Bahá’í
BRIEFE
- Zeitschrift
- für Religion und Gesellschaft
- Nr. 67 / 1995
UNO:
Fünfzig Jahre Zusammenarbeit mit der Bahá’í-Weltgemeinschaft
Musik ohne Grenzen
Maßnahmen gegen den Drogenmißbrauch
Ureinwohner in Kanada: Empfehlungen der Bahá’í-Gemeinde
INHALT
Die Bahá’í-Weltgemeinschaft und die Vereinten Nationen
- fünfzig Jahre Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . 4
- Hermine Mayer-Berdjis
Musik ohne Grenzen . . . . . . . . . . . 10
- Gedanken zu einer Vision der Ganzheit
- Susanne Schaup
Die Empfehlung der kanadischen Bahá’í-Gemeinde an die »Königliche
Kommission für Ureinwohner« . . . . . . . . . . . 17
- Stellungnahme des Nationalen Geistigen Rates
- der Bahá’í in Kanada
Maßnahmen gegen den Drogenmißbrauch . . . . . . . . . . . 23
- Ein Bahá’í-Modell der Drogenprävention
- A.M. Ghadirian
Umweltfreundliche Rundfunkempfänger . . . . . . . . . . . 28
- Eine Alternative zur Batterienschwemme
Frühe Begegnungen Mitteleuropas mit der Bahá’í-Geschichte . . . . . . . . . . . 31
- Buchbesprechung
Bahá’í-Briefe
- Heft 67
- 1995
- 23. Jahrgang
Die Bahá’í-Briefe wollen eine intensive Auseinandersetzung mit den Inhalten der Bahá’í-Religion fördern und auf der Grundlage zeitgemäßen Denkens zu einem Dialog mit allen beitragen, die sich um die Lösung der Weltprobleme mühen.
Herausgeber: Der Nationale Geistige Rat der Bahá’í in Deutschland e.V., Hofheim-Langenhain
Redaktion:
Nassim Berdjis, Jörg Krombach,
Wolfgang Peter Löhndorf, Uwe Still, Karl Türke jun.
Redaktionsanschrift:
Bahá’í-Briefe, Redaktion,
Eppsteiner Str. 89, D-65719 Hofheim
Namentlich gekennzeichnete Beiträge
stellen nicht notwendig die Meinung der Redaktion
oder des Herausgebers dar.
Die Bahá’í-Briefe erscheinen halbjährlich.
Abonnementpreis für vier Ausgaben 35,- DM.
Einzelpreis 9,80 DM.
Vertrieb und Bestellungen:
Bahá’í-Verlag Eppsteiner Str. 89
D-65719 Hofheim
© Bahá’í-Verlag GmbH 1995 ISSN 0005-3945
Bahá’í
BRIEFE
- EDITORIAL
In diesem Jahr begehen die Vereinten Nationen den 50. Jahrestag ihrer Gründung. Die Feierlichkeiten der UNO begannen bereits im Juni in San Francisco, wo die UN-Charta ursprünglich unterzeichnet wurde, und erreichten ihren Höhepunkt während eines vom 22. bis 25. Oktober 1995 in New York stattgefundenen Gipfeltreffens, an dem 150 Staats- und Regierungschefs teilnahmen.
Die Internationale Bahá’í-Gemeinde pflegte von Anfang an enge Beziehungen zu den Vereinten Nationen, sind doch die Ziele der Einheit der Menschheit und der Völkerverständigung grundlegende Lehren des Bahá’í-Glaubens. Bereits während der Konferenz der Vereinten Nationen über die Internationale Organisation im Frühjahr 1945, bei der die Charta der Vereinten Nationen formuliert wurde, stellten die Bahá’í-Beobachter der Konferenz das Bahá’í-Friedensprogramm vor, das viel Beachtung fand.
Der Artikel von Hermine Mayer-Berdjis »Die Bahá’í-Weltgemeinschaft und die Vereinten Nationen - fünfzig Jahre Zusammenarbeit« stellt diese Beziehung von ihren historischen Wurzeln um die Jahrhundertwende bis in die heutige Zeit dar. Der Leser erhält einen umfassenden Überblick und erfährt interessante Details.
Der Vortrag der Journalistin Susanne Schaup »Musik ohne Grenzen«, der während des Musik-Forums der Landegg-Akademie im November 1994 gehalten wurde, behandelt die Wirkung unterschiedlicher Musikkulturen auf die menschliche Seele und erstellt aus diesen Erfahrungen eine Vision der Musikkultur einer künftigen, geeinten Welt.
Weitere Beiträge dieser Ausgabe befassen sich
— mit einer Empfehlung der kanadischen Bahá’í-Gemeinde an die »Königliche Kommission für Ureinwohner«, die sich mit einer zukünftigen Gesellschaftsordnung und Integration der vielfältigen kulturellen Elemente Kanadas beschäftigte,
— mit einem Bahá’í-Modell zur Drogenprävention, das von A.M. Ghadirian vorgestellt wird, der als Professor für Psychiatrie tätig ist,
— und mit der Entwicklung eines solar-betriebenen Radios speziell für ländliche Gegenden in Entwicklungsländern, das in China produziert wird.
- Die Redaktion
Hermine Mayer-Berdjis
Die Bahá’í-Weltgemeinschaft und die Vereinten Nationen - fünfzig Jahre Zusammenarbeit[Bearbeiten]
▪ Historische Wurzeln
Die enge Beziehung der Bahá’í-Religion zu den Vereinten Nationen hat ihre Wurzeln im zentralen Thema der Bahá’í-Lehren: der Einheit der Menschheit. In Seinen Briefen an die Herrscher Seiner Zeit forderte Bahá’u’lláh1) diese bereits im letzten Jahrhundert2) zu Frieden, Gerechtigkeit und Beratung im Interesse aller Menschen der Erde auf. Auch ‘Abdu’l-Bahá3) schrieb schon im Jahr 1875: »Wahre Kultur wird ihr Banner mitten im Herzen der Welt entfalten, sobald eine gewisse Zahl ihrer vorzüglichen, hochgesinnten Herrscher ... mit festem Entschluß und klarem Blick daran geht, den Weltfrieden zu stiften. Sie müssen die Friedensfrage zum Gegenstand allgemeiner Beratung machen und ... einen Weltvölkerbund schaffen...«4)
Die Wirren der Jahre um die Jahrhundertwende, als 'Abdu'l-Bahá noch als Gefangener der osmanischen Regierung in 'Akká, Palästina, lebte, hatten bereits große Persönlichkeiten ihre Stimme für den Frieden erheben lassen. 1899 rief Zar Nikolaus II zur Friedenskonferenz in Den Haag auf. Das Echo bei den regierenden Fürsten war groß, und Juristen und Diplomaten trafen sich in Den Haag. In den zwanziger Jahren kamen noch der Internationale Gerichtshof des Völkerbundes und die Akademie für Internationales Recht hinzu.
Nach Seiner Befreiung aus der Gefangenschaft reiste 'Abdu'l-Bahá in den Westen und sprach bei zahllosen Gelegenheiten vor allem über den Frieden. Am 26. Oktober 1912 sagte Er in Sacramento, Kalifornien: »Das drängendste und bedeutendste Problem ist heute der Weltfriede... Es ist Zeit, den Krieg abzuschaffen, die Völker und Regierungen zu vereinen... Es ist Zeit, den Osten und den Westen zusammenzuschweißen... Möge das erste Banner des Weltfriedens in diesem Staat gehißt werden.«5)
Durch einen Bahá’í kam es zu einem Briefwechsel ‘Abdu’l-Bahás mit der 1915 in Den Haag gegründeten »Zentralorganisation für einen dauerhaften Frieden«, einer privaten Initiative, die sich eine Art Friedenslogistik und -grundlagenforschung zum Ziel gesetzt hatte. 'Abdu'l-Bahá schilderte in Seinem Brief die wichtigsten Grundsätze für einen Weltfriedensvertrag. Er erläuterte die geistigen Bedingungen für einen echten Friedenswunsch wie Liebe, Gleichberechtigung und Ablegen von Vorurteilen, und daß institutionelle Voraussetzungen wie Universalität der Mitgliedschaft und Durchsetzbarkeit der Entscheidungen geschaffen werden müssen, damit der Friede von Bestand sei. Der Völkerbund und das System der Vereinten Nationen konnten diese Bedingungen leider nicht verwirklichen.6)
▪ Der Völkerbund
Auf der Pariser Friedenskonferenz von 1919 wurde dann als erste große internationale Staatenorganisation der Völkerbund gegründet mit dem Ziel, den Krieg zu verbieten und den Weltfrieden zu sichern. Obwohl Amerikas Präsident Woodrow Wilson einer der bedeutendsten Väter des Völkerbundes war, traten die Vereinigten Staaten von Amerika nicht bei. Unter der Anleitung von Shoghi Effendi, dem Oberhaupt der Bahá’í-Weltgemeinde, nahmen die Bahá’í mit verschiedenen Organen des Völkerbundes Kontakt auf. Laura und Hippolyte Dreyfus-Barney sprachen z.B. vor dem »Religious and Ethics Committee«. Als dann in Baghdad das Haus Bahá’u’lláhs, eine heilige Stätte der Bahá’í, unrechtmäßig beschlagnahmt wurde, wandten sich die Bahá’í über den Völkerbund an die über den Irak eingesetzte Mandatsmacht, Großbritannien, mit der Bitte, diese Ungerechtigkeit rückgängig zu machen. Zwar verliefen die Bemühungen erfolglos, aber das Auftreten der Bahá’í-Repräsentanten und die Kontakte mit den am Problem beteiligten Regierungen und Organen des Völkerbundes machten die Bahá’í als weltweite Bewegung bekannt.
▪ Die Idee lebte weiter
Im II. Weltkrieg wurde der Völkerbund aktionsunfähig. Doch die Idee einer großen Staatengemeinschaft lebte weiter. Sie fand 1941 einen zunächst defensiven Niederschlag in der Atlantikcharta. 1943 bekräftigte die »Moskauer Vier-Mächte-Erklärung über allgemeine Sicherheit« die Notwendigkeit der alsbaldigen Schaffung einer allgemeinen internationalen Organisation.
▪ Das Banner wird gehißt
Nachdem das Abstimmungsverfahren im Sicherheitsrat bei der Krim-Konferenz und in Yalta von den Großmächten abgesprochen worden war, arbeiteten vom 25. April bis 26. Juni 1945 in San Francisco die Vertreter von fünfzig Staaten auf der »Konferenz der Vereinten Nationen über die Internationale Organisation« deren Satzung vollends aus 7).
Zur gleichen Zeit näherten sich die Feiern zum 100. Stiftungsjahr des Bahá’í-Glaubens ihrem Ende. Da beschlossen die kalifornischen Bahá’í, die Konferenz der Alliierten, an der auch zwei Bahá’í-Beobachter teilnahmen, über das Bahá’í-Friedensprogramm zu informieren. »The Bahá’í Peace Program« wurde in hoher Auflage gedruckt und an alle Konferenzteilnehmer und führende Persönlichkeiten in und um San Francisco und später im ganzen Land großzügig verteilt. Viele offizielle Delegierte, die dabei erstmals vom Bahá’í-Glauben erfuhren, äußerten sich sehr beeindruckt.
- Amatu’l-Bahá Rúhíyyih Khánum überreichte am 22. November 1985 dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, Javier Perez de Cuellar, die Friedenserklärung des Universalen Hauses der Gerechtigkeit.
Nachdem 29 Staaten die »Charta der Vereinten Nationen« ratifiziert hatten, konnte diese am 24. Oktober 1945 in Kraft treten — fast auf den Tag genau 33 Jahre nach jenem Tag, an dem 'Abdu'l-Bahá in Sacramento gesagt hatte, das Banner des Weltfriedens möge in Kalifornien gehißt werden. Die Charta befaßte sich vor allem mit der Sicherung des Friedens, denn zunächst galt es, Kriegswunden zu heilen und Kolonialstaaten in die Eigenständigkeit zu führen. Abrüstung war noch kein Hauptthema, denn die atomare Rüstungsspirale war erst im Entstehen. Die allgemeinen Menschenrechte bedurften jedoch dringend weiterer Definition.
▪ Die offizielle Arbeit beginnt
1947 gründete der Nationale Geistige Rat der Bahá’í der Vereinigten Staaten und Kanadas ein Komitee für die Arbeit bei den Vereinten Nationen und ernannte offizielle Beobachter. Zwei Grundsatzerklärungen wurden ausgearbeitet. Die erste hatte den Titel »Eine Bahá’í-Erklärung über die Pflichten und Rechte der Menschen«. Sie wurde im Februar 1947 der Menschenrechtskommission des Wirtschafts- und Sozialrates (ECOSOC), die sich mit dem Entwurf einer Menschenrechtscharta befaßte, vorgelegt. Die zweite Erklärung ging an die Kommission für die Lage der Frauen und erläuterte die Bahá’í-Ansicht über die Rechte der Frauen.
- Die Delegation der Internationalen Bahá’í-Gemeinde bei der UN-Konferenz über Drogenmißbrauch 1987 in Wien.
Als im gleichen Jahr die Vereinten Nationen eine Sonderkommission für Palästina einsetzten, bat diese Shoghi Effendi, das Oberhaupt der Bahá’í-Weltgemeinde in Haifa, um eine Erklärung zum Verhältnis zwischen dem Bahá’í-Glauben und dem Heiligen Land. Shoghi Effendi schrieb, daß das Ziel der Bahá’í-Religion die Errichtung des Weltfriedens sei, und betonte den Wunsch, Gerechtigkeit in allen Bereichen der menschlichen Gesellschaft, einschließlich der Politik, verwirklicht zu sehen. Er legte klar, daß wer immer über Haifa und 'Akká, wo sich die heiligen Grabstätten der Zentralgestalten des Glaubens befinden, regiere, dieses geistige und administrative Zentrum des Bahá’í-Glaubens sowie dessen Unabhängigkeit, sein Recht auf eigene Verwaltung seiner internationalen Beziehungen und das Recht der Bahá’í-Pilger aus aller Welt, zu ihren heiligen Stätten kommen zu dürfen, anerkennen müsse8).
▪ »Bahá’í International Community«, eine NRO
Offiziell wurde im März 1948 der Nationale Geistige Rat der Bahá’í der Vereinigten Staaten und Kanadas in Vertretung der damals bestehenden acht Nationalen Geistigen Räte als Nichtregierungsorganisation (NRO, engl. »Nongovernmental Organization« = NGO) akkreditiert, so daß die Bahá’í nun offizielle Vertreter zu den Konferenzen der Vereinten Nationen schicken konnten. Die »Bahá’í International Community«, d.h. die »Internationale Bahá’í-Gemeinde«, wurde als »NGO (bzw. NRO) mit Interesse an den Vereinten Nationen und bereit, die Öffentlichkeit von den Zielen und Aktivitäten dieser Weltorganisation zu unterrichten« vom Office of Public Information (Büro für Öffentlichkeitsarbeit) der Vereinten Nationen in New York aufgenommen. Als NRO hatte sie zwar noch kein Mitspracherecht, konnte aber schriftliche Erklärungen einreichen. Eine heikle, aber wichtige Aufgabe der offiziellen Bahá’í-Vertreter war, sich an das Bahá’í-Prinzip der Nichteinmischung in die Politik zu halten. Bei allen Fragen bezogen sie sich auf die relevanten Bahá’í-Prinzipien und die geistige Einstellung, denn zunächst hatte die Bahá’í-Weltgemeinde ja im sozialen Bereich noch kaum globale Erfahrungen auszuweisen. Diese Arbeitsweise erwies sich besonders im Zusammenhang mit der Verfolgung der Bahá’í im Iran als äußerst segensreich.
[Seite 7]
Im Mai 1948 nahmen die Bahá’í-Vertreter zum ersten Mal offiziell an der
NGO-Konferenz über Menschenrechte teil. Sie legten den Konferenzteilnehmern einen
auf Bahá’í-Prinzipien beruhenden Entschließungsentwurf vor, den die Konferenz
annahm. Als 1955 die Charta der Vereinten Nationen revidiert werden sollte, um sie
der neuen Vielfalt der UN-Staatenfamilie anzupassen, sammelte die Internationale
Bahá’í-Gemeinde von allen Nationalen Geistigen Räten Vorschläge, faßte diese
zusammen und übergab sie jedem »Charter Revision Conference«-Teilnehmer, sowie
vielen Persönlichkeiten von Universitäten, Bibliotheken und Zeitungen. Vor der
Eröffnung dieser Konferenz mit 15.000 Teilnehmern wurde in San Francisco ein
»Festival of Faith« abgehalten, bei dem ein Bahá’í im Progamm mitwirkte.
1967 übernahm das Führungsgremium der Bahá’í-Welt, das Universale Haus der Gerechtigkeit9), vom Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í der Vereinigten Staaten das Bahá’í-Büro bei den Vereinten Nationen in New York und ernannte Dr. Victor de Araujo zum ersten hauptamtlichen Repräsentanten der Internationalen Bahá’í-Gemeinde, akkreditiert bei den Vereinten Nationen. Inzwischen war ein weltweites Netz von Bahá’í-Gemeinden entstanden mit ca. sechzig Nationalen Geistigen Räten.
▪ »Beratender Status«
Im Mai 1970 erhielt die Internationale Bahá’í-Gemeinde den »Beratenden Status, Kategorie II« beim Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC), dem arbeitsintensivsten der sechs Hauptorgane, der ca. 85% der gesamten Arbeit der Vereinten Nationen zu bewältigen hat. Für den Konsultativstatus bei ECOSOC ist »Grundbedingung..., daß eine Organisation mit Aufgaben aus dem Kompetenzbereich des ECOSOC befaßt ist und ihre Ziele und Prinzipien im Einklang mit dem Geist der UN-Charta stehen«10). Kategorie II ist der »Besondere Konsultativstatus« für internationale Nichtregierungs-Organisationen, die damit in begrenztem Umfang schriftliche Erklärungen abgeben dürfen und von Fall zu Fall auch das Rederecht erhalten. Die Zahl der NROs dieser Kategorie ist seit 1949 (damals waren es 4) stark angestiegen. 1969 waren es 245, 1991 schon 533 und beim NRO-Forum in Rio de Janeiro bereits 1420.
Nun konnten die Bahá’í-Repräsentanten schriftliche und mündliche Beiträge einbringen und bei Untersuchungen oder der Abfassung von Resolutionen mitwirken. Das Bahá’í-Büro in New York wurde erweitert. Es versorgte die Bahá’í-Gemeinden in der ganzen Welt mit Informationen, die sie bei Veranstaltungen zu UN-Tagen und Jahren einsetzen konnten, um das Interesse der Menschen an den Vereinten Nationen und der aktuellen Thematik zu wecken. In Genf wurde ein weiteres Büro eingerichtet und in Nairobi und Wien arbeiten zusätzliche Bahá’í-Beauftragte. 1973 erhielt die Internationale Bahá’í-Gemeinde die Mitgliedschaft im Umwelt-Programm UNEP. Weiter erhielt sie 1976 beim UN-Kinderhilfswerk UNICEF und 1989 bei der Weltgesundheitsorganisation WHO beratenden Status. Die Zusammenarbeit mit der UNESCO wird ebenfalls intensiviert. Es ist zu bedenken, daß seit 1970 die Anzahl der Bahá’í-Entwicklungsprojekte rapide gestiegen ist. Daher können die Bahá’í-Vertreter nunmehr jahrelange, in Anwendung der Bahá’í-Prinzipien gemachte praktische Erfahrungen aus der Bahá’í-Weltgemeinde in ihre Arbeit bei ECOSOC einbringen. Sie können auf ein Netz aus weltweit über 20.000 Geistigen Räten zurückgreifen, die derzeit ca. 1.400 Projekte zur wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung laufen haben. Die Bahá’í-Beiträge werden geschätzt. Immer mehr Nichtregierungs-Organisationen bitten die Bahá’í um Hilfe bei der Formulierung von Resolutionen, besonders in Religions- und Minderheitsfragen. Begriffe wie Einheit der Menschheit, Einheit in Vielfalt, globales Einheitsbewußtsein etc., die auf Prinzipien der Weltordnung Bahá’u’lláhs beruhen, sind heute in Schriftstücken der Vereinten Nationen keine Seltenheit mehr.
Seit 1976 organisiert die Internationale Bahá’í-Gemeinde jährlich eine Reihe
von öffentlichen Veranstaltungen zu Themen der Vereinten Nationen, bei denen
hochqualifizierte Bahá’í-Experten globale
[Seite 8]
Lösungsmöglichkeiten aufgrund der Bahá’í-Prinzipien vorstellen. Dazu werden
die UN-Missionen, das UN-Sekretariat und die NGOs eingeladen. Themen waren z.B.
die Verhinderung von Gewalt, Entfaltung der potentiellen Fähigkeiten der Menschen
beiderlei Geschlechts, Abbau der Rassendiskriminierung, Weltwirtschaft, Kommunikation,
Erziehung, Bildung, Entwicklung, Aufbau einer geeinten Weltgemeinschaft. Im Mai
1994 fand gemeinsam mit UNIFEM und UNICEF in New York ein Symposium zur Schaffung
gewaltfreier Familien statt.
- Vertreter der Internationalen Bahá’í-Gemeinde bei der Frauenkonferenz der südpazifischen Kommission, die im September 1988 auf Fiji stattfand.
Als im Iran zu Beginn der Islamischen Revolution die Bahá’í erneut grausam verfolgt wurden, bemühte sich die Internationale Bahá’í-Gemeinde, diese Menschenrechtsverletzungen bei den Vereinten Nationen bekanntzumachen und die Anerkennung der Bahá’í im Iran als von der Verfassung geschützte religiöse Minderheit zu erreichen. Dabei hat sich gezeigt, daß es heute für einzelne Staaten durchaus wichtig ist, welches Ansehen sie bei der Völkergemeinschaft genießen, und daß sie mit den Menschenrechten nicht mehr von der Welt unbeachtet willkürlich umgehen können. Die Bahá’í-Repräsentanten konnten in diesem Zusammenhang dafür sorgen, daß auf hoher, internationaler Ebene ein korrektes Bild von der Bahá’í-Weltgemeinde, ihren Prinzipien und ihrem gewaltfreien, loyalen, nicht subversiven Verhalten bekannt wurde.
▪ Rückschau nach vierzig Jahren
Als die Vereinten Nationen 1985 vierzig Jahre alt wurden, mußten sie feststellen, daß ihnen die Verwirklichung des ersten Abschnitts ihrer Charta, »künftige Geschlechter von der Geisel des Krieges zu bewahren«, nicht gelungen war. Seit 1945 gab es ca. 190 Kriege und Konflikte mit mehr Opfern, als der Zweite Weltkrieg gekostet hatte. Überzeugt von der Notwendigkeit, daß dieses Friedensziel erreicht werden muß, erklärten die Vereinten Nationen am 24. Oktober 1985 das Jahr 1986 zum »Internationalen Jahr des Friedens«. Aus diesem Anlaß wandte sich das Weltgremium des Bahá’í-Glaubens mit der Friedenserklärung »Die Verheißung des Weltfriedens« an die Völker der Welt. Diese Erklärung wurde im November 1985 dem Generalsekretär der Vereinten Nationen in New York überreicht. Danach wurde sie, direkt oder indirekt, über 150 Staatsoberhäuptern, zahlreichen Persönlichkeiten aus Kunst, Politik, Wissenschaft und Wirtschaft sowie vielen Gremien und Einzelpersonen übermittelt. Mit umfangreichen Programmen bemühten sich die Bahá’í-Gemeinden in aller Welt, im Internationalen Jahr des Friedens zu der Einsicht aufzurufen, daß die Menschheit eine organische Einheit bildet und der Weltfriede heute »nicht nur möglich, sondern unausweichlich« ist11). Im September 1987 wurde die Internationale Bahá’í-Gemeinde dafür vom Generalsekretär mit dem Titel »Friedensboten« der Vereinten Nationen ausgezeichnet.
Im Oktober 1987 schloß sich die Bahá’í-Religion, vertreten von der Internationalen Bahá’í-Gemeinde, als sechste Weltreligion dem World Wild Fund for Nature (WWF) an, veröffentlichte dazu eine Erklärung »Über die Natur« und nimmt seither an den WWF-Programmen teil.
▪ Eine neue Phase
Seit Beginn der neunziger Jahre vollzog sich in der Welt ein Wandel, den kaum jemand in dieser Form erwartet hatte. Politische Veränderungen, wirtschaftliche Krisen und Umweltprobleme machen der Völkergemeinschaft immer mehr bewußt, daß nur noch globales Denken und Handeln eine Weltkatastrophe verhindern können. Die Suche nach neuen Werten und praktikablen Schritten, der Ruf nach gemeinsamem Handeln wird immer nachdrücklicher. Ein deutliches Zeichen dieser neuen Phase ist, daß neben den UN-Diplomaten jetzt hochrangige Politiker auf »Weltgipfeln« erscheinen wie 1992 in Rio de Janeiro beim Umweltgipfel, 1993 in Wien beim Gipfel über Menschenrechte, 1994 in Kairo bei der Weltbevölkerungskonferenz, 1995 in Kopenhagen beim Weltgipfel für soziale Entwicklung und in Peking zur Weltfrauenkonferenz.
Die Internationale Bahá’í-Gemeinde hat zum Weltsozialgipfel 1995 eine Erklärung über »Weltbürger-Ethos« und ein längeres Statement über »Das Wohlergehen der Menschheit« veröffentlicht. Am parallelen NGO-Forum in Kopenhagen nahmen über 250 Bahá’í aus 40 Ländern teil mit einem großen Anteil an Frauen und Jugendlichen. Sie waren die größte Delegation und konnten bei 40% aller Aktivitäten mitwirken. Die Vielfalt dieser Gruppe zeigte ihre Globalität, aber auch ihre tief verankerte Einheit.
- Der Bahá’í-Stand beim NGO-Forum während des UN-Weltgipfels für soziale Entwicklung in Kopenhagen im März 1995.
▪ Schritte fürs nächste Jahrtausend
Die Bahá’í sind überzeugt, daß bis zum Ende unseres Jahrhunderts bzw. Jahrtausends ein politischer Zusammenschluß der Staaten der Welt erreicht werden kann und muß, und daß die Vereinten Nationen dabei eine wichtige Rolle zu spielen haben. Nach einem solchen Willensakt zur Weltsolidarität sind natürlich viele weitere gemeinsame Anstrengungen nötig, bis die Menschheit zu einer homogenen Einheit findet. Bahá’u’lláh schrieb vor über hundert Jahren:
»Die Wohlfahrt der Menschheit, ihr Friede und ihre Sicherheit sind unerreichbar, wenn und ehe nicht ihre Einheit fest begründet ist. Diese Einheit kann so lange nicht erreicht werden, als die Ratschläge, die die Feder des Höchsten offenbart hat, unbeachtet übergangen werden.«12)
Die Bahá’í mit ihrem immer dichter werdenden globalen Netzwerk von inzwischen über 170 nationalen Gemeinden sind intensiv bemüht, ein auf göttlichen Geboten ruhendes Weltethos selbst zu verinnerlichen, bekannt zu machen und in Projekten anzuwenden, die letztendlich der gesamten Menschheit zugute kommen. Damit, mit geistiger Motivation und praktischen Schritten, wird die Bahá’í-Weltgemeinde die Vereinten Nationen über die fünf Jahrzehnte ihres Bestehens hinaus weiter unterstützen und ganz bewußt zur Neugestaltung der Menschheit und unseres Planeten beitragen, denn:
»Die Erde ist nur ein Land und alle Menschen sind seine Bürger.«13)
- 1) Bahá’u’lláh, 1817-1892, Stifter der Bahá’í-Religion
- 2) s. Die Verkündigung Bahá’u’lláhs an die Könige und Herrscher der Welt, Bahá’í-Verlag 1967
- 3) 'Abdu’l-Bahá, 1844-1921, Sohn Bahá’u’lláhs und Oberhaupt der Bahá’í von 1892-1921
- 4) ’Abdu’l-Bahá, Das Geheimnis göttlicher Kultur, Bahá’í-Verlag 1973, S.62f
- 5) H.Balyuzi, 'Abdu'l-Bahá, Bd.1, Bahá’í-Verlag 1983, S.421
- 6) s. ‘Abdu’l-Bahá, Der Weltfriedensvertrag, Bahá’í-Verlag 1988, S.41
- 7) s. Hermann Weber, Vom Völkerbund zu den Vereinten Nationen, UN-Texte 34, DGVN Bonn, 1987
- 8) Auszüge in Bahá’í-Informationen 1: Religion der Einheit, Bahá’í-Verlag 1978
- 9) Das Universale Haus der Gerechtigkeit, Sitz Haifa, Israel,
wird seit 1963 alle fünf Jahre von den Nationalen Geistigen Räten gewählt.
- 10) s. DGVN, Vereinte Nationen 5/1993, S.168
- 11) Die Verheißung des Weltfriedens, Bahá’í-Verlag 1985, S.7
- 12) Bahá’u’lláh, Ährenlese, Bahá’í-Verlag, 3. rev. Auflage 1980, Kap.131:2
- 13) a.a.0., Kap.117
Susanne Schaup
Musik ohne Grenzen[Bearbeiten]
Gedanken zu einer Vision der Ganzheit
- Dr. Susanne Schaup ist freiberufliche Journalistin, Publizistin und Schriftstellerin. Sie beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit den Rechten der Frau und dem Dialog zwischen den Religionen. Den hier abgedruckten Vortrag hielt sie auf dem Musik-Forum der Landegg-Akademie in der Schweiz im November 1994.
Liebe Freunde,
sehr verehrte Damen und Herren!
Es ist mir eine Ehre, auf diesem wunderschönen Symposion zu Ihnen sprechen zu dürfen; nicht als Musikerin, denn das bin ich nicht, sondern als eine Liebhaberin der Musik, die viele Jahre intensive Freude durch Musik erfahren hat, aber auch Schmerz. Von klein auf war ich sozusagen von Musik »infiziert«. Man kann in Wien nicht aufwachsen, ohne Musik zu hören, ohne Klavier spielen zu lernen, ohne in Konzerte zu gehen und Leute zu kennen, die auf die eine oder andere Weise aktiv mit Musik verbunden sind. Überall war Musik, größtenteils noch die sogenannte »Wiener Klassik«: Haydn, Mozart, Schubert, Beethoven. Die Musikgebildeten kannten natürlich die »neue Musik« von Bartók, Webern und Schönberg, und es gab Kontroversen über die Frage, ob diese Zwölftonmusik »schön« sei oder nicht. Schönheit, wie wir sie in der Musik kannten, schien nicht mehr relevant zu sein, bzw. sie unterlag anderen Kriterien. Im großen und ganzen jedoch war die Welt der Musik für diejenigen von uns, die in den fünfziger Jahren aufwuchsen, von der klassischen Musik bestimmt und von dem großen Liederschatz, der sich in Österreich und Deutschland über Jahrhunderte angesammelt hat. Er wird von einer Generation an die nächste weitergegeben — Kinderlieder, Wiegenlieder, Wanderlieder, Heimatlieder, Abendlieder, Weihnachtslieder, Lieder der Jahreszeiten, besonders Frühling und Sommer, und natürlich Liebeslieder. Ich bin dankbar für diese Tradition. Da ich evangelisch aufwuchs, lernte ich auch die herrlichen Lieder der evangelischen Kirche kennen. Diese Lieder waren, denke ich, das Beste an meiner religiösen Erziehung.
[Seite 11]
Mit anderen Worten, es war eine musikalische Welt mit ziemlich genau definierten
Grenzen. Natürlich gab es auch die Schlager, die eine Zeitlang in Mode waren,
oberflächlich in Text und Melodie, aber relativ harmlos im Vergleich zu dem Zeug,
das zum Teil heute zu hören ist. Der amerikanische Jazz hielt Einzug, für Pop
und Rock war die Zeit noch nicht gekommen, und es gab noch nicht die ständige
Musikberieselung in den Supermarkets und Kaufhäusern, in Restaurants, am
Badestrand und an praktisch allen öffentlichen Orten.
Die Zeiten änderten sich. Die Grenzen der Musik und der Künste im allgemeinen explodierten. Menschenmassen, insbesondere die Jungen, wurden süchtig nach Pop und Rock. Die Diskokultur begann. Von Amerika kam die Welle nach Europa und breitete sich in der ganzen Welt aus. Andererseits erlebten wir seit den sechziger Jahren den Einfluß anderer Musikkulturen, aus Indien, Japan, Indonesien, Afrika und Südamerika. Diese Musik wurde hier nicht nur authentisch aufgeführt, sondern auch von westlichen Komponisten und Musikgruppen absorbiert in einem Taumel von Experimentierfreude.
In Deutschland waren Westberlin und München Zentren dieser Bewegung. In den siebziger und achtziger Jahren konnte man fast alle großen Virtuosen indischer Musikinstrumente hören, wie Sitar, Veena, Sarodh, Flöte, einschließlich der Meister der Tabla, der kleinen indischen Trommeln, die für jedes indische Konzert unverzichtbar sind. Wir hörten Sängerinnen und Sänger, die in der indischen Gesangstradition ausgebildet waren, die ganz anders ist als der westliche Belcanto. Man mußte sich erst daran gewöhnen. Diese Konzerte waren ganz anders als die, die wir gewohnt waren! Meistens gab es keine gedruckten Programme; die Musiker legten das Programm im Lauf des Konzertes fest. Die Konzerte begannen später als anberaumt und dauerten wesentlich länger. Die Musiker saßen auf dem Boden, meist barfuß und in indische Gewänder gehüllt. Räucherstäbchen wurden abgebrannt, es gab eine Anrufung der Götter, bevor die Musik begann, und für unsere untrainierten Ohren dauerte es oft sehr lang, bis die Musik in Fahrt kam. Offen gestanden, hielten viele von uns indische Musik für eher langweilig, als wir sie zum ersten Mal hörten. Sie schien monoton, ohne Abwechslung, ohne Anfang und Ende. Ein bestimmtes Stück wurde angesagt, aber nicht der Komponist. Später, als wir mehr über indische Musik wußten, lernten wir, daß diese »Ragas« aus einer uralten Musiktradition stammten, die zu ihrer Würdigung ein geschultes Ohr erforderten. Da gab es gleitende Mikrointervalle, die wir mehr mit unseren Nerven als mit unseren Ohren wahrnahmen. Allgemein gesprochen, berührte indische Musik uns mehr auf der Ebene der Nerven und Emotionen als auf derjenigen des Verstandes, unser geistiges Bewußtsein mehr als unseren Intellekt.
Was war das? Seit der Renaissance hatte die abendländische Musik sich wie die Kultur im allgemeinen entwickelt: mit einer starken Betonung von Individualität und Verstand. So kam es zu den ungeheuren Wandlungen des musikalischen Stils. Wir hatten Komponisten, die ihre Persönlichkeit durch die Musik ausdrückten, während der Osten mehr Wert auf Kontinuität legte, auf Bewahrung der Überlieferung, innerhalb welcher nur die größte Kunst den Raum für individuelle Gestaltung in Form von Improvisation zu nutzen verstand. Im Westen war diese Kunst verlorengegangen, und Musiker, selbst die größten Virtuosen, sind von der Partitur abhängig und können nicht mehr frei improvisieren.
Was uns nach einiger Zeit auffiel, war die subtile Wirkung der indischen Musik
auf uns. Sie war beruhigend, sie »hielt Leib und Seele zusammen«, so daß wir uns
am Ende eines Konzerts mehr im Einklang mit uns selbst fühlten. Irgendwie war uns
der Drang zu analysieren, verstandesmäßig zu begreifen, abhanden gekommen. Statt
dessen lernten wir, uns dem Fließen der Töne hinzugeben. Wir lernten zwischen
den einzelnen »Ragas« zu unterscheiden, die Komplexität ihrer Struktur, ihre
unterschiedlichen Stimmungen und Tonalitäten wahrzunehnen.
Junge Musiker fuhren nach Indien, um die Sitar oder die Veena oder indischen
Gesang bei indischen Meistern zu studieren, und kehrten mit beachtlichen
[Seite 12]
Fertigkeiten und einem erweiterten Horizont zurück. Sie hatten sich nicht nur eine
andere Art von Musik oder einen anderen Aufführungsstil angeeignet, sondern eine
andere Einstellung zur Musik überhaupt. Noch mehr: es ist unmöglich, sich gründlich
mit einer fremden Musiktradition auseinanderzusetzen, ohne sich innerlich zu
verändern. Ein tiefes Verständnis der Musik anderer Kulturen erfordert einen
Bewußtseinswandel. Einige Freunde von mir, die nach Indien gingen, um klassische indische
Musik zu studieren, begannen zu meditieren. Improvisation war für sie eine Form
der Selbstbegegnung. Sie gründeten ihre eigenen Musikgruppen und versuchten, in
ihren Aufführungen einen Erfahrungsraum zu schaffen, der die Kluft zwischen aktiven
Musikern und passiven Zuhörern überbrücken sollte. Jeder wurde ermutigt, seine
eigene Musik zu entdecken, in sogenannten »Singing pools« den eigenen Klang zu
üben, im Trommeln sich selbst zu finden, mit indischen, afrikanischen oder
südamerikanischen Conga-Trommeln. Es ging um Erfahrung, um einen Bewußtseinswandel.
Die faszinierenden Rhythmen afrikanischer Trommeln erzeugten einen magischen
Raum. Sie lösten Spannungen und durchbrachen starre Verhaltensweisen, die uns in
unserer Gesellschaft auferlegt worden sind. Afrikanische, indische, südamerikanische
Musik vermittelte Vitalität, Natürlichkeit, ein intensives Lebensgefühl. Es war Musik
der magischen und mythischen Bewußtseinsebene, und wir, die wir mit der Musik
der mentalen Ebene aufgewachsen waren, nahmen sie begierig auf.
Zufällig betreute ich damals, Mitte der siebziger Jahre, als Verlagslektorin das Buch eines jungen Komponisten, Peter Michael Hamel, der in Deutschland einer der Motoren dieser Begegnung von Ost und West war. Er öffnete mir die Augen, was die Musikszene betraf, und ich hörte ihn mit seiner Band spielen, die bezeichnenderweise »Between« hieß und die musikalische Überlieferung des Ostens mit der des Westens verbinden wollte. Ich zweifle, ob diese Synthese den Test der Zeit bestehen wird, aber es war auf jeden Fall faszinierend, die Begeisterung der Spieler sowie des Publikums zu erleben. Grenzen waren in mannigfacher Hinsicht durchbrochen worden. Die Begegnung mit fremden Traditionen erfolgte uneingeschränkt, und es stand außer Frage, daß diese Begegnung für uns persönlich bereichernd und für unseren musikalischen Ausdruck fruchtbar war. Peter Michael Hamels Buch, Durch Musik zum Selbst, erschien auch in englischer Sprache und wurde vor allem in Kalifornien, wo die östlichen Traditionen von Japan her Fuß gefaßt haben, ein großer Erfolg, ja, so etwas wie ein Kultbuch. Die Botschaft lautete: erfahre Musik; konsumiere sie nicht bloß; laß dich durch außereuropäische Musik verändern und erweitern; nimm die Fremdheit der Klänge an, sie wird dir Wege der Selbstbegegnung zeigen, die deine eigene Tradition nicht kennt oder vergessen hat. Ethnische Musik ist in der Tat universale Musik, und durch die Verschmelzung musikalischer Überlieferungen aller Kulturen und Zeitalter mit unserer eigenen können wir zu einer neuen integralen Musik kommen, in Einklang mit dem integralen Bewußtseinszustand, den wir in dieser Zeit der Wandlung und globalen Integration brauchen. Es war eine wunderbare Bewegung, und ich ließ mich von ihrem Schwung und ihrer Begeisterung anstecken. Später stellte sich mir die Frage, ob diese musikalische Synthese, abgesehen von inspirierenden Gruppenerfahrungen, wirklich funktioniert, ob die mit dieser Intention geschaffene Musik stichhält, oder ob ihr nicht etwas Entscheidendes fehlt. Wir kommen nachher darauf zurück.
Die Entwicklung der elektronischen Musik war ein weiterer Durchbruch.
Jetzt konnte jeder Ton in jeder beliebigen Qualität erzeugt werden. Riesige neue
Klangfelder wurden mit demselben Enthusiasmus entdeckt, mit dem westliche Musiker
sich der ethnischen Musik zugewandt hatten. Einige Jahre lang gab es in München
das von der Siemens-Stiftung geförderte Studio für elektronische Musik. Es wurde
1966 geschlossen, und sein Initiator, Josef
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Anton Riedl, berichtete vor kurzem im Rundfunk über diese bemerkenswerte Periode
der experimentellen Musik. Man konnte Beispiele von Klangfolgen hören — es
waren aufregende, interessante, faszinierende oder auch schockierende Klänge, die
man vorher nie mit Musik assoziiert hätte, Klänge außerhalb aller musikalischen
Normen. — War das Musik? Blubbern, Rauschen, Zischen, Kratzen — wir haben keine
Sprache zur Beschreibung dieser Töne. Nur, war das Musik? Was ist überhaupt
Musik? Muß Musik schön, das heißt, harmonisch sein? Muß sie natürlich, das heißt,
auf natürliche Weise erzeugt sein? Inzwischen erhob die »konkrete Musik« den
Anspruch, daß jede Art von Klang authentisches Material für Musik sei. Und was
machte denn John Cage, der große amerikanische Innovator, nicht nur auf dem
Gebiet der Musik, sondern der Künste im allgemeinen? Er führte das »präparierte
Klavier« ein, das den natürlichen Klang der Tasten durch mechanische Vorrichtungen
entstellt, so daß sie wie ein balinesisches Gamelan-Orchester oder wie Regentropfen
auf einer Fensterscheibe oder was auch immer klingen. Mit John Cage und anderen
hat die Musik jegliche Grenzen durchbrochen. Sie kann nicht mehr im Sinne irgend
einer musikalischen Tradition definiert werden.
Gleichzeitig erlebten (erlitten) wir die Kreationen der jüngeren Komponisten. Nachdem ich eine Reihe von Konzerten des Forums »Musica viva« in München gehört hatte, kann ich nur sagen, »anything goes« (alles ist möglich). Häufig klang diese Musik gewalttätig und destruktiv, und sie war unerträglich laut. Wenn Lautstärke über ein bestimmtes Maß hinausgeht, tut sie mir körperlich weh. Etliche der jüngeren und jüngsten Kompositionen scheinen keine Mitte zu haben, nichts, an dem ich mich festhalten kann, nichts, was mir irgendwie »eingeht«. Etliches davon scheint für einen einzigen Zuhörer geschaffen zu sein, nämlich für den Komponisten selbst. Es ist hermetische, in sich verschlossene Musik. Wenn man die Programme liest, findet man oft weitschweifige Äußerungen über Quelle und Bedeutung ihres Werkes, oft in einem hochtrabenden philosophischen Jargon. Wenn man solche Äußerungen liest, könnte man meinen, es handele sich um eine neue Offenbarung. Doch wenn man die Musik selbst hört, erweisen diese Pseudoerläuterungen sich oft als sinnlos. Sie erheben einen Anspruch, den die Musik einfach nicht erfüllt.
Es ist nicht meine Absicht, den Stab über die Musik der Avantgarde zu brechen. Ich spreche aus meiner eigenen, sehr beschränkten Erfahrung, aber ich gebe zu, daß ich für den eben angedeuteten Typus von Musik nichts übrig habe. Sie tut mir weh. Sie bereichert mich nicht. Sie verwirrt und deprimiert mich. Sie macht mich zu einem aggressiven Nervenbündel. — Ich höre Argumente wie: »Was erwartest du? Die moderne Musik ist ein Abbild der Welt, wie sie nun einmal ist. Sie ist häßlich, gewalttätig, deprimierend, destruktiv und unordentlich. Weißt du denn nicht, daß der Lärmpegel auf den Straßen mancher Metropolen Menschen töten kann? Es hat Fälle gegeben. So sind unsere Städte. Du mußt realistisch sein. Der Zweck der Avantgarde-Musik wie jeder anderen Kunstform besteht darin, die Wirklichkeit auszudrücken, wie sie ist.«
Was kann ich darauf sagen? Was ist die Wirklichkeit? Ist das die einzige Art von Wirklichkeit? Hat Musik, von ihrem sakralen Ursprung her, nicht einen ganz anderen Sinn und Zweck?
Die Komponisten und Spieler von gewalttätiger Musik machen sich offenbar nicht
klar, daß jede Art von Musik und jeder Klang seine eigene Energie hat. Diese
kann aufbauend oder destruktiv sein. Es steht außer Frage, daß die gegenwärtige
Mode des Hard Rock, der Diskomusik und manche Avantgarde-Musik unserer Zeit ganz
einfach destruktiv ist. Sie ist ein Teil des heutigen Kults der Gewalt. Sie ist
körperlich und spirituell schädlich. Sogar Pflanzen reagieren auf Musik, wie
bestens dokumentierte Experimente gezeigt haben. Pflanzen verkümmern, wenn sie
Rock-Musik ausgesetzt werden, und sie gedeihen bei klassischer Musik. Müssen wir
uns mit dieser
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Gewalttätigkeit abfinden, wie sie uns von einem großen Teil der heutigen Musik
gespiegelt wird? Dagegen wehre ich mich.
Manchmal, wenn der Angriff durch Lärm in unserer Welt mich deprimiert, denke ich an die Augenblicke, in denen Musik mich tief berührt hat. Wenn Sie erlauben, würde ich Ihnen gerne von einigen solcher Augenblicke erzählen.
Einer ereignete sich vor ein paar Jahren bei einem der schönen Schloßkonzerte, wie man sie in Bayern häufig findet. Es war ein kleines Kammerorchester, und u.a. wurde ein Stück von Mozart gespielt. Aus bestimmten Gründen kam ich in einem Zustand von Rastlosigkeit und Hektik an. Mein ganzer Körper juckte, und ich konnte mich nicht auf die Musik konzentrieren. Dann begann der Mozart, und ich spürte, wie ich allmählich - ich glaube, es war ein Quartett -, in eine Harmonie hineingezogen wurde, die mich beruhigte. Noch mehr, in einer unaussprechlichen Weise lag darin eine Verheißung, daß alles gut werden würde, ja, daß alles gut war. Nach dem Konzert empfand ich, daß eine Heilung stattgefunden hatte. Das ist die Kraft Mozarts, wie Sie wissen. Sie ist zeitlos. Von Mozart kriege ich nie genug. Worin besteht sein Geheimnis? Manche sagen, daß er göttliche Musik schuf, weil er ein Freimaurer war. Er wußte um das Geheimnis des goldenen Schnitts, angewandt auf Musik, und Johann Sebastian Bach hatte angeblich dasselbe esoterische Wissen. Darüber weiß ich nicht Bescheid, aber tatsächlich ist es so, daß Mozart eine tiefe Saite in unserem Bewußtsein berührt. Seine Musik hat erleuchtende Kraft. In ihrer heiteren Gelassenheit ist Tiefe und Ganzheit, und ich habe durch nichts so viel über die Bedeutung der Liebe gelernt wie durch die Zauberflöte. Die Worte des Duetts von Pamina und Papageno sind ja recht simpel: »Mann und Weib, und Weib und Mann / reichen an den Himmel an.« Es ist die Musik, die uns die Botschaft nahebringt, in einem vollkommenen Gleichgewicht des Männlichen und Weiblichen, dem Einswerden zweier Seelen, das in der Tat göttlich ist.
Es gab noch einen weiteren, ganz anderen Augenblick der Musik, der mich tief
bewegt hat. Das war in Peru, wo ich vor mehreren Jahren einmal die Wintermonate
verbrachte. Ich hörte viel einheimische Musik im Süden Perus, im Hochland der
Anden, wo ich mich niedergelassen hatte und wo der größte Teil der indianischen
Bevölkerung lebt, aber ich spürte immer, daß das nicht die echte Musik war. Was ich
auf Schallplatten, Kassetten und in Restaurants hörte, war für Touristen aufbereitete
Musik. Unter anderem war sie viel zu laut. Ich hatte Indios gesehen, ich hatte Umgang
mit ihnen, ich hatte ihre Stimmen im Ohr, die leise und sanft waren. Das konnte nicht
ihre Musik sein. Etwas stimmte nicht. Dann hörte ich eines Tages die echte Musik. Es
war hoch in der Sierra. Mit einer Gruppe von Freunden machte ich Station in einem
Dorf, und während die anderen sich umsahen, blieb ich auf der Plaza, als ein Lastwagen
mit einer Hochzeitsgesellschaft ankam. Alle stiegen aus, nur ein Mann blieb zurück. Er
hatte eine Harfe, und plötzlich fing er an zu spielen. Sofort wußte ich: das ist’s!
Das war die echte Musik, wie José Maria Arguedas, der große peruanische Schriftsteller
und Ethnologe, sie geschildert hat. Er wußte, wie die Einheimischen zu ihrer
Musik kamen. An einem bestimmten Tag im Frühling, wenn das Schmelzwasser von den
schneebedeckten Gipfeln schoß, gingen die Harfenspieler zu den Flüssen und
Wasserfällen, hielten sich an den Felsen fest und lauschten die ganze Nacht dem
Klang des Wassers. Am nächsten Tag hatten sie ihre Musik. Das Wasser hatte sie
ihnen beigebracht. Ich kann sie Ihnen nicht beschreiben. Sie war ohne Anfang und
Ende. Sie rollte und rollte dahin, in endloser Vielfalt. Warum bewegte sie
mich so? Ich hatte eine solche Musik nie gehört. Sie war eigentümlich. Die kleine
Andenharfe klang anders als unsere Konzertharfe. Sie schien mit Erde, Himmel und
Wasser zu verschmelzen, und irgendwie gehörte ich dazu - ich hatte Anteil an der
Herrlichkeit dieser überwältigenden Landschaft, an ihrer Botschaft der Demut und
Liebe. Die indigene Musik Perus hat wahrlich eine universelle Botschaft. Das Genie
eines Volkes, einer bestimmten Erfahrung hat sie geschaffen, aber sie hat allen etwas
zu sagen. Ich setzte meine Suche nach dieser
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Art von Musik fort, aber ich fand sie nie wieder.
Etwas Ähnliches erlebte ich vor über einem Jahr, als Peter Brook, der große englische Theater- und Filmregisseur nach München kam. Er hielt einen öffentlichen Vortrag, und bevor er begann, kam ein Musiker auf die Bühne und spielte etwas auf einem Streichinstrument. Es war ein persischer Musiker namens Mahmoud Tabrizi-Zadeh, und er spielte uns eine Musik in der Überlieferung seiner Heimat vor. Stilistisch unterschied sie sich natürlich von der Musik, die ich in Peru gehört hatte, aber im Wesen war sie ihr sehr ähnlich. Sie übte dieselbe Wirkung auf mich aus. Etwas in mir antwortete auf ihren Anruf, als ob ein mir bisher unbekannter Teil meiner selbst eine Stimme bekommen hätte.
Ich könnte Ihnen von weiteren, ähnlichen Erfahrungen berichten, z.B. mit keltischer Musik, wie ich sie in Irland gehört habe, aber ich denke, es ist schon deutlich geworden, worum es geht: Unsere Zeit hat eine besondere Empfänglichkeit für die traditionelle Musik anderer Kulturen. Früher besaßen einzelne Individuen diese Gabe — denken Sie etwa an Debussy und seine Faszination durch balinesische und japanische Musik. Heute steckt sie in uns allen. Ich denke, das hat mit einer Sehnsucht nach Ganzheit zu tun, denn ethnische Musik besitzt diese Ganzheit. Sie kommt aus dem mythischen im Gegensatz zu unserem mentalen Bewußtsein. Heute müssen wir diese verschiedenen Bewußtseinsebenen miteinander verbinden: die magische, die mythische und die mentale Ebene, damit sie zusammen ein neues oder integrales Bewußtsein bilden.
Wie der Schweizer Kulturphilosoph Jean Gebser bestätigte, gehen wir jetzt auf dieses integrale Bewußtsein zu. Es kennt keine Begrenzung durch Zeit und Raum. In diesem Sinn stimmt es, daß »anything goes«, aber nicht ohne Diskretion, nicht ohne einen Sinn für Werte. Heute haben wir eine Musik ohne Grenzen, im guten wie im schlechten Sinn. Die Frage ist nur, können wir uns leisten, auf jede Art von Begrenzung zu verzichten, z.B. eine Begrenzung von Lautstärke, Brutalität, Destruktivität in der Musik? Wollen wir wirklich, daß nur noch die Technik - Elektronik — Klänge erzeugt? Ohne Zweifel ist durch das Durchbrechen aller Grenzen ein schöpferisches Potential freigesetzt worden. Haben wir rechten Gebrauch davon gemacht, oder ist es auch mißbraucht worden?
Die Welt rückt näher zusammen. Gott sei Dank gibt es Anzeichen dafür, daß dieser Prozeß der Integration sich friedlich vollziehen kann, statt durch Gewalt. Es zeichnet sich die Vision einer wirklichen Weltgemeinschaft ab, einer geeinten Welt, die gelernt hat, ihre Konflikte mit friedlichen Mitteln auszutragen. Die Vorstellung von einer künftigen Weltkultur ist uns bereits geläufig geworden. Wie wird sie aussehen? Ich stelle mir nicht gerne eine Welt vor, in der alle Unterschiede der Kulturen ausgelöscht wären, ebenso wenig wie ich die Ausrottung der Arten auf der Erde gutheiße. Die Welt würde schrecklich verarmen, wenn wir nur eine einheitliche Mischkultur, nur eine einzige akzeptierte Art von Musik hätten. Ich glaube nicht, daß das geschehen wird. Die oberflächliche Synthese von östlicher und westlicher Musik, wie ich sie z.T. erlebt habe, ist nicht tragfähig. Das ist fade Musik, sie entspringt eher dem Kopf als einem tiefen Gefühl, eher der Theorie als der Erfahrung. Das scheint nicht der richtige Weg zu sein. Solange die Inspiration durch andere Kulturen nicht wirklich assimiliert und zu unserer eigenen Erfahrung wird und sich dadurch verwandelt, wird sie keine echte Kultur hervorbringen. Wir wissen nicht, wie die Musik der Zukunft klingen wird. Aber ich habe eine Vision, wie sie sich »anfühlen« könnte. Hier sind einige Punkte dazu:
1. Sie wird kommunikativ sein — nicht autistisch, wie so viele Musik heute.
2. Sie wird heilend sein — nicht destruktiv.
3. Sie wird bejahend/affirmativ sein — nicht negativ.
4. Sie wird zentrierend/integrierend sein — nicht zersplitternd.
5. Sie wird erweiternd sein — nicht begrenzend.
6. Sie wird sinnlich und emotional ansprechen - nicht nur intellektuell.
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7. Sie wird einladend sein - nicht feindselig.
8. Sie wird in sich verständlich sein — nicht abhängig von komplizierten und oft irreführenden verbalen Kommentaren.
9. Sie wird transzendent sein — nicht nur immanent; d.h. sie würde auf eine gröBere Wirklichkeit verweisen.
Dies sind neun Punkte, die heilige Zahl. Noch mehr könnten benannt werden, aber sie wären mit dem einen oder anderen der bereits erwähnten vermutlich verwandt.
Vor allem sollten wir uns auf den Ursprung der Musik besinnen. Ein Ursprung veraltet nie, wie spätere Entwicklungen oder Moden veralten. Ursprung weist auf die Grundbedeutung von etwas hin, die es nie verlieren kann. Der Ursprung der Musik liegt im sakralen Ritual.
Mit ihrer Hilfe konnte der Mensch sich zu einer höheren Wirklichkeit in Beziehung setzen und mit Gott kommunizieren. Sie umfaßte die Singstimme, einfache Instrumente und Bewegung, die Anfänge des Tanzes. Dies war die Bedeutung des griechischen Wortes »musiké«. In der alten griechischen Heilkunde galt die Musik als heilende Kraft, als ein wirksames Heilmittel. Im Heiligtum des Asklepios, des griechischen Gottes der Heilkunst, auf der Insel Kos, waren Räume für Kranke bestimmt, die dort »mit Musik und schönen Gesprächen« behandelt wurden. Unsere Zeit hat diese beiden Heilmethoden bewußt aufgegriffen. Es gibt die junge Wissenschaft der Musiktherapie sowie die Psychotherapie und Beratung, die im wesentlichen das bieten, was die Griechen unter »schönen Gesprächen« verstanden. Die Musik kann Erstaunliches vollbringen, und wir sind hier zusammengekommen, um ihr ganzes Spektrum in einer sich wandelnden Welt zu erforschen.
Zum Abschluß möchte ich einen großen Weisen und Meister der Musik zu Wort kommen lassen, den indischen Sufi Hazrat Inayat Khan. Er wirkte, wie es die Art der Sufis ist, durch das Herz, und er vermittelte Weisheit durch seine Musik.
»Musik ist die Harmonie des Universums im kleinen, denn diese Harmonie ist das Leben selbst, und im Menschen, der selbst eine Miniatur des Universums ist, zeigen sich harmonische und unharmonische Akkorde im Puls, im Herzschlag, in seiner Schwingung, seinem Rhythmus und Tonus. Seine Gesundheit oder Krankheit, seine Freude oder sein Mißvergnügen zeigen an, ob sein Leben Musik hat oder nicht.«
Die uralte Wissenschaft des Yoga geht davon aus, daß die Schöpfung aus Klang entstand, »sabda«, dem Urklang. Diese Intuition wurde in den verschiedenen Kulturen immer wieder aufgegriffen. Die Schule des Pythagoras besaß das esoterische Wissen der Töne und betrachtete die Harmonie der Sphären als ein Symbol der kosmischen Weltordnung. Wir finden es bei Athanasium Kircher wieder, dem Universalgelehrten des 17. Jahrhunderts, und in jüngerer Zeit war es u.a. der Schweizer Musikologe Hans Kayser, der sich mit harmonikaler Grundlagenforschung befaßte. In Wien gibt es ein Institut für Harmonikale Grundlagenforschung, das die Arbeit von Hans Kayser fortsetzt.
Töne haben subtile Beziehungen zum menschlichen Körper und zum Bewußtsein, sowie zum materiellen Universum. Wir können dieses Wissen nicht vernachlässigen, wenn wir über die Musik einer künftigen Welt nachdenken. Die Welt wandelt sich ständig; die Gesetze der Harmonie bleiben konstant. Was die Menschheit intuitiv seit uralten Zeiten wußte, hat die Wissenschaft heute erhärtet. Musik kann mit den göttlichen Gesetzen der Harmonie in Einklang stehen oder nicht. Wir müssen entscheiden, welche Art von Musik wir für unser persönliches Wachstum, für die Einheit der Welt und die Evolution des Planeten fördern wollen. Ich weiß, daß diese Botschaft der Bahá’í-Vision von einer geeinten Menschheit entgegenkommt, und würde mich freuen, wenn diese Vision die Musikkultur einer künftigen Welt inspirieren könnte.
Die Empfehlung der kanadischen Bahá’í-Gemeinde an die »Königliche Kommission für Ureinwohner«[Bearbeiten]
Im September 1993 richtete der Nationale Geistige Rat der Bahá’í von Kanada eine Stellungnahme an die Kommission für Ureinwohner in Kanada. In insgesamt vier Gesprächsrunden ging es um die gesellschaftlichen Herausforderungen in bezug auf eine zukünftige Gesellschaftsordnung und Integration der vielen kulturellen Elemente. Von Jeher schon war Kanada ein klassisches Einwanderungsland. Es ist ein Beispiel für die »Einheit in der Vielfalt« und sucht nach Möglichkeiten, sich den kommenden dynamischen Veränderungen zu stellen, indem sowohl Rücksicht auf die Indianer als Naturvolk als auch auf neue Zuwanderer — insbesondere Asiaten an der Westküste, aber auch politische Flüchtlinge weltweit genommen wird.
Die Situation der Einwohner Kanadas ist sicherlich nicht ohne weiteres auf unsere europäische Situation übertragbar, aber für diejenigen Europäer, welche an die »Einheit der Menschheit« glauben, mag es bestimmt interessant sein, die Entwicklungen und Fragestellungen in einem Einwanderungsland mit Ureinwohnern als nationale Minderheit zu betrachten.
Die BAHÁ’Í-BRIEFE veröffentlichen einen Auszug dieser Stellungnahme.
- Die Übersetzung und Zusammenfassung des Papiers »The Canadian Bahá’í Community — Submission to the Royal Commission on Aboriginal Peoples« vom September 1993 besorgte Jörg Krombach.
▪ Geistige Prinzipien
Aufgrund einer über hundertjährigen Erfahrung in der Anwendung von geistigen Prinzipien im Zusammenhang mit den Herausforderungen von Entwicklungen der Gemeinden sieht sich die kanadische Bahá’í-Gemeinde in der Lage, einen Beitrag zu diesem Thema zu leisten.
Verglichen mit anderen Schwestergemeinden der Welt war die kanadische Bahá’í-Gemeinde in der glücklichen Lage, sich in einer sehr toleranten Umgebung entwickeln zu können. Sie hat weder Verfolgung noch weitverbreitete Vorurteile erleiden müssen. Ein Beispiel für die hohe Akzeptanz der Bahá’í in der kanadischen Gesellschaft ist die rechtliche Anerkennung sowohl der Bahá’í-Institutionen als auch der Bahá’í-Eheschließung. In den vergangenen Jahren hat die kanadische Regierung großzügig eine große Anzahl von Bahá’í-Flüchtlingen aufgenommen und sie befindet sich an der Spitze internationaler Gremien, welche sich um den Schutz der iranischen Bahá’í bemühen, während diese im Iran nach wie vor schweren Verfolgungen ausgesetzt sind.
Abgesehen von dieser Anerkennung durch den Staat waren es jedoch die
Ureinwohner Kanadas selbst, welche den kanadischen Bahá’í Hilfe und Ermutigung
gegeben haben. Von den 20.000 Mitgliedern sind über 3.000 Ureinwohner, und
viele der insgesamt etwa 6 Millionen Bahá’í weltweit sind ebenso Naturvölkern
zuzurechnen. Geistige Prinzipien werden
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global in der Bahá’í-Gemeinde angewandt und haben sich als sicherste
Voraussetzungen für die Entwicklung von Gemeinden ergeben. Sie sind praktische
und effektive Grundlagen für die Gesunderhaltung von Gemeinden. Werden solche
Prinzipien nicht respektiert, so resultieren daraus soziale Katastrophen. Wenn
die Beziehungen zwischen verschiedenen Kulturen nicht Respekt, Ehrlichkeit,
Gerechtigkeit und ein Gefühl der Bescheidenheit einschließen, dann stellt kollektives
Leid die unausweichliche Konsequenz dieser Situation dar. Unsere Sicht des Menschen
ist grundlegend geistiger Natur, und moralische Werte sind die entscheidenden Gesetze,
mit denen sich eine Gesellschaft weiterentwickeln kann. Zivilisationen haben sich in
allen Kulturen und Zeitaltern durch die göttlichen Impulse der Worte und Taten der
Propheten und geistigen Führer periodisch wiederholt inspirieren lassen. Das Heilige
und Geistige stellt ein universelles Phänomen dar und ist weder auf eine einzige
Kultur oder Tradition, noch auf einen bestimmten Zeitabschnitt begrenzt.
Grundlegende und andauernde soziale Veränderungen geschehen nur durch geistige Appelle an unsere Gemeinden. Bisherige Lösungsansätze beschränkten sich hauptsächlich auf mechanische Modelle, die keine dauerhaften Resultate auf die Gesinnungen zeigten. Oder aber sie waren von solch übergeordneter Natur, daß sie zwar für Beschäftigung von Sozialarbeitern, Lehrern oder ehrenamtlichen Helfern sorgten, jedoch keine soziale Transformation herbeiführten. Der erste Schritt bedeutet also zu erkennen, daß Lösungen sozialer Problemstellungen auf Prinzipien basieren. Ohne diese artikulierten Prinzipien fehlen solchen Lösungen die notwendigen Visionen. Wir sind überzeugt, daß kein größeres Hindernis auf dem Weg zu sozialer Gerechtigkeit und Wohlfahrt sowohl unter den Ureinwohnern wie auch innerhalb der kanadischen Gesellschaft existiert als eine überbetonte Ideologie des Materialismus.
- »Totempfähle« dienen bei den westkanadischen Indianern als Hausstatuen und erzählen die Familiengeschichte.
Obwohl die Ureinwohner und Siedler von Nordamerika seit mehreren hundert
Jahren nebeneinander leben, so haben sie sich größtenteils bis heute nicht verstehen
können. Die Kulturen der Ureinwohner können von ihrer Weltsicht her als »geistig«
betrachtet werden. Es ist bezeichnend, wie oft die Führer der Ureinwohner Begriffe
wie »Schöpfer« und »menschlicher Geist« verwenden, wenn sie soziale Probleme
ansprechen. Die Kluft zwischen dieser
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geistigen Art, soziale Realitäten zu betrachten, und derjenigen der weißen dominanten
Kultur ist die Ursache von vielen Mißverständnissen und Ungerechtigkeiten zwischen
beiden Lagern. Wir wollen nicht übersehen, daß die weiße dominante Kultur durch
Erfindertum in den vergangenen zwei Jahrhunderten der menschlichen Zivilisation
industrielle Produktivität und materiellen Wohlstand beschert hat. Es ist jedoch
enorm wichtig nicht zu übersehen, daß hier eine Kluft entstand, die erkannt werden
muß, um geeignete Lösungsansätze für die damit einhergehenden Schwierigkeiten zu
finden.
Die Moral und Werte derjenigen Menschen, die als Siedler hierher kamen, wurzelten in der jüdisch-christlichen Tradition. Allerdings war die Speerspitze dieser Kultur durch und durch sehr weltlich geprägt. Die religiösen Überzeugungen der Siedler, die dieses Land überschwemmten, ignorierten die umfassende Natur des Geistes und verdrängten die göttlichen Quellen der geistigen Inspiration der Ureinwohner. Nicht nur waren die ökonomischen, politischen und sozialen Kräfte von einer gewissen Überlegenheit — auch die religiösen Überzeugungen der hauptsächlich säkular und materiell eingestellten Gesellschaft, welche sich über Nordamerika ausbreitete, war durch dieses Überlegenheitsgefühl gekennzeichnet.
Grundlegend für einen gesunden Geist ist die Überzeugung von der Gleichheit aller Menschen: daß alle vom selben Gott erschaffen wurden und alle dieselben Rechte vor Gott besitzen. Materieller Wohlstand oder Macht, gesellschaftlicher Rang oder Status sind keine Garanten für moralische und geistige Werte.
Die Ureinwohner gehören zu den am stärksten betroffenen Opfern dieser dominanten sozialen Kräfte. Aufgrund dieser Erkenntnis bitten wir die Kommission zu prüfen, ob nicht die neuesten Pläne für politische und wirtschaftliche Ziele derselben Philosophie dienen. Bisherige Methoden waren pragmatischer und nicht prinzipieller Natur. Sie waren kurzsichtig - nicht visionär. Das Überleben der religiösen Bedürfnisse von Ureinwohnern muß unterstützt werden, sowohl von offizieller Seite als auch vom informellen Niveau jeglicher von der Kommission empfohlenen Richtlinien.
▪ Die Beziehung der Menschen untereinander und die Einheit der Menschheit
Während sich dieses Jahrhundert seinem Ende nähert, wird offensichtlich, was Bahá’u’lláh vor über hundert Jahren betonte. Die Menschheit bewegt sich durch einen bedeutenden historischen Wandel von einer Stufe menschlicher Zivilisation zur nächsten. Ein ausschließliches Betrachten der Probleme und sozialen Muster, die wir als typisch für unser Land empfinden, wäre ein Fehler. Die Betrachtung der gegenwärtigen Phase sich stark verändernder Bedingungen auf der Erde ist für die Bahá’í von großer Hoffnung getragen. Sie sind Begleiterscheinungen eines langfristigen Änderungsprozesses. Die Krisen solcher Umwälzungen werden dadurch gemeistert, indem wir uns über deren Natur und Ausrichtung bewußt werden.
Die Bahá’í erwarten ein Zeitalter der Menschlichkeit. Völker wohnen auf dieser Welt nicht länger isoliert voneinander, und Grenzen sind nicht mehr länger unüberwindbar. Die Abhängigkeiten der Völker werden trotz aller vorhandenen Unterschiede immer komplexer. Die exklusive Souveränität eines Staates hat keine Grundlage mehr. Ob wir uns des Prozesses dieser Umwälzungen bewußt sind oder nicht — wir bewegen uns auf eine integrierte Weltwirtschaft und auf eine weltweite politische Struktur hin. Die aktuelle Welle von Nationalismus stellt den Höhepunkt einer Entwicklung dar, die ihren Ursprung im 19. Jahrhundert hatte. Sie schürt unnötige, oft extreme ethnische und kulturelle Konflikte.
Um vorbereitet den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts begegnen zu können, betrachten die Bahá’í die Einheit der Menschheit als allerwichtigstes Prinzip. Allerdings kommt es auf eine Einheit in der Vielfalt an — und nicht auf die Dominanz einer einzelnen Kultur oder Lebensart. Einheit erwächst auch nicht aus Konformität oder Uniformität, welche beide aus den Haltungen von Materialismus und Nationalismus resultieren.
▪ Selbstverwaltung und die örtliche Gemeinde
Der Mangel an örtlicher Zuständigkeit wirkt sich gravierender für die Ureinwohner als für die Gesellschaft als ganzes aus. Bahá’í glauben, daß zukünftige örtliche Verwaltungen eine wesentlich bedeutsamere Rolle spielen werden als sie es heute tun. Bedauerlicherweise wird übersehen, daß man sich am effektivsten auf örtlicher und nicht auf nationaler Ebene einbringen kann. Diese örtlichen Verwaltungen benötigen natürlich einen adäquaten Anteil an den Rohstoffen und Gütern dieses Landes. Als Beispiel mag die internationale Gemeinschaft der weltweit etwa 6 Millionen Bahá’í dienen. Deren Augenmerk liegt in der Gründung starker örtlicher Gemeinden. Nationale Institutionen werden erst dann gegründet, wenn sich genügend solcher örtlichen Gemeinden gebildet haben. 1963 waren die weltweit vorhandenen nationalen Gemeinden stark genug, schließlich ein internationales Gremium zu wählen.
Sobald Menschen mit den örtlichen Verwaltungsstrukturen zufrieden sind, sollten sie sich größeren regionalen und nationalen Aufgaben widmen. Konzepte, die von nationalen Institutionen für die örtliche Verwaltung vorgegeben werden, stellen die am wenigsten effiziente Art dar, die wichtigsten Probleme zu lösen, welche auf der Ebene von Familien und Gemeinden anzusiedeln sind. Solche Konzepte sind auch die unflexibelsten. Übergeordnete nationale und internationale Organisationen können jedoch die gemeinschaftlichen Beziehungen zwischen allen Nationen, Kulturen und Menschen dieser Welt pflegen. Außer Frage steht, daß ein globaler Rahmen vorhanden sein muß, innerhalb dessen Grenzen lokale Regierungen solcherart agieren können, daß ihre Entscheidungen durch Interpretation und Umsetzung universeller Prinzipien mit Rücksicht auf die Besonderheiten bestimmter Gegenden oder bestimmter Menschen getroffen werden können.
Kanadas politische Institutionen sind zugeschnitten auf die Bedürfnisse einer früheren Zeit mit anderen Anforderungen.
Der Stifter der Bahá’í-Religion, Bahá’u’lláh, erklärte, daß Beratung und Mitgefühl die Gesetze des Zeitalters der Reife der Menschheit bedeuten. Weder können wir hier alle Prinzipien unserer Gemeinden detailliert beschreiben, noch können wir ausreichend darstellen, wie effektiv und weitreichend sie sind.
Einige der grundlegenden Prinzipien möchten wir Ihnen jedoch nennen:
□ Das Verbot von Parteienbildung.
□ Die Gelegenheit aller, an einem konsultativen Prozeß teilzunehmen, der zur Entscheidungsfindung führt.
□ Die Ermutigung aller, frei und auf der Grundlage ihres eigenen Gewissens zu sprechen.
□ Die Verantwortung jedes einzelnen, Mäßigung in den Äußerungen seiner Ansichten zu üben.
□ Die moralische Verpflichtung, vom eigenen Beitrag losgelöst zu sein.
□ Die Interessen der Gruppe oder Gemeinschaft stehen über den Interessen des einzelnen, aber die individuelle Freiheit der Rede ist absolut gewährleistet.
□ Sobald eine Entscheidung getroffen ist, sollen alle diese respektieren und gemeinsam tragen — also auch jene, die ursprünglich anderer Ansicht waren.
□ Die Verpflichtung aller entscheidungstreffenden Körperschaften, dauernd ihre Arbeit zu bewerten, und fortlaufende Beratung auch mit größeren Körperschaften, um Entscheidungen entweder zu festigen, oder - wenn notwendig — zu revidieren.
□ Der Wert der Einheit wird betont. Andere wichtige Werte, wie etwa die Freiheit der Rede, Ehrlichkeit und Mut, seine Ansichten zu äußern, Mäßigung der Ausdrucksweise, Höflichkeit und das Anhören verschiedener Ansichten, sind alle wichtig für die Entwicklung der Gemeinde, aber Einheit ist das wichtigste aller Prinzipien.
▪ Ein Hinweis auf ökonomische Entwicklung
Auf lokaler Ebene wirken sich materielle und finanzielle Armut dramatisch aus. Viele Gemeinden, die lediglich einige Meilen auseinanderliegen, reflektieren ein großes Gefälle, und tragischerweise repräsentieren die Gemeinden der Ureinwohner die Folgen der fehlenden Gerechtigkeit und des sensiblen Ausgleichs.
Es gibt keinen universellen ökonomischen Plan. Vielmehr muß mit Ehrlichkeit, Vertrauenswürdigkeit, Mut und einer geistig dienenden Haltung gemeinschaftlich beraten werden. Alle Faktoren müssen vereint in auf örtlicher Ebene erprobten Unternehmungen münden. Gleichzeitig muß ein globaler Rahmen dafür sorgen, daß die Entwicklung lokaler Verwaltung und Selbstbestimmung ein Überleben und wirtschaftliche Produktivität der örtlichen Gemeinde sicherstellt.
Eine Weltwirtschaft erfordert akzeptable Gesetze und globale Rahmenbedingungen, die ausschließen, daß Gemeinden sowie Individuen auf der Grundlage von materiellem Konsum ohne Grenzen und Mäßigung ausgenutzt werden können.
▪ Die Gleichberechtigung von Mann und Frau
Welche neuen Regelungen auch immer in Kanada getroffen werden, das Prinzip der Gleichberechtigung von Frauen und Männern erfordert ausdrückliche Anerkennung. Die moralische Autorität von Bahá’u’lláhs Lehren zu diesem Punkt stellen klar, daß Gott keinerlei Unterschied macht zwischen dem Wert der Seele einer Frau und derjenigen eines Mannes. Das Geschlecht entscheidet nicht über den Wert in der geistigen Welt. Nun, da wir uns von derjenigen Ära der Geschichte verabschieden, wo die Betonung der körperlichen Kraft des Mannes die volle Teilnahme der Frau an der Gesellschaft verhinderte, bedeutet die volle Emanzipation der Frau eine besondere Herausforderung.
Nicht nur die Gesellschaft generell, sondern auch die Wirtschaft und das politische Leben der Gesellschaft werden gesunden, sobald Frauen den ihnen zustehenden Platz neben den Männern eingenommen haben. Solange wir jedoch damit fortfahren, das Prinzip der vollen und umfassenden Gleichberechtigung von Frauen und Männern außer Acht zu lassen, werden Frauen und Kinder weiterhin verhältnismäßig viel leiden müssen. Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen der Dominanz der Männer in sozialen, ökonomischen und politischen Führungspositionen und dem Mangel an Unterstützung von Müttern während der kritischen Monate und Jahre, in denen sie Kinder zur Welt bringen, diese stillen und erziehen. Die Abwesenheit und Unaufmerksamkeit von Männern Müttern gegenüber, eine patriarchalisch orientierte Gesellschaft, sowie der Mangel an Unterstützung für die bestmöglichen Bedingungen für Mütter, Kinder und Familien, haben zur sozialen Zerrüttung beigetragen. Auch das Fehlen von Frauen in Führungsrollen hat durch alle Schichten der Gesellschaft hindurch den Fortschritt zu einem friedvolleren und produktiveren Leben verhindert. Wir glauben, daß in der Tat hier ein direkter Zusammenhang besteht.
▪ Die Familie
Wir empfinden es als äußerst wichtig, daß ein wesentlich größerer Anteil an Mitteln, nicht nur finanzieller Art sondern auch an Zeit, von unseren Regierenden darauf verwendet werden soll, Familien zu unterstützen. Wir meinen mit Familie jenen fundamentalen Baustein der Gesellschaft, in dem Kinder geboren und aufgezogen werden. Die Gesundheit der Familie ist die Grundlage für die Gesundheit der Menschen, einer Nation und letztlich der ganzen Welt, und sie zu fördern erfordert größte Anstrengungen aller Institutionen der Gesellschaft.
Die Erziehung und Ausbildung der Kinder geschieht am besten durch geeinte und harmonische Familien. Die Rechte der Kinder werden am effektivsten dadurch geschützt, daß die Familien zentraler in den Programmen aller Bereiche sowohl der Regierung als auch aller anderen zuständigen Institutionen berücksichtigt werden. Wir können die Wichtigkeit dieses Themas nicht genug betonen.
- Indianische Ureinwohner in Kanada
▪ Die Entwicklung von Gesetzen, Rechtsprechung und politischen Strukturen
Wir glauben, daß die materielle Welt eine Spiegelung der geistigen Welt ist und daß sich Gesetze und politische Strukturen in derselben Weise weiterentwickeln müssen wie die sich verändernden Bedürfnisse der Menschheit selbst. Grundsätzliche soziale Transformation geschieht durch Veränderungen sozialer Bedingungen der Gesellschaft. Dies bedeutet jedoch, daß sich die soziale Wirklichkeit konstant verändert, sobald der Geist sich weiterentwickelt. Daher müssen sich unsere Gesetze und administrativen Strukturen genauso schnell anpassen. Ebenso muß sich ein neues geistiges Verständnis entwickeln.
Es ist offensichtlich, daß Kanada und die Ureinwohner Kanadas nun einen höheren Reifegrad erreicht haben, der nach neuen Strukturen in der Organisation des Landes verlangt. Die kanadische Bahá’í-Gemeinde unterstützt ausdrücklich die Arbeit der Kommission in diesem Bereich und befürwortet alle Anstrengungen, die unternommen werden, sowohl die kollektiven als auch die grundlegenden persönlichen Menschenrechte zu schützen und in den legalen und konstitutionellen Rahmen des Landes aufzunehmen.
Wir glauben, daß mit ausreichender Beratung kollektive und individuelle Rechte nicht im Widerspruch zueinander stehen, sondern sich gegenseitig bedingen. Daß sie als unvereinbar betrachtet werden, bedeutet lediglich, daß wir nicht lange genug miteinander beraten haben oder mit nicht genügend Bescheidenheit, Zurückhaltung und Höflichkeit vorgegangen sind. Vom Bahá’í-Standpunkt aus ist es nach wie vor die Einheit der Gesellschaft, welche als Maßstab für die Gerechtigkeit dienen kann. Sie ist das sicherste Indiz dafür, wie effektiv Gesetze erlassen und in der Rechtsprechung umgesetzt werden.
Die Gestaltung der Rechtsprechung ist eine wichtige Angelegenheit und die Vertreter der Einwohner und des Landes müssen sich mit äußerstem Engagement dieser Aufgabe widmen.
Alle Bereiche der kanadischen Gesellschaft, unsere Gemeinde eingeschlossen, müssen dann dahingehend erzogen werden, die Gesetzesanwendung und die Regierung auf allen Ebenen der kanadischen Gesellschaft zu unterstützen. Ohne einen solchen Respekt für Gesetze und unsere politischen Führer können selbst die besten Gesetze, die effektivste administrative Praxis sowie die inspiriertesten Führer kein Wohl innerhalb des Landes schaffen.
Wir reden viel darüber, daß unsere Führer den Menschen zuhören sollen, aber wir müssen auch eine Menge darüber lernen, wie wir in Kanada unsere regierenden Institutionen bei deren schwierigen Aufgaben ermutigen und unterstützen können!
A. M. Ghadirian
Maßnahmen gegen den Drogenmißbrauch[Bearbeiten]
Ein Bahá’í-Modell der Drogenprävention
- Deutsche Übersetzung des Artikels »A Bahá’í perspective on drug abuse prevention«, erschienen in der UN-Publikation Bulletin on Narcotics, Vol. XLIII, No. 1, 1991.
- ‘Abdu’l-Missagh Ghadirian ist Professor für Psychiatrie an der McGill Universität in Montreal, Kanada und Autor zahlreicher Abhandlungen über Alkohol- und Drogenmißbrauch. Er fungiert auch als Fachmann der Bahá’í International Community bei den Vereinten Nationen.
Dieser Artikel stellt einige Prinzipien vor, die von Bahá’í-Gemeinden bedacht werden, wenn sie Programme zur Prävention des Drogenmißbrauchs aufstellen. Diese Programme beziehen sich nicht nur auf den einzelnen, sondern auch auf Familie und Gesellschaft. Dabei wird dem einzelnen geholfen, sein Leben sinnvoll zu erleben und sein Selbstwertgefühl und den Respekt anderen gegenüber zu entwickeln. Auf diese Weise wird ein Maß von Reife entwickelt, das die eigenen Umstände objektiv zu beurteilen hilft und die unmittelbare Befriedigung von Wünschen zugunsten zukunftsorientierter Zielsetzungen verlagert. Verantwortungsgefühl und geistige Orientierung können dem Individuum helfen, eine positive Einstellung zu sich selbst und seiner Umgebung zu entwickeln. Eltern werden ermutigt, Liebe und Einheit zu fördern und selbst ein drogenfreies Leben zu führen, damit ihre Kinder gesunde Vorbilder haben. Erfahrungen im Familienleben sollen den Kindern helfen, mit Streß und anderen Problemen des täglichen Lebens zurechtzukommen. Durch eine entsprechende Erziehung kann sich die Gesellschaft eine positive Einstellung zur Gesundheit aneignen und Handlungsmuster annehmen, die das Aufkommen von Isolation vermeidet.
▪ Einleitung
Drogen- und Alkoholmißbrauch haben in vielen Teilen der Welt epidemische
Ausmaße angenommen. Die im Gesundheitsbereich arbeiten, bekämpfen diese
Epidemie, doch bleibt die Aufgabe der Drogenprävention eine permanente
Herausforderung, der sich alle Gesellschaftsbereiche stellen müssen.
Tausende Menschen aller Altersgruppen unterwerfen sich dem schädlichen
Einfluß von Drogen. Sie tun es aus Neugierde, zum Vergnügen oder um mit
schwierigen Situationen oder schmerzlichen Erfahrungen fertig zu werden. Mit
dem Einzug der modernen Zivilisation hat sich das Verlangen der Menschen nach
mehr Sicherheit und Bequemlichkeit vergrößert. Die Erfüllung dieser Erwartungen
wird jedoch durch den wachsenden gesellschaftlichen Druck und die allgemeine
Unsicherheit erschwert. Weit verbreitete Probleme im Zusammenhang mit Alkohol- und
Drogenmißbrauch — besonders unter jungen Leuten — spiegeln diese Entwicklung wider
und deuten darauf hin, daß viele Menschen an einer inneren Krise leiden.
Nach Ansicht der Bahá’í sollte die Reaktion auf diese innere Krise in systematischen
und realistischen Vorbeugungsmaßnahmen bestehen, wobei die Einstellung im Umgang
mit Problemen wie Drogenmißbrauch und Alkoholismus von großer Bedeutung
ist. Verhaltensforscher sind sich einig, daß Einstellungen stärkere Auslöser für
bestimmte Verhaltensweisen sind als das Wissen um Fakten. Einstellungen werden
früh erlernt und als Lebensstil übernommen. Diese erworbenen Einstellungen
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reflektieren die Werte des Menschen. Die Wertvorstellungen wiederum
leiten die Entscheidungen für bestimmte Verhaltensweisen, so z.B.
ob man Drogen nimmt oder ein drogenfreies Leben führt.1)
Die individuelle Wirklichkeit des Menschen besteht also viel mehr in seinem Denken als im materiellen Dasein2); daher ist der Gebrauch berauschender Drogen ein Hindernis bei der Weiterentwicklung des Verstandes und der Seele und steht in direktem Konflikt mit dem Sinn und Zweck des Lebens. Die Bahá’í-Gemeinden legen besonderen Wert auf die kindliche Früherziehung und das Familienleben. Das Heim gilt als der ideale Ort für eine frühzeitige Drogenprävention.
Bei der Erörterung der Gründe für einen Anstieg des Drogenmißbrauchs in der heutigen Welt fragt sich Cohen3), ob die Menschheit gerade eines der kritischsten Stadien ihrer Geschichte durchläuft und ihre Qualen »so allgegenwärtig sind, daß unzählige Menschen immer häufiger zu Narkotika, Stimulanzien, Beruhigungsmittel (darunter auch Alkohol), Euphorika und anderen Psychopharmaka greifen müssen, um überleben zu können.« Nach Cohen4) hat es viele verzweifelte Abschnitte in der Menschheitsgeschichte gegeben, wie z.B. der Zusammenbruch des Römischen Reiches, das frühe Mittelalter und - in jüngerer Vergangenheit — die beiden Weltkriege, aber es gibt keinerlei historische Beweise, daß in diesen Perioden die Probleme des Drogenmißbrauchs so gravierend waren wie heutzutage. Trotz allem seien die Möglichkeiten für den Fortschritt der Menschheit noch nie so günstig gewesen wie heute. Außerdem liege das Unglück, das jemanden zu Drogen oder Alkohol greifen läßt, eher in ihm selbst als in seiner Umgebung. Darüber hinaus ist Cohen der Ansicht, die innere Welt des Menschen korreliere zwar nicht unbedingt mit den äußeren Ereignissen, dennoch könne sie die äußeren Umstände widerspiegeln. Nach Meinung des Autors können Unsicherheit und Zweifel eines Menschen eine Widerspiegelung des ihn umgebenden Chaos und Verwirrung sein — Faktoren, die den Drogenmißbrauch auslösen können. Die heutige Gesellschaft wandelt sich mit Riesenschritten und verursacht dadurch Verwirrung, Unsicherheit, Angst und Streß. Alte Vorstellungen und Werte stürzen in sich zusammen und werden durch neue ersetzt. Mit der Spannung einer solchen Phase schneller Veränderungen und Entwicklungen fertigzuwerden, ist anstrengend, Alkohol- und Drogenkonsum werden zum attraktiven Fluchtweg.
In Bahá’í-Gemeinden ist die Zusammenarbeit zwischen dem einzelnen, der Familie und der Gesellschaft ein fester Bestandteil der Drogenprävention.
▪ Die persönliche Verantwortung
Bei der Entwicklung eines Präventionsprogrammes sollten die folgenden grundlegenden Prinzipien in Betracht gezogen werden.
□ Das Bewußtsein für den Sinn des Lebens
Um sich einer moralischen Ordnung zu verschreiben, muß der Mensch eine
Vorstellung von der Zweckbestimmung seines Lebens haben. Die Bahá’í-Lehren
besagen, daß die Liebe zu Gott5) ein Grundgedanke ist, der die Kräfte
der Ichbezogenheit des Menschen auf das Interesse für andere und auf deren
Wohlergehen verlagert. Dem Wohlergehen der Menschheit zu dienen, ist ein
lobenswertes Mittel
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der aktiven Umsetzung dieses Interesses. Die Bahá’í versuchen, das Bild, das die
Menschen, von sich selbst haben, dahingehend zu erweitern, daß es Bereiche jenseits
des materiellen Selbstes einbezieht. Wie ein Reisender, der Städte und Länder besucht
und mit anderen Kulturen bekannt wird, so eignet sich der menschliche Geist im Laufe
seiner Entwicklung durch die Erfahrungen in dieser irdischen Welt bestimmte
Eigenschaften und Tugenden an.6) Traurige Erfahrungen und die Prüfungen
des irdischen Lebens sind Herausforderungen zu individuellem Wachstum. Drogenmißbrauch
ist lediglich eine illusionäre Flucht in eine Phantasiewelt, bei der man keinerlei
Erkenntnisse gewinnt und nichts lernt.
□ Der Wert des Menschen
Selbstachtung und Respekt vor dem Wert und der Würde des Menschen spielen eine wichtige Rolle hinsichtlich der Einstellung, die die Menschen zu sich selbst haben. Einer der häufigsten Faktoren im Zusammenhang mit Drogenmißbrauch überall auf der Welt ist der Verlust des Selbstwertgefühls.7) Selbstwertgefühl und ein Gefühl für die eigene Würde werden in frühester Kindheit gefördert und bleiben dann ein Leben lang bestehen. Berichte besagen, daß »Kinder, die zu sich selbst eine positive Einstellung haben, zu einem Verhalten neigen, das weitere Erfolge zeitigt: Sie zeigen Durchhaltevermögen und bleiben einer Zielsetzung trotz Belastungen und Mißgeschicken treu. Kinder, die keine hohe Meinung von sich selbst haben, reagieren auf gegenteilige Art und Weise«8) Sie laufen daher eher Gefahr, sich der zerstörerischen Wirkung des Drogenmißbrauchs zu unterwerfen.
□ Freiheit
Die Gesellschaft hat die wahre Bedeutung der Freiheit mißverstanden. Das trifft besonders auf Menschen zu, die Drogen nehmen. Sie glauben, sie hätten das Recht, ihrem Körper und Geist alles anzutun, was ihnen gefällt. Ironischerweise beraubt sie letztendlich gerade der Drogenmißbrauch ihrer persönlichen Freiheit.9)
Die Fähigkeit, die eigenen Lebensumstände objektiv zu beurteilen und die unmittelbare Belohnung zugunsten einer längerfristigen Zielsetzung aufzugeben, deutet auf die Reife des Menschen hin. Gehorsam gegenüber moralischen Grundsätzen verstärkt diese Fähigkeit der Selbstdisziplin und Selbstkontrolle, damit bestimmte Ziele erreicht werden. In den Bahá’í-Gemeinden auf der ganzen Welt bildet das grundlegende Prinzip, die Gebote Bahá’u’lláhs zu befolgen, den Kern der Prävention von Drogenmißbrauch und Alkoholismus. In den Bahá’í-Schriften10) ist der Genuß alkoholischer Getränke und anderer berauschender Drogen verboten, sofern er nicht zu medizinischen Zwecken verordnet wird. Die Verpflichtung, sich derartiger übler Praktiken zu enthalten, wird durch den Glauben garantiert.
□ Berufstätigkeit
Die Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt ist dynamisch und verändert sich
ständig.11) In Bahá’í-Gemeinden stellt sich jeder der Herausforderung,
in allen
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Lebensbereichen seine Fähigkeiten zu vervollkommnen, besonders im Bereich der
Künste und Wissenschaften. Jeder ist dazu aufgerufen, einen Beruf auszuüben. Arbeit
im Geiste des Dienens wird als eine Form des Gottesdienstes betrachtet.12)
Dieses Prinzip motiviert zu persönlicher Entwicklung und Kreativität und setzt
persönliche Fähigkeiten zugunsten des Wohles der Menschheit frei. Es verhindert
gleichzeitig Apathie, Langeweile und ein Gefühl der Nutzlosigkeit - Empfindungen,
die bei vielen Menschen auftreten, die Drogen nehmen.
□ Geistige Orientierung
Geistige Orientierung hilft dem Menschen, sich selbst und seine Umgebung in einem positiven Licht zu sehen. Dadurch findet er einen Lebenssinn und kann mit Streßsituationen effizienter umgehen.
▪ Die Rolle der Familie
In Bahá’í-Gemeinden gelten ein gesunder Familienkreis und eine ordentliche Kindererziehung als vorrangige Elemente der Drogenprävention.13) Es liegt im Verantwortungsbereich der Eltern, ihren Kinder moralische und geistige Werte sowie den Umgang mit schwierigen Lebensumständen zu lehren.
Wenn Eltern sich selbst des Alkohols und der Drogen enthalten, geben sie ein Vorbild, das die Einstellung der Kinder zu diesen Substanzen maßgeblich prägen dürfte. Liebe und Einheit in der Familie, die sich um eine gute Beziehung zwischen allen Familienmitgliedern müht, wird die treibende Kraft bei der Entwicklung einer positiven und dynamischen Haltung dem Leben und seinen Herausforderungen gegenüber sein. Kinder, die in solchen Familien aufwachsen, lernen, daß der Gebrauch von Alkohol und verbotener Rauschmittel unannehmbar und die Bewältigung von Streß ein Teil menschlicher Lebenserfahrung ist, die die persönliche Entwicklung zur charakterlichen Reife führt.
▪ Die Gesellschaft
Ein Faktor, der maßgeblich zum Drogenmißbrauch beiträgt und daher im Detail erörtert werden muß, ist die Haltung der Gesellschaft im Hinblick auf den Alkohol- und Drogenkonsum. Dabei müssen auch der Verfall traditioneller sittlicher Wertesysteme, der Zusammenbruch der Institution der Ehe und des Familienlebens und die übermäßige Abhängigkeit des Menschen von politischer und materieller Macht als Quelle persönlicher Sicherheit erwähnt werden. Darüber hinaus wird die Aufgabe der Prävention wegen des gesetzwidrigen Drogenhandels und der Glorifizierung psychoaktiver Substanzen durch die Medien erschwert.
In den folgenden Absätzen werden einige Punkte aufgezählt, die die Gesellschaft bei der Entwicklung von Vorbeugungsmaßnahmen beachten sollte.
Das Selbstwertgefühl und das Verständnis der Würde des einzelnen müssen
gestärkt werden. Familienangehörige müssen Sinn und Zweck ihres Lebens erkennen.
Kindererziehung sollte sich nicht nur auf körperliche und intellektuelle Ausbildung
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beschränken, sondern auch geistige Aspekte des Lebens beinhalten. Die Gesellschaft
muß sowohl die geistigen als auch die materiellen Bedürfnisse der Menschheit erkennen,
damit Fortschritt und Entwicklung überhaupt möglich sind.
Die dramatische technologische Entwicklung und die materialistische Orientierung der modernen Gesellschaft haben nicht nur zu beachtlichen körperlichen und materiellen Annehmlichkeiten geführt, sondern auch zum Verlust des geistigen Bewußtseins. Die Lösungsansätze für die Probleme und das Leid der Menschheit sind mechanistisch und materialistisch geprägt und haben die geistige Großmut verloren, die man für persönliche Entwicklung und Fortschritt benötigt. Dadurch haben die Menschen den Kontakt zu ihrem eigenen Selbst verloren. Drogenkonsum ist daher der Versuch, diesen Kontakt mit Hilfe chemischer Mittel wiederherzustellen und Probleme zu lösen, die in ihrem Kern zutiefst menschlich und somit geistiger Natur sind. Zum Beispiel ist Glücklichsein eine Gemütsverfassung, die durch produktive und sinnvolle zwischenmenschliche Beziehung, auf keinen Fall aber durch Drogen erreicht werden kann.
Der Wettlauf nach materiellen Dingen öffnet Tür und Tor für eine Jagd nach Erfolg und Liebe, die nur eine geringe Toleranzschwelle für das Versagen zuläßt. Folglich wenden sich diejenigen, die emotional unsicher oder labil sind, Alkohol oder Drogen zu als Flucht vor der bitteren Realität ihres von Konkurrenz geprägten Lebensstils. Konkurrenz sollte durch Kooperation ersetzt werden; Konfrontation und Isolation sollten durch Beratung und Harmonie ersetzt werden, damit eine Atmosphäre des miteinander Teilens und der gegenseitigen Fürsorge herrschen kann.
Menschen aller Altersgruppen und sozialer Schichten sollten Zugang zu Bildung haben, damit sie eine positivere Einstellung zu den körperlichen, emotionalen, intellektuellen, geistigen und gesellschaftlichen Aspekten von Gesundheit entwickeln können. Solche Erziehung sollte ein Verständnis vom Sinn des Lebens kultivieren. Sie sollte den Menschen dazu ermutigen, in seinem Beruf aktiv Ziele zu verfolgen und zu erkennen, daß dieser aktive Einsatz sein eigenes Wohlergehen fördert. Erziehung sollte auch danach streben, Gefühle wie Entfremdung und Isolation, die Drogenmißbrauch fördern, innerhalb der Gesellschaft zu beseitigen.
Die Gesellschaft sollte dem Individuum — besonders Jugendlichen — behilflich sein, eine eigene Identität und positive Methoden im Umgang mit Langeweile und Apathie zu entwickeln. Es ist ihre Aufgabe, das Umfeld zu schaffen, das zu Kreativität und sinnvoller Arbeit anregt.
Die Gesellschaft sollte dazu beitragen, den Zugang zu Drogen, die keinen medizinischen oder wissenschaftlichen Zwecken dienen, zu erschweren. Sie sollte Menschen, die Vorbildfunktion haben, wie z.B. Lehrer, Künstler oder herausragende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, dazu ermutigen, ein Leben ohne Drogen zu führen. Die Massenmedien sollten Informationssendungen und Bildungsprogramme zur Prävention von Alkohol- und Drogenmißbrauch anbieten und jede Werbung für psychoaktive Substanzen unterlassen.
Die internationale Zusammenarbeit bei der Einschränkung des Anbaus, der Verarbeitung, der Verteilung und des Mißbrauchs von Drogen sollte gefördert werden. Die zur Zeit laufenden Programme der Vereinten Nationen mit dem Ziel der Eindämmung des Drogenmißbrauchs können nur dann erfolgreich sein, wenn alle Regierungen und alle Bereiche der Gesellschaft sich verpflichten, an dieser gemeinsamen Aufgabe mit vereinten Kräften zu arbeiten.
- 1) s. A.M.Ghadirian, In Search of Nirvana: A New Perspective on Alcohol and Drug Abuse, Oxford: George Ronald 1985
- 2) s. ‘Abdu’l-Bahá, The Reality of Man, Wilmette, Illinois: Bahá’í Publishing Trust 1966, S. 9-10.
- 3) s. Cohen, »Reflections on people and drugs«, Drug Abuse and Alcoholism Newsletter 13.1 (1984), S. 1-3.
- 4) a.a.O.
- 5) Bahá’u’lláh, Ährenlese, Hofheim-Langenhain: Bahá’í-Verlag, 3. rev. Aufl. 1980, Kapitel 27
- 6) 'Abdu'l-Bahá, Beantwortete Fragen, Hofheim-Langenhain: Bahá’í-Verlag 1962, S. 199
- 7) s. A.M.Mecca, »Primary prevention, an avenue we must pursue«, Critical Concerns in the Field of Drug Abuse, New York, National Drug Abuse Conference, 1978, S. 1-5
- 8) Übersetzung aus: »Prevention, the nation’s health«, APHA Newsletter, October 1975 (zitiert in Mecca, op. cit.)
- 9) s. Bahá’u’lláh und 'Abdu'l-Bahá, Bahá’í World Faith, Wilmette, Illinois: Bahá’í Publishing Trust 1976 und A.M.Ghadirian, In Search of Nirvana: A New Perspective on Alcohol and Drug Abuse, Oxford: George Ronald 1985
- 10) s. A.M.Ghadirian, In Search of Nirvana: A New Perspective on Alcohol and Drug Abuse, Oxford: George Ronald 1985
- 11) s. D.C.Jordan, »In search of the supreme talisman«, World Order 5.1 (1970), S. 12-20
- 12) s. Bahá’u’lláh und 'Abdu'l-Bahá, Bahá’í World Faith, Wilmette, Illinois: Bahá’í Publishing Trust 1976
- 13) s. Bahá’u’lláh, Ährenlese Kapitel 122
Umweltfreundliche Rundfunkempfänger[Bearbeiten]
Ein neu entwickeltes, solar-betriebenes Radio bietet eine grüne Alternative zur Batterienschwemme
CHENGDU, China - Die meisten Arbeiter der Chengduer Fabrik für Fernseh- und
Elektrogeräte fahren in dieser Stadt im Zentrum Chinas jeden Tag mit dem Fahrrad
zur Arbeit und benutzen somit das erwiesenermaßen leistungsfähigste und
umweltfreundlichste Transportmittel. Diese Arbeiter arbeiten zur Zeit an einem
neuen Vorhaben auf dem Gebiet der grünen Technologie, und zwar an der Massenproduktion
eines preiswerten und leistungsstarken solar-betriebenen Radios. Das Projekt, das in
Zusammenarbeit mit einer privaten, von Bahá’í geleiteten Stiftung durchgeführt
wird, will mit dem Einsatz dieser Radios die gesellschaftliche Entwicklung auf
Dorfebene vorantreiben und auch eine Lösung anbieten für die mit den Batterien
verbundenen Umweltprobleme.
»Für die sogenannte Erste Welt geht es hierbei um die Auswirkungen auf die Umwelt«, sagt Dr. K. Dean Stephens, der besondere Schaltsysteme entwickelt hat, die seinen Angaben nach die Radios leistungsfähiger machen als jedes zuvor produzierte solar-betriebene Radio. »Batterien verbrauchen bei der Herstellung ungefähr 80 mal so viel Energie als sie später speichern können, und wenn sie dann weggeworfen werden, verunreinigen sie auf Jahre hinaus den Boden mit Schwermetallen. Wir versuchen hier mit einer neuen Technologie Pionierarbeit zu leisten, die der Umwelt zugute kommt«, sagt Dr. Stephens, der auch der Direktor des Vanguard Trust ist, der gemeinnützigen Stiftung, die das Projekt koordiniert und fördert. Im Hinblick auf die Entwicklungsländer müssen wir uns im Klaren sein, daß die Kosten der Batterien letztlich die Anschaffungskosten des Radios bei weitem übersteigen, was die Geldmittel vieler Dorfbewohner stark belastet«, fügt Dr. Stephens hinzu. »Wir haben ausgerechnet, daß z. B. in einem Land wie Tansania ca. 10% des Monatseinkommens eines Arbeiters für Batterien aufgewendet werden, wenn sie einmal im Monat ersetzt werden. Also macht die Benutzung eines Solarradios einen beachtlichen Unterschied aus.«
- Das Vanguardia SR-2 Solarradio wird in einer Fernseh- und Elektrogerätefirma in Chengdu hergestellt.
Obwohl es bereits früher kleine Solarradios gab, wie Dr. Stephens feststellt, hat
jedoch keines dieser Radios das Stadium einer kuriosen Neuheit überdauert, da sie
entweder zu teuer waren oder
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nur unter idealen Bedingungen funktionierten, wie z.B. in prallem Sonnenlicht.
»Dieses Radio hat ein völlig neu konzipiertes Schaltsystem, es kann auch im Haus
betrieben werden, z.B. neben einem Fenster oder sogar des nachts neben der
Gaslaterne«, sagt Dr. Stephens. »Früher mußte man Solarradios geradezu in der
Sonne braten lassen, damit sie liefen.«
▪ Testlauf
Dr. Stephens sagt auch, dieses Solarradio sei sehr viel preiswerter als seine Vorgänger. Die niedrigen Kosten entstehen durch das klare Design des Radios und durch die Entscheidung, es in China produzieren zu lassen, wo die Lohnkosten niedrig sind. Die ersten einhundert Radios, die in der Testserie produziert worden sind, werden für 25 Dollar verkauft. Bei größeren Produktionsmengen wird der Preis fallen. »Dann wird jedes Radio ungefähr 17 Dollar kosten«, sagt Dr. Stephens. »Das entspricht dem Preis, den man anderswo allein für die Solarzellen bezahlen würde.«
Die hohe Leistungsfähigkeit des Radios in Verbindung mit dem geringen Kostenaufwand hat in Kreisen verschiedener Rundfunkgesellschaften und Entwicklungsorganisationen Interesse erweckt. Sowohl die BBC (British Broadcasting Corporation) als auch die nationale dänische Rundfunkvereinigung DANICOM werten derzeit die ersten Modelle dieses Radios aus, sagt Dr. Stephens. Mehrere internationale Entwicklungsorganisationen haben ebenfalls Radios zu Testzwecken und Versuchsläufen bestellt.
»Ich denke, dieses Konzept ist wunderbar«, sagt Judy Brace, Vizepräsidentin des Entwicklungsinformationsdienstes an der Akademie für Bildungsentwicklung in Washington, D.C. »Das ganze Problem mit den Batterien, die immer wieder durch neue ersetzt werden müssen, ist in einem Entwicklungsland sehr schwierig. Die Bemühungen von Vanguard sind also sicherlich lobenswert.« Mrs. Brace hat nach eigener Aussage bereits ein Radio bestellt, um es auszuprobieren, und wenn es die Feldversuche besteht, könnte es für einige Rundfunkprojekte ihrer Organisation nützlich sein. »Wir sehen dafür sicherlich einen Markt«, sagt sie.
Die ersten Modelle des Radios, die den Namen »Vanguardia SR-2« tragen, benutzen als Hauptenergiequelle eine Reihe kristalliner Silikon-Solarzellen, die auf einer Karte auf der Rückseite des Radios miteinander verbunden sind. Das Radio ist nur für den Mittelwellenempfang geeignet. »UKW-Empfang würde den Preis des Radios unnötig in die Höhe treiben«, erklärt Dr. Stephens und fügt hinzu, »Wir planen für andere Märkte in der Zukunft auch Modelle mit mehreren Frequenzbändern.« Das Radio ist mit 15 cm Höhe, 28 cm Breite und 6,5 cm Tiefe im Vergleich zu anderen modernen tragbaren Radios relativ groß. »Es ist als Tischradio gedacht«, sagt Dr. Stephens, »als ein Gerät, das auf einem Tisch oder am Fenster stehen und das ganze Haus beschallen kann. Außerdem bestimmen der 10 cm Durchmesser große Lautsprecher und die relativ große Solarkarte auf der Rückseite die Größe des Radios.«
▪ Innovatives Schaltkreismodell
Durch den von Dr. Stephens entwickelten Schaltkreis kann der Lautsprecher mit nur 0,04 Watt betrieben werden. »Damit ist es etwa 10 mal leistungsfähiger als die meisten anderen Radios«, sagt Dr. Stephens, der sich als Pionier auf dem Gebiet der Elektronik durch die Entwicklung einer hochkompakten Farbfernsehkamera, die bei den Apollo-Mondflügen eingesetzt wurde, einen Namen gemacht hat.
Dr. Stephens ist der Ansicht, es sei gerade für China wichtig, an der Produktion dieses Radios beteiligt zu sein. »Die Chengduer Firma für Fernseh- und Elektrogeräte war sehr flexibel bei der Ausarbeitung der letzten Details des Designs und bei der Herstellung«, sagt Dr. Stephens. »Ich bin sehr glücklich über unsere Zusammenarbeit und kann sagen, daß die Firma sich sehr für die Prinzipien des Vanguard Trust interessiert.«
Die erste Produktionsserie, die im Mai 1992 abgeschlossen wurde, umfaßte
lediglich 100 Radiogeräte. »Diese erste Produktionsreihe war ein Testlauf für uns«,
sagt Dr. Stephens. »Der nächste Schritt wird entweder 1.000 oder 10.000 Geräte
umfassen. Wir hoffen, daß einzelne Sponsoren oder eine Entwicklungsorganisation
in diese Produktion investieren oder die
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gesamte Produktionsserie aufkaufen werden, damit das Radio breiten
Bevölkerungsschichten zugänglich gemacht werden kann.«
Die Produktion solarbetriebener Radios ist Hauptbestandteil der allgemeinen Bemühungen des Vanguard Trust, die Benutzung von Rundfunkgeräten in Dörfern zu fördern. Der Trust wurde zur Entwicklung und Förderung nützlicher und angemessener Technologie für die sich entwickelnden Länder der Welt gegründet, und eines seiner Hauptanliegen ist, preiswerte Technologien für die auf die Dörfer ausgerichtete Radioversorgung zu schaffen.
- Dr. K. Stephens (rechts) bei einem Treffen in Beijing mit dem Direktor der chinesischen Gesellschaft für Rundfunktechnologie, Professor He Dazhong (links).
▪ Ein Dorfrundfunksystem
»Es wurden bereits erfolgreiche Experimente durchgeführt, ein Dorfrundfunksystem einzurichten, und viele Entwicklungsexperten haben großes Interesse daran«, sagt Dr. Stephens. »Die Grundidee ist der Aufbau einer Mini-Radiostation, die es dem Dorf ermöglicht, eigenen lokalen Rundfunk anzubieten. Mit anderen Worten soll das Dorfradio ein Werkzeug im Leben der Dorfbewohner sein. Es ist ein Instrument für die Beratung und für die Erhaltung der verschiedenen Traditionen und kulturellen Ausdrucksmöglichkeiten. Und in einem Zeitalter, in dem Information Macht bedeutet, ist das Dorfradio auch eine Art der Stärkung der Dorfgemeinschaft an der Basis. Dadurch erhalten die Menschen ihre Informationen ohne Umwege.«
Der Vanguard Trust hat kürzlich eine Broschüre mit dem Titel »Handbuch für Dorfradiohörer« herausgebracht, in dem sowohl die Technologie als auch die Organisationsstruktur zur Errichtung einer Dorfradiostation beschrieben werden. Außerdem hat der Trust ein von Dr. Stephens entwickeltes kleineres Solarsystem bei einem Bahá’í-Ausbildungszentrum in Puerto Rico umfassend getestet, wo es bei der Beleuchtung und Kühlung eingesetzt wurde. Das Nachrichtenblatt Vanguardia berichtet vierteljährlich über die Aktivitäten des Trusts und erleichtert so den Zugang zu Informationen über diese Technologien. Der Trust und seine Publikation entlehnen ihren Namen einem Zitat aus den Bahá’í-Schriften, in welchem die Bahá’í aufgerufen werden, »in vorderster Reihe« wissenschaftlicher Errungenschaften zu stehen, sagt Prof. Kenneth Kalantar, ein in Puerto Rico lebendes Mitglied des Vanguard-Vorstandes. »Unser besonderes Interesse liegt in der Förderung der Entwicklung von Technologie für die sich entwickelnden Länder der Welt«, sagt Prof. Kalantar, der an der Inter American University in San German, Puerto Rico, Chemie lehrt. »Obwohl der Trust von Bahá’í gegründet wurde und nach Bahá’í-Prinzipien geführt wird, steht die Mitgliedschaft jedem offen, der ähnliche Ziele verfolgt.« Er sagt, der Trust habe derzeit zwar wenige, aber in der ganzen Welt verstreut lebende Mitglieder, die sich mit der Thematik angemessener Technologie befassen.
ONE COUNTRY, Juli-September 1992
Frühe Begegnungen Mitteleuropas mit der Bahá’í-Geschichte[Bearbeiten]
Kent Beveridge, Bahá’í-Verlag 1995, 140 Seiten (z.Z. vergriffen) Band 1 der Schriftenreihe der Gesellschaft für Bahá’í-Studien
In fünf ausgewählten Essays führt uns hier der in jungen Jahren verstorbene Bahá’í-Historiker Kent Beveridge tief in die Bahá’í-Geschichte und beweist, daß Geschichtsforschung und -darstellung keineswegs trocken sein muß, sondern durchaus spannend sein kann.
Die Bemühungen von Graf Prokesch von Osten, dem österreichischen Gesandten an der Hohen
Pforte, zum Schutze Bahá’u’lláhs vor der drohenden Verbannung von Adrianopel nach ‘Akká
sind Gegenstand der Nachforschungen im ersten Essay. Prokesch hatte durch Comte de Gobineau
vom Schicksal der Bábí erfahren und war fasziniert von den metaphysischen Lehren des Báb.
Der mühsam recherchierte und transkribierte Briefwechsel zwischen Prokesch von Osten,
seinem Konsul in Adrianopel und Gobineau läßt die Schlußfolgerung des Autors zu, daß die
Bemühungen der europäischen Diplomaten wenigstens für die Gefährten Bahá’u’lláhs ein
schlimmeres Schicksal abwendete. Der zweite Essay ähnelt einer Detektivgeschichte.
Beveridge schildert hier seine erfolgreiche Suche nach der bis dato unbekannten Identität
der beiden Schiffe, die Bahá’u’lláh im Zuge jener Verbannung von Gallipoli nach Haifa
trugen. Ein dritter Essay zeichnet — für einen Amerikaner bewundernswert einfühlsam — das
Lebens- und Charakterbild von Kaiser Franz Joseph I. von Österreich, an den Bahá’u’lláh
im Kitáb-i-Aqdas mahnende Worte richtete. Auch der vierte Beitrag (»Österreich und der
Bábí/Bahá’í-Glaube vor 1900«) zeichnet ein eindrucksvolles Bild vom Geist jener Epoche und
enthält übrigens in voller Länge den bekannten Bericht des schweizerisch-österreichischen
Hauptmanns über die 1852 verübten Greuel an den Bábí. Im letzten Beitrag schließlich forscht
Beveridge nach den ersten Anfängen der Bahá’í-Gemeinde in Wien, die sich zum Teil als kurios
und amüsant erweisen. Er schildert in interessanten Details auch den Besuch 'Abdu'l-Bahás in
Wien und die ersten Beziehungen der jungen Gemeinde zur deutschen Muttergemeinde.
Der Österreich-Bezug der Essays erweist sich rasch als bloß vordergründig. Vielmehr entsteht zum einen das Bild des gesamteuropäischen Machtgefüges, vor dem sich der bevorstehende Zusammenbruch des Osmanischen Reiches bereits als unausweichlich abzeichnete und das sich als bestimmend für das Schicksal Bahá’u’lláhs erweist, sowie das Schauspiel zentraleuropäischen Machtgerangels, das die bevorstehende Katastrophe ahnen läßt. An Kaiser Franz Joseph wird die Engstirnigkeit traditionsverhafteten Denkens sichtbar, das damals die Herrscher Europas beseelte, weitab von jenem menschheitsumfassenden Denken, zu dem Bahá’u’lláh sie aufrief. Die Tragik bestand unter diesem Aspekt in der langen, 68jährigen Regierungszeit Franz Josephs, dem es schließlich vorbehalten blieb, das Pulverfaß Europa 1914 anzuzünden. Zum anderen wird deutlich, daß die Sache des Báb und Bahá’u’lláhs schon im 19. Jahrhundert aufsehenerregendes Thema von Salongesprächen in führenden europäischen Kreisen war. Dies wirft ein bedeutsames Licht auf die Äußerung Bahá’u’lláhs, daß Seine Sache bereits zu Seinen Lebzeiten dazu angetan war, die ganze Erde zu umfassen!
Erzählt wird auf drei Ebenen. Vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse in Europa und im Vorderen Orient und der überlieferten Bahá’í-Geschichte präsentiert der Autor Fakten und Einzelschicksale als Ergebnisse seiner Recherchen und läßt so ein ungemein plastisches Bild entstehen, das den Leser geradezu zum Zeitzeugen werden läßt. Sachlichkeit, Genauigkeit der Schilderung und Knappheit charakterisieren den Erzählstil und lassen dennoch oder gerade deshalb die Liebe des Autors zu seinem Forschungsgegenstand spüren. Dies erinnert an sein großes Vorbild als Forscher, Hasan Balyúzi, und stellt ihn in dieser Hinsicht - ohne allzu große Übertreibung - in eine Reihe mit diesem.
In einer Fülle von Fußnoten und einem angefügten Glossar geographischer Begriffe wird dem historisch interessierten Leser zusätzlich reiches Wissen geboten.
- Heinz Hampel-Waffenthal
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