Meinung der Redaktion
oder des Herausgebers dar.
Die Bahá’í-Briefe erscheinen halbjährlich.
Abonnementpreis für vier Ausgaben 35,- DM.
Einzelpreis 9,80 DM.
Vertrieb und Bestellungen:
Bahá’í-Verlag Eppsteiner Str. 89
D-65719 Hofheim
© Bahá’í-Verlag GmbH 1994 ISSN 0005-3945
Bahá’í
BRIEFE
- EDITORIAL
Im Jahre 1994 konnte die deutsche Bahá’í-Gemeinde gleich auf mehrere bedeutende Ereignisse zurückblicken, die sich in Dekaden jährten.
Das herausragende Ereignis der 150-jährigen Wiederkehr der Geburt der Bahá’í-Offenbarung wurde am 23. Mai 1994 am Europäischen Bahá’í-Haus der Andacht in Hofheim-Langenhain festlich begangen. In der Nacht zum 23. Mai 1844 hatte der Bab in Shíráz Seinem ersten Jünger gegenüber Seine Sendung als Gottesoffenbarer erklärt. Der Festvortrag von Dr. Mehdi Varqá ist in dieser Ausgabe abgedruckt.
Im Jahre 1904 brachte der deutschstämmige Zahnarzt Dr. Edwin Fischer die Botschaft Bahá’u’lláhs von Amerika in sein Heimatland. Ein Artikel dieser Ausgabe ist der Entwicklung der deutschen Bahá’í-Gemeinde seit ihrem Beginn vor 90 Jahren gewidmet. — Einen Höhepunkt der deutschen Bahá’í-Geschichte stellt die Errichtung des Europäischen Bahá’í-Hauses der Andacht dar, dessen 30-jährigem Bestehen in diesem Jahr ebenfalls gedacht wurde.
Drei weitere Beiträge im Überblick:
— Eine Betrachtung der »Sieben Täler« Bahá’u’lláhs im Hinblick auf die geistige Entwicklung in der Ehe
— Die Vision eines Rabbiners aus dem letzten Jahrhundert über die Zukunft der Menschheit
— Ein Artikel des Physikers Hans-Peter Dürr über die Beziehung des Menschen zur Natur
- Die Redaktion
Mehdi Varqá
150 Jahre Erklärung des Báb[Bearbeiten]
Festvortrag am 23. Mai 1994 in Hofheim-Langenhain
Heute wird in der Bahá’í-Welt der 150. Jahrestag eines besonders großen Ereignisses
gefeiert, das in der Geschichte unseres universalen, religiösen Zyklus ohnegleichen
ist. Vor 150 Jahren, am Vorabend des 23. Mai 1844, wurde in Shíráz jene
neue Ära eröffnet, deren Kommen Hauptgegenstand der Prophezeiungen und
Erwartungen aller früheren Offenbarungen war. Der Ablauf jenes denkwürdigen
Abends stellt eines der herzbewegenden Kapitel dar, die der unsterbliche Nabil in
seiner Chronik der frühen Bahá’í-Geschichte aufgezeichnet hat. Ein 25-jähriger
junger Mann, der Sich Báb nannte, erklärte in Seinem kleinen und entzückenden Haus
gegenüber einem jungen Sucher Seine göttliche Sendung. Letzterer hatte sich gemäß
dem letzten Willen seines hochgeschätzten Meisters auf die Suche nach dem verheißenen
Qá’im gemacht und war unwiderstehlich nach Shiráz gezogen worden.
Welche große Bedeutung jener Abend des 22. Mai für die Bahá’í-Welt hat, geht vor allem aus dem Inhalt eines Verses unseres heiligsten Buches, des Kitáb-i-Aqdas, hervor, laut dem die Erklärung des Báb gemeinsam mit der öffentlichen Erklärung von Bahá’u’lláh am 1. Ridván 1863 als »die größten Feste«1) bezeichnet worden waren, in denen alle Feste ihre Vollendung erreicht haben. Mit der Erklärung des Báb wurden sowohl die biblischen als auch die islamischen Prophezeiungen, die sich auf das Jahr 1844 n.Chr. bzw. auf das Jahr 1260 n.H. bezogen, erfüllt. Gleichzeitig wurde der 6000-jährige Zyklus, der mit der Sendung Adams begann und mit jener Muhammads endete, abgeschlossen und eine neue Ära, die Ära der Erfüllung eröffnet: Der Anbruch des »Tages Gottes« und das Erscheinen des Verheißenen aller Zeitalter.
Die göttliche Mission des Báb war eine zweifache: Zum einen hatte Er als Offenbarer eine eigenständige Religion zu stiften, die zwölf Jahrhunderte alten islamischen Gesetze aufzuheben und an ihrer statt neue einzuführen. Zum anderen hatte Er als Vorbote einer noch größeren Offenbarung zu wirken und den Weg für das Kommen dessen, »den Gott offenbaren wird«, zu ebnen. Diesen zweifachen Aspekt der Sendung des Báb hat Bahá’u’lláh in zahlreichen Tablets gewürdigt. So schreibt Er: »Betrachte mit deinem inneren Auge die Kette der aufeinanderfolgenden Offenbarungen, die die Manifestation Adams mit der des Báb verbindet. Ich bezeuge vor Gott, daß jede dieser Manifestationen durch das Wirken des göttlichen Willens und Heilsplanes herabgesandt wurde, daß jede Träger einer besonderen Botschaft war, daß jede mit einem göttlich offenbarten Buch betraut und beauftragt war, die Geheimnisse einer machtvollen Tafel zu enthüllen.«2) Und weiter heißt es in einem anderen Tablet: »Die Verse, die Wir offenbart haben, sind so zahlreich wie jene, die in der vorangegangenen Offenbarung auf den Báb herabgesandt wurden.«3)
Ihn als Herold Seiner eigenen Offenbarung ansprechend schreibt Bahá’u’lláh: »Preis
sei Gott, Der den Punkt offenbarte und aus Ihm die Kenntnis aller Dinge, der
vergangenen wie der künftigen, entfaltete — einen Punkt, den Er zum Herold
Seines Namens erkor und zum Vorboten Seiner großen Offenbarung, welche der
ganzen Menschheit die Glieder erbeben
[Seite 5]
und Sein Licht in vollem Glanz über dem Horizont der Welt erstrahlen ließ.«4)
Der Báb erfüllte beide Aspekte Seiner Mission mit Entschlossenheit und in vollkommener Weise, trotz der von Gott vorherbestimmten äußerst kurzen Dauer Seiner Sendung und ungeachtet der hartnäckigen Widerstände der Gegner. Bahá’u’lláh bestätigt dies im Buch der Gewißheit: »Könnte so etwas zutage treten ohne die Kraft einer göttlichen Offenbarung und ohne das Walten von Gottes unbesieglichem Willen? Bei der Gerechtigkeit Gottes! Würde jemand eine so große Offenbarung in seinem Herzen hegen, so würde allein der Gedanke daran ihn alsbald vernichten! Würden sich die Herzen aller Menschen in seinem Herzen vereinen, so würde er dennoch zögern, ein so erhabenes Unterfangen zu wagen.«5)
Bahá’u’lláh hat die Person des Báb als »König der Gottesboten«, als »das Meer der Meere« und als den »Punkt, um den sich die Wirklichkeiten der Propheten drehen«, verehrt und die Erhabenheit Seiner Offenbarung im Buch der Gewißheit folgendermaßen dargelegt: »Kein Verstand kann die Natur Seiner Offenbarung begreifen, noch kann irgendeine Erkenntnis das volle Maß Seines Glaubens fassen... Er ist der Offenbarer der göttlichen Geheimnisse und der Erklärer der verborgenen, altehrwürdigen Weisheit.«6)
Er zitiert den Imám Sadiq aus einer Sammlung schiitischer Überlieferungen über das Kommen des verheißenen Qá’im und fährt folgendermaßen fort: »Bedenke: Er (der Imám) hat dargelegt, daß das Wissen aus siebenundzwanzig Buchstaben besteht und daß alle Propheten von Adam bis zum ›Siegel‹ nur zwei Buchstaben davon erklärt haben und mit diesen zwei Buchstaben herabgesandt wurden. Und er sagt dazu, daß der Qá’im alle übrigen fünfundzwanzig Buchstaben enthüllen werde.«7)
Niemand kann leugnen, daß in diesem Zeitalter eine Vielzahl der verborgenen Geheimnisse der Natur enthüllt wurden und daß der Menschheit, vor allem im Bereich der Wissenschaft und Technik, durch erstaunliche Entdeckungen und Erfindungen eine wunderbare Ära eröffnet worden ist. Aber nur die mit Einsicht begabten Menschen können bezeugen, daß diese unglaublichen Errungenschaften allein durch den Impuls der göttlichen Offenbarung erreicht worden sind. Als Samuel Morse 1844 die erste Telegrafenverbindung in Betrieb nahm und den biblischen Spruch »Was hat Gott bewirkt?« durch den Draht nach Europa sandte, konnte niemand ahnen, daß seine für jene Zeit sensationelle Erfindung nur der Auftakt zu weiteren, ungeahnten Erfindungen sein würde, denen gegenüber sich der Mors’sche Telegraf als ein Kinderspielzeug erweisen sollte.
Es wurde schon erwähnt, daß Bahá’u’lláh die Person des Báb als »König der Gottesboten« bezeichnet hat. Die Bedeutung dieser höchst erhabenen Bezeichnung wird uns klar, wenn wir uns anhand der Geschichte unseres Glaubens die berühmten Persönlichkeiten, die das Nahen der Stunde der Offenbarung des Báb verkündeten, den hohen Rang Seiner Jünger und die Vielzahl der namhaften Gelehrten, die sich zu Ihm bekannten, des weiteren die zahlreichen Werke, die aus Seiner Feder offenbart wurden, und nicht zuletzt die Erfüllung der Mission, zu der Er herabgesandt worden war, ins Gedächtnis rufen, ganz abgesehen davon, daß Er von beiden Elternteilen her ein Abkomme Muhammads, des letzten Gliedes des prophetischen Zyklus, war und aus einer vornehmen Familie stammte, die in der ganzen Provinz bekannt war.
Die Verkünder Seines Kommens waren die beiden heiligen Seelen Shaykh Ahmad
und Siyyid Kázim, von Bahá’u’lláh als die »beiden strahlenden Zwillingslichter« bezeichnet.
Sie zählten zu den namhaften, frommen und einflußreichen Gelehrten des Islam, die durch
göttliche Vorsehung dazu berufen waren, die islamischen heiligen Verse in bezug auf die
neue Manifestation zu erklären und den Weg zum baldigen Kommen des Verheißenen zu ebnen.
Shaykh Ahmad stammte aus Ahsá, einer Insel im Süden des persischen Golfes. Von
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[Seite 7]
seinem Geburtsort siedelte er in den Irak über und war dort als einer der hervorragenden
Lehrer und autorisierten Ausleger der islamischen Schriften anerkannt. Später
kam er, unter der Regierung von Fath-‘Alí Sháh nach Persien und wurde von diesem
nach Teheran eingeladen. Dabei befahl der Schah den Würdenträgern des Hofes und
der Prominenz der Hauptstadt, dem Shaykh zum Empfang entgegenzugehen und ihn
im Namen des Königs willkommen zu heißen. Er besuchte ihn auch persönlich und bezeichnete
ihn als »Ruhm der Nation« und als die »Zierde seines Volkes«. Der andere
»Lichtstrahl der Führung«, der dazu berufen worden war, die bevorstehende göttliche
Offenbarung zu verkünden, war Siyyid Kázim aus der Stadt Rascht im Norden Persiens,
berühmt für seine hohe Tugend und Gelehrsamkeit. Er war von Shaykh Ahmad
als sein Nachfolger für die Unterweisung und Betreuung seiner Schüler auserwählt worden.
Ihm wurde auch das große Vorrecht zuteil, dem Báb zweimal persönlich zu begegnen.
Ein besonderes Merkmal, das die Erhabenheit und die hohe Stufe des Báb charakterisiert, ist der Persönlichkeit Seiner Jünger, deren Stufe Bahá’u’lláh mit der Stufe der heiligen Imáme des Islam gleichgestellt hat, und dem überwiegenden Teil Seiner frühen Gläubigen zu entnehmen. Wie die Geschichte der früheren Religionen bestätigt, waren es bisher in jedem Zeitalter immer ein paar einfache Seelen aus dem niederen Stand der Gesellschaft gewesen, die als erste die Manifestation Gottes anerkannt hatten, während die angesehenen und hochgebildeten Leute, allen voran die Geistlichen, die die Führung des Volkes innehatten, sich die Gnade Gottes entgehen ließen und sich dem neuen Glauben sogar hartnäckig widersetzten. Nicht so in der Sendung des Báb. Zu Seinen Jüngern und zur Schar Seiner Anhänger zählten namhafte Gelehrte ihrer Zeit und zum Teil angesehene und anerkannte Geistliche des Islam. Unter ihnen waren die unsterbliche Dichterin und Lehrerin Táhirih, die von ‘Abdu’l-Bahá als ein »Feuerbrand, der von der Liebe Gottes entfacht war« bezeichnet worden ist, oder Mullá Husayn, der erste Gläubige des Báb und von Ihm als Báb-ul-Báb benannt, der wagte, seine Anerkennung der göttlichen Offenbarung des Báb von dessen Antwort zu jenen Themen abhängig zu machen, die er sich als Maßstab für die Wahrheit des Anspruchs des Báb ausgedacht hatte. Ebenso Mullá Muhammad-‘Alí, der hochgeschätzte Schüler von Siyyid Kázim, der einzige Begleiter des Báb bei Seiner Pilgerfahrt nach Mekka, dem Bahá’u’lláh später den Beinamen »Quddús« gab. Siyyid Yahyáy-i-Dárábí mit dem Titel »Vahíd« (der Unvergleichliche) war eine andere Persönlichkeit von Rang und genoß wegen seiner Gelehrsamkeit besonderen Respekt am Hofe Muhammad Sháhs. Er war es, der im Auftrag des Schahs nach Shíráz ging, um die Richtigkeit des Anspruchs des Báb zu prüfen und dem Schah zu berichten. Doch nach den Unterredungen, die er mit dem Báb führte, nahm er Seinen Glauben an und kehrte nicht mehr an den Hof zurück. Eine andere bedeutende Persönlichkeit unter den Anhängern des Báb war Mullá Muhammad ‘Alí, der später von ihm »Hujjat« (der Beweis) genannt wurde. Er stammte aus der Stadt Zanján, stand fortwährend im theologischen Widerstreit mit der islamischen Geistlichkeit und kritisierte die religiösen Führer des Landes ganz offen. Als er vom Anspruch des Báb hörte, der verheißene Qá’im zu sein, schickte er einen seiner Schüler nach Shíráz, damit dieser den Anspruch prüfe. Nachdem er über die Erlebnisse seines Schülers bei dessen Begegnung mit dem Báb hörte und nachdem er bloß einen flüchtigen Blick auf das Buch Qayyúmu’l-Asmá geworfen hatte, das dieser aus Shíráz mitgebracht hatte, nahm er ohne Zögern den Glauben an.
Die Offenbarung des Báb fand unter der Bevölkerung Persiens einen solchen Widerhall, daß sich in kürzester Zeit mehrere tausend Seelen, hauptsächlich aus dem Kreis der anerkannten Gelehrten, zu Ihm bekannten. Unter Einsatz all ihrer Kräfte bewirkten sie die rasche Verbreitung Seiner Sache, erlitten schließlich auf ihrem Pfade den Märtyrertod und bezeugten auf diese Weise die Wahrheit der Bábí-Religion.
Ein weiterer Beweis für die Erhabenheit der Sendung des Báb ist der Umfang der Werke,
die im sechsjährigen Zeitraum zwischen Seiner Erklärung und Seinem Märtyrertod aus Seiner
Feder flossen: Abhandlungen, Kommentare, Gebete, Gesetze sowie zahlreiche Sendschreiben an
die zeitgenössischen Geistlichen in jeder Stadt Persiens, an den Sharíf von Mekka
und auch an den persischen König. Diesen unübertrefflichen Vorzug der Sendung des
Báb hat Bahá’u’lláh im Buch der Gewißheit folgendermaßen bestätigt: »Die Propheten,
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die >»mit Beständigkeit begabt« sind, deren Erhabenheit und Herrlichkeit klar wie die
Sonne leuchten, wurden alle mit einem Buch ausgezeichnet, das alle gesehen haben
und dessen Verse regelrecht festgesetzt sind. Die Verse aber, die aus dieser Wolke
göttlicher Gnade geströmt sind, waren so überreichlich, daß noch niemand imstande
war, ihre Zahl zu schätzen. Wohl zwanzig Bände sind jetzt zur Hand. Doch wie viele
bleiben uns noch unerreichbar! Wie viele sind geraubt worden und in die Hände der
Gottlosen gefallen, und niemand kennt ihr Schicksal.«
Mit der Offenbarung des Báb ging der sogenannte »immerwährende Bund«, den Gott in jedem Zeitalter durch Seinen Propheten mit den Menschen zu schließen wünscht, in Erfüllung. Den sogenannten »größeren Bund« schloß der Báb mit Seinen Anhängern in bezug auf jene Offenbarung, die bei weitem größer und erhabener sein würde, als die Seine. Auch in dieser Hinsicht ist es äußerst charakteristisch, wie der Báb auf die nächste Manifestation Gottes eingegangen ist. An zahlreichen Stellen Seiner Schriften, die während der letzten drei Jahre Seines Lebens, als Er in Máh-Kú und Chihríq gefangengesetzt war, Seiner Feder entströmten, weist Er mit einer ungemein eindeutigen und klaren Sprache auf das Kommen dessen hin, »den Gott offenbaren wird«, und warnt die Gesamtheit Seiner Anhänger, nicht so zu handeln, wie das Volk des Qur’án an Ihm gehandelt hatte. Den Zeitpunkt des Erscheinens des Herrn des Tages des Gerichts setzt Er selbst ganz klar mit dem Ende von Váhid (19) und dem Beginn von 80 (1280 n.H./ 1863 n.Chr.) fest. Er erklärt, daß alles, was im Bayán offenbart worden ist, wie ein Ring an Seiner Hand sei, während Er selbst nur ein Ring an der Hand von jenem sei, »den Gott offenbaren wird«. Er versichert auch einigen Seiner Jünger, daß sie diese »Größte Offenbarung« erleben würden. Im dritten Váhid des Buches Bayán deutet Er auf den Namen »Bahá’u’lláh« hin und auf die Ordnung, die dieser gründen wird. Obwohl Er gemäß Seiner göttlichen Mission die Gesetze und Bestimmungen des Islam aufgehoben und an deren statt neue Gesetze und Verordnungen eingeführt hatte, machte Er diese, ohne Vorbehalt, von der Annahme dessen abhängig, »den Gott offenbaren wird«, und stellt somit den anderen Aspekt Seiner Sendung, nämlich den als Vorbote Bahá’u’lláhs, in den Vordergrund.
Die gegenseitige Beziehung des Báb und Bahá’u’lláhs zueinander war einzigartig und beispiellos in der Geschichte der Religionen. Es fand keine persönliche Begegnung zwischen beiden statt. Sie standen nur durch Briefwechsel miteinander in Verbindung. Der Báb ließ einerseits in Seiner Eigenschaft als Religionsstifter, der Seine Offenbarung bekanntzumachen hat, durch Mullá Husayn auch Bahá’u’lláh eine Schriftrolle zukommen, und so gewann Er Ihn als einen eifrigen und einflußreichen Verteidiger Seiner Sache. Andererseits gibt Er als dessen Vorbote Seiner tiefsten Demut und Ergebenheit Ihm gegenüber Ausdruck und erklärt, daß Er sich gänzlich für Ihn geopfert habe, sich nach nichts gesehnt habe, als nach dem Märtyrertum auf dem Pfad Seiner Liebe, daß Er der erste Diener sei, der an Ihn und Seine Zeichen glaube.8)
Auch Bahá’u’lláh legt, neben der Bestätigung des einen Aspektes der Mission des Báb als Sein Vorbote, besonderen Wert auf den anderen, nämlich Dessen unabhängige, machtvolle Offenbarung. Er bezeichnet sie als die »Ihm vorausgegangene Manifestation« und führt so beide Offenbarungen als eine Zwillingsmanifestation Gottes zusammen. Um diese Realität anschaulich zu machen, wählte Er auch persönlich die Stelle aus, an der die geheiligten Gebeine des Báb auf dem Berg Karmel beizusetzen sind und gab 'Abdu'l-Bahá die entsprechende Anweisung, diese Ruhestätte zu errichten — den Mittelpunkt, um den sich die administrativen Einrichtungen des Glaubens drehen und von dem die neue Ordnung von Bahá’u’lláh überall hin in der Welt ausströmen wird.
- 1) Bahá’u’lláh, The Kitáb-i-Aqdas, Bahá’í World Centre, Haifa 1992, Vers 110, S. 59
- 2) Bahá’u’lláh, Ährenlese, Hofheim-Langenhain: Bahá’í-Verlag, 3. rev. Aufl. 1980, Vers 31, S. 69
- 3) a.a.O., Vers 121:9, S. 226
- 4) Bahá’u’lláh, Botschaften aus 'Akká, Hofheim-Langenhain: Bahá’í-Verlag 1982, Tablet Ishráqát, Vers 6, S. 122
- 5) Bahá’u’lláh, Das Buch der Gewißheit, Frankfurt am Main: Bahá’í-Verlag, 2. Aufl. 1969, S. 152f
- 6) a.a.O., S. 160
- 7) a.a.O., S. 160f
- 8) siehe Shoghi Effendi, Gott geht vorüber, Hofheim-Langenhain: Bahá’í-Verlag, 2. Aufl. 1974, S. 109
Hermine Mayer-Berdjis
90 Jahre Bahá’í-Religion in Deutschland[Bearbeiten]
Ein Abriß der deutschen Bahá’í-Geschichte
Stuttgart im Jahre 1904: Ein Reisender kommt an aus den Vereinigten Staaten
von Amerika. Er heißt Dr. Edwin Fischer und stammt aus Ludwigsburg. In seinem
Gepäck hat er Bücher und in seinem Herzen ein ganz besonderes Geschenk, das
er seiner alten Heimat bringen möchte: die Bahá’í-Religion. Dr. Fischer war Zahnarzt
und eröffnete in Stuttgart eine Praxis, deren guter Ruf selbst die obersten Schichten
erreichte. Aber Dr. Fischer wollte seine Patienten nicht nur von leiblichen Übeln
befreien. Er erzählte Ihnen bei jeder Gelegenheit von Bahá’u’lláh und über die hohen Ziele
Seiner Lehren. Durch Dr. Fischer wurde Deutschland das 23. Land der Erde, in dem
es Anhänger der Bahá’í-Religion gab — genau 60 Jahre nach ihrem Beginn im Jahre 1844.
Bald befaßte sich in Stuttgart und Umgebung ein Kreis interessierter Menschen intensiv mit diesem neuen Glauben. 1905 hielten Bahá’í aus Frankreich und Amerika öffentliche Vorträge, und 1907 kam Frl. Alma Knobloch aus Washington, um Dr. Fischer beim Aufbau der Bahá’í-Gemeinde zu helfen. 1909 gründeten die Bahá’í einen »Selbstverlag der Bahá’í«, in dem vor allem aus dem Französischen übersetzte kleine Hefte erschienen, denn in Paris war schon um die Jahrhundertwende die erste Bahá’í-Gemeinde Europas entstanden. In einer Stuttgarter Zeitung vom 7.11.1910 stand darum zu lesen: »In Stuttgart haben sich die Anhänger der neuen Religion zu einer »Bahá’í-Vereinigung«< zusammengeschlossen.«
Alle Bemühungen um die Verbreitung des neuen Glaubens wurden von 'Abdu'l-Bahá1) durch liebevolle Briefe und innige Gebete geistig geführt. 'Abdu'l-Bahá kam 1911 nach Seiner Freilassung aus der Gefangenschaft nach Europa. Er trug besonders in Paris und London durch zahlreiche Vorträge zum Bekanntwerden des Bahá’í-Glaubens bei. Einige der Bahá’í aus Deutschland waren nach London und Paris gereist, um 'Abdu'l-Bahá persönlich zu begegnen. Sie baten Ihn inständig, auch nach Deutschland zu kommen. 'Abdu'l-Bahá fuhr jedoch zuvor nach Amerika. 1913 war es aber so weit: Am 1. April kam Er aus Paris mit dem Zug nach Stuttgart. Überglücklich stömten die Bahá’í zu Ihm ins Hotel Marquardt. Seine innige Verbundenheit mit Deutschland hatte tiefe Wurzeln, denn 'Abdu'l-Bahá war mit den deutschen Templern in Haifa seit langem befreundet2). »Ich sehe eine Nation, welche die höchsten Grade der Zivilisation erreicht hat«, sagte ‘Abdu’l-Bahá. »Ich hoffe, daß das deutsche Volk das Ziel des allgemeinen Friedens im Auge behalten wird.«3)
Er sagte der deutschen Bahá’í-Gemeinde aufgrund ihrer geistigen Wirkungskraft
und ihrer geographischen Lage eine bedeutende Zukunft voraus, wenn sie sich
[Seite 10]
- ‘Abdu’l-Bahás Besuch in Stuttgart im Jahre 1913
um Einheit und die Verkündigung des Glaubens bemühe. Gleichzeitig deutete Er schwere Zeiten und harte Prüfungen an und ermahnte Seine Freunde, standhaft zu bleiben. Ganz besondere Zuneigung zeigte Er den Kindern und besuchte ein Kinderfest in Esslingen.
In den 15 Tagen, die Er insgesamt in Stuttgart verbrachte, hatten die Bahá’í im privaten wie im öffentlichen Rahmen einen Intensivunterricht in den Bahá’í-Lehren erhalten, der sie beflügelte und von dem sie während zweier Weltkriege und des Verbots des Glaubens in der Zeit des Nationalsozialismus geistig zehrten. Während des Ersten Weltkriegs waren bis auf wenige Veranstaltungen und Veröffentlichungen keine großen Aktivitäten möglich. Gleich danach, 1919, wurde der »Selbstverlag der Bahá’í-Vereinigung« durch die Gründung des »Verlags des Deutschen Bahá’í-Bundes GmbH« abgelöst und gestärkt. Fast gleichzeitig wurde der »Deutsche Bahá’í-Bund« gegründet. 'Abdu'l-Bahá lobte dieses Vorgehen und schrieb zu der beabsichtigten Zeitschrift dieses Bundes: »Gib ihr den Namen ›Sonne der Wahrheit‹ und ihr Motto sei: Einheit der Menschheit, universaler Friede und universale Religion...«4)
Nun bemühte man sich eifrig um öffentliche Veranstaltungen, interne Treffen und neue Publikationen. Da traf die Nachricht vom Hinscheiden 'Abdu'l-Bahás die Bahá’í tief ins Herz. Sie trauerten um Ihn, der sie so liebevoll umsorgt und geführt hatte, und wandten sich vertrauensvoll dem von Ihm ernannten neuen Oberhaupt des Glaubens, Shoghi Effendi, zu. Der Aufbau der administrativen Ordnung begann unter seiner Führung mit der ersten Wahl des »Rates der Neun« im Jahre 1922. Dieses Gremium ging 1923 in den ersten »Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í in Deutschland und Österreich« über und gilt als eines der drei ersten Bahá’í-Gremien dieser Art in der Welt (neben Indien, Pakistan und Burma sowie den Britischen Inseln) — eine schöne Frucht des Segens ‘Abdu’l-Bahás neun Jahre nach Seinem Besuch.
In den folgenden Jahren war die Gemeinde sehr aktiv. 1924 wurde erstmals
ein Bahá’í-Vortrag im Rundfunk gesendet. Ab 1925 erschien die Kinderzeitschrift
»Rosengärtlein«. 1926 wurde in Stuttgart ein Bahá’í-Büro eingerichtet, und der
Verlag brachte kontinuierlich neue Titel heraus. 1929 und 1930 besuchte Martha Root, eine
amerikanische Journalistin, die auf Vortragsreisen für den Bahá’í-Glauben mehrmals die
Erde umrundete, zwölf deutsche Universitäten und sprach mit Professoren
und vor Studenten über die Bahá’í-Religion.
[Seite 11]
In Esslingen war mit dem Bau eines Bahá’í-Heimes begonnen worden, das 1931 eingeweiht
wurde. Dort fand 1932 die erste Bahá’í-Sommerschule auf dem europäischen Kontinent
statt. Neben dem Nationalen Geistigen Rat waren sieben örtliche Geistige Räte und
etwa zwanzig Gruppen gebildet worden, als das nationalsozialistische Regime zuschlug.
Am 21. Mai 1937 wurden der Bahá’í-Glaube und seine Verwaltungseinrichtungen verboten,
Bahá’í-Bücher und Archivmaterial wurden beschlagnahmt. Verhöre, Verhaftungen und
öffentliche Prozesse folgten bis zum Juni 1944. Bahá’í jüdischer Abstammung wurden
deportiert, Gefallene und Opfer von Bombennächten waren zu beklagen. Die
von 'Abdu'l-Bahá angedeuteten schweren Zeiten waren eingetroffen, aber kein Bahá’í
verleugnete seinen Glauben. Als 1945 mit der amerikanischen Besatzungsmacht auch
einige Bahá’í nach Deutschland kamen, erreichten sie mit viel Engagement, daß die
amerikanische Militärregierung zunächst die Neuorganisation der Bahá’í in Stuttgart
gestattete. Weitere Gebiete folgten, so daß 1946 in Stuttgart wieder ein Nationaler
Geistiger Rat gewählt werden konnte. Selbst in Ost-Berlin, Rostock, Warnemünde,
Schwerin und Leipzig fanden die Bahá’í wieder zusammen, leider aber nur für kurze Zeit.
Sie mußten sich bis zur Wiedervereinigung gedulden und ausharren.
- 1946: Der erste »Nationale Geistige Rat der Bahá’í in Deutschland und Österreich e.V.« nach dem 2. Weltkrieg — mit drei amerikanischen Bahá’í: Bruce Davison, Henry Jarvis und John Eichenauer
In Westdeutschland wurden die internationalen Verbindungen erneuert, und
die Bahá’í in Nordamerika, Großbritannien und dem Iran unterstützten mit viel Liebe
und praktischer Hilfe den Wiederaufbau der Gemeinden und administrativen Gremien
in Deutschland. Die Bahá’í-Jugend spielte dabei eine sehr aktive Rolle. 1949 konnte
schließlich im Frankfurter Westend eine Ruine erworben werden. Viele Hände halfen bei
der Räumung der Trümmer. Ein nationales Bahá’í-Zentrum wuchs hoch und
wurde 1951 eingeweiht. Dem Bahá’í-Verlag war schon im März 1950 gelungen, mit
etwa 20 Titeln an der Frankfurter Frühjahrsmesse teilzunehmen. Doch Deutschland
sollte noch eine besondere Ehre zuteil werden: Shoghi Effendi ernannte 1951 Dr. Hermann
Grossmann und 1952 Dr. Adelbert Mühlschlegel zu Händen der Sache Gottes.5)
[Seite 12]
1953 war der Bahá’í-Glaube in Westdeutschland an ca. 60 Orten vertreten. Weltweit
gab es zwölf Nationale Geistige Räte und Bahá’í in 128 Ländern. Doch auch
traurige Ereignisse bewegten die Gemeinde. 1955 starb in Tübingen die Hand der
Sache Gottes Valíyu’lláh Varqá aus dem Iran, und Stuttgart fiel die Ehre zu, ihn unter
der großen Anteilnahme vieler Bahá’í beizusetzen. Der schwerste Schock aber war
für alle Bahá’í der unerwartete Tod Shoghi Effendis am 4. November 1957. Dr. Grossmann,
Dr. Mühlschlegel und viele Bahá’í aus Deutschland und Österreich gaben ihm
in London die letzte Ehre. Schweren Herzens, aber treu und ergeben, arbeitete die
deutsche Gemeinde weiter und bereitete die erste interkontinentale Bahá’í-Konferenz in
Deutschland vor. Im Juli 1958 versammelten sich dann über 2300 Bahá’í aus 57 Ländern
in der Messe-Kongresshalle in Frankfurt/Main. So manchem Bahá’í wurde dabei
erstmals die Universalität des Glaubens bewußt. 1959 trennte sich dann die deutsche
Gemeinde von ihrem Zwilling durch die Gründung des ersten Nationalen Geistigen
Rates der Bahá’í in Österreich. Dieses Ereignis wurde in Wien gemeinsam
gebührend gefeiert.
Schon seit 1953 war bekannt, daß im Raum Frankfurt/Main das »Erste Europäische Bahá’í-Haus der Andacht« gebaut werden sollte. Das Ringen um ein Grundstück und die Bauerlaubnis dauerten sieben Jahre. Am 20. November 1960 konnte schließlich der Grundstein gelegt und das Gebäude am 4. Juli 1964 eingeweiht werden. Etwa tausend Bahá’í aus ganz Europa, dem Iran und den USA waren zu diesem Fest herbeigeströmt. Inzwischen gab es weltweit 56 Nationale Geistige Räte und in Deutschland an ca. 200 Orten Bahá’í.
- Das Europäische Bahá’í-Haus der Andacht in Hofheim-Langenhain wurde vor 30 Jahren eingeweiht.
Im Oktober 1967 fanden gleichzeitig sechs internationale Bahá’í-Konferenzen statt: in Deutschland, den Vereinigten Staaten von Amerika, Panama, Indien, Uganda und Australien. Die Jahrhunderthalle in Höchst beherbergte dabei 1700 Bahá’í aus aller Welt. Eine Telefonrundschaltung verband alle sechs Konferenzen und führte deutlich vor Augen, in welch enge Nachbarschaft die Kontinente gerückt waren.
Die Siebzigerjahre brachten drei Höhepunkte. 1972 fanden europäische
Bahá’í-Jugendaktivitäten in Plön mit vielen Ansprachen und viel Musik ihren
Abschluß. 1974, zehn Jahre nach der Einweihung des Europäischen Hauses der Andacht,
wurde am Rande des Tempelgeländes ein neues Nationales Bahá’í-Verwaltungszentrum
seiner Bestimmung übergeben. Seither ist Hofheim-Langenhain im
[Seite 13]
Taunus der Sitz des Nationalen Geistigen Rates und des Bahá’í-Verlages. Der dritte
Höhepunkt war die Gründung des Nationalen Geistigen Rates der Bahá’í in Griechenland,
dessen Pate die deutsche Bahá’í-Gemeinde war.
Die islamische Revolution im Iran warf ihre Schatten auch auf die deutsche Bahá’í-Gemeinde. Die Liste der Bahá’í-Märtyrer im Iran wurde immer länger, und die deutsche Bahá’í-Gemeinde bemühte sich intensiv, über Regierungsstellen und das Europaparlament für ihre Glaubensbrüder Erleichterungen zu erreichen. Dabei konnte der Nationale Geistige Rat gute Kontakte mit offiziellen Stellen aufbauen und vor allem dafür sorgen, daß die Ziele der Bahá’í-Religion, ihre Friedensarbeit und Globalität unverfälscht bekanntgemacht wurden. Auch Presse, Rundfunk und Fernsehen berichteten wiederholt über die Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Bahá’í im Iran. So kam es nicht von ungefähr, daß 1985 — vierzig Jahre nach Kriegsende — erstmals eine Bahá’í-Delegation von einem Bundespräsidenten in Deutschland, Richard von Weizsäcker, empfangen wurde. Inzwischen gab es weltweit 148 Nationale Geistige Räte. In der Bundesrepublik war die Zahl der örtlichen Geistigen Räte erstmals auf hundert angestiegen, wobei es an ca. 670 Orten Bahá’í gab.
Als in Berlin die Mauer fiel, begannen die Bahá’í sogleich mit ihren alten und neuen Freunden, den Bahá’í-Glauben in den neuen Bundesländern bekanntzumachen. Auch Dizzy Gillespie, der bekannte Jazzmusiker, der seit vielen Jahren Bahá’í war, half auf seine Weise durch seine Konzerte in Ost-Berlin, Moskau und Prag mit. Die Aktivitäten wurden bis tief in den früheren Ostblock ausgedehnt. Doch auch im eigenen Land gab es wichtige Aufgaben. Schon seit 1983 kämpfte der Geistige Rat der Bahá’í in Tübingen mit verschiedenen Rechtsinstanzen um seine Eintragung ins Vereinsregister, weil das Vereinsrecht des BGB mit dem Bahá’í-Recht unvereinbar schien. Dabei ging es um die Verflechtung der Geistigen Räte mit dem Nationalen Geistigen Rat. Diesem blieb schließlich nichts anderes übrig, als 1986 beim Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde zu erheben. Dieses höchste deutsche Gericht befaßte sich eingehend mit der Materie und gab am 5. Februar 1991 der Verfassungsbeschwerde in vollem Umfang statt. Dabei verbriefte es für die Bahá’í das Recht, sich als hierarchisch gegliederte Rechtsgemeinschaft gemäß dem offenbarten Gottesgesetz zu organisieren. Es schrieb dabei, daß »...der Charakter des Bahá’í-Glaubens als Religion und der Bahá’í-Gemeinschaft als Religionsgemeinschaft nach aktueller Lebenswirklichkeit, Kulturtradition und allgemeinem wie auch religionswissenschaftlichem Verständnis offenkundig ist.«6) Da Vereine, hieß es weiter, die Teilgliederung von Religionsgesellschaften sind, sich in die Hierarchie ihrer Religionsgemeinschaft eingliedern wollen, sei die religionsrechtliche Verknüpfung (in unserem Falle der örtlichen Geistigen Räte mit dem Nationalen Geistigen Rat) als gegebene Einheit und Gemeinsamkeit zu beachten. Über dieses Urteil des höchsten Gerichtes seines Landes, das den Rechtsstatus der Geistigen Räte in der Bundesrepublik sichert, kann sich die deutsche Bahá’í-Gemeinde wirklich freuen.
Das Jahr 1992 stand ganz im Zeichen der Gedenkfeiern zum 100. Jahrestag des
Hinscheidens Bahá’u’lláhs. Die deutschen Teilnehmer an der großen Gedenkversammlung
in Haifa und Bahjí (Israel) brachten nicht nur ihre tiefen Eindrücke von der Vielfalt
der Bahá’í-Weltgemeinde mit, die sie dort trafen. Sie waren auch von einem Team des
ZDF begleitet worden. Das ZDF brachte danach die längste bisher über den Glauben in
Deutschland ausgestrahlte Sendung. Auch beim Bahá’í-Weltkongreß in New York im
November 1992 war die deutsche Gemeinde zahlreich vertreten und konnte die
Satellitenschaltung zu parallelen Konferenzen rund um den Globus sowie zum
Bahá’í-Weltzentrum in Haifa miterleben. Diese und die wundervolle Harmonie unter
Menschen aus der ganzen Welt zeigten eine neue Entwicklungsstufe der Einheit der
Menschheit, die in der Bahá’í-Welt bereits modellhafte Formen angenommen hat.
Der hervorragende Beitrag des internationalen Chores, in dem auch deutsche
Teilnehmer mitwirkten, löste so viel Begeisterung aus, daß inzwischen auch
in Deutschland kleine Chorgruppen entstanden, deren Ziel ist, die Andachten
im Haus der Andacht mit Gesang zu bereichern. Hier in Deutschland würdigten am
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26. Mai 1992 in der Frankfurter Paulskirche über 900 Bahá’í und ihre Gäste Leben
und Werk Bahá’u’lláhs. »Daß die Stadt Frankfurt diese Versammlung in einem so
geschichtsträchtigen Bau mitten im Herzen des erwachenden Europa willkommen
heißt, ist von tiefer Bedeutung und ermutigt zu großen Hoffnungen für die ganze Welt«,
stand in der Grußbotschaft aus dem Bahá’í-Weltzentrum. »Ich wünsche allen Bahá’í in
Deutschland und in der Welt, daß sie ihren Glauben in Freiheit und im friedlichen
Miteinander mit anderen Religionen leben können«, schrieb Bundeskanzler Kohl in
seiner Grußbotschaft. Friedensnobelpreisträger Willy Brandt bezog sich in seinem
Brief auf das Prinzip der Einheit der Menschheit, und der Philosoph und Physiker
Professor C.F. von Weizsäcker sandte Grüße mit den Worten »Ich habe große
Bewunderung für Bahá’u’lláh«.
Unter dem Motto »Die Erde ist nur ein Land« haben fachkundige Bahá’í eine Ausstellung zum Heiligen Jahr geschaffen, die an Schönheit alle bisherigen deutschen Bahá’í-Ausstellungen weit übertrifft. Sie wurde bis heute nicht nur in ganz Deutschland der Öffentlichkeit vorgestellt, sie wird auch in unseren Nachbarländern gezeigt.
In der Rückschau zeigt sich deutlich, daß die Bahá’í-Gemeinde in Deutschland in den neunzig Jahren ihres Bestehens eine erfreuliche Entwicklung durchlief. Ihre Institutionen arbeiten zum großen Teil effektiv in einem Geiste der Einheit und der Beratung, der auf die Ziele der Weltordnung Bahá’u’lláhs zusteuert. Eine beachtliche Palette an Primär- und Sekundärliteratur steht zur Verfügung, so daß die detaillierte Kenntnis der Bahá’í-Lehren jedem Menschen innerhalb oder außerhalb der Gemeinde möglich ist. Das Bahá’í-Gemeindeleben hat sich in vielen Bereichen wie Festen, Kinder- und Jugendklassen und gemeinsamem Engagement z.B. bei interreligiösen Andachten, Völkerverständigungsfesten oder kleinen sozialen Projekten weiterentwickelt. Die Bahá’í-Frauen werden immer aktiver. Querverbindungen zu Universitäten, Volkshochschulen, Vereinen, städtischen Einrichtungen oder Persönlichkeiten wurden geschaffen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Broschüre der Ausländerbeauftragten in Berlin, die 1992 unter dem Titel »Einheit in der Vielheit: Weltreligionen in Berlin« erschien und in der auch die Bahá’í-Religion vorgestellt wird. Im November 1992 veranstaltete diese Stelle in Zusammenarbeit mit den Bahá’í eine offizielle Feier zum Geburtstag Bahá’u’lláhs. Bahá’í-Schulen wie in Dormagen und Bochum wachsen heran, aber auch die für den ganzen deutschsprachigen Raum angebotenen Kurse der Landegg-Akademie in der Schweiz heben das geistige Niveau und die Effizienz unserer Gemeinde. Wir können also dankbar in die Vergangenheit und optimistisch in die Zukunft blicken.
Die kritische Weltlage ist eine große Herausforderung für jede Bahá’í-Gemeinde auf diesem Planeten. Es gilt, materielle Bedürfnisse und technischen Fortschritt mit ethischer Verantwortung und gerechtem Handeln in Einklang zu bringen. Wir müssen noch stärker als bisher den geistigen Weg mit praktischen Füßen gehen, d.h. die Bahá’í-Prinzipien in unserem Denken und Tun anwenden und anderen vermitteln. »Wir verwandeln eine Krise in einen Fortschritt,« schreibt das Universale Haus der Gerechtigkeit im Mai 1993, »wenn wir die sich bietende Gelegenheit beim Schopf packen, indem wir die Anwendbarkeit und die gewinnende Kraft unserer Grundsätze unter Beweis stellen... Jetzt sind die dunkelsten Stunden vor dem Morgengrauen. Der verheißene Friede wird kommen, wenn die Nacht vorüber ist. Drängen Sie voran, dem Dämmerlicht entgegen!«7)
- 1) 'Abdu'l-Bahá, der Sohn des Stifters der Bahá’í-Religion und testamentarisch ernanntes Oberhaupt, war als achtjähriger Junge mit Seinem Vater — Bahá’u’lláh, 1817-1892 — in die Verbannung gegangen, die sie bis nach Palästina führte. Erst 1908 erhielt Er die Freiheit.
- 2) Der Besuch 'Abdu'l-Bahás wird ausführlich beschrieben in Hassan Balyuzi, 'Abdu'l-Bahá, Bd.2, Bahá’í-Verlag 1984, und Werner Gollmer, Mein Herz ist bei euch, Bahá’í-Verlag 1988
- 3) Balyuzi, 'Abdu'l-Bahá, Bd.2, S.751f
- 4) Sonne der Wahrheit, 1.Jg., Heft 1, S.3, März 1921
- 5) Den Titel »Hand der Sache Gottes« erhielten ausgewählte Bahá’í, deren Aufgabe dann war, sich intensiv um Verbreitung und Schutz des Glaubens zu kümmern.
- 6) siehe Dr. Udo Schaefer in Bahá’í-Nachrichten, Mai 1991, S. 14ff
- 7) siehe Bahá’í-Nachrichten, Juni 1993, S.4
Die Sieben Täler der Ehe[Bearbeiten]
Eine Betrachtung über Sinngebung von Ehe und Partnerschaft
- Gunther Hübner
- Einleitung
Mit den nachfolgenden Gedanken zu den Sieben Tälern1) Bahá’u’lláhs und
ihrer Rezeption auf Ehe und Partnerschaft möchte ich dem Leser eine subjektive und
praktische Übertragung des Werkes und seiner mystischen Worte anbieten. Seitdem ich
die Sieben Täler in diesem Sinne für mich interpretiert habe, erfahre ich in meiner
therapeutischen Berufspraxis interessante Anwendungsmöglichkeiten auf die
unterschiedlichsten Problembereiche, insbesondere auf Partnerprobleme. Den anfänglichen Verständnisschwierigkeiten, wie sich diese mystische Dichtung auf das praktische
heutige Leben und darüber hinaus auf Ehe und Partnerschaft übertragen läßt, soll mit einer
Interpretation begegnet werden, wie die Systematik der Sieben Täler wohl auch verstanden
werden kann. Ich konnte diese Interpretation der Sieben Täler in der Praxis auf
persönliche Fälle übertragen, und neue Lösungsmöglichkeiten eröffneten sich dem
therapeutischen Prozeß. Es wurde mir bewußt, welche bedeutungsschwere Weisheiten in
den Sieben Tälern verborgen liegen, und die darüber erfahrene Universalität
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überraschte mich, zumal sich immer weitergefaßte Interpretationsmöglichkeiten anbieten.
Um meinem Zugang zu den Sieben Tälern gerecht zu werden, muß ich die Annahmen
erklären, auf die ich mich beziehe und die schließlich den Leitfaden dieser Arbeit
bilden. Ich stimme dem Menschenbild zu, daß der Mensch eine Dualität2) von
Körper und Seele ist. Jeder Aspekt dieser speziellen Wirklichkeit des Menschen bedarf
einer spezifischen Entwicklung, die über Erziehung und Lernen, in Abhängigkeit zu
seiner Umwelt, zu einer eigenständigen Persönlichkeit (Charakter) führen kann. Körper
und Seele stehen in unserer Wirklichkeit in einer interdependenten Abhängigkeit: Ein
gesunder Körper stellt ein gutes »Werkzeug« für die Entwicklung der Seele dar und eine
gesunde Seele fördert die Gesundheit des Körpers. Der Schwerpunkt dieser Arbeit
über die Sieben Täler konzentriert sich auf die formulierten geistigen Prozesse,
die wesentlichen Anteil am geistigen »Wachstum« des Menschen haben und zu seiner
»Vergeistigung« beitragen können. Sie können im Rahmen einer Lehre der Wahrheit
verstanden werden, die die Seele zu ihrer geistigen Bestimmung führen soll.
- »Durch die Lehren dieser Sonne der Wahrheit3) wird jeder Mensch fortschreiten und sich entwickeln, bis er die Stufe erreicht, auf der er alle in ihm verborgenen Kräfte offenbaren kann, mit denen sein innerstes, wahres Selbst begabt worden ist. Zu eben diesem Zweck sind in jedem Zeitalter und in jeder Sendung die Propheten Gottes und Seine Auserwählten unter den Menschen erschienen und haben eine Kraft gezeigt, wie sie von Gott geboren ist, und eine Macht, wie sie nur der Ewige offenbaren kann.«4)
- Zur Theorie der Sieben Täler
Wenn ich von der menschlichen Beschaffenheit in dem oben genannten Kontext ausgehe, erhebt sich die Frage nach der Abhängigkeit und Bestimmung der »geistigen Dimension« des Menschen in diesem Leben. Dabei entsteht im Verständnis der geistigen und materiellen Abhängigkeit des Menschen eine wesentliche Schwierigkeit, denn wir sollten uns diese Abhängigkeit nicht hierarchisch, sondern als gleichwertig und auf Balance ausgerichtet vorstellen. In Auswirkung und Zweck der unterschiedlichen Stufen unterscheiden sich Geist und Natur, aber sie sind innerhalb einer Einheit existent; sie sind keine widersprüchlichen Wirklichkeiten. Dies bedeutet, daß die geistige Welt in der Natur ihren Ausdruck findet, und die materielle Welt ihrerseits geistige Eigenschaften spiegelt. In der Bahá’í-Religion wird davon ausgegangen, daß der Geist die Materie formt5) Folglich kann nur über die Orientierung an der geistigen Welt die Seele6) ihre eigentliche Bestimmung finden. In den Sieben Tälern wird dieser Prozeß widergespiegelt, und wenn die Erzählung einen Wanderer erwähnt, so ist damit das Leitmotiv eines wahrhaft gott-trunkenen Menschen angesprochen, der auf der Suche nach der Wahrheit seines Lebens ist. Bahá’u’lláh erklärt hier einen Entwicklungsprozeß der seelischen Eigenschaften, die der Wanderer auf seinem Weg zu Gott erfährt. Die Täler symbolisieren die Entwicklungsstadien und bilden in ihrer Stufenfolge eine sich entwickelnde und für den Menschen sichtbar werdende Manifestation seiner geistigen Qualitäten, die durch die Liebe zu Gott hervorgerufen werden.
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Wenn die ersten drei Täler als eine Beschreibung der materiellen (uns
bekannten) Welt verstanden werden können, kann den letzten drei Tälern das
Prinzip der geistigen Welt und ihren jeweiligen spezifischen Gegebenheiten
zugeordnet werden. Das vierte Tal — das Tal der Einheit — bildet einen Schnittpunkt
zwischen der materiellen und der geistigen Welt und kann somit als Mittler
zwischen diesen beiden Welten verstanden werden.
- Zur materiellen Ebene der Sieben Täler
Das Tal des Suchens
Bahá’u’lláh nennt die Haupteigenschaft, die ein Mensch erlernen muß, will er jemals ein Ziel erreichen: Geduld. Er weist darauf hin, wenn wir uns als Sucher begreifen, erkennen wir, daß viele Menschen ebenfalls auf der Suche sind und wir dieses Los mit ihnen teilen. Der Wanderer, der in den Sieben Tälern beschrieben wird, gilt erst dann als wahrer Sucher, sobald er das objektive Vorhandensein der geistigen Dimension der Wirklichkeit wahrgenommen hat. Er erkennt, daß geistiges Wachstum und geistige Entwicklung seinen wichtigsten Daseinszweck darstellen. Dies wird gefördert durch selbstverantworteten geistigen Fortschritt, vereint mit Aufmerksamkeit und Nachdenklichkeit. Gleichzeitig wird deutlich, daß die Suche mit einem demütigen, hilfsbereiten, freundlichen und bescheidenen Verhalten untrennbar mit einer geistigen Haltung verbunden erscheint, die durch die regelmäßige Durchführung von Meditationen und Gebeten7) ausgedrückt wird.
Zur Sinngebung für Ehe und Partnerschaft: Suche
Das erste Tal impliziert die Entdeckung der Sehnsucht und des Verlangens, die potentiell in jedem Menschen vorhanden sind. Sie werden in uns durch die Vorstellung geweckt. Die Vorstellung, die in uns erwacht, fungiert als Quelle unserer Gefühle, die unsere Bedürftigkeiten bilden. Wir sehnen uns nach Erfüllung unserer Gefühle und Bedürftigkeiten. Diese Bedürftigkeiten sollen befriedigt werden, und es zeigt sich ein tendenzieller Prozeß der Süchtigkeit nach dieser Befriedigung. Wir erfassen ihn zunächst als körperlichen Prozeß, z.B. als Hunger nach Essen. Wir wollen essen, also essen wir und versuchen hierdurch, satt zu werden. Gleichzeitig ist Hunger auch eine Sehnsucht nach Energie, die uns zur Zufriedenheit und Beruhigung führen soll. Es ist ein Verlangen nach Befriedung in uns. Wir können sagen, daß der Mensch auf dieser Ebene seine Süchtigkeit als eine Grundabhängigkeit erfährt, d.h. jeder Mensch ist potentiell süchtig. Wenn er lernt, mit seiner Bedürftigkeit positiv umzugehen, kann er ebenso erlernen, sie zu dosieren; er muß nicht »suchtkrank« werden. Auf dieser Basis entstehen innere Bilder (Vorstellung), die das Ziel haben, zur Befriedigung zu führen.
Dies alles gilt auch für die Partnersuche. Scheinbare Notwendigkeiten werden als Rahmenbedingungen für die Orientierung bei dieser Suche erfahren. So muß bzw. sollte der Mann / die Frau z. B. ein bestimmtes Aussehen haben, einen bestimmten Beruf und genügend Prestige und Sicherheit bieten. Diese und andere Gründe können als Garanten für ein glückliches Leben mit dem Partner gelten. Leitmotiv für die Partnersuche ist die Emotionalität, die über Vorstellungen eine erste Gestalt gewinnt.
Das Tal der Liebe
Durch die Vorstellung wird die Bedürftigkeit angefacht und Gedanken der Sehnsucht
entstehen, die sich ihren Weg bahnen und sich in Leidenschaft verwandeln können.
Leidenschaft ist Ausdruck eines emotionalen Erlebens, die sich zuerst
passiv in unserer Phantasie zeigt, sich aber in der Realität verwirklichen will. Sie ist
durch die Kraft des Geistes gedanklich in unseren Vorstellungsbildern präsent und
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bildet unsere eigene innere Wirklichkeit, jedoch anfänglich ohne Bezug zur äußeren
Realität. Auf dieser Ebene dominieren die Gefühle das Selbst des Menschen, und sie
gelten als Maßstab der Wirklichkeit. Gleichzeitig verwirren sie den Sucher, da
er zwischen Wahrheit und Irrtum alleine auf seine Gefühle gestellt keine
Differenzierung erreicht.
»In diesem Zustand ist sich der Wanderer weder seiner selbst noch dessen, was außer ihm ist, bewußt. Er sieht weder Wissen noch Unwissenheit, weder Zweifel noch Gewißheit, noch erkennt er den Morgen der Führung oder die Nacht des Irrtums. Er flieht vor Unglaube und Glaube, und tödliches Gift ist ihm köstlich. ... Liebe trägt keine Sehnsucht nach Dasein und hängt nicht am Leben. Sie sieht Leben im Tod und sucht Ruhm in der Schande. Ein Übermaß an geistiger Gesundheit ist nötig, ehe jemand des Wahnsinns der Liebe würdig, und eine Fülle von Geist, bis er der Bande des Freundes wert wird. ... Liebe setzt in jedem Augenblick eine Welt in Flammen und zerstört alle Länder, in denen sie ihr Banner entfaltet. In ihrem Land hat das Dasein keinen Platz, und in ihrem Reich ist kein Raum für die Weisen«.:8)
Schmerz ist das »Fahrzeug«, um durch dieses Tal zu gelangen. Leidenschaft ist jedoch auch Ursache von »Leid«. Nur dort wo Liebe ist, kann Haß sich entwickeln. Erst unsere Fähigkeit zu fühlen und zu lieben, läßt die Welt des Schmerzes entstehen. Liebe wird leidenschaftlich in uns erlebt und drängt zur Verwirklichung. Sie will sich aktiv in der äußeren Welt materialisieren, nicht nur in unseren Vorstellungen. Auf dieser Ebene ist die materielle Befriedigung gemeint. Aber ohne Erkenntnis der geistigen Abhängigkeiten und Bezüge entsteht nur die bloße Befriedigung, die nach Erreichung ihrer Sehnsüchte, also im aktiven Ausleben der Leidenschaft, wie Schall und Rauch zu verfliegen scheint. Durch Reichtum kann kein Glück und keine Gesundheit gesichert werden. Neue Sehnsüchte treiben die Leidenschaft an und drängen in einem sich immer enger ziehenden Kreislauf zu neuen Eroberungen und neuem Besitz. Dies sind die Kennzeichen der Süchtigkeit. Nur durch geistige Erkenntnis kann dieser Kreislauf durchbrochen werden. Damit wird das Problem des Genießens berührt. In der Süchtigkeit fehlt die Fähigkeit, wirklich genießen zu können. Fehlt die Erkenntnis, entwickeln sich die Anzeichen der Süchtigkeit, die in der Abhängigkeit und dem Wiederholungszwang sichtbar werden.
Zur Sinngebung für Ehe und Partnerschaft: Liebe
Die Vorstellung, daß die Partnerbeziehung eine emotionale Erfüllung verspricht,
verstärkt die Leidenschaft (Liebe). Diese Leidenschaft ist zuerst passiv — in
Form von geheimen oder lavierten Wünschen — ; sie ist sich ihres Impulses nicht
bewußt. Diese passiven Wünsche drängen zu einer aktiven Verwirklichung. Der
»liebende« Mensch folgt »blindlings« seinen Gefühlen, bar jeder Vernunft, ist sich aber
in seinem Entschluß »absolut« sicher. Leben ohne die Erfüllung dieser Gefühle erscheint
ihm »Blendwerk«. Folgt er hier bloß seinen Gefühlen ohne eine kontextgebundene
Zieldefinition (Festlegung von klaren Zielen im Leben — Erkenntnis),
kann er auch keine Erfüllung erfahren. Selbst das Ausleben der Gefühle wird zunehmend
blaß und fad. Aus der Verliebtheit wird Gewöhnung, was zu Enttäuschungen
führen kann. Ähnlich wie bei einem Suchtkranken wird der »emotionale Hunger« nur
kurzfristig befriedigt, denn es konnte kein Genießen erreicht werden. Die Süchtigkeit
wird kurzfristig beruhigt, es findet nur eine befristete Sättigung statt. Die enttäuschten
Gedanken suchen wieder nach neuen Vorstellungen, die Genuß versprechen. Es erfolgt eine
erneute Hinwendung zum ersten Tal. Sie ist von kurzer Dauer, bis wieder
innerer Hunger entsteht, innere Bilder sich wiederholen und zur Materialisierung
drängen (Wiederholungszwang). Durch diese Art von Partnerschaft/Ehe wird die
Befriedigung von außen erwartet, der Partner soll das fehlende Glück spenden und gleichsam
das zuführen, was in einem selbst als nicht existent erfahren wird. In der Verkennung
der inneren Freiheit beschäftigt sich der »Sucher« mit der äußeren Unfreiheit, die
zur eigenen Freiheit führen soll. Die Partnerschaft wird zum Gegenstand der
eigenen Selbstverwirklichung und Selbstbefreiung. Über diesen Prozeß wird der eigene
Wert definiert und erfahren. Das hier aufgezeigte Mißverständnis hat seine Ursache
im Mangel an Differenzierung zwischen
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der inneren und äußeren Realität des eigenen Selbstes. Der Partner wird unbewußt
zum Richter über den subjektiven Wert der eigenen Existenz erhoben, d.h. die Partner
brauchen sich gegenseitig, damit der jeweils eigene Wert überhaupt wahrnehmbar
wird. Aus sich selbst heraus ist keine Liebe erkennbar.
Das Tal der Erkenntnis
»Überall fliehen sie das ›Erste‹ und bekämpfen das ›Letzte‹, sind sie doch durch die Reiche der Namen gewandert und haben die Welten der Eigenschaften durchmessen mit der Schnelle des Blitzes. ... Sie wohnen unter dem Schatten der Wesenheit Gottes.«9)
In diesem Tal betrachtet der Sucher die Schöpfung Gottes mit Ehrfurcht und Demut. Er begreift eine höhere Bestimmung und Ordnung.
»Er wird die Gerechtigkeit in der Ungerechtigkeit und die Gnade in der Gerechtigkeit schauen, manche Erkenntnis sehen, die in der Unwissenheit schlummert, und in der Erkenntnis hunderttausendfache Weisheit erblicken. Er zerbricht den Käfig des Körpers und der Leidenschaften und verbindet sich mit den Bewohnern des unsterblichen Reiches. Er steigt auf den Stufen der inneren Wahrheit empor und eilt zu den Himmeln der inneren Bedeutung. ... Wenn ihn Ungerechtigkeit trifft, so ist er geduldig, ist er das Opfer des Zorns, so vergilt er mit Liebe. ... Mit den inneren und äußeren Augen sieht er die Geheimnisse der Auferstehung im Bereich der Schöpfung und in den Seelen der Menschen, und ein reines Herz (»Ort der Seele<, Anm. des Autors) läßt ihn die ewige Weisheit in den unendlichen Offenbarungen Gottes erfühlen.«10)
Mit der Erkenntnis beginnt die Loslösung von den Sehnsüchten und der Leidenschaft.
Dies bedeutet jedoch nicht, daß sie einfach verloren werden. Vielmehr ist ihr
Kennzeichen nun die Freiheit des Herzens11). Damit ist die wahre Freiheit
gemeint, die durch ein Erkennen der Schöpfung die individuelle Machtlosigkeit
verdeutlicht und eine Form der wertschätzenden
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Demut erzeugt. Bereitwillig ordnet sich der Sucher ein und bestimmt selbständig
und frei seine eigene Abhängigkeit, da nur in ihr der wahre Sinn seiner Existenz
und seiner Liebe gefunden werden kann. Auf dieser Stufe beginnt die rechte Art des
Genießens. Damit werden der Sehnsucht und Leidenschaft ein Rahmen und ein Sinn
gegeben, das Streben erfährt ein Ziel. Wie glücklich ist der Mensch, der weiß,
welcher Sinn sein Leben bestimmt! Und wenn dieser Sinn auch noch die Ziele dauerhafter
Freude und dauerhaften Genusses enthalten, dann kennt die Freude keine Grenzen.
Sinn und Ziele befreien den Sucher von seiner Abhängigkeit der Gefühle und vor
dem Trugschluß der inneren Bilder seiner Vorstellung (eitler Wahn).
»Wahren Verlust erleidet, wer seine Tage in völliger Unkenntnis über sein wahres Selbst verbringt.«12)
Das Tal der Erkenntnis ist die Grenze der materiell-äußeren Welt, ihre Wirklichkeit und ihre Formen relativieren sich. Mit Eintritt in die geistige Welt findet eine Zuwendung zu den inneren Werten statt. Die Reise führt den Sucher von seinen Äußerlichkeiten fort zu seiner wahren Bestimmung: sich selbst zu erkennen.
Zur Sinngebung für Ehe und Partnerschaft: Erkenntnis
Die Leidenschaft des Liebenden bekommt ein Ziel für seine Erfüllung und darüber erfährt er Sinn. Die Partnerschaft erhebt sich aus den Ebenen der körperlichen Leidenschaft und wird über die Selbsterkenntnis mit der Fähigkeit beschenkt, dem Partner mit seiner inneren Freude zu begegnen. Die körperliche Ebene wird als ein integraler Bestandteil zum Glück empfunden und stellt nicht mehr den alleinigen Gradmesser der persönlichen Identität und des Wertes der Partnerschaft dar. Über das Erreichen von gemeinsamen Zielen entwickelt sich das Gefühl von gegenseitiger Abhängigkeit, die sich freiwillig und gegenseitig geschenkt wird. Dem Gefühl der körperlichen Zuneigung wird die Gewißheit der Wahrheit beigemessen, und für das Vertrauen und die Treue füreinander entsteht der notwendige Nährboden. Gefühle zum Partner werden mit dieser Zielgerichtetheit einzigartig erfahren und drängen zu einer weiteren Vertiefung innerer Begegnungen. Der Wunsch nach immer größerer Selbsterkenntnis verstärkt den Wunsch nach Verschmelzung und einer noch innigeren Bekanntschaft mit dem Partner. Der Gedanke nach »Fusionierung ohne Manipulation« wird wichtig, jedoch bewahrt er die individuellen Grenzen, innerhalb derer eigene Entscheidungen — bezogen auf die selbstentschiedene Abhängigkeit (Partnerschaft) — getroffen werden können.
Das Tal der Einheit
Das Tal der Einheit ist das Tal der Balance zwischen der geistigen und der materiellen Welt. Es beschreibt die Prozesse an dieser »Schnittstelle« von Materie und Geist.
»Auf dieser Stufe zerreißt er die Schleier der Vielfältigkeit und flieht aus der Welt der Leidenschaft empor zum Himmel der Einzigkeit...«13)
Bahá’u’lláh erklärt, der Sucher erfahre eine Veränderung seiner Wirklichkeit. Der Sucher glaubt noch seiner bekannten Wirklichkeit, gilt sie ihm doch bislang als »normal«, und all sein Denken dreht sich in diesem Kontext. Wenn in diesem Tal beschrieben wird, wie der Sucher die Welt der Leidenschaft verläßt und zum Himmel der Einzigkeit gelangt, so werden der Prozeß auf der materiellen Ebene und die damit verbundenen Wiederholungsprozesse angedeutet, die sich auflösen und im Rahmen der geistigen Welt zu einer sich nicht wiederholbaren Einzigartigkeit entwickeln. Der Sucher ist an der »Schnittstelle« zwischen diesen beiden Welten angelangt. Außerdem werden die Gesetzmäßigkeiten der ersten drei Stufen bewußter erlebt und erkannt, daß in Abhängigkeit von der jeweiligen Stufe, in der wir uns befinden, das »Erkennen und ihre Benennung der Dinge verschieden (sind), und so kommen fortgesetzt Gegensätze in die Welt.«14) — Die Gegensätze beziehen sich also auf die materielle, jedoch nicht auf die geistige Ebene.
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»Das Gesagte gilt nur für die Stufen der Welt der Beziehung entsprechend der menschlichen Begrenzung«15)
Bahá’u’lláh schreibt über diese Schnittstelle von materieller und geistiger Ebene:
»Sich selbst rechnet er weder Namen noch Ruhm oder Rang zu, denn er erkennt, daß sein eigenes Lob in Gottes Lob ist und sein eigener Name im Namen des Wahrhaftigen. ... Du weißt, daß alle Mannigfaltigkeit, die der Wanderer auf seiner Fahrt in der Erscheinungswelt sieht, allein in ihm selbst liegt. (Beispiel: Sonnenstrahlen, die durch farbiges Glas fallen )16).. So erklärt es sich, daß auch manche schwache Seele der Sonne der geistigen Bedeutung und der Geheimnisse des ewigen Geliebten beraubt ist, da sie den Boden der Erkenntnis mit der Mauer des Ichs und des Begehrens und durch die Schleier der Achtlosigkeit und Blindheit begrenzt hat.«17)
Bahá’u’lláh zeigt auf, daß die geistige Welt nur wahrgenommen werden kann, wenn wir bereit sind, uns in Frage zu stellen und unsere Selbsterkenntnis von unseren eigenen Vorstellungen zu lösen. Das im endlichen Menschen Erfahrene ist nicht identisch mit dem unendlichen Reich Gottes. Auch die tiefsinnigsten und erhabensten Vorstellungen bleiben letztlich nur Produkt des menschlichen Geistes. Bahá’u’lláh mahnt daher den Sucher zur Vorsicht, damit er nicht durch seine in irdische Worte gefaßten Erfahrungen einen »Abstieg« der geistigen Welten Gottes bewirke und somit eine Vermenschlichung Gottes auf die »Ebene der Geschöpfe« darstelle.
»Geheimnisse gibt es viele, aber Unwissende unzählige. ... Erkenntnis ist nur ein einziger Punkt, durch die Unwissenden aber wird er vervielfacht.«18)
Die geistige Loslösung ist die Voraussetzung für den »Einbruch der geistigen Mauern des Selbstes«. Dafür wird der Sucher mit einer beglückenden Erfahrung beschenkt. Zudem erweitern sich seine Einsichten in die Wirklichkeit dieser Welt.
»Sie schwimmen im Meer des Geistes und durchschweben die heiligen Lüfte des Lichtes. Wie können auf dieser Stufe Worte bestehen, die Unterscheidungen wie ›Erster‹ und ›Letzter‹ oder dergleichen schaffen?«19)
Zur Sinngebung für Ehe und Partnerschaft: Einheit
»So erklärt es sich, daß auch manche schwache Seele der Sonne der geistigen Bedeutung und der Geheimnisse des ewigen Geliebten beraubt ist, da sie den Boden der Erkenntnis mit der Mauer des Ichs und des Begehrens und durch die Schleier der Achtlosigkeit und Blindheit begrenzt hat. «20)
Wer die Einheit in Partnerschaft und Ehe erreicht hat, der sieht über die individuellen Unterschiede hinweg, sieht das Gemeinsame, obwohl diese Unterschiede bestehen bleiben. Er erkennt sich in der Seele des Partners wieder. Ein Gefühl von Resonanz lebt auf und — gleichsam als ob Flügel wachsen würden — wächst der Mut, die Mauern des Ichs zu überwinden. Der Sucher erträgt die Vor- und Nachteile seiner Person. Er unternimmt keine Anstrengung, den Partner von den eigenen Schwächen abzulenken, da sie zu der ganzen Person identifiziert werden. Unbewußt werden Schritte erfahren, die dem Glück förderlich sind, dabei kann es zu Verwunderungen und Fragen kommen, ob dies wirklich ist, ob dies wirklich erfahren wird. Der geistige Ursprung ist zwar noch nicht vollauf bewußt, manchmal können diese Erfahrung auch für einen intuitiven Zufall gehalten werden, doch immer häufiger gewinnt die Erkenntnis Raum, sich in einer höheren Abhängigkeit gemeinsam definiert und erfahren zu haben. Das spontane Handeln geschieht zunehmend auf Basis geistiger Prinzipien und ist immer weniger durch den Willen bestimmt. Das Handeln auf der Grundlage geistiger Prinzipien verläuft simultan mit der Wahrnehmung der eigenen Emotionalität.
Zur geistigen Ebene der Sieben Täler
Das Tal des Genügens
»Die Zunge ist nicht imstande, diese drei letzten Täler zu schildern, und die Sprache ist unzulänglich. Die Feder dringt nicht in ihr Gebiet, und die Tinte hinterläßt nichts als schwärzende Spuren.«21)
Mit diesem Tal wird eine geistige Stufe der potentiellen Entwicklungsmöglichkeit der menschlichen Seele erklärt. Damit steht der Sucher am Rande seiner Wirklichkeit, ab hier partizipiert er an einer Welt, die sich der Beschreibung entzieht, und spürt den
»Windhauch Göttlichen Genügens, der von der Ebene des Geistes her weht. Er verbrennt die Schleier des Mangels und schaut mit dem inneren und dem äußeren Auge das Verborgene und die Erscheinung aller Dinge... Seine Trübsal schlägt um in Entzücken, sein Kummer in Freude, und seine Bedrückung und Schwermut wird Frohsinn und Wonne. Obschon von außen gesehen die Wanderer in diesem Tal auf der Erde verweilen, so thronen sie innerlich doch auf den Höhen des wahren Sinnes. Sie nehmen teil an den unerschöpflichen Gaben der inneren Bedeutung und trinken vom köstlichen Wein des Geistes.«22)
Bahá’u’lláh legt dar, daß der Sucher in diesem Entwicklungsstadium eine neue Form der Liebe entdeckt, die eine geistige Dimension meint, und wie er zur inneren Ruhe findet. Der Sucher begreift jetzt, daß er alles schon in sich selbst besitzt. Die Reise des materiellen Ichs und die der »weltlichen« Liebe erfährt hier eine Grenze. Ab hier folgt die Reise nur noch den geistigen Gesetzen, die in dem Sucher selbst noch verborgen liegen. Er wendet sich von der äußeren Welt ab, um noch größere Aufmerksamkeit für die innere Wirklichkeit zu gewinnen, was gleichbedeutend ist mit der wahren Zuwendung zu Gott. Im Gegensatz zu den beiden ersten Tälern ist die Erfahrung der Liebe in diesem Tal nicht der Gefahr des Wiederholungszwanges unterworfen. Die geistige Liebe öffnet Horizonte und läßt Freiheiten entstehen (Loslösung von weltlichen Dingen). Auf dieser Stufe erahnt der Sucher intuitiv, wie geborgen und geschützt, wie harmonisch und mit welchen tiefen Glücksgefühlen seine Seele im Reich Gottes existent ist.
»Unwirkliches wird ihm zum Zeichen der Wirklichkeit, und die Eigenschaften werden ihm zum Zeugnis für das Geheimnis des göttlichen Wesens; hat er doch mit einem Hauch die Schleier verweht und mit einem einzigen Blick die Hüllen durchdrungen. Mit unterscheidendem Auge wird er die neue Schöpfung gewahr, und mit lichtem Herzen begreift er die sinnreichen Zeichen.«23)
Alles scheint satt von Sinn zu sein, durchtränkt von den schöpferischen Attributen, und der Sucher sieht in jedem Objekt einen Aspekt des Universums Gottes.
Zur Sinngebung für Ehe und Partnerschaft: Sich genügen
Wenn Bahá’u’lláh uns Hinweise gibt, daß wir in diesem Entwicklungszustand
zur Ruhe gelangen können, und wir diese Ruhe auf Partnerschaft und Ehe übertragen,
so erfahren wir auf dieser Stufe die Gewißheit, den richtigen Partner gefunden
zu haben. Im Rahmen einer »Konsolidierung« soll das Gemeinsame dauerhaft in
zärtliche Zuneigung übergehen. Zärtlichkeit, Ruhe und freundliche Ausstrahlung
kommen aus der Seele. In dem Ich entsteht eine tiefe Sicherheit, die im Dienste der
Partnerschaft steht. Deutlich ist die Erkenntnis gewachsen, von dem Partner nicht
sein eigenes Glück zu erwarten. Liebe fördert die Freiheit und zieht dadurch an. Die
Erfahrung fördert die Bereitschaft zum Geben (Partner = Teilhaberschaft). Wenn die
Reise zum Ziel des materiellen Ichs angekommen ist, findet in der Partnerschaft
eine neue Qualität der Zuwendung zu den geistigen Ebenen statt. Die Reise führt zu
geistigen Höhen, die in jedem Menschen
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verborgen liegen und auf das gemeinsame — gegenseitige — Entdecken warten. Die
Partnerschaft zeichnet sich in der Integration der geistigen Welten in die Welt des
irdischen Lebens aus. Durch diesen Prozeß der Integration wendet sie sich mit größerer
Aufmerksamkeit der inneren Wirklichkeit zu, was als gleichbedeutend mit der wahren
Zuwendung zu Gott erfahren wird. Für Partnerschaft und Ehe scheint eine neue
gemeinsame Suche zu beginnen, die selbstverständlich gemeinsam erfolgt, wenn
auch auf unterschiedlichen Wegen, aber beide spüren den »Windhauch Göttlichen
Genügens«, der ihnen am Rande der Wirklichkeit von der Ebene des Geistes her
zuweht. Diese Stufe wirkt ähnlich wie die erste Stufe, in der Sehnsucht und
Bedürftigkeit des Menschen wachgerufen werden, doch nun auf einer geistigen Ebene.
Der Unterschied liegt darin, daß die Partner in dieser Partnerschaft über ein
Bewußtsein der Einzigartigkeit des anderen und über die Verschiedenheit der Situationen
in jeder Begegnung verfügen. Jede Situation ist wie die Herausforderung, das Geheimnis
des gemeinsamen Zusammenlebens neu zu entdecken. Dies ist vergleichbar mit
jener Erfüllung, die jedoch noch nicht ihr Ende, ihre vollkommene Erfüllung,
erfahren hat.
Das Tal des Staunens
Es ist unfaßbar, daß die Schöpfung kein Ende kennt, auch nicht was den Aspekt ihrer Pracht und Schönheit betrifft. Der Sucher erfährt sich partizipierend im Meer der »erhabenen Größe«. Im Tal des Genügens erkennt er den Funken des Schöpfungsaktes, im Tal des Staunens erfährt er in jeder Erscheinung der Wirklichkeit die Unendlichkeit der Schöpfung, und sich selbst erkennt er als Bestandteil all dessen.
»Jeder Augenblick zeigt ihm Welten des Wunders und eine neue Schöpfung. Er wandert von Verwunderung zu Verwunderung und vergeht aus Ehrfurcht vor den Werken des Herrn der Einheit. Ja, mein Bruder, wenn wir über irgendeines der erschaffenen Dinge nachdenken, so werden wir hunderttausend vollkommene Weisheiten finden und ungezähltes wundersames und neues Wissen erfahren. Eine der erschaffenen Erscheinungen ist der Traum: Sieh, wieviele Geheimnisse er birgt, welche Weisheiten er enthält, und wie groß die
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Zahl der Welten ist, die er einschließt. Du schläfst in einer verschlossenen Wohnung und weilst doch plötzlich weitab in einer Stadt, in die du eintrittst, ohne die Glieder zu rühren oder dich des Körpers zu bedienen, du siehst ohne Augen, hörst ohne Ohren und sprichst ohne Zunge. Und vielleicht geschieht es, daß du zehn Jahre danach in der äußeren Welt dem, was du nächtlich im Traum geschaut hast, begegnest.«24)
Bahá’u’lláh spricht von erschaffenen Erscheinungen und den wundersamen Möglichkeiten, die der Mensch im Traum erleben kann. Er deutet an, daß der Mensch in der Lage ist, verschiedene Welten, die einen zeitlosen Charakter haben und der materiellen Ebene ungebunden gegenüberstehen, »durchwandern« zu können. Der Hinweis scheint den verborgenen seelischen Kräften im Menschen zu gelten. In diesem Tal erfährt der Sucher seine innere Kraft. Sie führt ihn in das praktische Erleben dieser geistigen Fähigkeiten, denen er nur staunend gegenüber stehen kann.
»Gott, der Erhabene, hat diese Zeichen (Traum, Anm. d. Autors) in die Menschen gelegt, damit die Philosophen die Geheimnisse des Fortlebens nicht zu leugnen vermögen, noch herabsetzen, was ihnen verheißen ist. Denn einige stützen sich allein auf die Vernunft und leugnen, was von ihr nicht erfaßt wird, obwohl außer der Göttlichen, Höchsten Vernunft nie die schwache Vernunft die eben geschilderten Dinge zu begreifen imstande ist. «25)
Zur Sinngebung für Ehe und Partnerschaft: Staunen
Während der Sucher noch im fünften Tal die neuen geistigen Möglichkeiten spürt und sie erahnt, erlebt er sich im sechsten Tal als Bestandteil dieser verborgenen seelischen Kräfte. Er findet nicht nur zu seiner inneren Freiheit, sondern kann diese geistigen Fähigkeiten in seinem Alltag praktisch auch erleben. Er erlebt sie staunend und beglückend und kann nicht begreifen oder beschreiben, was mit ihm passiert. Dies ist die Vorstufe zur Auflösung bekannter Identitäten, Strukturen und sozialer Konstruktionen und seines Verständnisses von sich selbst und der Welt, deren Gültigkeiten nicht länger von Bestand zu sein scheinen. Jedoch erlebt er keinen Verlust, denn das Neue ist tausendmal glückspendender. Die Bereicherung in Partnerschaft und Ehe entsteht durch das gemeinsame Teilen dieser erstaunlichen Prozesse, und obwohl sie selbst nicht begreifbar sind, erlebt jeder Liebende im gemeinsamen Teilen eine Bestätigung, die der Worte nicht bedarf. Der Partner fühlt sich nahezu und gleichzeitig eins mit jenen unbeschreiblichen Gefühlen, Eindrücken und Erfahrungen. Jeder versteht diese Eindrücke für sich und kann dennoch nur einen Bruchteil des eigenen Erlebens mitteilen, das vom anderen zwar verstanden werden kann, aber was die Beschreibung der wirklichen Empfindung anbelangt — dazu fehlen die Worte. Allein das gegenseitige Anteilnehmen an diesem Prozeß ist eine ungeahnte Begegnung. Auf dieser Stufe verändert sich die »materielle« Liebe zueinander und die Partner werden von der Erfahrung einer »geistigen« Liebe bereichert. Der Unterschied zeigt sich, daß sich die Liebe vergrößert, wenn sie sie teilen und eine neue Freiheit durch sie entsteht. Jeder Gedanke und jeder Wunsch scheint dem anderen schon bekannt zu sein, obwohl es ein neuer Gedanke ist, der in der mit dem Partner gefundenen Bestätigung die größte Freude auslöst und bereichernd für die gemeinsame Erfahrung wirkt. Diese Freude entspringt aus der Abstinenz von Erwartungen an den Partner. Das Glück entspringt aus einer geistigen Quelle.
Das Tal der wahren Armut und des völligen Vergehens
»Dies ist die Stufe, auf der das Ich stirbt und in Gott lebt, arm in sich selbst und reich durch den Ersehnten. Wenn wir auf dieser Stufe von Armut sprechen, so ist damit die Armut von allem gemeint, was in der erschaffenen Welt ist, und Reichtum durch alles, was in der Welt Gottes ist. ... Wer diese Stufe erreicht hat, ist über alles, was von der Welt ist, geheiligt. Wenn darum die, die zu diesem Meer Seiner Gegenwart hingefunden, nichts mehr von den vergänglichen Dingen in der sterblichen Welt besitzen, sei es äußeres Gut oder eigene Meinung, so ist darin kein Harm, denn was immer die Geschöpfe besitzen, ist begrenzt durch ihre eigene Begrenzung, doch was Gottes ist, ist darüber geheiligt...«26)
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Bahá’u’lláh versichert dem Menschen, daß der Verlust der Ich-Identität sich
als unschätzbarer Gewinn herausstellt. Die Auflösung der bekannten Form der
persönlichen Identität verwandelt sich in eine neue Identität, die in ihrer Gestalt
völlig anders ist. Der Mensch kennt diese neue Form nicht und kann sie sich nicht
vorstellen; gerade dies erschreckt ihn sehr. Der Tod symbolisiert die materielle
Vergänglichkeit, er symbolisiert jedoch nicht das Ende. Die menschliche begrenzte
Vorstellung ist das Produkt des menschlichen begrenzten Verstehens. (»Verstand und
Herz können niemals das Erzeugnis ihrer eigenen Vorstellungen, das Ergebnis ihrer
eigenen Gedanken übersteigen.«27)) Die Wirklichkeit Gottes ist auch außerhalb
unserer Vorstellungswelt existent. Der Philosoph Lichtenberg fragte sich in diesem
Kontext, wie klein Gott sein muß, wenn der Mensch sich ihn vorstellen kann.
»O mein Freund! Lausche der Weise des Geistes mit Herz und Seele und schätze sie wie das Licht deiner Augen, denn nicht immer werden die göttlichen Weisheiten wie Frühlingsregen auf die Schollen der menschlichen Herzen strömen. Wenn auch des Allgütigen Gnade ohne Unterlaß strömt, so ist doch jeder Zeit und jedem Abschnitt ein bestimmter Anteil verordnet und eine gewisse Gabe bereitgehalten, die nach festgesetztem Maße gespendet wird.«28)
Die fortschreitende Gottesoffenbarung erfüllt diese Gesetzmäßigkeit, denn mit dem Auftreten einer neuen Offenbarung ist die Frühlingszeit göttlicher Weisheiten gemeint. Hier wird darauf angespielt, daß wir in einer Welt leben, in der wir durch unsere Entscheidung und Hinwendung zur göttlichen Wirklichkeit großen Einfluß auf unser Sein haben und wir darüber unsere Wirklichkeit konstruieren. Erst durch die willentliche und bewußte Entscheidung haben wir Anteil an dem »Frühlingsregen der göttlichen Weisheiten«.
»O mein Bruder! Nicht jedes Meer enthält Perlen, nicht an jedem Zweig erblühen Rosen, noch wird die Nachtigall überall singen. .... Wenn du einmal diese höchste Stufe erreicht hast und zu dieser mächtigen Ebene gelangt bist, wirst du auf den Geliebten schauen und alles andere vergessen. ... So hast du nun den Tropfen des Lebens geopfert und dafür das Meer Dessen, Der das Leben spendet, gewonnen. Das ist das Ziel, nach dem du gefragt hast. So Gott will, wirst du es erreichen.«29)
Bahá’u’lláh deutet an, daß der Sucher die Wahrheit finden kann. Er soll jedoch mit den Augen der Erkenntnis schauen, damit er weiterhin differenzierungsfähig bleibt. (»Nicht jedes Meer hat Perlen...«). Wahre Armut und völliges Vergehen bedeutet, daß der Sucher reich wird in Gott. Er findet zu Ihm »zurück«. Dies ist eine Bestimmung, die in ihm liegt, und er erreicht sie auf der Basis einer freiwilligen Entscheidung.
»In diesem Tal läßt der Wanderer die Stufen der ›Einheit des Wesens und der Erscheinung‹ hinter sich liegen und gelangt zu einer Einheit, die über beide geheiligt ist. Verzückung allein kann das Gesagte begreifen, nicht Erörterung oder Wortstreit.«30)
Die hier angedeutete höhere Entwicklungsstufe (»Einheit, die über beide geheiligt ist«) steht über den beschriebenen Ebenen von Materie und Geist. Damit ist eine weitere Einheitsstufe gemeint, die erst dann erlebbar wird, wenn die Einheit zwischen materieller und geistiger Ebene erreicht ist. Konnte sich der Sucher noch ein Bild von der materiellen und der geistigen Ebene gemäß des Entwicklungsprozesses machen, der in den Sieben Tälern beschrieben wird, so deutet dieses Tal eine neue — dem Sucher kaum zu begreifende — Dimension an. In diesem Tal scheint sich ihm eine Stufe zu eröffnen, die über der Einheit von Materie und Geist steht und ihn erahnen läßt, wie der Entwicklungsprozeß in noch weitere Entwicklungsdimensionen übergeht. Bahá’u’lláh erklärt eindeutig, daß der Wanderer sich an das »Gewand des Gehorsams zu den Geboten halten und fest das Seil des Vermeidens alles Verbotenen fassen« soll, will er die Sieben Täler durchwandern.
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»Obwohl diese Reisen im Zeitlichen ohne erkennbares Ende scheinen, kann der gelöste Wanderer, wenn ihm unsichtbare Bestätigung zufließt und der Hüter der Sache ihm beisteht, diese sieben Stufen mit sieben Schritten, oder mit sieben Atemzügen, ja gar in einem Atem, durchmessen, wenn dies Gott zuläßt und wünscht...«31)
Die Sieben Täler beschreiben einen Weg, der scheinbar mühselig und endlos ist, doch wenn Gott will, erfährt der Sucher Überraschungen, die ihm wie »Sprünge in seiner Entwicklung« vorkommen müssen. In der Regel erhärten alle diese Aussagen den Gedanken, daß das Erreichen der siebten Stufe ein allmählicher Vorgang ist und nicht in einem einmaligen Glaubensakt geleistet werden kann. Wenn Gott will, wird dieser Vorgang abgekürzt, aber dies liegt nicht mehr in der Macht des Suchers, es hängt vielmehr von der Gnade Gottes ab. Die letzten Sätze verdeutlichen, daß die Sieben Täler am Ende nur die Eröffnung zu einem neuen Anfang beschreiben, den Sucher in das Leben der Liebe zu führen:
»Wer in den Himmel der Einzigkeit aufgestiegen und zum Meer des Unumschränkten gelangt ist, der erkennt diese Stufe, die das Leben in Gott ist, als äußerstes Ziel für die mit mystischem Wissen Begabten und als höchstes Heim für die Liebenden. Doch für diesen in der See der inneren Bedeutung Aufgelösten ist diese Stufe das erste Tor zur Feste des Herzens, durch das der Mensch zum ersten Mal in die Stadt des Herzens eintritt.«32)
Zur Sinngebung für Ehe und Partnerschaft: Wahre Armut und völliges Vergehen
Ich möchte noch einmal daran erinnern, was Bahá’u’lláh gesagt hat: Wahre Armut und völliges Vergehen bedeuten, daß der Mensch reich wird in Gott. Wir finden zu Ihm »zurück«. Eine Bestimmung, die in uns liegt, und wir können diese Stufe nur durch eine Entscheidung aufgrund unseres freien Willens erreichen, denn der Glaube eines Menschen kann nur von ihm selbst abhängen. Wie kann dieses Tal beschrieben werden, wenn der Mensch in Gott aufgenommen wird? Die Partnerschaft/Ehe ist an einen Punkt angelangt, der als das eigentliche gemeinsame Ziel bezeichnet werden kann und über das die Geliebten gemeinsam eine neue Welt betreten, die nur die Tür zu weiteren neuen geistigen Welten ist. Hier hören wir als Menschen auf, in unserer konstruierten Wirklichkeit zu sein. Es gibt sie nicht mehr, denn das Erreichen dieser Stufe fördert die Überwindung der »Welt der Erscheinungen und der Begrenzungen«. Diese Stufe entfacht bei den Liebenden ein »Feuer der Herzensglut« und verwandelt die Liebenden in »leuchtende Schönheiten, durch die alle Hüllen und Schleier — vom Herzen bis zur Haut — verbrennen«, und nichts mehr verbleibt außer der Liebe zum Geliebten. Die Herzen erstrahlen in ihrer Reinheit durch die Keuschheit der Seele und die Freiheit des Geistes. Wenn sich die Geliebten anschauen, sehen sie ein Spiegelbild ihrer Seele und der Schöpfung Gottes. Der Verlust an Ich-Identität ist nahezu vollkommen und stellt sich als unschätzbarer Gewinn heraus.
Fazit
Die Rezeption der Sieben Täler auf Ehe und Partnerschaft kann in dieser Arbeit
nur kurz gefaßt werden und kann auch nicht alle aufkommenden Fragen und Gedanken
beantworten oder gerecht behandeln. Dies war auch nicht mein Anliegen. Vielmehr
sollte dem Leser eine subjektive Interpretation angeboten werden, die die
Sieben Täler in einem »neuen Licht« erscheinen läßt und verständnisfördernd
wirken und zum weiteren Nachdenken anregen soll. Bemerkenswert scheint mir die
Tatsache, daß sich in der Darstellung der Sieben Täler die ersten drei Täler
auf der geistigen
[Seite 27]
Ebene wiederholen, aber ohne den Aspekt des Wiederholungszwanges. Durch geistige
Erkenntnis nehmen geistige Eigenschaften Einfluß auf die materiellen Täler. Die
ersten drei Täler sind ebenfalls mit geistigen Anteilen beseelt, und die
nachfolgenden geistigen Täler berücksichtigen ebenfalls materielle Gegebenheiten.
Somit können materielle Eigenschaften durch geistigen Einfluß einen bedeutend
höheren Sinn erfahren, wie dies deutlich erkennbar wurde in der Befriedung
von Sehnsucht und Leidenschaft. Das Ziel der Sieben Täler ist die
Erreichung der Einheit von materieller und geistiger Welt, damit die körperlichen
menschlichen Eigenschaften ein Instrument für die Seele werden, solange die
unsterbliche Seele an den sterblichen Körper gebunden ist. Geistige wie psychische
Fähigkeiten werden Schaden anrichten, wenn sie infolge falscher oder unangemessener
Entwicklung fehlerhaft angewendet werden. Die Sieben Täler wollen den Weg
der Seele durch das Labyrinth von Liebe, Leidenschaft und Sehnsucht einerseits und
ihre Befreiung und Loslösung von Grenzen, Gesetzen und Bedingungen andererseits
aufzeigen. Das Ziel besteht darin, dem Menschen mittels Erkenntnis die besten
Bedingungen zu ermöglichen, sein geistiges Wachstum in Abhängigkeit seiner
Möglichkeiten zu entwickeln. Jedes Individuum, das zu seiner angemessenen
geistigen und materiellen Entwicklung findet, wird sensibel für seine
physischen und seelischen Bedürfnisse. In der Partnerschaft drückt sich
dieser Prozeß in einem sich gegenseitig ermutigenden und fördernden
Verhalten aus, gemeinsam zu gesunden und glücklichen Einzelmenschen zu werden,
die ihre eigene »Gesundheit« in Abhängigkeit der Pflege ihrer Ehe/Partnerschaft
und der Gesellschaft sehen und dabei beseelt und geführt werden von
geistigen Erkenntnissen.
- 1) In dieser Arbeit werde ich nicht auf die Entstehungsgeschichte der Sieben Täler eingehen und sie erklären, ich verweise auf die vorhandene Literatur, u.a.: Sieben Täler, Oberkalbach: Bahá’í-Verlag, 1971, S. 6-8
- 2) vgl. Bahá’u’lláh, Ährenlese, Hofheim-Langenhain: Bahá’í-Verlag 1980, 27:4 und 77
- 3) die Manifestation oder der Offenbarer Gottes
- 4) Bahá’u’lláh, Ährenlese 27:5
- 5) vgl. Bahá’u’lláh, Ährenlese 78, 83 und Bahá’u’lláh, Botschaften aus 'Akká, Hofheim-Langenhain: Bahá’í-Verlag 1982, Kap. 10 (Worte der Weisheit)
- 6) vgl. Bahá’u’lláh, Ährenlese 80:2, 81 und 82
- 7) vgl. Bahá’u’lláh, Das Buch der Gewißheit, Frankfurt: Bahá’í-Verlag 1969, S. 129-131
- 8) Bahá’u’lláh, Sieben Täler, S. 32f
- 9) ebenda, S. 37f
- 10) ebenda, S. 35
- 11) nach ‘Abdu’l-Bahá
- 12) Bahá’u’lláh, Botschaften aus 'Akká 10:22
- 13) Bahá’u’lláh, Sieben Täler, S. 39
- 14) ebenda, S. 41
- 15) ebenda, S. 46
- 16) ebenda, S. 40
- 17) ebenda, S. 39f
- 18) ebenda, S. 44
- 19) ebenda, S. 46f
- 20) ebenda, S. 40
- 21) ebenda, S. 48
- 22) ebenda, S. 48
- 23) ebenda, S. 49
- 24) ebenda, S. 50
- 25) ebenda, S. 51
- 26) ebenda, S. 53
- 27) Bahá’u’lláh, Ährenlese 148
- 28) Bahá’u’lláh, Sieben Täler, S. 54
- 29) ebenda, S. 54f
- 30) ebenda, S. 55
- 31) ebenda, S. 56
- 32) ebenda, S. 56f
Renate Herzfeld-Modern
Ein Blick in die Zukunft der Menschheit[Bearbeiten]
Auszug aus einer Predigt, die Prof. Dr. Levi Herzfeld im Jahre 1871 in Braunschweig hielt
Der nachfolgende Text gibt einige Ausschnitte aus einer Predigt wieder, die der Landesrabbiner Dr. Levi Herzfeld zur Zeit der Beendigung des Krieges zwischen Deutschland und Frankreich in der Synagoge zu Braunschweig gehalten hat. Herzfeld hat sich ausgezeichnet als Redner, Geschichts- und Altertumsforscher und ebenso als einer der ersten jüdischen, liberal denkenden Persönlichkeiten. Seine Totenmaske und viele seiner Werke befinden sich in der Jüdischen Abteilung des Braunschweiger Landesmuseums. Die folgenden Abschnitte wurden von Levi Herzfelds Urenkelin, Renate Herzfeld-Modern, im Jahre 1991 ausgewählt. Ihre Wiederveröffentlichung 1991 in Brasilien auf Portugiesisch und nun auch auf Deutsch soll eine Ehrung sein für diesen weisen, gelehrten, mutigen und weitschauenden Mann, dessen Wissen unbedingt erhalten bleiben und bekannt werden sollte.
▪ Vorwort
Zur besseren Information der Leser folgt hier, was die »Universal Jewish Encyclopedia« über Levi Herzfeld schreibt:
Professor Dr. Levi Herzfeld wurde 1810 in Elbrich im Harz geboren und starb
1884 in Braunschweig. Im Jahre 1842 wurde er Braunschweigischer Landesrabbiner und
1879 verlieh ihm der Herzog von Braunschweig den Professorentitel für seine
wertvollen Forschungsarbeiten.
Zusammen mit dem Rabbiner Ludwig Philippson berief er den ersten Rabbinerkongreß, der in Deutschland abgehalten wurde, nach Braunschweig, um über die Modernisierung des Judentums zu beraten(1844). Bei diesem wie bei weiteren Kongressen in Frankfurt und Breslau vertrat er eine eher moderate Reform, die auf geschichtlichen Betrachtungen gegründet war. Er war, zusammen mit Philippson, Direktor des »Instituts zur Förderung jüdischer Literatur« (1860-1873).
Herzfeld, der bekannt wurde als Geschichtsforscher und Archäologe, schrieb unter anderem folgende Werke:
□ Die Übersetzung von Ecclesiastes, mit Kommentaren;
□ Vorschläge für eine Reform der jüdischen Heiratsgesetze;
□ Geschichte des Volkes Israel (3 Bände);
□ Minhath Zikkaron, ein Lehrbuch für jüdische Religionsschulen;
□ Methodologische Voruntersuchungen für eine Geschichte des hebräischen bzw. alt-jüdischen Handels;
□ Handelsgeschichte der Juden des Altertums
□ Die Kunstwerke der Hebräer.
Viele der Predigten, die Levi Herzfeld im Laufe der 42 Jahre als Braunschweigischer
Landesrabbiner gehalten hat, wurden
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auf Wunsch der Gemeinde gedruckt, so »Die Lehre über den Messias« (1844) und ebenfalls
die Passah-Predigt, die den Anlaß zur vorliegenden Ausführung gab.
▪ Einführung
Levi Herzfeld wird als der erste Geschichtsschreiber der jüdischen Wirtschaftsgeschichte bezeichnet aufgrund seiner »Handelsgeschichte der Juden des Altertums«, ein Werk, das bis heute bleibendes Interesse hervorruft.
Herzfeld wurde bis weit über die Grenzen seines Landes hinaus geachtet und er besaß, wie sein Biograph bestätigt, eine besondere Gabe als Redner, der seinen Predigten eine geschliffene Form gab, tief durchgeistigt und voller Gelehrsamkeit. Seine Feinfühligkeit war außergewöhnlich, ebenso seine Fähigkeit, zu beobachten und zu verstehen und dadurch Ausblicke auf die Zukunft zu gewinnen.
Das Studium und die Erziehung der Jugend waren immer ein Teil der Anliegen, die seinem Herzen am nächsten standen.
Heutzutage stellen wir fest, daß Levi Herzfeld sich nicht nur durch seine umfassende Bildung und seine großen Kenntnisse in der Auslegung von Talmud und Bibel auszeichnet sowie durch seine liberalen und wirklich fortschrittlichen, jedoch gleichzeitig zurückhaltenden, moderaten Ideen, sondern auch als einer der ersten jüdischen geistigen Führer mit liberaler Denkungsart.
Aufgrund seiner ausführlichen Studien hatte er den Mut, die Zukunft der Menschheit vorauszusehen, in der Juden und Nicht-Juden brüderlich vereint einen gemeinsamen Weg beschreiten werden. Eine Zukunft, die damals noch fast undenkbar weit entfernt war von den Gedankengängen seiner eigenen Generation. Heute jedoch, nachdem schon mehr als ein Jahrhundert seit Herzfelds Tod im Jahre 1884 vergangen ist, beginnen wir noch immer weit entfernt am Horizont die ersten Lichtstrahlen der Verwirklichung jener Ideale, die ersten bescheidenen und schüchternen Ansätze des so oft prophezeiten und unumgänglichen messianischen Reiches auf dieser Erde, an das so viele Menschen heutzutage gar nicht mehr zu glauben wagen, zu erkennen.
- Prof. Dr. Levi Herzfeld (um 1860)
Trotz der gewaltigen Stürme, die noch immer über unseren Planeten fegen, trotz
der Konflikte und des Hasses, die noch immer vielerorts existieren, fühlen wir,
wenn wir die Weltgeschehnisse mit weltumfassendem Blick betrachten, daß sich
uns doch schon ein wenig die Zukunft genähert hat, in der alle Völker der Erde
»Gott mit einem Namen anrufen« werden und in der alle fühlen, daß sie zu einer
einzigen Familie gehören, zur Familie der Menschheit!
[Seite 30]
Vielleicht wäre es noch interessant, die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Tatsache
zu lenken, daß Dr. Herzfeld diese Predigt unmittelbar nach der Beendigung des
deutsch-französischen Krieges gehalten hat. Deutschland hatte gewonnen, weswegen
Herzfeld zuerst Gott für diesen Sieg dankt, aber seine Gemeinde warnt, nicht zu
stolz und froh über diesen Sieg zu sein, da ein wirklicher und dauerhafter Friede
nur zu erreichen sei, wenn die gesamte Menschheit bereit ist sich zu vereinigen — eine
Einigung ohne Vorurteile irgendwelcher Art und unter dem Banner von Brüderlichkeit,
Liebe und gegenseitiger Achtung.
▪ Aus der Predigt
Nur in den messianischen Stellen der Schrift und von einigen modernen Menschenfreunden, die aber als unpraktische Schwärmer gelten, wird es ausgesprochen, daß alle die verschiedenen Nationen der Erde eine Völkerfamilie zu bilden berufen sind, von welcher jede Nation ihre besonderen Anlagen und Vorzüge, ihre besonderen geistigen oder technischen Geschicklichkeiten, ihre besonderen Geistesrichtungen hat, und daß die Menschheit erst dann ein wohlgegliedertes Ganzes bilden werde, wenn die Völker miteinander bloß wetteifern in den Werken des Friedens, wenn sie, fern von aller Selbstüberhebung, die Vorzüge jedes anderen Volkes bereitwillig anerkennen... Ganz wie der Welthandel den Überfluß des einen Landes dem anderen zuführt, so müssen auch alle geistigen Kräfte und Leistungen der Völker einen friedlichen gegenseitigen Austausch erfahren, das ist nicht bloß messianisch, sondern jeder edlere Mensch hofft, daß dies auch die einzig richtige Politik der Zukunft sein wird...
Ich habe übrigens vorhin schon angedeutet, daß ich heute von Religion in ihrem allgemeineren Sinne, wie sie die ganze Menschheit zu durchdringen und zu umspannen trachtet, reden wollte. Nur ist noch eine Vorstufe hierzu kurz anzugeben..., nämlich, daß die Religion Israels keineswegs sich in sich selbst einspinnt, sondern die Augen offen hat auch für die übrigen geschichtlichen Religionsformen und für den religiösen Gedanken überhaupt. Ich sagte zuvor daß man auch das Fremde in seiner wahren Bedeutung anerkennen müsse. Die verdiente Anerkennung des Abweichenden versagt nur der, welcher einen sehr engen Blick hat...
In diesem Sinne sagt auch der Talmud..., die Frommen aller Völker würden Teil an der ewigen Seligkeit haben — wie hoch steht er hierdurch über jeder Lehre von einer alleinseligmachenden Kirche! Ferner ist es zwar der Kern der messianischen Idee, daß einst »alle Völker den Ewigen anrufen und einmütig ihm dienen«. Aber nicht im Entferntesten wurde dies von den Denkern unseres Stammes dahin aufgefaßt, daß alsdann die jüdische Religionsausübung das Gemeingut aller Nationen sein würde, sondern bloß dahin, daß die wichtigsten Heilslehren unserer Religion sich über die ganze Menschheit verbreiten würden... Dagegen die speziell jüdischen Religionsausübungen und Formen sollten im messianischen Reiche ganz aufhören (mizwot betélot leasid labo), das erklärt wiederum der verschrieene Talmud ganz unumwunden. Die Brücke ist also längst geschlagen zwischen unserer besonderen Religion und der allgemeinen Religion der Menschheit. Fällt in diesem geistigen Prozesse so manches hinweg, was durch die Pflege von Jahrtausenden mit uns ganz verwachsen ist: der menschheitlichen Entwicklung muß dieses Opfer gebracht werden. Und Jeremias sagt schon einmal, in jenen Tagen würde man nicht mehr der Bundeslade des Herrn gedenken, da alsdann jenes Jerusalem, dahin alle Völker sich versammeln, der Thron Gottes heißen werde...
Ich flehe und hoffe, daß die Menschheit diesem gezeigten Ziele, wenn auch langsam, immer mehr zureifen, immer mehr zuschreiten wird, und es werden sich mit der Zeit Formen finden lassen, in welchen gemeinsam der gemeinsame Gott verehrt und angerufen wird. Wenn aber einmal dies erfolgt sein wird, dann werden die Urenkel eine Friedensfeier begehen, welche über unserer letzten so hoch stehen wird, wie der religiöse Gedanke hocherhaben über jeden politischen ist...
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Gott, für die Religion, dieses köstlichste Deiner Geschenke, hast Du vielleicht denselben Entwicklungsgang bestimmt, welchen der einzelne Mensch durchmachen soll. Etwa die ersten zwölf Jahre seines Lebens ist er bloß ein Kind, und die elterliche Wohnung seine Welt. Dann folgen die Jahre, in welchen er mit erwachendem und immer klarer werdendem Bewußtsein die Welt um sich her wahrnimmt und mit ihr wie in schüchternen Versuchen in einige Verbindung tritt, halb gehört er schon ihr an, halb noch dem elterlichen Hause. Endlich aber erkennt sich der Mensch als Glied der ganzen Kette der Menschheit und fühlt sich als Weltbürger, wenn sein Geist ihm gestattet, bis dahin vorzudringen. Fast scheint es, daß Du, Herr, seine treueste Leiterin, die Religion, in der Menschheit entwickelt haben willst. So lange es Einzelreligionen gibt, steht die Religion noch selbst in ihrer Kindheit. Die angeborene elterliche Religion ist traulich, wie das elterliche Wohnhaus, aber bedingt auch wie dieses zu Isolierung und Ausschließung. Doch die Menschheit ist älter geworden, und die Einzelreligionen sollten wohl nunmehr anfangen, in Verbindung miteinander zu treten und sich bewußt zu werden, daß sie doch im Grunde ganz das nämliche Ziel verfolgen, wenn sie echt sind, wenn sie den ernstlichen Willen hegen, die Menschen zu heiligen und wahrhaft zu beglücken.
Jede einzelne Religion hat ihren eigenen Entwicklungsgang durchzumachen, aber das Ende aller Entwicklung auf diesem Gebiete muß sein, daß die ausgewachsene Menschheit eine allen gemeinsame Religion besitzt, zu welcher jede einzelne von eigenem höheren Gehalt ihr Bestes beigesteuert hat.
Auf der ersten Stufe stehen sie nebeneinander getrennt, auf der zweiten sollen sie einander die Hände reichen, auf der dritten und letzten Stufe aber müssen sie zu einer gemeinsamen verschmelzen, wie schon in unserem Alenu-Gebet ausgesprochen ist, daß Dir einst jedes Knie sich beugen und jede Zunge schwören wird. Es darf nicht gehofft werden, daß dieses edelste Sehnen der edelsten Sterblichen bald sich erfülle, denn die Menschheit schreitet langsam. Aber wir bitten Dich, ihr zu helfen, o Gott, daß die zweite dieser Stufen nunmehr recht bald erstiegen werde. Amen.
▪ Nachwort
Vor nunmehr über hundert Jahren sprach ein Gelehrter, mit weiter Sicht begabter Mensch in Deutschland diese Worte, die wir gerade gelesen haben. Sie sind das Resultat seiner Bibel- und Talmudforschungen und man spürt seine feste Zuversicht, seinen Mut und seine fortschrittliche Denkungsart, die uns noch heute begeistern können.
Dabei wußte Levi Herzfeld nicht, daß der Reifeprozeß der Menschheit innerhalb der nächsten Generation einen unvorstellbaren und gewaltigen Rückschritt machen würde, der anscheinend unvermeidlich war auf dem schweren Wege der Entwicklung. Er konnte nicht voraussehen, daß eine seiner Schwiegertöchter sich während des zweiten Weltkrieges an seinem Wirkungsort Braunschweig im Jahre 1943 das Leben nehmen würde, am Tage bevor sie abtransportiert werden sollte in ein Konzentrationslager, wo sie mit 83 Jahren keinerlei Überlebenschancen gehabt hätte. Auch konnte Levi Herzfeld nicht ahnen, daß die Mehrheit seiner zahlreichen Nachkommen in die ganze Welt verstreut werden würde, um der barbarischen Verfolgung und der Vernichtung während der schlimmen Zeit zwischen 1933 und 1945 zu entgehen.
Einige von ihnen konnten sich nicht retten, sie gehören zu den sechs Millionen Opfern des Holocaust, die auf dem tragischen Wege der Reifwerdung der Menschheit ihr Leben lassen mußten.
Jedoch wußte Levi Herzfeld oder er sah wirklich voraus, daß die wichtigsten Lehren seiner Religion »sich über die ganze Menschheit verbreiten« würden und daß im Ablauf der geschichtlichen Ereignisse, die leider mit so unaussprechlichen Leiden verbunden waren und mancherorts noch sind, die ersten Anzeichen dieser Entwicklung zum Vorschein kommen würden wie Blumen, die aus Trümmern hervorsprießen und die man heute schon in allen Teilen der Welt, wenn auch noch so zart, beobachten kann.
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Ja, trotz der tiefen Verbitterung, die fast alle Überlebenden der Verfolgung mit
sich herumtragen, trotz der schlimmen Zeit der beiden Weltkriege, die allen Beteiligten
gewaltig zusetzte, trotz der noch immer furchtbaren Bedrohung der gesamten
Menschheit, einer Bedrohung, die durch die zu schnelle technische Entwicklung ohne
den gleichzeitigen Fortschritt auf geistiger Ebene eine ständige Gefahr darstellt, und
das sowohl waffenmäßig als auch aus ökologischer Sicht gesehen, — trotz alledem
wird doch schon in der ganzen Welt darauf aufmerksam gemacht, daß der Weltfrieden
ein allen gemeinsames Ziel werden muß. Und das gilt sowohl für den Einzelmenschen als
auch für alle Völker der Erde. Es ist ein Wachrütteln aller.
Ein Leitsatz der UNESCO sagt folgendes: Da die Kriege im Geiste der Menschen entstehen, muß auch die Verteidigung des Friedens durch den Geist aufgebaut werden.
Niemals wurde so viel vom Frieden gesprochen, niemals haben die Menschen derartig weltumfassend gedacht wie jetzt, und nie haben sich so viele Stimmen für den Weltfrieden erhoben, für die Einheit der Menschheit und für die Menschenrechte, wie jetzt, etwa 120 Jahre nach dem Tag, an dem Dr. Levi Herzfeld seine so prophetische Predigt hielt. Am fernen Horizont erscheint ein erstes zartes Leuchten, und nach und nach beginnen die Menschen sich bewußt zu werden, daß sie ein gemeinsames Schicksal haben und daß der wirkliche Friede durch ihre innere Haltung entsteht, die durch die geistige und moralische Handlungsweise jedes einzelnen unterstützt werden muß. Es ist eine logische und unumgängliche Notwendigkeit, daß es weise und gerechte Gesetze geben muß sowie eine neue Weltordnung, nach der sich die Menschen ausrichten können.
In der Welt gibt es einzelne und Gruppen, deren wertvolle, idealistische Arbeit und Hingabe nicht verlorengehen können und dürfen, da sie dabei sind, die tiefinnersten menschlichen Werte erneut hervorzubringen und zu verarbeiten. Sie suchen und finden friedliche Lösungen für die schweren sozialen und wirtschaftlichen Probleme, die die Menschheit geiseln. Es gibt selbstlose Menschen, die ihr ganzes Sein einsetzen für das Wohlergehen der leidenden Bevölkerung, und es gibt viele, die auf völlig altruistische Weise und ohne Vorurteile an dem besseren Verständnis und der Annäherung der verschiedenen religiösen, ethnischen, nationalen und sozialen Gruppen arbeiten. Es existieren Personen, deren einziges Ziel im Leben es ist, anderen ihre Leiden zu lindern oder gar zu beheben. Und es gibt immer mehr Menschen, die ihr Heim und ihren Besitz verlassen, ihr Land, ihre Bequemlichkeit, ihre Vergnügungen, und die manchmal sogar ihr Leben opfern, um das Kommen jenes Tages zu beschleunigen, an dem es außer der Ausmerzung von Verfolgungen, Haß und Vorurteilen, von Streit und Kriegen, nur ein einziges Ziel geben wird: Die Vereinigung aller Völker der Welt in einer einzigen großen Familie! Es wird der Tag sein, den Levi Herzfeld im Jahre 1871 von ferne sah, als er voller Zuversicht, trotz der feindlichen oder unaufgeklärten Welt in seiner Umgebung, in seiner Predigt sagte, daß bestimmt der Tag kommen wird, an dem »alle Völker gemeinsam Gott anrufen und ihm dienen« werden, an dem die Menschheit reif und erwachsen sein und an dem ihr einziges Streben dahingehen würde, dem menschlichen Leben einen edlen Sinn und eine glückliche Existenz zu geben. An dem Tag wird die Sonne der Wahrheit die ganze Welt erleuchten.
Es gibt in der Welt eine unsäglich starke Kraft des Guten, und diese wird eines Tages die Macht des Fanatismus, der Gewalt, des Egoismus und der Gewinnsucht besiegen. Sie wird die geistige Trägheit und die Unwissenheit durch konstruktive Aktivität und Bildung ersetzen und nach und nach — denn es handelt sich um einen unendlich subtilen und langwierigen Prozeß — wird jene Welt voller Liebe, Harmonie, Frieden und Wohlergehen entstehen, die uns in allen heiligen Schriften und von vielen Weisen und Sehern, die schon über diese Erde geschritten sind, prophezeit wurde.
Die Natur kann ohne uns leben, aber wir nicht ohne sie[Bearbeiten]
Hans-Peter Dürr
»Im Einvernehmen mit der Natur«, so lautet der Titel eines Buches, in dem der Münchner Physik-Professor und Träger des »Alternativen Nobelpreises« Hans-Peter Dürr einen grundlegenden Wertewandel fordert. Dürrs These: Die falsche Einstellung des »modernen« Menschen zu seiner Umwelt produziere lebensbedrohende Gefahren. Diese Einstellung müsse geändert werden.
Hans-Peter Dürr studierte bei dem berühmten deutschen Atomphysiker Werner Heisenberg. Heisenberg entdeckte die Bausteine des Atomkerns und wurde für seine grundlegenden Arbeiten zur Quantentheorie mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Später arbeitete Hans-Peter Dürr unter dem amerikanischen Physiker Edward Teller. Teller war maßgeblich an der Entwicklung der Wasserstoff- sowie der Atombombe beteiligt. Erstmals Aufsehen erregte Dürr, als er das amerikanische SDI-Programm heftig kritisierte. Für seine Beiträge zu alternativen Energieversorgungskonzepten und für seine Anregung zur Gründung von »Global Challenges Network«, einem unabhängigen interdisziplinären Forschungsinstitut, erhielt Dürr 1987 den »Alternativen Friedensnobelpreis«. 1987 wurde Dürr auch Vorsitzender des Direktoriums des Werner-Heisenberg-Instituts für Physik und Astrophysik in München. Außerdem engagierte er sich bei Greenpeace. Durch seine Erfahrungen in der Kriegs- und Nachkriegszeit geprägt, verbindet der Physikprofessor und vehemente Vertreter der Friedensbewegung wissenschaftliche Arbeit vor allem auch mit Verantwortung.
Die Bahá’í-Briefe veröffentlichen mit freundlicher Genehmigung von »Global Challenges Network« die wichtigsten Thesen des Physikers.
Wir machen es uns zweifellos zu einfach, wenn wir unsere eigene Unfähigkeit
zum Frieden mit einer allgemeinen Friedlosigkeit der Natur, einem primitiven
Darwinismus, der das »Überleben des Stärkeren« propagiert, zu entschuldigen
suchen. Wohl ist richtig: Das Naturgeschehen ist voller Bewegung, voller Veränderung,
voller Verwandlung. Kräfte und Gegenkräfte ringen ständig miteinander, um bessere
Formen und Strukturen für ein langfristiges Überleben zu erfinden und zu erproben.
Vieles muß hierbei aufgegeben und zerstört werden. Wesentlich dabei ist aber, daß in
diesem ewigen Wandlungsprozeß immer wieder Neues entsteht: Die Vielfalt der Formen
wird erweitert, höhere und differenziertere Ordnungsstrukturen entwickeln
sich, die in lebendige, konstruktive Wechselwirkung miteinander treten, um eine
noch höhere Entwicklungsstufe vorzubereiten. Es herrscht nicht Friedhofsruhe,
sondern ein Friede voller Lebendigkeit, der ein ewiges Werden und Vergehen in
vielfältigen Variationen zuläßt. »Einvernehmen mit der Natur« erscheint bei dieser
Betrachtung als das elementare und umfassende Friedensangebot.
Anstatt die ihn umgebende Natur als eine notwendige Voraussetzung, als
Grundlage für seine eigene Existenz zu
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betrachten, empfand der rational denkende Mensch mit zunehmender Arroganz die
Natur immer mehr als eine Gegenmacht, gegen die es sich zu schützen galt und die
letztlich geeignet beherrscht werden mußte, damit er, der Mensch, volle Sicherheit
für sich erlangen und maximalen Nutzen aus ihr ziehen konnte. Die experimentelle
Naturwissenschaft bot hier eine wesentliche Hilfestellung.
Die Naturwissenschaft hat uns offenbart, daß hinter dem vielfältigen und bunten Naturgeschehen einige wenige Grundgesetze stehen, welche die “zeitliche Entwicklung dieses Geschehens bestimmen. Die Kenntnis dieser Naturgesetze erlaubt uns deshalb, mit gewissen Einschränkungen, die zeitliche Entwicklung eines vorgegebenen Systems vorherzusagen, und — was noch wichtiger ist — sie gibt uns Anweisungen, wie ein System präpariert werden muß, um die von uns gewünschten Folgen in der Zukunft herbeizuführen und zu realisieren. Die Kenntnis der Naturgesetze verschafft uns also prinzipiell die Möglichkeit, die Zukunft nach unseren eigenen Wünschen zu gestalten. Es ist diese Möglichkeit, die Wissen zu einem Machtfaktor macht und uns das Gefühl vermittelt, die Natur letztlich »in den Griff« bekommen zu können. Die Verfolgung dieses Weges hat dem Menschen ungeahnte Einflußmöglichkeiten verschafft.
Dem Siegeszug des Menschen, die Natur mit immer besserem Wissen immer weitgehender beherrschen zu können, steht eine Reihe von prinzipiellen Schwierigkeiten im Wege. Die Natur gleicht nicht einem mechanischen Uhrwerk, das nach strengen Gesetzen abläuft und das zukünftige Geschehen eindeutig festlegt, sondern Natur entwickelt sich auf eine offene Weise, bei der es für bestimmte Entwicklungen nur gewisse Bevorzugungen mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten gibt. Der Schöpfungsprozeß ist gewissermaßen nicht abgeschlossen.
Dies ist aber nicht der einzige Grund für die Unvorhersehbarkeit künftigen Geschehens. Die konkreten Ausprägungen des Naturgeschehens werden darüberhinaus immer schwerer durchschaubar, je komplexer ein System aufgebaut ist, und insbesondere, je mehr ein System die Fähigkeit erlangt, auf sich selbst zurückzuwirken. Eine solche Fähigkeit entwickelt sich jedoch nur unter ganz bestimmten Bedingungen. Solche Bedingungen sind in ganz besonderer Weise auf der Erdoberfläche gegeben, und sie sind die eigentliche Ursache für die dortige phantastische Vielfalt und Differenziertheit der Erscheinungsformen der Natur. Diesem bedeutsamen Umstand müssen wir ganz besondere Beachtung schenken.
Es gibt nämlich in der Natur ein wichtiges Grundgesetz, das in der Physik als zweiter Hauptsatz der Thermodynamik bezeichnet wird. Dieses Grundgesetz besagt, daß in jedem isolierten, also sich selbst überlassenen System eine unwahrscheinliche Anordnung seiner Bestandteile sich im Laufe der Zeit allmählich in eine wahrscheinlichere verwandelt. Dieses eigentümliche Verhalten ist uns zum Beispiel beim Mischen eines Kartenspiels geläufig: Beim Mischen der Karten geht jegliche besondere Anordnung eines Kartenspiels verloren, während der umgekehrte Vorgang nie passiert.
Da hohe Ordnungsstrukturen in einem System, statistisch betrachtet, immer
unwahrscheinlicher sind als Strukturen geringerer Ordnung oder gar eine
totale Unordnung, hat dies auch die praktisch wichtige Folge, daß jegliche
Ordnungsstruktur, jede Besonderheit, jedes Ausgezeichnetsein im Laufe der
Zeit von alleine abgebaut und
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zerstört wird. Ein heißer und ein kalter Körper zum Beispiel, in Kontakt
miteinander gebracht, gleichen ihre unterschiedliche Wärme nach einiger Zeit
selber aus. Daß ein lauwarmer Körper nach einiger Zeit in den geordneteren Zustand
übergeht, bei dem eine Seite kalt und die andere warm wird, ereignet sich dagegen
nie. Mit dem vollständigen Ausgleich der Wärme erstirbt jede Bewegung, jede Veränderung.
Dies bedeutet: Ohne aktive Einwirkung, ohne äußere Unterstützung, ohne »tätige Pflege«
zerfällt allmählich jegliche geordnete Struktur — eine Beobachtung, die wir auf
mannigfache Weise in unserem Alltagsleben machen können.
Umso erstaunlicher ist es deshalb, daß sich mit der Evolution des Lebens auf der Erdoberfläche ein Prozeß abspielt, der diesem »natürlichen« Ablauf allen Geschehens entgegengerichtet zu sein scheint: Im Laufe der über vier Milliarden Jahre langen Geschichte der Erde haben sich auf ihr aus primitiven chemischen Strukturen Schritt um Schritt immer höher organisierte, immer höher geordnete, immer unwahrscheinlichere Strukturen — nämlich unzählige Pflanzen, Tiere mit immer komplexerem Aufbau und schließlich der Mensch mit seinem Bewußtsein — entwickelt. Wie konnte sich dieser Gegentrend der Entwicklung und Ausformung zu immer höheren Ordnungsstrukturen, dieser Prozeß einer ständigen Wertschöpfung gegen den Haupttrend der Strukturzerstörung, des Wertezerfalls durchsetzen?
Dieser aufbauende Prozeß, so erkennen wir, war und ist nur möglich, weil die Erde im Strahlungsfeld der Sonne liegt. Durch die Sonneneinstrahlung wird der Erde dauernd hochwertige Energie zugeführt, die jedoch — bis auf vergleichsweise kleine Energiemengen, die zeitweise durch Planzen und Tiere gebunden werden — nicht verbraucht, sondern fast vollständig wieder als niederwertige Wärmestrahlung in den Weltraum zurückgestrahlt wird. Die Sonnenstrahlen laden bei der Verwandlung gewissermaßen also ihre höhere Energiewertigkeit auf der Erde ab. Diese Wertigkeit ist eine Ordnungsqualität, deren Maß die sogenannte Syntropie oder negative Entropie ist. Die Sonne ist also eine dauernd sprudelnde Syntropiequelle, die der natürlichen Tendenz nach zunehmender Unordnung kraftvoll entgegenwirkt. Die Sonne hat also gewissermaßen die Funktion einer stetig ordnenden Hand. Sie ist der Motor jeglichen organischen Wachstums auf der Erde und letztlich auch die wesentlich treibende Kraft aller technischen und wirtschaftlichen Aktivitäten des Menschen.
Denn alle Wertschöpfungsprozesse der Natur, das Aufwachsen von Pflanzen und Tieren, und auch alle Wertschöpfungsprozesse des Menschen, insbesondere seine eindrucksvollen handwerklichen und technischen Aktivitäten, verlangen eine ständige Zufuhr von Syntropie. Die Pflanzen beziehen ihre Syntropie unmittelbar von der Sonne und speichern sie in Form chemischer Ordnungsstrukturen. Sie werden dadurch selbst zu Syntropiequellen, was sich die Tiere und auch die Menschen zunutze machen, indem sie diese — oft über mehrere Zwischenglieder einer Nahrungskette — essen. Wir sollten dabei jedoch beachten, daß viele der von uns hochgeschätzten Wertschöpfungsprozesse nur ganz wenig Syntropie benötigen. Einige Hände voller Reis, die wir als Nahrung zu uns nehmen, befähigen uns zum Beispiel, schwarze Tinte auf Papier in so hoch strukturierte und geordnete Produkte wie Gedichte, Symphonien und wissenschaftliche Abhandlungen zu verwandeln.
Aufgrund bestimmter Erdbewegungen und Wasserverhältnisse kommt es hin und wieder vor, daß Pflanzen und Tiere vor ihrer vollständigen Verwesung in tiefere Erdschichten gelangen und dann Kohle, Erdöl und Erdgas bilden können. Der wirtschaftliche Aufschwung der Industriestaaten hängt wesentlich mit der Nutzung dieser vor mehreren hundert Millionen Jahren gebildeten Syntropie-Reservoire zusammen. Was hier über Zeitspannen von Hunderten von Jahrmillionen über Pflanzen und Tiere in winzig kleinen Mengen langsam, aber stetig an Sonnensyntropie gespeichert wurde, wird von uns heute innerhalb weniger Generationen verbraucht oder besser vergeudet, denn nur ein kleiner Teil dieser eingefangenen Sonnensyntropie wird für den eigentlichen technischen Wertschöpfungsprozeß, für die Schaffung neuer Ordnungsstrukturen wirklich genutzt. Der Rest beschleunigt nur den allgemeinen »natürlichen« Zerstörungsprozeß. Ohne die Ausbeute dieses enormen Naturvermögens an gespeicherter Sonnensyntropie wäre die rasante Entwicklung der Industrieländer und die Ansammlung ihrer großen Reichtümer nicht möglich gewesen.
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Zwei Hände voller Kohle können zum Beispiel die tägliche physische Arbeit
von drei Menschen ersetzen. Die Erschließung der in den Atomkernen gebundenen
Energien erlaubte in der Mitte unseres Jahrhunderts darüberhinaus, die
Energiepotentiale nochmals millionenfach gegenüber der chemischen zu steigern,
was eindrucksvoll und erschreckend durch die Atombomben demonstriert wird. Mit
der Ausbeute der Energie durch Verschmelzung der sehr leichten und Spaltung der
sehr schweren Atomkerne nähern wir uns in unserer Technik der Größenordnung von
Energien, wie sie natürlich bei globalen Prozessen auf der Erdoberfläche
umgesetzt werden.
Es ist aber nicht nur diese enorm gesteigerte Intensität unseres Einflusses auf die Natur, welche die Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt radikal verändert hat, sondern es ist die vermehrte Vielfalt unserer Manipulationsmöglichkeiten sowie unser ständiges Bestreben, natürlich ablaufende Prozesse durch geeignete Maßnahmen immer weiter zu beschleunigen, die hier einen qualitativen Sprung bewirkt haben — so beispielsweise durch die moderne Gentechnologie, durch direkten Eingriff in die Steuer- und Kontrollmechanismen der Entwicklung lebendiger Organismen. Da ein Aufbau neuer Strukturen — wegen der zahlreichen Testläufe, die notwendig sind, um Fehlkonstruktionen zu vermeiden oder um die Einbettung dieser neuen Strukturen in das schon vorhandene System zu optimieren — immer gewisse Mindestzeiten benötigt, der Abbau von Strukturen dagegen prinzipiell beliebig schnell verlaufen kann, gewinnen bei zunehmender Beschleunigung der Entwicklung die abbauenden Prozesse gegenüber den aufbauenden immer mehr die Oberhand. Mit unserem überstürzten Aktivismus unterstützen wir also gewissermaßen die der Natur eingeprägte Grundtendenz zur Zerstörung und zur Steigerung von Unordnung auf Kosten dieser eigenartigen und höchst erstaunlichen Entwicklung, deren bisher vorläufiges Endprodukt eben der hochdifferenzierte, bewußte, schöpferische Mensch ist.
Dies alles bringt den Menschen der Natur gegenüber in eine ganz neue Situation. Sein Einfluß auf die Ökosphäre der Erde kann nicht mehr wie nur eine kleine, nebensächliche Störung der mächtigen natürlichen Dynamik des irdischen Gesamtgeschehens betrachtet werden, sondern dieser Einfluß wird nun zu einem wesentlichen Gestaltungsfaktor. Die Eingriffe des Menschen beschwören sogar die Gefahr herauf, daß das hochkomplexe Ökosystem, das sich in der Milliarden Jahre langen Erdgeschichte durch einen raffinierten Prozeß der Selbstorganisation nach dem Prinzip »Versuch und Irrtum« entwickelt hat, aus seiner relativ robusten, aber eben nicht beliebig stabilen, dynamischen Gleichgewichtslage herausgedrängt wird. Hierdurch könnten leicht Bedingungen auf unserer Erdoberfläche entstehen, unter denen der Mensch als Gattung nicht mehr überlebensfähig ist.
Da wir als bewußt handelnde, schöpferische Menschen nicht außerhalb der Natur leben, sondern Teil der Natur sind, ist auch alles, was wir tun, in einem allgemeineren Sinne »natürlich« — auch unsere Technik. Dies bedeutet aber nicht, daß es gleichgültig ist, was wir tun und auf welche Weise wir es tun. Als »Krone der Schöpfung« sind wir gleichsam der Haupttrieb eines hochentwickelten Gewächses. Unsere Eingriffe werden die Fortentwicklung dieses Organismus beeinflussen: Er kann entweder weiter wachsen und gedeihen oder aber auf verschiedene Weise beschädigt werden, so daß etwa sein Haupttrieb abstirbt, oder ganze Zweige, sein Stamm oder gar seine Wurzeln in Mitleidenschaft gezogen werden. Jeglicher Schaden, den wir der Ökosphäre zufügen, verletzt nicht die Natur. Denn die Natur in ihrer allgemeinen Bedeutung offenbart sich uns in unendlich vielen verschiedenen und darunter auch recht gewalttätigen Formen, wie etwa als Supernova oder als Millionen Grad heißes Plasma im inneren unserer Sonne, aber auch als dieser wüstenleblose Planet, der unsere eigene Erde vor einigen Jahrmilliarden noch war, bevor das Leben langsam aus dem Meer herauskroch und sich auf diese grandiose Weise entfaltete. Die Natur in diesem Sinne braucht eigentlich keinen Schutz, sondern es liegt in dem ureigensten Interesse von uns Menschen als dem Haupttrieb des Ökosystems, daß wir die Lebens- und Entwicklungsfähigkeit dieses einmaligen Organismus zu erhalten versuchen. Denn die Natur kann ohne uns und auch ohne dieses irdische Ökosystem leben, aber wir nicht ohne sie und das Ökosystem.
Was sollen wir aber tun und insbesondere, was müssen wir unterlassen, um
die Produktionsfähigkeit und Vitalität, die
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Nachhaltigkeit — wie wir heute sagen — unserer Ökosphäre optimal zu unterstützen?
Viele erwarten hier von den Naturwissenschaftlern die wesentlichen Einsichten
und praktischen Hinweise, da diese, wie sie glauben, doch aufgrund ihrer Kenntnis der
Naturgesetzlichkeit die zukünftigen Entwicklungen am besten abschätzen können.
Ich bin hier jedoch eher skeptisch. Denn die Prognosefähigkeit der Naturwissenschaft
ist im Falle hochkomplexer Systeme äußerst begrenzt. Ich glaube statt dessen,
daß unsere traditionelle Weisheit, das Wissen, das wir aus dem großen gemeinsamen
Erbe der Weltreligionen schöpfen und das uns Liebe, Mitgefühl, Kooperation und
Solidarität lehrt — vielleicht aber auch die Kunst oder die Geisteswissenschaften —, uns
hierbei eine weit bessere Orientierung geben können. Diese Vermutung mag vielleicht
der voreingenommenen Sichtweise eines Naturwissenschaftlers entspringen, der die
extreme Unzulänglichkeit seiner eigenen Disziplin, hier wesentliche
Orientierungshilfe geben zu können, schmerzlich empfindet und nun die Hoffnung hegt, daß
andere Erfahrungsfelder diesbezüglich erfolgreicher sein können. Aber es lassen sich
vielleicht für diesen Standpunkt einige gute Gründe anführen.
Da der Mensch als Gattung offensichtlich einige langfristige Überlebensprüfungen der natürlichen Auswahl erfolgreich bestanden hat — sonst wären wir ja heute nicht mehr da —, läßt sich doch mit einigem Recht vermuten, daß unsere grundlegende physische und geistige Veranlagung wesentlich mit der Nachhaltigkeit der Ökosphäre, von der wir ja existentiell abhängen, im Einklang steht. Unsere rationalen Fähigkeiten dagegen, insbesondere die, welche auf unserem reflektierenden Verstand beruhen, scheinen hierbei weniger verläßlich zu sein. Denn unsere vielfach bestätigte Erfahrung einer enorm robusten und anpassungsfähigen Umwelt und die objektive Feststellung dieses glücklichen Umstandes haben uns zu der allgemeinen Schlußfolgerung verführt, daß alles, was wir tun, von der Natur letztlich toleriert wird: Die Natur zeigt sich in der Regel unseren Mißhandlungen gegenüber äußerst geduldig und nachsichtig. Sie unterwirft sich widerstandslos unseren Wünschen, wenn wir ihr die richtigen Befehle erteilen.
Frühere Kulturen, die sich in kleinen Nischen unserer Ökosphäre entwickelten, waren
sich der prinzipiellen Beschränkungen, die sie beim Umgang mit der Natur
im eigenen Interesse beachten mußten, weit
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mehr bewußt. Ihre tiefen Einsichten und die daraus resultierenden praktischen
Verhaltensweisen wischen wir heute leichtfertig mit dem Argument beiseite, daß alle diese
Hindernisse im Prinzip durch die Intelligenz und die unerschöpfliche Erfinderkraft
des Menschen überwunden werden können. Dies ist, wie mir scheint, ein Irrtum, da
viele Hindernisse nicht eigentlich überwunden wurden, sondern, wie wir heute erkennen
müssen, nur kurzfristig an andere Stellen verschoben worden sind, wo sie uns nun
zu einem späteren Zeitpunkt mit wesentlich höheren Forderungen wieder begegnen.
Der Spürsinn für eine Lebensweise, die mit der Nachhaltigkeit der Natur verträglich
ist, dieses »gute Einvernehmen mit der Natur«, scheint mir deshalb in den älteren
Zivilisationen der Menschen tiefer verwurzelt, stärker entwickelt und besser in
das gesellschaftliche Leben integriert zu sein als in unserer fortschrittlichen,
hochrationalen Gesellschaft. Diese bessere Einbettung ist wohl auch für die Mehrzahl
der heutigen sogenannten unterentwickelten Gesellschaften gegeben, soweit sie durch
unseren arroganten Einfluß noch nicht grundlegend zerstört wurden. Unsere althergebrachte
Ethik oder spezieller: unsere moralischen und religiösen Verhaltensnormen, und vielleicht
auch unser Sinn für Schönheit, enthalten meines Erachtens sehr viel Weisheit, um die
Nachhaltigkeit der Natur und unser eigenes Überleben langfristig zu sichern.
Jedenfalls muß ein Sinn, der eine solche Verträglichkeit angemessen wahrnimmt und
einschätzt, mehr von einer ganzheitlichen, nicht-zerlegenden, nicht-fokussierenden
Art sein, um wirkungsvoll auf diese mehr kollektiven, synergetischen, das konstruktive
Zusammenspiel der Teile im Ganzen bemessenden Merkmale der Nachhaltigkeit anzusprechen.
Selbst wenn wir eine Ethik hätten, die uns deutlich aufzeigen könnte, wie
ein mit der Natur einvernehmliches Verhalten im Prinzip gestaltet werden
müßte, so brauchen wir immer noch Leute, die angeben, was im konkreten
Fall tatsächlich auch gemacht werden sollte, und die auch die Verantwortung
übernehmen und die Initiative ergreifen, dieses auch praktisch zu implementieren.
Verantwortung zu übernehmen ist nicht nur eine Frage der Stärke und des
Mutes, sondern verlangt vor allem eine ausreichende Wahrnehmung der Komplexität
der Natur und auch eine Einsicht in die »Topologie«, die Beziehungsstruktur
des eigenen Wissens, um den Wert und die Grenzen des eigenen Verständnisses
beurteilen und die Genauigkeit und Verläßlichkeit einer Voraussage abschätzen
zu können. In vielen Fällen wird Verantwortlichkeit nicht darin bestehen,
bestimmte Aktionen in Gang zu setzen, sondern vielmehr im Gegenteil,
Mäßigung und — wie Peter Kaffka betont — Gemächlichkeit zu üben,
um der Natur eine faire Chance zu geben, alle unsere Fehlentscheidungen
und Fehlhandlungen mit ihrem reichen Instrumentarium auszubügeln.
Einvernehmen mit der Natur heißt, auf Kooperation und nicht auf Gegnerschaft
mit der Natur und ihre Beherrschung zu setzen, mit der berechtigten
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Aussicht, damit auch an ihrer Milliarden Jahre langen Erfahrung teilzuhaben.
Eine Sicherung der Nachhaltigkeit der Ökosphäre erfordert von uns ein neues Verständnis unserer Rolle als Teil dieses komplexen Ökosystems. Dies verlangt einerseits wohl eine dramatische Änderung unseres Bewußtseins und unseres bisherigen Denkens, andererseits die Entwicklung und Bereitstellung von Werkzeugen, um diese neuen Einsichten auch in unseren Gesellschaften effektiv umzusetzen.
Ein neues Bewußtsein zu wecken und ein neues Denken zu entwickeln, erscheint besonders schwierig, da dies einen langen Lernprozeß erfordert, der wohl — wenn überhaupt — nur im Laufe einiger Generationen bewältigt werden kann. Ein solcher Prozeß könnte jedoch wesentlich schneller ablaufen, wenn — was ich glaube — ein solches Bewußtsein nicht neu geschaffen werden müßte, weil es nämlich in uns schon unterschwellig angelegt ist und wir es deshalb nur in uns selbst wiederentdecken und aus unserem tradierten geistigen Erbe zurückgewinnen müßten. In diesem Fall müßten wir dann nur einiges Geröll beiseite räumen, das sich in unseren Herzen und unseren Köpfen in den letzten Jahrhunderten angesammelt hat — vor allem bei den Menschen in den reichen Ländern, die so stark auf Aktion statt auf Kontemplation ausgerichtet sind. Es ist selbstverständlich schwer einzuschätzen, ob solche Abräumarbeiten, ohne von äußeren Katastrophen regelrecht erzwungen zu werden, jemals ernstlich angegangen würden, und auch, ob sie, wenn sie tatsächlich in Gang kämen, schnell genug greifen würden, um die augenblicklich gefährlich eskalierende Situation wirkungsvoll zu entschärfen. Deshalb würde es außerordentlich hilfreich sein, wenn wir unser modernes Leben — also vor allem die Lebensweise der Menschen in den industrialisierten Ländern — durch geeignete Maßnahmen so ausrichten könnten, daß dieser Lernprozeß voll unterstützt und die notwendige Entwicklung ausreichend beschleunigt würde.
Meines Erachtens werden alle unsere Anstrengungen, die Nachhaltigkeit der Ökosphäre zu sichern, scheitern, wenn es uns nicht gelingt, die Rahmenbedingungen und Spielregeln der augenblicklich akzeptierten und praktischen Formen unserer Wirtschaft grundlegend abzuändern. Die heutigen Wirtschaftstheorien — ob nun vom sozialistischen Typ der Planwirtschaft, wie bisher im Osten praktiziert, oder vom kapitalistischen Typ der freien Marktwirtschaft, wie in der einen oder anderen Form heute in westlichen Ländern angewandt — erweisen sich als völlig unzureichend und höchst mangelhaft für eine angemessene Beschreibung der tatsächlichen Situation. Denn diese Theorien betrachten doch die Umwelt, die äußere Natur, im wesentlichen immer noch als ein unerschöpfliches Reservoir, das einerseits als beliebig ergiebige Quelle für Rohmaterial und Energie für alle menschlichen Aktivitäten genutzt werden kann und andererseits als beliebig aufnahmefähige Müllhalde zur Verfügung steht, in die alle dabei anfallenden Endprodukte abgekippt werden können. Diese Wirtschaftstheorien ignorieren die offensichtliche Tatsache, daß jegliche Wertschöpfung und Produktion letztlich direkt oder indirekt auf Produktionsprozesse der Natur zurückgeht. Eine nachhaltige Wirtschaftsweise muß dieser Tatsache geeignet Rechnung tragen. Da das Wertesystem der Natur offensichtlich viel reicher und differenzierter ist als das Wertesystem der Wirtschaft, das Güter eindimensional durch Geld entsprechend ihrem Tauschwert oder Gebrauchswert beziffert, verlangt dies eigentlich, die Wirtschaft geeignet in die Natur einzugliedern. Dies erscheint aus heutiger Sicht kaum möglich. Aussichtsreicher, jedoch prinzipiell fragwürdiger, erscheint das Umgekehrte, nämlich die Natur — oder einen für uns in diesem Zusammenhang wichtigen Teil von ihr — auf geeignete Weise in das Preissystem der Wirtschaft einzurechnen — konkret zum Beispiel etwa durch eine drastische Preiserhöhung für nicht erneuerbare Energie. Eine äußere Natur, die nicht mehr wie bisher kostenlos ist, hat aufgrund der üblichen Marktmechanismen unter diesen Umständen vielleicht dann eine Chance, nicht mehr rücksichtslos ausgebeutet zu werden. Dies kann jedoch bestenfalls nur ein erster Schritt sein, um praktisch und auf schnelle Weise zu einem besseren Einvernehmen mit der Natur zu kommen, eine Forderung, die für uns Menschen zu einer Überlebensfrage geworden ist. Langfristig kann uns hier nur eine Bewußtseinsänderung und eine damit verbundene Änderung unseres Lebensstils wirklich weiterbringen.