Bahai Briefe/Heft 65/Text

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Bahá’í

BRIEFE


Zeitschrift
für Religion und Gesellschaft
Nr. 65 / Juni 1994



Die Prophezeiungen der Hopi-Indianer


Jahr der Familie :


Familie und ethische Erziehung

Lehren und Lernen

Vorschulerziehung in Swaziland


Vor 150 Jahren:

Reaktionen auf die Erklärung des Báb


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INHALT


Der Báb - das Tor . . . . . . . . . . . 4

Frühes Echo in der westlichen Welt
Nassim Berdjis


Familie und ethische Erziehung . . . . . . . . . . . 10

Nicola Towfigh


Vorschulerziehung in Swaziland . . . . . . . . . . . 16

Erfolgreiche Zusammenarbeit


Lehren und Lernen . . . . . . . . . . . 20

Die Rolle des Lehrers auf dem Weg zur Weltgesellschaft
Marjorie Tidman


Die Prophezeiungen der Hopi-Indianer . . . . . . . . . . . 26

Erfahrungen mit indianischer Religiosität
Jörg Krombach


Familienreport 1994 . . . . . . . . . . . 36

Hermine Mayer-Berdjis


Reden von einem, der schauen kann . . . . . . . . . . . 39

Buchbesprechung von Isabel Schayani



Titelbild von Jörg Krombach


Bahá’í-Briefe

Heft 65
Juni 1994
22. Jahrgang


Die Bahá’í-Briefe wollen eine intensive Auseinandersetzung mit den Inhalten der Bahá’í-Religion fördern und auf der Grundlage zeitgemäßen Denkens zu einem Dialog mit allen beitragen, die sich um die Lösung der Weltprobleme mühen.


Herausgeber: Der Nationale Geistige Rat der Bahá’í in Deutschland e.V., Hofheim-Langenhain


Redaktion: Nassim Berdjis, Jörg Krombach, Bijan Sobhani, Uwe Still, Karl Türke jun.

Redaktionsanschrift: Bahá’í-Briefe, Redaktion, Eppsteiner Str. 89, D-65719 Hofheim


Namentlich gekennzeichnete Beiträge stellen nicht notwendig die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers dar.


Die Bahá’í-Briefe erscheinen halbjährlich. Abonnementpreis für vier Ausgaben 35,- DM. Einzelpreis 9,80 DM.


Vertrieb und Bestellungen: Bahá’í-Verlag Eppsteiner Str. 89 D-65719 Hofheim

© Bahá’í-Verlag GmbH 1994 ISSN 0005-3945



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Bahá’í

BRIEFE


EDITORIAL


Vor nunmehr 150 Jahren, im Jahre 1844, nahm die Geschichte des Bábí- und Bahá’í-Glaubens im Iran ihren Anfang. Heute ist die Bahá’í-Gemeinde nach dem Christentum die geographisch weitverbreitetste Religionsgemeinschaft auf unserem Planeten. Ihre damals utopisch scheinenden und manchen sogar revolutionär anmutenden Ziele und Visionen gelten heute als unumgängliche Notwendigkeiten, um das Überleben der menschlichen Zivilisation zu sichern.

Die ersten Berichte über den jungen Glauben, die in der westlichen Welt zu lesen waren, stammen von Diplomaten und Orientalisten, doch auch in Gedichten und Romanen fand die neue Religion aus Persien Widerhall. Einen Überblick über die Umstände und Hintergründe der Berichterstattung sowie über literarische Werke, die sich mit Anhängern des Bábí- und Bahá’í-Glaubens befassen, gibt der Artikel »Der Báb — frühes Echo in der westlichen Welt«.

Auf dem Weg zu einer friedvollen und harmonischen Weltgesellschaft, aber auch für die Entwicklung des einzelnen, steht die Erziehung im Mittelpunkt. Mehrere Artikel dieser Ausgabe beleuchten anläßlich des Internationalen Jahres der Familie dieses wichtige Thema von verschiedenen Seiten.

Sowohl die Erziehung im familiären Rahmen als auch die Rolle des Lehrers im Erziehungsprozeß werden behandelt. Ein Beispiel für das praktische Engagement von Bahá’í auf diesem Gebiet stellt der Artikel über ein Vorschulerziehungsprogramm in Swaziland vor.

Das Erscheinen des Báb vor 150 Jahren bedeutete die Erfüllung zahlreicher Prophezeiungen, die in unterschiedlichsten religiösen Schriften und Traditionen enthalten sind. Allerdings finden sich auch in den Überlieferungen der Indianer interessante Zukunftserwartungen für unsere Zeit, die in dem Artikel über die Hopi-Indianer erwähnt werden.

Die Redaktion


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Nassim Berdjis


Der Báb — das Tor[Bearbeiten]


Frühes Echo in der westlichen Welt



Am 22. Mai 1994 jährte sich zum 150. Mal der Abend, an dem der Báb Seine Sendung als Gottesoffenbarung Seinem ersten Anhänger kundtat. Dieser Jahrestag wird von den Baha’í in aller Welt festlich begangen. Die Bahá’í-Briefe tragen mit einem Überblick über frühe Reaktionen auf die neue Religion in der westlichen Welt dazu bei.


Im Westen wie im Osten bewegte zu Beginn des 19. Jahrhunderts Menschen aus vielen Glaubensrichtungen eine eigenartige religiöse Erwartung. Hier wie dort war man in den Heiligen Schriften auf Hinweise gestoßen, die das Kommen eines Welterlösers prophezeiten. Im Osten erklärte am Vorabend des 23. Mai 1844 ein fünfundzwanzigjähriger Kaufmann aus einer angesehenen Familie in Shíráz (Mírzá ‘Alí-Muhammad, 1819-1850), Vorbote und Wegbereiter für diesen Welterlöser zu sein. Er selbst stiftete den Bábí-Glauben, der sich um geistige Erneuerung bemühte und Seine Anhänger auf den bald nach Ihm kommenden großen Gottesboten (Bahá’u’lláh, 1817-1892) verpflichtete, der ein Zeitalter der Gerechtigkeit und des Friedens bringen und die Verheißungen aller früheren Religionen erfüllen werde. Bald hatte der Báb eine große Anhängerschaft, darunter zahlreiche Gelehrte und Personen von hohem gesellschaftlichen Rang. Doch die Verfolgung durch geistliche und weltliche Mächte Seines Geburtslandes setzte rasch ein. Der Báb wurde in die Bergfestungen Máh-Kú und Chihríq im Nordwesten des Landes verbannt und am 9. Juli 1850 in Tabríz durch Erschießen hingerichtet. Etwa 20 000 Seiner Anhänger wurden so grausam getötet, daß sie — wie der Báb selbst — das warme Mitgefühl westlicher Diplomaten und Autoren erregten. Auch Bahá’u’lláh, dessen Identität den Anhängern des Báb damals noch nicht bekannt war, wurde als Bábí verhaftet, eingekerkert und schließlich nach Baghdád verbannt. Dort gab Er der Bábí-Gemeinde neue Rechtleitung und erklärte 1863 (kurz vor der Weiterverbannung), der vom Báb verheißene Gottesbote zu sein. Damit erfüllte Er die Ankündigung des Báb, und der Bábí-Glaube ging in den Bahá’í-Glauben über. Später sorgte Bahá’u’lláh dafür, daß die sterblichen Überreste des Báb ins Heilige Land überführt und in einem Mausoleum in Haifa am Berg Karmel beigesetzt wurden. Dort befindet sich heute das geistige und administrative Weltzentrum der Bahá’í-Religion.

Die Geschichte des Lebens und Wirkens des Báb wird von Shoghi Effendi in seinem Geschichtswerk Gott geht vorüber1) geschildert. Eine besonders detaillierte und eindringliche Darstellung der Geschichte des Bábí-Glaubens ist der in der deutschen Fassung dreibändige Nabils Bericht. Aus den frühen Tagen der Bahá’i-Offenbarung2)” Da im neunzehnten Jahrhundert auch in europäischen Ländern Bewegungen wie die Templer-Vereinigung in Stuttgart entstanden, die in Erwartung auf die Wiederkehr Christi ins Heilige Land zogen, sind Publikationen über den Báb in der westlichen Welt von großem Interesse. Sie spiegeln das Lebensgefühl und die Erwartungen mancher Europäer wider und filtern so die neuen religiösen Lehren durch die Sichtweise einer angeblich aufgeklärten, aber dennoch in vielen Aspekten suchenden Gesellschaft.

Die erste Erwähnung des Bábí-Glaubens durch einen Europäer war ein [Seite 5] Bericht eines Engländers.3) Major Rawlinson beschrieb darin aus Baghdád den Prozeß gegen Mullá ’Alíyi-Bastamí und die allgemeine Aufregung über die neue Religion. Das erste gedruckte Zeugnis war ein Artikel in der Londoner Zeitung The Times vom I. November 1845, der mehrfach in London, New York, Philadelphia und sogar im australischen Melbourne abgedruckt wurde.

Zum damaligen Zeitpunkt gab es zwei europäische Gesandte in Teheran: Oberstleutnant Justin Sheil (der spätere Lord Sheil) von der britischen Regierung und Prinz Dolgorukov vom russischen Zarenreich. Der Franzose Joseph Philippe Ferrier war nicht offiziell als französischer Abgesandter akkreditiert, berichtete aber auch in seine Heimat. Seine schriftlichen Darstellungen basierten auf Regierungsquellen, waren dementsprechend negativ gefärbt und betonten den angeblich aufrührerischen Charakter der neuen Bewegung. Die in der persischen Hauptstadt lebenden Europäer hielten den jungen Glauben anfangs für eine anarchistische und möglicherweise revolutionär-sozialistische Ideologie; diese Auffassung erklärte sich aus den offiziellen persischen Darstellungen und aus der aufgewühlten Situation in vielen Teilen Europas. Neben den Berichten des Oberleutnants Sheil schrieb auch seine Frau, Lady Sheil, ausführlich über ihre Zeit in Persien, und ihr Werk Glimpses of Life and Manners in Persia wurde von vielen späteren Autoren als Quelle benutzt. Die erste für Wissenschaftler bestimmte Abhandlung über die Bábí-Religion verfaßte der amerikanische Missionar Dr. Austin H. Wright (»A Short Chapter in the History of Bâbeeism in Persia«), der beim Treffen der amerikanischen Gesellschaft für Orientalisten am 18./19. Mai 1853 verlesen wurde. Eine von Dr. Justin Perkins besorgte deutsche Übersetzung des unveröffentlichten Originals erschien in der Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (1851).





Haus des Báb in Shíráz


Die Aufstände in Shaykh Tabarsí, Zanján und Nayríz sowie der Märtyrertod des Báb am 9. Juli 1850 fanden ein sehr geringes Echo in der zeitgenössischen europäischen Presse. Zur Zeit der massiven Hinrichtungswelle im Jahr 1852 befanden sich keine europäischen Korrespondenten in Persien. Dennoch folgten ab Oktober desselben Jahres in Frankreich, England, Österreich, Konstantinopel und den USA Berichte, die auf der Basis persischer Quellen erstellt wurden.


Das erste im Westen erschienene Buch, in dem der Bábí-Glauben erwähnt wird, war das Werk des Pfarrers Henry Aaron Stern, Dawnings of Light in the East (1854). Stern hatte im April 1852 Bábí-Extremisten, die nicht im Sinne des Báb handelten, in Bárfurúsh getroffen. Zwei Jahre später erschien Lady Sheils Buch, und 1857 veröffentlichte der in Madras arbeitende R. B. M. Binning sein stark voreingenommenes Journal of Two Years’ Travel in Persia, Ceylon etc. Der bekannte britische Orientalist Professor E. G. Browne kritisierte dieses Werk wegen der feindseligen, vorurteilsbehafteten Einstellung den Völkern gegenüber, die es zu porträtieren vorgab. Im Jahr 1860 unternahm der deutsche Orientalist Jean-Albert-Bernard Dorn ausgedehnte Reisen durch Mázindarán und Gílán. Darüber veröffentlichte er diverse Berichte und hielt im Januar und September 1865 Vorträge in der historisch-philologischen Abteilung der russischen Akademie der [Seite 6] Wissenschaften. Dr. Jakob Polak weilte in Teheran, als zwei durch den Märtyrertod des Báb verwirrte Bábí ein Attentat auf den Sháh ausübten. Er behauptete auch, beim Märtyrertod von Táhirih anwesend gewesen zu sein. Trotz dieses angeblich engen Kontakts macht er in seinem Buch Persien: Das Land und seine Bewohner (1865) falsche Angaben über die Lehren des Báb. Neben diesen Büchern und Vorträgen gab es auch kurze Stellungnahmen des Engländers John Usher im Anschluß an seine Persienreise und von Edward Backhouse Eastwick, dem Orientalisten und Sekretär der britischen Gesandtschaft in Teheran (Mai 1860 bis Mai 1863).










Schrein des Báb in Haifa


Das Bekanntwerden der Bábí-Religion in der westlichen Welt beruhte hauptsächlich auf Joseph Arthur Comte de Gobineaus etwa zur Hälfte diesen Glauben behandelndem Werk Les Religions et les Philosophies dans l’Asie Centrale (1865). Paradoxerweise beschäftigte sich gerade Gobineau, der später vielen als Verfechter rassistischer Ideen bekannt wurde, mit einem Glauben, der die Freiheit von rassischen und anderen Vorurteilen fordert. Als Quelle für die sieben Kapitel und den Appendix über die Bábí-Lehren benutzte Gobineau die offizielle Geschichtsschreibung des persischen Hofes. Er trat auch in Kontakt mit einigen Bábí, z.B. mit Verwandten und Verbündeten Mírzá Yahyas, der später seinen Halbbruder Bahá’u’lláh bekämpfte und selbst den Anspruch erhob, der Verheißene zu sein. Gobineau schrieb damit das bis dahin umfangreichste, aber äußerst fehlerhafte Werk über die neue Religion. Das Buch war ein Erfolg; bereits nach einem Jahr mußte eine zweite Auflage gedruckt werden. Es wurde in Europa und Nordamerika vielfach rezensiert. In Deutschland erschienen Rezensionen in der Tübinger Allgemeinen Zeitung (»Die Bábís in Persien« März 1866). Alfred Baron von Kremer benutzte Gobineaus Buch als eine Quelle des Kapitels »Báb und seine Lehre« in seinem Werk Geschichte der herrschenden Ideen des Islams (1868); dasselbe gilt für Dr. Herman Ethés 61-seitiges Kapitel »Ein moderner Prophet des Morgenlandes« in Essays und Studien (1872). Gobineau inspirierte Marie von Najmájer zur Schaffung des ersten diesem Glauben gewidmeten, epischen Poems in einer westlichen Sprache. In Gurret-ül-Eyn: Ein Bild aus Persiens Neuzeit (1874) erzählt sie die Geschichte von Táhirih, der einzigen Frau unter den »Buchstaben des Lebendigen«, den ersten 18 Anhängern des Báb.

Die 3. Auflage von Gobineaus Buch fand erneut ein Echo, z.B. in Ferdinand Justis Artikel in der Zeitschrift Archiv für Religionswissenschaft (1901). Wie oben angedeutet, veranlaßte Gobineaus Werk E.G. Browne zu seinen ausführlichen Forschungen, und der mit Persien und dem Bábí-Glauben sehr vertraute Franzose A.-L.-M. Nicholas schrieb diverse Richtigstellungen verzerrt oder falsch dargestellter Sachverhalte.

Das erste im Westen erschienene Buch, das ausschließlich die Bábí-Religion zum Inhalt hat, verfaßte Mírzá Aleksandr Kazem-Beg von der Universität St. Petersburg: Báb i Bábídy (1865). Auszüge dieses russischen Werkes erschienen in französischer Übersetzung in einer orientalistischen Zeitschrift. Kazem-Begs Quellen waren Darstellungen des persischen Hofes sowie schriftliche Berichte zweier Personen, die Anhänger des Báb kannten. Sein Buch regte z.B. A. de Bellecomber zu einer Abhandlung über das Leben Táhirihs an, über deren Leben und Wirken auch andere Autoren berichteten.

Neben offiziellen Gesandten und Orientalisten schrieben auch Reisende über die Bábí-Religion. Im Jahre 1862 reiste der italienische Arzt Michele Lessona durch Persien und schrieb ein kleines Buch, I Bábí, in dem er auf Gobineau verweist und feststellt, wie schwierig es ist, authentische [Seite 7] Informationen über den Glauben zu erhalten. Unter den Reisenden der 1870er und 1880er befand sich auch eine Frau. Madame Carla Serena reiste von Anzali nach Teheran und zurück. Ihr Buch Hommes et Choses en Perse beinhaltet siebzehn Seiten über die Bábís. Der Göttinger Orientalist Friedrich Carl Andreas veröffentlichte 1896 Die Bábís in Persien, eine nicht immer korrekte, aber bis ca. 1880 reichende geschichtliche Darstellung des jungen Glaubens. Besonders interessant sind auch die Berichte über das Bahá’í-Gemeindeleben der 1890er Jahre, die der deutsche Missionar Christian Közle schrieb und die vielfach rezensiert wurden.

Edward Granville Browne unternahm 1887-1888 eine Persienreise mit dem expliziten Grund, die Bábí-Religion kennenzulernen. Er stellte fest, daß die meisten Bábís bereits Bahá’í geworden waren. Browne traf sowohl Bahá’u’lláh4) als auch Mírzá Yahya, dessen Anhängern er sich später anschloß. Die späteren Werke Brownes sind enttäuschend.5) Browne widmet sich in vier Büchern nur der Bábí-Religion, erwähnt den Glauben aber auch ausführlich in anderen Werken und verfaßte diverse Artikel, Abhandlungen und Vorträge. Besonders auffallend ist der Wandel von anfänglicher Begeisterung zu einer zynischen und feindseligen Haltung.

A.-L.-M. Nicolas gebührt wohl die Ehre, unter allen europäischen Wissenschaftlern jener Zeit den größten Beitrag zum Wissen über Leben und Lehre des Báb geleistet zu haben. Nicolas’ Vater war im französischen Konsulatsdienst in Persien beschäftigt, und der spätere Wissenschaftler wurde 1864 in Rasht geboren. Er sprach persisch, russisch und französisch, arbeitete auch im französischen Konsulat und verbrachte die meisten Jahre seines Lebens in Persien. Sein Vater kritisierte Gobineaus Buch und erweckte so das Interesse des Sohnes, der nach eingehender Untersuchung die Ansprüche Mírzá Yahyas als nichtig verwarf. Nicolas’ anfänglich positive Einstellung hielt bis 1914 an, als er den letzten Band seiner französischen Übersetzung des Le Béyan Persan veröffentlichte. Nach einer beinahe zwanzig Jahre umfassenden Pause wandte sich Nicolas ab 1933 massiv gegen die Bahá’í und griff 'Abdu'l-Bahá dafür an, daß er angeblich die Stufe und Sendung des Báb vernachlässige. Die dritte Phase begann, als Nicolas zwei Werke Shoghi Effendis und Nabils Bericht erhielt und sich in einem Brief an die Dame, die ihm die Bücher geschenkt hatte, freudig dazu äußerte, daß die Bahá’í doch verstanden hätten, daß der Báb genauso wie Bahá’u’lláh eine selbständige Offenbarung gebracht hatte: »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken, noch wie ich der Freude Ausdruck verleihen kann, die mein Herz überströmt. Es ist also nicht nur notwendig, den Báb anzuerkennen, sondern man muß Ihn auch lieben und bewundern. Armer großer Prophet, im Herzen Persiens geboren, ohne Mittel zum Lehren, der — alleine in der Welt und umgeben von Feinden — es schaffte, durch die Kraft Seiner Genialität eine universelle und weise Religion zu schaffen. .... Endlich kann ich in Frieden sterben. Ruhm gebührt Shoghi Effendi, der meine Qualen und Ängste beruhigt hat; Ruhm sei dem, der den Wert Siyyid ‘Alí-Muhammads, des Báb, erkennt.«6) Zusammenfassend bleibt zu bemerken, daß A.-L.M. Nicolas ein Geschichtswerk — Seyyèd Ali Mohammed dit le Báb (Paris 1905) — sowie sechs Bände Übersetzungen der Schriften des Báb, zwei kurze Monographien und diverse Abhandlungen veröffentlichte.

Weitere Gelehrte, die sich in der Beschäftigung mit der Bábí-Religion und den Anfängen der Bahá’í-Religion hervortaten, waren Hippolyte Dreyfus und Clement Huart in Frankreich und Baron Victor Rosen und Capt. Alexander Tumanski in Rußland. In Deutschland fand eine geringere Beschäftigung mit dieser Thematik statt. Erwähnenswert ist die Dissertation Hermann Roemers, die er 1911 an der Universität Tübingen einreichte (Die Bábí-Behá’í). Darin untersucht er die Geschichte beider Religionen bis ins 20. Jahrhundert und berichtet dabei auch über Bahá’í-Aktivitäten und -Gemeinden in Europa, Nordamerika und im Fernen Osten. Roemer veröffentlichte darüberhinaus diverse Artikel in der Orientalistenzeitschrift Der Islam.

In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts durchlief die diplomatische [Seite 8] Szene in Teheran starke Veränderungen. Während 1850 nur die Türkei, Rußland und England durch diplomatische Missionen in Teheran vertreten waren, befanden sich in den 1890er Jahren zusätzlich Abgesandte Frankreichs, Deutschlands, Österreichs, Amerikas7), Belgiens, Italiens und der Niederlande dort. England und Rußland blieben tonangebend und waren am besten informiert.

Eines der bemerkenswertesten Bücher über Persien verfaßte George Nathaniel Curzon, der spätere Lord Curzon of Kedleston. Er verbrachte zweieinhalb Monate in Persien und Persia and the Persian Question (1892) ist ein in seiner Darstellung ausgewogenes Werk. Er stellt darin die Fehler früherer Werke über die Bábí-Religion richtig, erzählt ihre Geschichte bis 1852 und berichtet über neuere Entwicklungen zum Bahá’í-Glauben hin. Eine weitere detaillierte historische Darstellung, die aber leider eine Vielzahl unrichtiger Informationen enthält, ist das Buch des Militärsekretärs und späteren Attachés der britischen Gesandtschaft in Teheran von 1889 bis 1893: Sir Thomas Gordons Persia Revisited.


▪ Die Bábí und die Bahá’í in der Belletristik

Marie von Najmájer blieb nicht die einzige Schriftstellerin, die sich von der Geschichte der Bábís zu einem literarischen Werk inspirieren ließ. José Maria Eça de Queirós, einer der größten portugiesischen Romanciers, erwähnt in seinem Reiseroman Correspondencia de Fradique Mendes (1889) die Bábí in Ägypten. In seinem einzigen literarischen Werk — Un Amour au Pays des Mages (1891) — benutzt Ange-Pierre-Guillaume Ouvré de Saint-Quentin die Bábí-Geschichte als Kulisse für die romantische Beziehung zwischen einem armen Derwisch und der Tochter des Mujtahid von Qazvín. Ethel Stefana May Stevens, die spätere Lady Drower, verbrachte sechs Monate in Haifa und schrieb 1911 ihren Roman The Mountain of God. Darin berichtet sie über das Leben der Bahá’í-Gemeinde in Haifa und ’Akká und über die Rolle 'Abdu'l-Bahás. In Gertrude F. Athertons Roman Julia France and Her Times (1912) trifft die Protagonistin 'Abdu'l-Bahá in Haifa und kehrt nach England zurück. Dort versucht sie, den Schriftsteller Nigel dazu zu überreden, über die Bahá’í zu schreiben. In der deutschen populären Literatur findet die oft verzerrte Berichterstattung der Zeitungen und der Reiseerlebnisse ihr Echo in den Romanen eines vielgelesenen Autors. Karl May, der selbst weder Amerika noch den Orient bereiste, schrieb nicht nur die bekannten Indianergeschichten. Zahlreiche Romane spielen in Mexiko, Deutschland, sogar in Sibirien und im Orient. Im ersten Band seines Werkes Im Reich des silbernen Löwen erwähnt er den Báb und Seine Religion, stellt aber diverse Sachverhalte falsch dar.

Neben Najmájers Poem und zahlreichen Romanen eröffnete die russische Künstlerin Izabella Grinevskaya den Reigen der Dramen. 1903 schrieb sie ein dramatisches Poem in fünf Akten, das 1904 und erneut im April 1917 in Theatern St. Petersburgs aufgeführt wurde. Da dramatische Effekte im Vordergrund stehen, ist das Stück leider historisch sehr ungenau. 1912 verfaßte Grinevskaya ein ähnliches Werk über Bahá’u’lláh, das positiv aufgenommen wurde. Im Jahr davor hatte die Dramatikerin ’Abdu’l-Bahá in Ägypten getroffen und schrieb darüber in A Journey in the Countries of the Sun.

Weitere Schriftsteller und Gelehrte äußerten sich in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts zum Bábí- und Bahá’í-Glauben. Dr. Benjamin Jowett, der Master des Balliol College in Oxford, beschäftigte sich mit diesem Thema. Professor Thomas Kelly Cheyne der Universität Oxford traf verschiedene Bahá’í und lud zum 31.1.1912 'Abdu'l-Bahá zu einem Besuch dieser Hochschule ein. Sein letztes großes Werk, The Reconciliation of Races and Religions, behandelt ausführlich die Bahá’í-Religion. Bei ’Abdu’l-Bahás Besuch der Oxforder Universität hielt der berühmte Bibelforscher Professor John Estlin Carpenter einen besonderen Empfang am Manchester College.

Der französische Schriftsteller Romain Rolland, der 1916 den Nobelpreis für Literatur erhielt, zitiert in seinem Roman [Seite 9] Clerambault aus den Beantworteten Fragen ’Abdu’l-Bahás. Rolland besuchte das Bahá’í-Zentrum in Genf und korrespondierte mit dem berühmten russischen Literaten Leo Tolstoj, der wiederholt Kontakt mit Bahá’í hatte. Tolstojs Aussagen über die Bahá’í-Religion schwanken über die Jahre hinweg zwischen Begeisterung and Ablehnung.8)

Der Schweizer Naturforscher, Soziologe und Philosoph Auguste Forel hörte 1920 erstmals von der Bahá’í-Religion und erhielt einen berühmten Sendbrief von ’Abdu’l-Bahá. Forel wies 1927 das französische Außenministerium auf die Verfolgungen der Bahá’í in Persien hin. Vor seinem Tod im Jahre 1931 schrieb er ein »geistiges Testament«, in dem er den Bahá’í-Glauben erwähnt, sich selbst als Bahá’í bezeichnet und der Gemeinde viel Erfolg wünscht.

Weiterhin gab es Orientalisten, die sich mit der Bahá’í-Religion befaßten, darunter Professor Arthur Christensen in Dänemark, Sir Denison Ross in England und Mikhail Sergeevich Ivanov in Rußland. Gegnerschaft findet man in den Berichten christlicher Missionare, die falsche Informationen und Verurteilungen enthielten. Europäische Ärzte in Persien, Journalisten und Reisende erwähnten immer wieder den neu entstandenen Glauben.


▪ Königin Maria von Rumänien

Besondere Ehre gebührt Königin Maria von Rumänien, die als erstes gekröntes Haupt in Europa eine freundschaftliche Beziehung zu den Bahá’í entwickelte und ihrer Wertschätzung für den Glauben Ausdruck verlieh. 1926 erhielt sie von der weitgereisten Bahá’í Martha Root J. E. Esslemonts Buch Bahá’u’lláh und das neue Zeitalter zugesandt. Am 30. Januar desselben Jahres gewährte Maria von Rumänien im Controcenti-Palast Martha Root eine Audienz. Durch ihre positive Aufnahme der Bahá’í-Lehren erschien auf Anraten und im Namen der Königin am 4. Mai 1926 ein Artikel im Toronto Daily Star. Maria von Rumänien führte eine langjährige Korrespondenz mit Shoghi Effendi. Fünf weitere Darstellungen aus ihrer Feder erschienen in über 200 Zeitungen Kanadas und der Vereinigten Staaten von Amerika. Sie schrieb: »Die Bahá’í-Lehre bringt Frieden und Verständigung. Sie ist wie eine ungeheure Umarmung, die alle umfängt, die lange nach Worten der Hoffnung gesucht haben ... . Traurig über den dauernden Zwist unter den Gläubigen vieler Konfessionen und ihrer gegenseitigen Unduldsamkeit so überdrüssig, entdeckte ich in der Bahá’í-Lehre den wahren Geist Christi, der so oft geleugnet und verkannt wird... Die Bahá’í-Lehre bringt der Seele Frieden und den Herzen Hoffnung. Den nach Gewißheit forschenden sind die Worte des Vaters wie ein Brunnen in der Wüste nach langer Wanderschaft« (Gott geht vorüber, S. 445).


▪ Schlußwort

Im Europa des 19. Jahrhunderts beschränkte sich der Zugang zum Bábí-Glauben auf diplomatische Würdenträger und andere Mitglieder der höheren Gesellschaft, die durch Reisen die Möglichkeit hatten, sich über andere Länder zu informieren. In Wissenschaft und Literatur interessierte man sich für diese neue Religion, die einerseits im — sicherlich von vielen als exotisch empfundenen — Orient entstand und andererseits Lehren beinhaltete, in denen einige Wissenschaftler, Denker und Schriftsteller für den Westen geeignetes Gedankengut als Antwort auf die Wirren der Zeit fanden. Die wachsende Anzahl von Lesern dieser Literatur und die stärkere Verbreitung von Zeitungen trugen zur Bekanntmachung der Bábí- und Bahá’í-Religion um die Jahrhundertwende und in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts bei. Trotz des Engagements einzelner Menschen, die dem neuen Glauben gegenüber positiv eingestellt waren, gehörten die beiden kurz nacheinander erschienenen und eng verbundenen Religionen nicht bereits nach kurzer Zeit zur Allgemeinbildung des Durchschnittsbürgers. Die Wechselfälle des ausgehenden und die Wirren dieses Jahrhunderts verstellten oft den Blick auf eine Botschaft, die der Welt eine neue Chance bietet, sich zu regenerieren und der Errichtung des Weltfriedens entgegenzueilen.


1) Hofheim-Langenhain: Bahá’í-Verlag, 2. Auflage 1974
2) Hofheim-Langenhain: Bahá’í-Verlag, 1975, 1982, 1991
3) Die folgenden Ausführungen basieren auf Angaben in dem von Moojan Momen herausgegebenen Buch The Bábí and Bahá’í Religions, 1844: Some Contemporary Accounts. Oxford: George Ronald, 1981.
4) Siehe Shoghi Effendi, Gott geht vorüber, S. 220-221
5) Siehe Hasan M. Balyuzi, Edward Granville Browne and the Bahá’í Faith, Oxford: George Ronald, 1970
6) unveröffentlichte Übersetzung aus Momen, S. 38
7) Der erste Vertreter der Vereinigten Staaten war Samuel Benjamin, der dort von 1883 bis 1885 lebte und in seinem Buch Persia and the Persians auch über die Bábís berichtet.
8) Siehe Luigi Stendardo. Leo Tolstoj and the Bahá’í Faith. Oxford: George Ronald, 1985.


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Nicola Towfigh


Familie und ethische Erziehung[Bearbeiten]

Bereits im Jahre 1989 hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen das Jahr 1994 zum »Internationalen Jahr der Familie« ausgerufen. Ziel dieses Jahres ist eine weltweite Stärkung und Unterstützung der Familie, die als beständigste kleinste Gemeinschaft in der Gesellschaft verstanden wird. Die Familie prägt den einzelnen, die Gemeinschaft, das Berufsleben und die politische Landschaft und stellt daher die Weichen für unsere Zukunft auf diesem Planeten.

Nachdem in der letzten Ausgabe bereits die Erklärung der Internationalen Bahá’í-Gemeinde zum Internationalen Jahr der Familie veröffentlicht wurde, folgt hier ein Beitrag, der einige Aspekte des Bahá’í-Ehe- und Familienkonzeptes und die ethische Erziehung der Kinder in der Familie beleuchtet.


In einer Zeit weltweiten Umbruchs und radikaler Veränderung befindet sich auch die Familie im Wandel. Traditionelle Strukturen werden in Frage gestellt, die Erwartungen an Ehepartner und Familie verändern sich. Familien zerbrechen unter dem Druck sozialer, wirtschaftlicher und politischer Umwälzungen und neue Formen des Zusammenlebens werden gesucht und ausprobiert. Um den Anforderungen der heutigen Zeit gerecht zu werden, muß offensichtlich auch die Familie als Teil der Gesellschaft neu gestaltet werden. Doch in welche Richtung soll sie sich entwickeln, welche der traditionellen Vorstellungen sollten erhalten und welche abgelegt werden, welche der modernen Ansätze sind hilfreich und erstrebenswert, welche weniger? Diese und ähnliche Fragen lassen sich jedoch nur beantworten, wenn man ein Bild der Familie und ihrer Rolle vor Augen hat. Diesem Bild muß notwendigerweise eine Ethik bzw. Wertordnung zugrunde liegen, um der zukünftigen Gesellschaft gerecht zu werden und sie in positivem Sinne beeinflussen zu können.

Die Bahá’í-Religion ist auf Liebe und Eintracht ausgerichtet, strebt Harmonie und Verständigung unter allen Menschen an. Folgerichtig wird in den Bahá’í-Schriften immer wieder die Liebe und Einheit innerhalb der kleinsten gesellschaftlichen Zelle — der Ehe und Familie — betont: »Die Freunde Gottes müssen so leben, sich so verhalten und solche Vortrefflichkeit des Charakters und der Haltung an den Tag legen, daß sie andere staunen machen. Die Liebe zwischen Eheleuten sollte nicht nur rein körperlich, nein, sie muß vielmehr geistig und himmlisch sein. Ihre beiden Seelen sollten als eine Seele betrachtet werden. Wie schwierig wäre es, eine einzige Seele zu teilen! Wie groß wäre die Schwierigkeit! Kurz, die Grundlage des Reiches Gottes beruht auf Einklang und Liebe, Einheit, Verbundenheit und Einigkeit, nicht auf Streit, besonders nicht zwischen Mann und Frau.«1)

Die Institution der Ehe wird bejaht und bestätigt: »Wisse, daß das Gebot der Ehe ewig ist. Es wird nie geändert oder umgewandelt werden.«2) Die Partner übernehmen Verantwortung und gehen bewußt eine Bindung ein, im festen Vertrauen auf die Beständigkeit ihrer Ehe und Familie. Da die Ehe im Bahá’í-Glauben von der Zustimmung beider Partner und ihrer lebenden Elternteile abhängig gemacht wurde, wird sie auf einem starken Fundament [Seite 11] der Einheit errichtet: »Weil Wir wünschten, Liebe und Freundschaft und die Einigkeit der Menschen hervorzubringen, machten Wir sie (die Ehe) auch von der Zustimmung der Eltern abhängig, auf daß Feindschaft und Übelwollen vermieden werden.«3) Eine weitere Voraussetzung für die Einheit in der Ehe besteht darin, daß jeder für den anderen da ist und sich als Teil des Ganzen versteht. Beharren die Partner jedoch auf ihren eigenen Interessen und sind nicht bereit, Kompromisse einzugehen und die Wünsche des anderen gelegentlich über ihre eigenen Wünsche zu stellen, so wird die Ehe zum bloßen Zweckverband degradiert. Kennzeichen einer guten Ehe sind dagegen Einheit, Treue, Geborgenheit, gegenseitige Hingabe und Opferbereitschaft. »Sind wahrhaft Liebende einmal vereinigt, so müssen sie einander äußerste Treue erzeigen. Ihr müßt euer Wissen, eure Fähigkeiten, euer Vermögen, eure Titel, euren Körper und euren Geist Gott, Bahá’u’lláh und einander weihen. Laßt eure Herzen weit, so weit wie das göttliche All sein.«4) Eine Ehe ist kein statisches Gebilde, sondern eine organische Beziehung, die stets genährt und gepflegt sein will: »Hegt unablässig den Baum eurer Verbindung mit Liebe und Zuneigung, damit er durch alle Jahreszeiten hindurch sprossen und grünen und süßeste Früchte zur Heilung der Völker hervorbringen möge.«5)

Liebe und Verantwortungsgefühl werden schließlich so stark, daß alles, was einem Partner bzw. Familienmitglied widerfährt, als Unglück bzw. Glück aller empfunden wird: »Unrecht gegen einen soll als Unrecht gegen alle angesehen werden, Trost für einen als Trost für alle, Ehre für einen als Ehre aller.«6)

Solange Einheit besteht, lassen sich Probleme, die naturgemäß in jeder Ehe und Familie auftreten, gemeinsam lösen. Die Familienmitglieder sind dadurch nicht nur glücklich, sondern auch erfolgreich: »Beachtet, wie leicht sich die Angelegenheiten einer Familie regeln lassen, wenn Einheit herrscht, welche Fortschritte die Familienmitglieder dann machen, wie erfolgreich sie in der Welt sind. Ihre Beziehungen sind geordnet, sie erfreuen sich behaglicher Ruhe.«7)

Die beste und sicherste Grundlage für die Einheit in der Familie ist die Liebe zu Gott, so daß das Band zwischen den Ehepartnern bzw. Familienmitgliedern das Wort Gottes ist, wie 'Abdu'l-Bahá sagt8). Die Liebe zu Gott läßt uns im anderen nicht nur das Mitgeschöpf lieben und achten, sondern ist verbunden mit dem Streben nach Vervollkommnung, dem Erwerb von Tugenden und mit guten Taten. »Aus Trennung erwächst viel Schaden und Leid, aber die Verbindung der erschaffenen Dinge bringt stets höchst lobenswerte Ergebnisse hervor... Und erhaben über jede andere Verbindung ist die Verbindung der Menschen miteinander, besonders wenn sie in der Liebe Gottes zustandekommt. So wird die Ureinheit sichtbar, so wird die Grundlage der Liebe im Geiste gelegt.«9)


In unserer heutigen Gesellschaft wird die geistig-religiöse Seite oft vernachlässigt, und hierin liegt das größte Übel: »Die weltumspannende Krise, unter der die Menschheit leidet, ist daher in ihren Ursachen rein geistig. Der Geist dieser Zeit, als Ganzes gesehen, ist irreligiös. Die Lebensauffassung des Menschen ist zu roh und materialistisch, als daß sie es ihm ermöglichte, sich in die höheren Reiche des Geistes zu erheben. Diesen Zustand einer todkranken Gesellschaft sucht die Religion zu verbessern und zu wandeln; denn der Kern religiösen Glaubens ist ein mystisches Empfinden, das den Menschen mit Gott vereint. Diese Haltung der geistigen Verbindung läßt sich erreichen und bewahren durch Meditation und Gebet, und das ist der Grund, warum Bahá’u’lláh die Andacht in ihrer Bedeutung so sehr betont. Für einen Gläubigen ist es nicht genug, nur die Lehren anzunehmen und zu befolgen. Er muß darüberhinaus den Sinn für Geistigkeit entwickeln, den er hauptsächlich durch das Gebet erwerben kann.«10)

[Seite 12]

▪ Die Rolle der Familie in der ethischen Erziehung

Aus der Liebe zu Gott erwächst der Wunsch, Kinder im Dienst an Gott zu erziehen: »Wisset, o ihr liebenden Mütter: In den Augen Gottes ist der beste Weg, Ihn zu verherrlichen, die Erziehung der Kinder und ihre Bildung in allen Vollkommenheiten der Menschheit. Keine edlere Tat ist denkbar.«11) So ist es denn auch »die Pflicht der Eltern, ihre Kinder vollkommen und sorgsam zu erziehen.«12) Die Erziehungsaufgabe wird in der Bahá’í-Religion so stark betont und aufgewertet, daß sie zu »den höchsten Diensten, die der Mensch dem allmächtigen Gott erweisen kann«13), gezählt wird. Somit ist die Erziehung der Kinder mindestens ebenso bedeutend, wie der Erwerb des Lebensunterhalts für die Familie — keine Rolle ist minderwertig oder der anderen untergeordnet. Wenngleich die Mutter als die erste Erzieherin des Kindes, wie 'Abdu'l-Bahá sie nennt14), in aller Regel die Hauptverantwortung für die Erziehung übernimmt und der Vater in erster Linie für den Unterhalt sorgt, so sind diese Rollen doch nicht starr festgelegt, sondern können in gegenseitigem Einvernehmen beliebig verteilt werden. Davon abgesehen betrifft die Erziehungspflicht immer beide Elternteile, nie einen allein15).

Eltern stehen in der doppelten Pflicht, ihren Kindern nicht nur Wissen zu vermitteln bzw. für ihre schulische Ausbildung zu sorgen, sondern ihnen auch die Liebe zu Gott und Werte zu vermitteln, an denen sie sich orientieren können und die ihnen als Richtschnur für ihr Leben dienen. Die ethische Erziehung spielt eine entscheidende Rolle und hat sogar Vorrang vor der reinen Wissensvermittlung, da sie ein Korrektiv darstellt und immer dafür Sorge trägt, daß das erworbene Wissen sinnvoll — nicht zerstörerisch — eingesetzt wird: »Gutes Betragen und ein hoher sittlicher Charakter müssen an erster Stelle stehen, denn ohne Charakterbildung wird sich das Erwerben von Wissen nur nachteilig erweisen. Wissen ist lobenswert, wenn es mit ethischem Verhalten und tugendhaftem Charakter verbunden ist; andernfalls ist es ein tödliches Gift, eine schreckliche Gefahr.«16)

Der Grundstock jeder Erziehung wird gewöhnlich in der Familie gelegt, wo Kindern Werte vermittelt werden, an denen sie sich orientieren und auf deren Grundlage sich ihr Charakter und ihre Lebenseinstellung entwickeln. In der Familie wird Sozialverhalten erlernt und geübt, das natürlich nicht nur den Umgang der Familienmitglieder untereinander prägt, sondern das gesellschaftliche Zusammenleben insgesamt. So spielt die Familie eine entscheidende Rolle für die Gestaltung der Gesellschaft. Doch welche Werte sind es, die der Erziehung zugrundeliegen und die Eltern ihren Kindern vermitteln sollten? Welche Werte sind in der heutigen Zeit erforderlich und helfen, das weltweite Zusammenleben auf diesem Planeten besser zu gestalten? — Natürlich sind nicht alle Werte und Tugenden neu, die meisten von ihnen wurden auch in anderen Weltreligionen gelehrt und müssen wiederbelebt und mit neuem Geist erfüllt werden. Zentrale Werte sind Menschenwürde, Gerechtigkeit, Frieden, gegenseitige Achtung, Toleranz oder Gleichwertigkeit von Mann und Frau, die alle auf dem Prinzip der Einheit der Menschheit beruhen. Weitere wichtige Werte für das Zusammenleben sind Ehrlichkeit, Vertrauenswürdigkeit, Pünktlichkeit, Reinheit und Höflichkeit.

Im folgenden sollen einige Werte oder Erziehungsziele näher beleuchtet werden, die in der heutigen Zeit von besonderer Bedeutung sind.

Von frühester Kindheit an sollen Kinder im Glauben an Gott und in Liebe zu Ihm heranwachsen. Das menschliche Sein ist nicht nur auf materielle Angelegenheiten und auf den Intellekt ausgerichtet, sondern besteht auch aus dem Herzen, aus Emotionen und metaphysischem Streben. Daher muß sich jede Erziehung sowohl mit den intellektuellen als auch den geistigen [Seite 13] Aspekten des Menschen befassen. Eine vorrangige Aufgabe der Eltern ist es, ihre Kinder zu Geistigkeit zu erziehen und sie mit Gebet und Meditation vertraut zu machen. Wenngleich Kinder von Bahá’í-Eltern nicht automatisch Bahá’í werden, sondern Sich nach eigener Wahrheitssuche unabhängig von den Wünschen der Eltern frei entscheiden müssen17), ist es dennoch die Aufgabe der Eltern, ihre Kinder religiös zu erziehen, sie liebevoll zu führen und auf ihrer Suche nicht allein zu lassen: »Es ist die unabdingbare Pflicht der Eltern, ihre Kinder zur Festigkeit im Glauben zu erziehen, weil ein Kind, das sich von der Religion Gottes entfernt, nicht so handeln wird, daß es das Wohlgefallen seiner Eltern und seines Herrn gewinnt. Denn jede lobenswerte Tat wird geboren aus dem Lichte der Religion, und fehlt diese höchste Gabe, wird das Kind sich weder von Bösem abwenden noch dem Guten zuwenden.«18)

Weiter gilt es, den Kindern die Überzeugung zu vermitteln, daß die Menschheit eine Einheit bildet: »O Menschenkinder! Wißt ihr, warum Wir euch alle aus dem gleichen Staube erschaffen haben? — Damit sich keiner über den anderen erhebe...«19) Überlegenheitsdünkel, Rassismus und Nationalismus haben in der Menschheitsgeschichte bis zum heutigen Tag viel Leid verursacht. Sie widersprechen der Menschenwürde und müssen endlich überwunden werden. Daher sollten Eltern ihre Kinder in einem Geist der Offenheit zu echten Weltbürgern erziehen, die alle Menschen in ihrer Verschiedenheit schätzen und achten. Wenn die Kinder von heute, d.h. die Erwachsenen von morgen, ihrem Leben in internationaler Zusammenarbeit gewachsen sein sollen, so müssen ihre Eltern sie zu Toleranz und Vorurteilslosigkeit erziehen. Vorurteile jeglicher Art bilden Barrieren und vereiteln Kommunikation, Zusammenarbeit und Frieden.

Ein weiterer wichtiger Aspekt in der familiären Erziehung ist die Gleichwertigkeit von Mann und Frau. Die Gleichwertigkeit der Geschlechter ist ein zentrales Anliegen des Bahá’í-Glaubens und wird als Voraussetzung für die Errichtung des Weltfriedens gesehen: »Die Emanzipation der Frau, die volle Gleichberechtigung der Geschlechter, ist eine der wichtigsten, wenngleich kaum anerkannten, Voraussetzungen des Friedens. Die Verweigerung der Gleichberechtigung bedeutet ein Unrecht gegenüber der Hälfte der Weltbevölkerung und leistet bei den Männern Vorschub für schädliche Einstellungen und Gewohnheiten, die aus der Familie an den Arbeitsplatz, ins politische Leben und letztlich in die internationalen Beziehungen hineingetragen werden.«20) Dieses Zitat verdeutlicht den Zusammenhang zwischen dem Verhalten innerhalb und außerhalb der Familie. Gleichberechtigung und respektvoller Umgang miteinander müssen in der Familie und in der Gesellschaft praktiziert werden.

Ein wichtiger Bereich, mit dem Erziehung sich bewußt befassen sollte, ist die Rolle, die der einzelne innerhalb der Gemeinschaft spielt. In diesem Bereich gibt es zwei korrespondierende Werte: den Wert der individuellen Freiheit und Entfaltung des einzelnen und den Wert der Verantwortung für die Gemeinschaft und das Gemeinwohl. Diese beiden Werte widersprechen sich nicht, sondern können durchaus vereinbar sein. Totalitäre Staaten fordern völligen Gehorsam und Unterwerfung der Bevölkerung unter die vorgegebene Ordnung. Die Geschichte zeigt, daß auf ein derartiges Unterdrückungsregime häufig eine Zeit folgte, in der die Menschen ihr Glück allein in der Individualität zu finden glaubten und die soziale Verantwortung zu verneinen geneigt waren. Diese Reaktion ist ebenso wenig wünschenswert wie unreflektierter Gehorsam gegenüber dem Staat. Jede Gesellschaft ist auf Mitglieder angewiesen, die sich loyal und verantwortungsvoll verhalten und die bereit sind, nicht nur ihren eigenen Interessen zu folgen, sondern sich auch für das Gemeinwohl zu engagieren. Der Dienst an der Gemeinschaft und die Selbstverwirklichung des einzelnen stehen nicht im Widerspruch zueinander, im Gegenteil, man kann sich selbst verwirklichen, indem man ein nützliches Mitglied der Gesellschaft ist und seinen Mitmenschen dient. 'Abdu'l-Bahá beschreibt dies gar als die höchste Form der Selbstverwirklichung: »Und Ehre und Würde des einzelnen liegen darin, daß er vor all den Massen [Seite 14] der Weltbewohner zu einer Quelle des gesellschaftlichen Wohles wird. Gibt es eine größere Gnade als die, daß ein Mensch, wenn er in sich geht, feststellen darf, daß er, durch göttliche Gunst bestätigt, Frieden und Wohlfahrt, Glück und Nutzen unter seinen Mitmenschen bewirkte? Nein, bei dem einen wahren Gott! Es gibt keine größere Freude, kein vollkommeneres Glück.«21)

Bereits Kinder müssen lernen, daß sie eine gesellschaftliche Verantwortung tragen und daß sich ihr Verhalten — im Positiven wie im Negativen — immer auch auf die Gemeinschaft auswirkt.

Eltern tragen im Hinblick auf den späteren Beruf ihrer Kinder eine große Verantwortung. Zum einen ist es ihre Pflicht, für eine entsprechende Schul- und Berufsausbildung ihrer Kinder zu sorgen. »Gäbe es keinen Erzieher, blieben alle Seelen wild, und gäbe es keinen Lehrer, wären die Kinder ungebildete Geschöpfe. Aus diesem Grunde sind in diesem Zeitalter nach dem Buche Gottes Erziehung und Ausbildung Pflicht und nicht freiwillig. Das heißt, Vater und Mutter ist es zur Pflicht gemacht, sich mit aller Kraft zu bemühen, ihre Tochter und ihren Sohn zu erziehen, sie an der Brust des Wissens zu nähren und sie am Herzen der Wissenschaften und Künste heranzubilden. Sollten sie diese Aufgabe vernachlässigen, so werden sie dafür verantwortlich sein und in der Gegenwart des strengen Herrn getadelt werden.«22) Bei der Wahl der Ausbildung soll darauf geachtet werden, daß sie den Menschen Nutzen bringt: »Jedoch sollten solche Wissenschaften studiert werden, die den Völkern auf Erden nützen, nicht solche, die mit Worten beginnen und mit Worten enden.«23) »Von allen Künsten und Wissenschaften laßt die Kinder solche studieren, die dem Menschen Vorteil bringen, seinen Fortschritt sichern und seine Stufe erhöhen.«24) Es ist also die Pflicht der Eltern, für die Ausbildung ihrer Kinder zu sorgen und aufzukommen. Zum anderen ist es Aufgabe der Eltern, ihren Kindern zu vermitteln, daß Arbeit an sich einen Wert darstellt. Durch Arbeit wird der Lebensunterhalt verdient, doch darüberhinaus ist sie ein wesentlicher Beitrag für die Gemeinschaft und Dienst am Nächsten. Bahá’u’lláh hat Arbeit sogar mit Gottesdienst gleichgesetzt: »Wer sich in einem Handwerk oder Gewerbe betätigt, dessen Tätigkeit wird von Gott als Gottesdienst gewertet; und dies ist nur ein Zeichen Seiner unendlichen, alles durchdringenden Großmut.«25) Diese neue Arbeitsethik wird erstaunliche Ergebnisse zeitigen und sich auf Gesellschaft und Wirtschaft ausgesprochen wohltuend auswirken.


▪ Wie vermittelt man Werte?

Wie bereits oben ausgeführt, spielt die Familie in der ethischen Erziehung die Schlüsselrolle. In einer Atmosphäre der Liebe und des gegenseitigen Verständnisses werden Kinder sich leicht tun, diejenigen Werte anzunehmen, für die ihre Eltern leben. Werte anzunehmen ist weniger eine Frage des Intellekts, sondern eher eine Frage der Gefühle. Daher werden Werte nicht durch bloße Information oder intellektuelle Auseinandersetzung vermittelt. Sie sind nur dann von Dauer, wenn sie in Herz und Seele eines Menschen verankert sind.

Der erste Schritt in der Wertevermittlung ist natürlich der, daß die Eltern selbst sich für bestimmte Werte entschieden haben und ihr Leben danach ausrichten. Der beste Weg, diese Werte an Kinder weiterzugeben, ist sicherlich das elterliche Vorbild. Wenn Eltern Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit anpreisen, gleichzeitig jedoch den Nachbarn anlügen, werden sie unglaubwürdig und wenig erfolgreich. Eltern sind nur dann glaubwürdig, wenn sie ihre Werte tatsächlich in Taten umsetzen.

Inwieweit es gelingt, Kindern die eigenen Werte zu vermitteln, hängt sicher auch entscheidend von der familiären Atmosphäre ab. Jede Familie sollte versuchen, ein Klima der Offenheit und des Dialoges zu schaffen, nicht der Starrheit und Indoktrination. Alle großen Religionen haben Gehorsam der Kinder gegenüber ihren [Seite 15] Eltern gefordert, so auch die Bahá’í-Religion”26). Dies bedeutet jedoch nicht, daß Kinder ihren Eltern bedingungslosen Gehorsam leisten müssen, während Eltern alle Entscheidungen allein und über die Köpfe der anderen Familienmitglieder hinweg treffen. Entscheidungen sollten nach Möglichkeit in Übereinstimmung aller, nach Beachtung der Bedürfnisse aller und nach gemeinsamer Beratung gefällt werden, wobei den Eltern je nach Alter der Kinder ein Schwergewicht zukommt. Probleme müssen offen besprochen und beraten werden. Jedes Familienmitglied kann zur Beratung beitragen, und auch für die Beratung innerhalb der Familie gilt ’Abdu’l-Bahás bekannte Aussage, wonach »der strahlende Funke der Wahrheit« erst nach dem »Zusammenprall verschiedener Meinungen« erscheint27). Diese Familienberatung ist zugleich ein gutes Trainingsfeld für gemeinsame Problemlösungen in der Gesellschaft. Menschen lernen so, sich gegenseitig zuzuhören und gemeinsam Lösungen zu finden, die allen Beteiligten gerecht werden, anstatt Entscheidungen diktatorisch und nach dem persönlichen Vorteil zu treffen. Sie lernen, das Gemeinwohl in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zu stellen. So werden Verhaltensmuster geübt, die nicht nur der Familie, sondern auch der Umgebung zugute kommen.

Gerechtigkeit ist das Mittel der Erziehung, und sie beruht auf Belohnung und Bestrafung: »O Volk Gottes! Was die Welt erzieht, ist die Gerechtigkeit, denn sie wird von zwei Säulen getragen: Lohn und Strafe. Diese beiden Säulen sind die Lebensquellen der Welt.«28) Mit diesen beiden Mitteln können Kinder geführt werden. Strafe sollte jedoch nicht überwiegen, auch darf sie nicht in körperlicher Züchtigung oder Erniedrigung der Kinder ausarten: »Wann immer eine Mutter sieht, daß ihr Kind etwas gut gemacht hat, soll sie es loben, preisen und sein Herz erfreuen. Und wenn sich der kleinste unerwünschte Zug zeigt, soll sie dem Kind raten und es mit den Mitteln der Vernunft und, wenn erforderlich, auch durch Tadel strafen. Es ist jedoch nicht erlaubt, , ein Kind zu schlagen oder es verächtlich zu machen, denn der Charakter des Kindes wird durch Prügel und Beschimpfung völlig verdorben.«29) Lob und Ermutigung dagegen stärken die positiven Ansätze und Verhaltensweisen und sind daher ein wichtiger Faktor in der ethischen Erziehung. Liebe und Freundlichkeit haben nach Aussage Shoghi Effendis »weit größeren Einfluß auf die Veredelung des menschlichen Charakters als Bestrafung«30).

Zuletzt noch ein Wort über den Einfluß von Massenmedien — insbesondere des Fernsehens — auf die Familie. Das Fernsehen ist heutzutage in den meisten Familien ein wichtiger Erziehungsfaktor. Ein übermäßiger Fernsehkonsum kann sich sehr negativ auswirken, weil er die Kommunikation unter den Familienmitgliedern einschränkt. Der Einfluß auf Kinder, die zu viel und unkontrolliert fern sehen, kann verheerend sein. Zu häufiger Fernsehkonsum ist nicht nur Zeitverschwendung, sondern erzieht darüberhinaus zu Trägheit und Passivität. Daher ist es wünschenswert, daß Eltern nicht nur die Fernsehzeiten begrenzen, sondern auch sorgfältig auf die Programmauswahl achten. Nur so kann Fernsehen als positiver Erziehungsfaktor genützt werden. Andernfalls vermittelt es kaum diejenigen Werte, die wir als Bahá’í unseren Kindern zu vermitteln bestrebt sind.


▪ Schlußwort

Wir leben in einer Zeit des sozialen und ethischen Wandels. Einige Werte entsprechen den Anforderungen unserer Zeit nicht mehr. Aber da eine Gesellschaft nicht ohne Werte und Prinzipien existieren kann, müssen wir uns mit einer neuen, zeitgemäßen Ethik auseinandersetzen. Neue Werte werden uns ermöglichen, in ein neues Zeitalter der globalen Zusammenarbeit und der menschlichen Reife einzutreten. Zu den maßgeblichen Werten gehören die Einheit der Menschheit, die Gleichwertigkeit von Mann und Frau, das Gemeinwohl und die Arbeit als Dienst an der Gemeinschaft. Es ist nicht einfach, diese Werte konsequent zu verfolgen, im täglichen Leben umzusetzen und die Kinder darin zu erziehen. Aber es ist eine großartige Herausforderung!


1) 'Abdu'l-Bahá, zitiert in: Einheit der Familie, Hofheim-Langenhain: Bahá’í-Verlag 1983, S. 16
2) Bahá’u’lláh, zitiert in: Liebe und Ehe, Hofheim-Langenhain: Bahá’í-Verlag 1981, S. 25
3) Bahá’u’lláh, zitiert in: Liebe und Ehe, S. 33
4) 'Abdu'l-Bahá, zitiert in: Liebe und Ehe, S. 28f
5) 'Abdu'l-Bahá, zitiert in: Liebe und Ehe, S. 29
6) 'Abdu'l-Bahá, zitiert in: Ziele der Kindererziehung, Hofheim-Langenhain: Bahá’í-Verlag 1979, S. 113
7) 'Abdu'l-Bahá, Briefe und Botschaften, Hofheim-Langenhain: Bahá’í-Verlag 1992, 221:9
8) 'Abdu'l-Bahá, zitiert in: Einheit der Familie, S. 15
9) 'Abdu'l-Bahá, zitiert in: Liebe und Ehe, S. 14
10) Shoghi Effendi, zitiert in: Über die Macht des Gebetes, Hofheim-Langenhain: Bahá’í-Verlag 1981, S. 23f
11) 'Abdu'l-Bahá, Briefe und Botschaften, 114
12) 'Abdu'l-Bahá, zitiert in: Einheit der Familie, S. 15
13) 'Abdu'l-Bahá, zitiert in: Ziele der Kindererziehung, S. 48
14) siehe u.a. in Ziele der Kindererziehung, S. 35, 68, 71, 75, 77
15) siehe: Frauen, Hofheim-Langenhain: Bahá’í-Verlag 1986, S. 68f
16) 'Abdu'l-Bahá, zitiert in: Ziele der Kindererziehung, S. 58
17) siehe Ziele der Kindererziehung, S. 101
18) Bahá’u’lláh, zitiert in: Ziele der Kindererziehung, S. 11
19) Bahá’u’lláh, Verborgene Worte (arab.) Nr. 68, Hofheim-Langenhain: Bahá’í-Verlag 1978
20) Das Universale Haus der Gerechtigkeit: Die Verheißung des Weltfriedens, Bahá’í-Verlag 1989, S. 24
21) 'Abdu'l-Bahá, Das Geheimnis göttlicher Kultur, Oberkalbach: Bahá’í-Verlag 1973, S. 14
22) 'Abdu'l-Bahá, zitiert in: Ziele der Kindererziehung, S. 39
23) Bahá’u’lláh, Botschaften aus 'Akká, Hofheim-Langenhain: Bahá’í-Verlag 1982, 5:15
24) Bahá’u’lláh, zitiert in: Ziele der Kindererziehung, S. 15
25) Bahá’u’lláh, Botschaften aus 'Akká, 3:23
26) siehe Bahá’u’lláh, in: Ziele der Kindererziehung, S. 11
27) zitiert in: Geistige Räte — Häuser der Gerechtigkeit, Langenhain: Bahá’í-Verlag 1975, S. 16
28) Bahá’u’lláh, Botschaften aus 'Akká, 3:25
29) 'Abdu'l-Bahá, zitiert in: Ziele der Kindererziehung, S. 77
30) Aus einem Brief im Auftrag Shoghi Effendis vom 26.1.1935, zitiert in: Ziele der Kindererziehung, S. 95


[Seite 16]













Die Lehrerin Sallinah Makhanye geht mit ihrer Vorschulklasse auf dem Gelände der Bahá’í-Vorschule von Hlatikulu spazieren.


Vorschulerziehung in Swaziland[Bearbeiten]


Erfolgreiche Zusammenarbeit



HLATIKULU, Swaziland - Sallinah Makhanye zeigt auf einen großen Baum auf dem Gelände der Bahá’í-Vorschule von Hlatikulu. Ungefähr zwanzig Schüler bilden einen Kreis und hören zu.

»Nun, Freunde«, sagt sie, während sie nach oben zeigt und ihre Arme ausbreitet, »dieser Baum hat große Gliedmaßen. Sie sehen alle aus wie Arme. Wie nennt man sie?«

»Zweige«, sagen mehrere Kinder.

Sie zeigt auf den Stamm. »Und wie heißt dieser Teil des Baumes?« fragt sie.

»Stamm«, sagt ein vorlauter Schützling.

»Ja«, sagt Frau Makhanye, die Direktorin der Schule. »Bitte, sagt alle gemeinsam Stamm.«

»Stamm!« schallt es zurück.

»Und wie ernährt sich ein Baum?«, fragt Frau Makhanye.

»Wenn Wasser herunterkommt«, sagt ein kleiner Junge.

»Ja«, antwortet sie. »Wenn Wasser herunterkommt.«

Der Lehrplan für diese Stunde ist unkompliziert, aber die vermittelten Konzepte werden ein Leben lang in Erinnerung bleiben.

[Seite 17] »Das dritte, vierte und fünfte Lebensjahr gehören zu den ausschlaggebendsten Jahren in der Entwicklung eines Kindes«, sagt Dr. Ben Dlamini, der Präsident der Versuchsabteilung für Erziehungsfragen im Bildungsministerium von Swaziland. »Daher ist die Vorschule ein entscheidender Teil der Kindererziehung.«

Leider haben Regierungen nicht immer die nötigen Mittel zur Entwicklung und zum Betreiben eines vollständigen Vorschulprogramms. Daher fällt diese Rolle oft den nicht-staatlichen Organisationen zu.

In diesem kleinen Königreich im Süden Afrikas ist die Bahá’í-Gemeinde bei der Erfüllung dieser Aufgabe besonders erfolgreich. Indem sie in ihren eigenen Reihen ausgebildete Pädagogen und eine beständige Gruppe freiwilliger Helfer findet und ihrer Ethik der Zusammenarbeit folgt, hat die Bahá’í-Gemeinde im Verlaufe der vergangenen zehn Jahre eine zunehmend wichtigere Rolle bei der Vorschulerziehung in Swaziland erlangt. Die Gemeinde hat bisher

□ drei Vorschulzentren in Städten und drei Vorschulprogramme auf Dorfebene eingerichtet, die zusammen die vier Hauptregionen des Landes abdecken;

□ mitgeholfen, eine landesweite innerschulische Ausbildung für Vorschullehrer einzurichten, und verwaltet und betreibt diese Einrichtung in Zusammenarbeit mit dem Erziehungsministerium;

□ mit dem Erziehungsministerium einen nationalen Leitfaden für die Vorschulerziehung erarbeitet, der den Bedürfnissen des Landes und der Bevölkerung entspricht.


▪ Das Thema »Zusammenarbeit«

Vielleicht noch wichtiger ist jedoch die Tatsache, daß die Erfahrungen der 7500 Gläubige umfassenden Bahá’í-Gemeinde von Swaziland die Bedeutung der partnerschaftlichen Zusammenarbeit bei aller Art von Bildungsprogrammen oder -projekten herausstellt.

»Als nichtstaatliche Organisation stellen wir unsere Räumlichkeiten zur Verfügung und benutzen unsere Bahá’í-Zentren als Schulgebäude«, sagt Dr. Irma Allen, ein Mitglied des nationalen Ausschusses für Kindererziehung der Bahá’í-Gemeinde von Swaziland. »Wir stellen auch















Schüler der Bahá’í-Vorschule von Piggs Peak versammeln sich für Spiele. Der Unterricht wird in dem im Hintergrund sichtbaren Bahá’í-Zentrum abgehalten.


[Seite 18] ausgebildete Lehrer und übernehmen die Koordination.«

»Die Regierung stellt Vorschulinspektoren und vergibt Zertifikate. Und die Bernard Van Leer Stiftung aus den Niederlanden gibt uns einen weiteren finanziellen Puffer und beträchtliche technische Unterstützung.«

»Das Endergebnis dieser Zusammenarbeit«, sagt Dr. Allen, »ist eine qualitativ gute Lehrerausbildung und gute Schulen bei geringem Kostenaufwand.«

Der Bildungsminister von Swaziland, Herr S. N. Simelane, stimmt Dr. Allens Einschätzung zu und meint, daß die Idee der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen nichtstaatlichen Organisationen und der Regierung eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der Vorschulbildung in Swaziland spielt.

»Die Vorschule ist sehr wichtig«, sagt er. »Die Tatsache, daß wir keine Lehrer bereitstellen und keine Schulgebäude bauen, besagt nicht, daß dies nicht wichtig wäre. Uns fehlen einfach die Mittel.«

Und Herr Simelane fügt hinzu, daß die Bahá’í-Gemeinde besonders aktiv im Bereich der Vorschulerziehung sei. »Die Bahá’í, die mit uns zusammenarbeiten, helfen uns sehr«, sagt er. »Wann immer Probleme auftauchen, versammeln sie sich und helfen uns, eine Lösung zu finden.«

Er stellt auch fest, daß ihre Einstellung zur freiwilligen Mithilfe und zum Dienst an der Gesellschaft der Schlüssel zum Erfolg der Gemeinde zu sein scheint. »Manchmal fragt man sich, warum Menschen ihre Zeit investieren - denn wir bezahlen sie ja nicht«, sagt er.


▪ Die Gesellschaft von Swaziland verändert sich

Die Bahá’í-Gemeinde engagiert sich seit ungefähr zehn Jahren in der Vorschulbildung und reagierte damit auf die rapiden Veränderungen in der swaziländischen Gesellschaft und das Auftreten eines klar abgegrenzten Bedürfnisses.

»In Swaziland beginnen heutzutage immer mehr Frauen, in die Arbeitswelt einzusteigen«, sagt Dr. Allen. »Also braucht man Vorschulen, da die Mütter nicht so viel Zeit mit ihren Kindern zu Hause verbringen können.«

Die Vorschulbildung ist auch wichtig, da Swaziland sich in einer Welt zu behaupten sucht, die immer mehr durch gegenseitige Abhängigkeit gekennzeichnet ist. »Die Vorschule dient einem Entwicklungsprozeß, den Kinder oft nicht vor der Einschulung durchlaufen«, sagt Frances Fletcher, ein anderes Mitglied des Bahá’í-Erziehungsausschusses. »Kinder in Swaziland haben nicht unbedingt Zugang zu Büchern oder Spielsachen oder anderen Stimuli, die ihnen bei der Entwicklung ihres Forschungsdrangs helfen.«


▪ Zentren sind bereits vorhanden

Die Gemeinde merkte, daß die bereits in drei großen Städten Swazilands entstandenen Zentren eine zweifache Pflicht erfüllen könnten.

Heute stehen Schulen in den Bahá’í-Zentren von Mbabane, Piggs Peak und Hlatikulu jeweils ungefähr sechzig Schülern zur Verfügung. In den Dörfern Motjane, Mnicini und Mphetseni werden drei weitere Vorschulen von den örtlichen Bahá’í-Gemeinden für ca. sechzig weitere Schüler betrieben. Alle diese Schulen funktionieren ohne Zuschüsse von außen, da sie sich durch ein bescheidenes Schulgeld selbst tragen.

»Es gibt drei andere Vorschulen in der Stadt«, sagt Glory Kunene, der stellvertretende Direktor der Piggs Peak Bahá’í-Vorschule. »Unsere Schule ist die preiswerteste. Obwohl wir kein Essen zur Verfügung stellen, schicken die Eltern ihre Kinder gerne hierher. Wir erhalten pro Jahr ca. 20 Bewerbungen mehr, als wir Schüler aufnehmen können.«

Die Zentren werden auch für das nationale innerschulische Ausbildungsprogramm für Vorschullehrer, das die Bahá’í-Gemeinden koordinieren, benutzt. Die Bernard Van Leer Stiftung trägt mit finanziellen Mitteln, die über die Regierung verteilt [Seite 19] werden, und mit Fachkenntnissen zum Erfolg dieses Programms bei.


▪ Das einzige Ausbildungsprogramm

»Derzeit sind wir die einzige Gruppe, die in Swaziland Vorschullehrer ausbildet«, sagt Frau Fletcher, die Koordinatorin des Programms.

Die eingeschriebenen Teilnehmer zollen dem Programm ihre Anerkennung. »Mein Schuldirektor war mit der Ausbildung sehr zufrieden«, sagt Nicholine Mbokazi, eine 28-jährige Frau, die an einer katholischen Vorschule in Hlatikulu arbeitet. »Durch diese Kurse bin ich in meiner Arbeit viel sicherer geworden.«

Das in enger Zusammenarbeit mit dem Vorschulinspektionsprogramm der Regierung geleitete Programm bietet den Lehrern sechs Kurswochen im Jahr, so daß sie nach drei Jahren einen Abschluß als Vorschullehrer erhalten. Im September 1992 hatten bereits mehr als 160 Studenten diesen Kurs absolviert.

Das Ausbildungsprogramm erfüllt auch ein wichtiges Ziel der Entwicklungsarbeit, da es mehr Arbeitsmöglichkeiten für Frauen schafft.

»Ich arbeitete drei Jahre lang als Krankenschwester im Krankenhaus von Hlatikulu und konnte nicht auf eine Bildungseinrichtung zurückkehren, daher war das eine gute Gelegenheit für mich«, sagt Eleanor Dlamini, die nun als Lehrerin bei der Bahá’í-Vorschule in Hlatikulu angestellt ist. Die Kosten für ihre Kursteilnahme betrugen ungefähr 8 Dollar für Bücher und Papier.

Das Ausbildungsprogramm folgt einem nationalen Lehrplan, der in Zusammenarbeit mit der Bahá’í-Gemeinde entwickelt wurde. Der Lehrplan betont Aktivitäten, die den Gegebenheiten in Swaziland entsprechen, so z.B. die Verwendung der am Ort vorhandenen Mittel und Materialien als Hilfsmittel im Unterricht und die Einarbeitung bestimmter Elemente der Swazi-Kultur. »Um Malpinsel herzustellen, schlagen wir z. B. die Benutzung von Federn vor; zum Flechten empfehlen wir Gras«, sagt Dr. Allen. »Wir raten den Schulen auch, Mütter einzuladen, damit sie traditionelle Überlieferungen erzählen.«

Ohne dieses Programm könnte man in Swaziland keine Vorschullehrer ausbilden und ihnen einen Abschluß ermöglichen. »Sie haben uns wirklich dabei geholfen, im ganzen Land etwas in Bewegung zu bringen«, sagt Frau Beauty K. Nxumalo, die nationale Vorschulinspektorin des Bildungsministeriums. »Die Einstellung der Bahá’í zur Erziehung und ihre Methode des Unterrichtens sind sehr gut.«


ONE COUNTRY Juli-September 1992















:Schüler der Bahá’í-Vorschule in Piggs Peak sprechen gemeinsam ein Gebet zum Beginn des morgendlichen Unterrichts.




[Seite 20]



Marjorie Tidman

Lehren und Lernen[Bearbeiten]


Die Rolle des Lehrers auf dem Weg zur Weltgesellschaft



Hervorgehobene Zitate aus: Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá’u’lláhs, Hofheim-Langenhain: Bahá’í-Verlag 1977


»Uns wurde beigebracht, daß Ihr unsere Feinde seid.« Diese Worte hallten in meinem Herzen noch lange nach, nachdem die junge Russin Natasha, die ich bei einem zweiwöchigen Aufenthalt in St. Petersburg (dem ehemaligen Leningrad) im Juni 1991 traf, sie ausgesprochen hatte.

Ich nahm dort an einer Konferenz über das Thema »Lehrer als Werkzeuge globaler Veränderungen« teil, und Natashas Anmerkung zeigte deutlich die Notwendigkeit eines solchen Wandels.

Als Australierin, die in einer multikulturellen Gesellschaft aufgewachsen ist, war ich mir oft der Spannungen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen bewußt; war aber noch nie persönlich Gegenstand rassischer Vorurteile gewesen.

Die Wirkung von Natashas Worten verstörte mich besonders, weil sie ganz bestimmte Vorurteile widerspiegelten, die systematisch als Teil eines anerkannten Curriculums staatlicher Schulen gelehrt worden waren.

Meine Reise nach St. Petersburg resultierte aus dem zwischen einer schwedischen und einer russischen Universität geschlossenen Vertrag zur Förderung eines Bildungsprojekts internationalen Interesses, das dann zum Brennpunkt multilateraler Zusammenarbeit werden könnte.

Als ersten Schritt in diese Richtung luden die Universität Vajxo und die (nach dem russischen Philosophen und Schriftsteller Alexander Herzen benannte) Padägogische Universität Rußlands 30 Erziehungswissenschaftler aus Australien, Bolivien, China, England, Finnland, Indien, Italien, Kanada, Kenia, Kolumbien, Schweden, der (damals noch bestehenden) Tschechoslowakei, den USA und der (damals noch bestehenden) UdSSR zu dieser Konferenz in St. Petersburg ein.

Die Teilnehmer repräsentierten verschiedene Kulturen, Rassen und Religionen. Sie hatten auch unterschiedliche berufliche Bildungswege durchschritten, darunter Schulverwaltung, Lehrplanentwicklung, Erziehungsphilosophie und Psychologie.

Die Konferenz beschäftigte sich mit zwei übergreifenden Themenbereichen:

□ Wie kann man das globale Wesen materieller und gesellschaftlicher Phänomene verstehen?
□ Wie kann man den sich ständig beschleunigenden Veränderungen in der Gesellschaft gewachsen sein?

Die Konferenz beinhaltete Beratungen über die Zukunftsvision von einer globalen Gesellschaft und über die Rolle des Lehrers in diesem Zeitalter radikaler Veränderungen. Die Gruppe kam zu scharf umrissenen gemeinsamen Schlußfolgerungen bezüglich der logischen Grundlage, der Lehrmethoden und des grundlegenden Schulcurriculums, das man zur Erziehung der nächsten Generation benötigt, damit sie konstruktive Gedanken und Einstellungen zu ihrer Identität als Weltbürger entwickelt und gleichzeitig die für das Handeln auf lokaler Ebene nötigen Fähigkeiten kritischen Denkens und der Beratung lernt.

Man kam zu dem Entschluß, ein internationales Netzwerk der »Lehrer für globalen Wandel« zu gründen, mit den konkreten Zielen, Lehrpläne für Schulen und Ausbildungspläne für Lehrer zu entwickeln. Bei einer in Perth, Australien abzuhaltenden Folgekonferenz sollten dann die erreichten Schritte diskutiert werden.

Die folgenden Seiten fassen die Beratungen über die beiden Hauptfragen zusammen — die Vision einer Weltgesellschaft und die Rolle des Lehrers.

[Seite 21]

▪ Die Vision von einer globalen Gesellschaft

Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hat eine völlig andere Welt hervorgebracht; eine Welt, die sich mit Problemen und Herausforderungen befaßt, die sich nicht auf ein bestimmtes Volk, Land oder gar Gebiet beschränken.

Die potentiell verheerenden Auswirkungen des sauren Regens, der Erwärmung der Atmosphäre, ausgedehnter Hungersnöte, AIDS, der weit verbreiteten Produktion von Nuklearwaffen und die dadurch möglichen Unfälle, des uneingeschränkten Bevölkerungswachstums und anwachsender militärischer Konflikte bedrohen jede Nation und jeden Bürger.

Außerdem verschärfen gesellschaftliche Probleme wie Rassismus, Ungerechtigkeit und fehlende Gleichberechtigung das menschliche Leid, indem Angst, Hoffnungslosigkeit und Gewalt ansteigen.

Während sich diese Probleme zuspitzen, wird gleichzeitig immer deutlicher, daß jegliche Hoffnung auf eine Lösung ein bisher noch nie dagewesenes Ausmaß an globaler Zusammenarbeit erfordert. Wir können nicht länger von Krisen des Kapitalismus oder des Kommunismus sprechen, von Armut in der Dritten Welt oder internationalem Terrorismus, sondern wir müssen uns der Krise der gesamten menschlichen Zivilisation bewußt werden.

Die universelle Bedrohung unserer örtlichen und nationalen Lebensgemeinschaften und die dadurch entstehende gegenseitige Abhängigkeit auf globaler Ebene erfordert eine radikale Veränderung der Auffassung unserer Rolle und der Rolle anderer in der Welt. Man kann diesen Problemen nicht entfliehen, da sie durch die Macht der heutigen Technologie und der Massenmedien, die direkten Zugang zu vielfältigen, aber leider auch manipulierbaren, Informationen ermöglichen, alle Menschen betreffende Auswirkungen haben.

Die Früchte der Gesellschaft erkennt man jedoch am Wandel der Sozialstruktur der Welt, an der zunehmenden gegenseitigen Abhängigkeit, an der Ausweitung technologischer, politischer, kultureller, wirtschaftlicher und ökologischer Vernetzungen, die verschiedene Völker, Kulturen und Regionen verbinden.

Jedoch fehlt ein moralischer Imperativ, der diese immer stärker werdende Abhängigkeit und Vernetzung leitet. Dieser moralische Imperativ besteht im Verstehen und im Anerkennen der Einheit der Menschheit.

Im gesamten Bildungsprozeß und in allen Bereichen eines Lehrplans muß unsere gemeinsame Identität als Bürger gefördert werden, die die Verantwortung für die Erhaltung und Bereicherung unseres materiellen und gesellschaftlichen Umfeldes teilen.


» Die Vereinigung der ganzen Menschheit ist das Kennzeichen der Stufe, der sich die menschliche Gesellschaft heute nähert. Die Einheit der Familie, des Stammes, des Stadtstaates und der Nation ist nacheinander in Angriff genommen und völlig erreicht worden. Welteinheit ist das Ziel, dem eine gequälte Menschheit heute zustrebt. «


Um uns von unserer derzeitigen Stufe der sozialen Evolution auf eine friedliche und geordnete Zukunft zuzubewegen, müssen wir zuerst die Einheit der Menschheit und unser gemeinsames Ziel als Weltbürger erkennen. Wir müssen eine globale Einstellung entwickeln und uns dem ganzen Planeten gegenüber verpflichtet fühlen.

»Unsere Propheten haben es gesucht und unsere Dichter davon geträumt. Aber erst in der heutigen Zeit bezeugen Astronomen, Physiker, Geologen, Chemiker, Biologen, Anthropologen, Ethnologen und Archäologen gemeinsam aufgrund der fortgeschrittenen wissenschaftlichen Erkenntnis, daß wir tatsächlich einem einzigen System angehören, das von einer einzigen Energiequelle gespeist wird, wodurch sich eine grundlegende Einheit mit [Seite 22] all ihren Varianten zeigt, deren Überleben vom Gleichgewicht und der Gesundheit des ganzen Systems abhängen.«

»Beim Eintritt in die globale Entwicklungsphase der menschlichen Evolution wird deutlich, daß jeder Mensch zwei


» Die Offenbarung Bahá’u’lláhs, deren höchstes Ziel es ist, diese organische, geistige Einheit aller Nationen in ihrer Gesamtheit zu vollenden, muß, wenn wir zu ihren selbstverständlichen Folgerungen stehen, als Signal für den Eintritt des gesamten Menschengeschlechts in den Zustand der Mündigkeit betrachtet werden. «


Ländern entstammt, seinem eigenen und dem Planeten Erde.«1)

Diese weltweit keimende Erkenntnis steht im krassen Gegensatz zum offensichtlich werdenden Bedürfnis ethnischer Gruppen, ihre eigene Identität zu erhalten, zu bestärken oder erneut zu kultivieren, wenn nötig auch mit Gewalt, genauso wie einzelne Bürger auf dem ganzen Planeten auf ihrer Stimme in der Politik bestehen.

Die Spannung, die zwischen der Notwendigkeit von Welteinheit und der Selbstbestätigung des einzelnen besteht, bedeutet eine entscheidende Veränderung in der Weltgeschichte, eine Veränderung, mit der die Bürger des 21. Jahrhunderts umgehen lernen müssen, wenn sie überleben und sich weiterentwickeln wollen.

Demnach muß jedes Land seine Bevölkerung darauf vorbereiten, mit diesem lebenswichtigen und historischen Wandel umzugehen und zurechtzukommen. Keine Regierung, egal wie fortschrittlich sie auch sein mag, kann ohne Beratung und die Unterstützung einer gebildeten Bevölkerung mit der Bewältigung dieser Krisen auch nur beginnen, und die Verantwortung für diese Unterstützung liegt bei den Bildungssystemen dieser Welt.

Weltbürger des 21. Jahrhunderts müssen eine entsprechende Bildung und Erziehung erhalten haben, damit sie sich eine »neue Weltordnung« vorstellen können, die auf der Grundlage universeller Teilnahme und universeller Gerechtigkeit errichtet wird.

Die Menschen müssen verstehen, daß Umweltverschmutzung an jedem Ort in unserem geschlossenen ökologischen System das Leben aller bedroht.

Länder, die dazu in der Lage sind, müssen sich in ihrem eigenen Interesse diesen Problemen überall, wo sie auf diesem Planeten auftreten, widmen.

Nur wenn wir uns und unsere Kultur selbst ganz erkennen und schätzen, können wir als einzelne die Gemeinsamkeiten der ganzen Menschheit schätzen lernen. Durch ein angemessenes Selbstbewußtsein können wir andere schätzen und mit ihnen zusammenarbeiten — gegenseitige Abhängigkeit setzt Unabhängigkeit voraus in den Beziehungen zwischen einzelnen, Gemeinwesen und Nationen.

Um uns selbst zu verstehen und die Aufgabe globaler Gerechtigkeit erkennen zu können, muß jeder Erdenbürger andere Völker und ihre Kultur kennen und schätzen lernen. Nur durch solche Kenntnisse und durch gegenseitigen Respekt, der daraus erwächst, kann eine dauerhafte Grundlage für internationale Zusammenarbeit geschaffen werden, genauso wie dieses Wissen über andere unserer Weltsicht und unserem Wertesystem die notwendige Perspektive geben kann.

Eine der Hauptschwierigkeiten im Umgang mit globalen Veränderungen besteht darin, daß uns unser tägliches Leben keine angemessenen Modelle für alternative Gesellschaftssysteme der Zukunft bietet. Entscheidungen über die Zielrichtung weltweiten Wandels hängen zumindest auf ganz primitive Art und Weise vom Verstehen dieses Phänomens ab. Die Menschen müssen fiktive Modelle entwerfen, auch wenn ihnen realistische Bilder aus ihrer eigenen Erfahrung und Geschichte fehlen.

[Seite 23] Zu den von den Konferenzteilnehmern entworfenen Modellen gehörte die Vision einer globalen Gesellschaft, in der allmählich die Kontrollsysteme und Handelsschranken abgebaut werden, so daß Geld, Nahrungsmittel, Waren, Infrastruktur und Dienstleistungen gerechter verteilt werden. Das setzt eine Art internationaler Verwaltung der wirtschaftlichen Ressourcen der Welt voraus, um sicherzustellen, daß internationale Märkte aufeinander abgestimmt und entwickelt werden und daß Rohstoffe und Produkte gerecht verteilt werden.

Diese Vision beinhaltet auch die Idee der globalen gegenseitigen Verbindung in Form der Einheit in der Vielfalt. Die Vorstellung einer perfekt funktionierenden Menschheit erfordert die Errichtung eines Weltgemeinwesens, in dem alle Nationen, Rassen und Kulturen vereint sind und in dem die Autonomie von Staaten und die persönliche Freiheit des einzelnen Bürgers geschützt werden.

Ein dynamisches Gleichgewicht zwischen dem einzelnen und der Gemeinschaft muß sich entwickeln, so daß jeder einzelne sich als Teil des Weltorganismus betrachtet. Denn es ist bekannt, daß die individuelle Entwicklung eng mit der gesellschaftlichen Evolution verbunden ist.

Das Ziel individueller Entwicklung ist der vollständige, abgestimmte und harmonische Ausdruck aller angeborenen und erlernten Fähigkeiten — der Fähigkeit Erkenntnis zu erlangen (dazu gehört auch die Fähigkeit, Phänomene voneinander zu differenzieren und zu verstehen), der Fähigkeit zu lieben (dazu gehört die Fähigkeit, die Beziehungen zwischen Phänomenen einzuschätzen und auszuwerten) und der Fähigkeit zu handeln (dazu gehören Motivation und Verhalten).

Das Ziel globaler Entwicklung ist, der Individualität umfassenden Ausdruck zu verleihen.

Die Grenzen individueller und gesellschaftlicher Entwicklung sind nicht bekannt und könnten als endlose Stufen zur Vollkommenheit beschrieben werden. Die Vorstellung eines Endpunktes ist falsch und führt normalerweise zu Dogmatismus. Menschliches Wissen und Wertesysteme werden immer in Beziehung zu unserer jeweiligen gesellschaftlichen Stufe stehen.

Die globale Vision beinhaltet eine Weltgesellschaft, die auf Gleichwertigkeit und Gerechtigkeit beruht und in der nationale Rivalitäten und Feindseligkeiten ersetzt werden durch Freundschaft unter den Rassen, gegenseitiges Verständnis und Zusammenarbeit. Religiöse Konflikte, Wirtschaftsschranken und Klassenunterschiede werden schrittweise abgebaut werden. Extreme der Armut und des Reichtums, übertriebene Ansammlung von Besitz und materielle Verelendung werden verschwinden.

Ein Schlüssel zur weltweiten Kommunikation wird die Fähigkeit des Lesens und Schreibens sein, und man wird eine Weltsprache brauchen, die in allen Schulen neben der Muttersprache als Hilfssprache unterrichtet wird. Außerdem wird eine gemeinsame Weltschrift, Weltliteratur und ein einheitliches Gewichts- und Maßesystem die Kommunikation sehr vereinfachen und internationale Verständigung erleichtern.

Die wirtschaftlichen und politischen Mittel, die zur Kriegsführung aufgewendet werden, können umgeleitet werden in die Forschung und Entwicklung der


» Diesem Ziel— dem Ziel einer neuen Weltordnung, göttlich im Ursprung, allumfassend in der Reichweite, unparteiisch im Grundsatz, herausfordernd im Charakter — muß eine gequälte Menschheit zustreben. «


menschlichen und materiellen Ressourcen, um dem intellektuellen, gesellschaftlichen und geistigen Leben jedes einzelnen mehr Ausdrucksmöglichkeiten zu gewähren.


▪ Die Rolle des Lehrers

Die traditionelle Rolle des Lehrers bestand darin, Informationen anzuhäufen und weiterzugeben, und vom Schüler erwartete man, daß er diese Informationen unkritisch annimmt und danach handelt. Dieser Ansatz gebrauchte passive Lernprozesse und führte weitgehend zu konformistischen [Seite 24] oder konservativen Gesellschaftsmitgliedern.

Diese traditionelle Lehr- und Lernmethode muß heute als völlig ungeeignet zur Erziehung künftiger Bürger erachtet werden, die dann mit den komplexen


» Wer könnte bezweifeln, daß solche Vollendung — die Volljährigkeit des Menschengeschlechts — ihrerseits den Beginn einer Weltkultur bezeichnen muß, wie sie noch kein sterbliches Auge je gesehen, kein menschlicher Geist je erfaßt hat? Wer ist da, der sich die erhabene Stufe vorstellen könnte, die eine solche Kultur in dem Maße, wie sie sich entfaltet, zu erreichen bestimmt ist? Wer kann die Höhen ermessen, zu denen sich der menschliche Verstand aufschwingen wird, wenn er erst von seinen Fesseln befreit ist? «


Umwelt-, Gesellschafts- und Ethikproblemen unserer Zeit zurechtkommen sollen.

Wissen ist der neue Reichtum in einer zunehmend informationsorientierten Gesellschaft. Ein Fachlehrer, der ein bestimmtes Wissensgebiet unterrichtet, ist beinahe überholt, wenn er nicht auch die gesellschaftliche Entwicklung begreift und in der Lage ist, fächerübergreifend Informationen zu differenzieren und zu verbinden und sie auf immer komplexere Zusammenhänge anzuwenden.

Die Fähigkeit eines Lehrers, fächerübergreifend zu arbeiten, weitet den Horizont der Schüler und ermutigt zu schöpferischem und ganzheitlichem Lernen.

Da die Menge an Wissen ständig anwächst, braucht ein Lehrer eine Philosophie, die die verschiedenen Wissensbereiche miteinander verbindet. Eine dieser Philosophien ist die Theorie vom evolutionären Zusammenhang von Systemen, d.h. die Auffassung, daß Gesellschaftssysteme verschiedene Entwicklungsstadien auf dem Weg zur Reife hin durchlaufen.

Also benötigt der Lehrer eine Vision von der entstehenden Weltgesellschaft, von der Welt als durch gegenseitige Abhängigkeit geprägtes gesellschaftliches System. Er muß dazu fähig sein, Schüler zur Entwicklung ihrer eigenen Weltsicht zu ermutigen, um sie damit auf ihre aktive Rolle als Weltbürger vorzubereiten.

Der Lehrer muß weiterhin dazu in der Lage sein, die Schüler auf eine aktive Lebenseinstellung in einer unbekannten Zukunft vorzubereiten. Dazu müssen sich Lehrer und Schüler als Lernende betrachten. Der Lehrer muß aktiv Forschung betreiben.

Von der Tradition her bestand eine Kluft mit starken gesellschaftspolitischen Auswirkungen zwischen den Hütern neuer Erkenntnisse, den Forschern oder Gelehrten, und den Lehrern als passiven Empfängern von Wissen. Das war bisher der Hauptgrund für die Minderwertigkeit des Berufsstands der Lehrer.

Es muß sich ein neuer Lehrertypus entwickeln — ein Lehrer, der nicht nur Wissen weitergibt, sondern es kritisch beleuchtet und neue Erkenntnisse hervorbringt und der darüberhinaus kontinuierlich seine eigenen Unterrichtsfähigkeiten auswertet.

Der Lehrer kann ein experimentelles Umfeld zum Lernen schaffen und durch direkten Unterricht die Fähigkeiten aktiven Experimentierens, kritischer Beobachtung und Nachdenkens und der Gruppenberatung zum Erlangen neuen Wissens, neuer Werte und Fertigkeiten formen.

Dieser aktive Entwicklungsprozeß wird die Schüler dazu ermutigen, eine innere Liebe zum Lernen zu entwickeln und sich die für die Erforschung und Beratung notwendigen Fertigkeiten anzueignen, um noch unbekannte künftige Lernbereiche innerhalb und außerhalb der Schule zu ergründen.

Kinder werden allmählich durch ihre Fähigkeit, kreativ zu denken und Probleme innerhalb eines das ganze Leben dauernden Lernprozesses zu lösen, zu [Seite 25] gleichwertigen Partnern in dieser Entwicklung.

Der Lehrer muß die Entwicklungsphasen des Kindes genau kennen, damit sich die Rolle des Lehrers allmählich anpassen kann, während das Kind lernt, sich selbständig Wissen anzueignen. Der Lehrer muß auch die Unterschiede zwischen verschiedenen Kindern gut kennen. Das kann nur gelingen, wenn sich der Lehrer ehrlich und liebevoll um seine Schüler kümmert.

Also kennzeichnet Beratung über die Formulierung von Lernzielen und deren Erreichung die neue Beziehung zwischen Lehrer und Schüler. Sowohl Lehrer als auch Schüler werden gemeinsam ihre gemeinsamen Ziele schaffen, die Lerninhalte, -schwerpunkte und -methoden.

Zu den angemessensten Lehrmethoden werden folgende gehören:

□ Das besondere Bemühen darum, daß Schüler ihre eigenen Lernprozesse als Teil der Entwicklung ihrer Lernfähigkeit betrachten.
□ Die Betonung des Lernens durch praktische Anwendung — Lernen durch aktive Teilnahme an realen oder gespielten sozialen und wirtschaftlichen Aktivitäten in der Klasse und in der Gemeinschaft.
□ Die Betonung des Lernens durch soziale Interaktion und Zusammenarbeit, wobei Kommunikationsmodelle benutzt werden, in denen der Kommunikationsfluß zwischen Lehrer und Schüler beidseitig (und nicht traditionell einseitig) ist. Außerdem kann das Prinzip der Zusammenarbeit auf alle zwischenmenschlichen Beziehungen im Schulbereich ausgedehnt werden. Z.B. können die Lehrer durch Job-Sharing oder durch Teamarbeit zusammenarbeiten, und ältere oder besonders begabte Schüler können jüngere oder weniger begabte Schüler betreuen und fördern. Wenn Zusammenarbeit die Schulwelt prägt, werden kontroverse Themen eher begrüßt als abgelehnt, da sie für den einzelnen erstens die Möglichkeit schaffen, vielfältige Sichtweisen zu verstehen und aufzunehmen, zweitens kreative Erkenntnismethoden fördern und drittens die kognitive und soziale Entwicklung fördern.
□ Außerdem sollen Lerninhalte verstärkt nach Themen und nicht nach Fächern strukturiert werden. Das erhöht den Transfer von Wissen zwischen verschiedenen Aspekten des Lehrplans und führt daher eher zur Anwendung auf aktuelle Ereignisse — im Gegensatz zur starren Ansicht, Wissen sei scharf in Fachrichtungen voneinander abgrenzbar.

Eine weitere Sorge, die ausgesprochen wurde, ist die Befürchtung, daß globale Bildungsinitiativen von westlichen Werten geprägt sein und dadurch den bereits Privilegierten zugute kommen werden. In der Vergangenheit haben entwickelte Nationen auf oft autoritäre Art und Weise eingegriffen unter der Vorgabe zu wissen, was das Beste für die Entwicklungsländer ist, oder sie haben ohne darüber nachzudenken Menschen in anderen Regionen westliche Werte und Methoden übergestülpt.

Nur ein Drittel der Konferenzteilnehmer in St. Petersburg kam aus Industrienationen.

Beratung wird ein zentraler Bestandteil des Erfolgs dieses Projektes und die wirksamste Methode zur Verringerung, gar Ausmerzung möglicher Dominanz des Westens sein. Das Projekt muß Eigendynamik entwickeln durch Beratungen unter Konferenzteilnehmern, unter Lehrern und Schülern, unter Schulen und Gemeinden.

Niemand kann sich starre Ansichten über die Entwicklung auf eine globale Gesellschaft hin leisten, denn das verneint den kreativen und aufregenden Schaffensprozeß, der durch menschliches Zusammenwirken eine solche Gesellschaft hervorbringen muß.


1) Only One Earth, Andre Deutsch, 1972


(Übersetzung des Artikels »Education for a global society«, aus: Herald of the South, Oktober-Dezember 1992, S. 20-25)



[Seite 26]



Jörg Krombach

Die Prophezeiungen der Hopi-Indianer[Bearbeiten]


Erfahrungen mit indianischer Religiosität








Ich bin nicht hier,

um die Natur zu beherrschen

oder sie auszubeuten.

Ich bin selbst Natur.

——— Hopi - Volk des Friedens —-—



Im Jahre 1988 hielt ich mich im Rahmen meiner beruflichen Ausbildung mehrere Monate im Südwesten der USA auf und hatte Gelegenheit, Indianerreservate zu besuchen und mich mit der Lebensweise der amerikanischen Ureinwohner vertraut zu machen.

Es gibt innerhalb der gesamten Fläche der USA lediglich einen Punkt, an dem vier Bundesstaaten zusammentreffen: Dieser Punkt wird »Four Corners« (zu deutsch: »Vier Ecken«) genannt. In diesem Grenzgebiet der Staaten Arizona, Utah, Colorado und New-Mexiko, leben seit tausenden von Jahren die Hopi-Indianer und deren Vorfahren. Da das von den Hopi bewohnte Gebiet für die erst im letzten Jahrhundert im größeren Stil eingewanderten weißen Siedler uninteressant war, mußten die Hopi nicht das Schicksal vieler anderer Stämme teilen, vom Heimatboden vertrieben zu werden. Das änderte sich erst vor kurzem, als nämlich Geologen wertvolle Bodenschätze aufspürten, die heute in zunehmendem Maße von Interesse sind: Uranerz und Kohle. Die Tatsache, daß Hopis überhaupt in dieses eigentlich lebensfeindliche Gebiet gezogen sind, kann mit unserem rein logischen Verständnis nicht erklärt werden: Das Gebiet um die drei »Mesas«  (spanisch: Tafelberge) im Nordosten Arizonas gehört zu den trockensten und heißesten Gebieten der Vereinigten Staaten überhaupt. Es ist sehr schwierig — mit gängigen modernen Anbaumethoden sogar unmöglich — das Lebensnotwendigste aus dem Boden wachsen zu lassen. Die Indianer Nordamerikas wanderten vor 10.000 - 40.000 Jahren über die damals vorhandene Landbrücke zwischen Asien und Amerika, die Beringstraße, ein und zogen dann auf dem Kontinent nach Süden. Die Hopi-Sprache ist verwandt mit dem Uto-Aztekischen. Dies entspricht auch der Überlieferung der Hopis, wonach sie sich von der aztekischen Kultur absonderten und wiederum nach Norden wanderten, nachdem diese der Verweltlichung anheimfiel: Der Materialismus breitete sich aus, Götzen wurden angebetet, und ein allgemeiner Sittenverfall sorgte für den Untergang der Aztekenkultur. Parallelen gibt es auch zu den Erwartungen der jeweiligen »Erlöser« der einzelnen Kulturen. Quasi zur selben Zeit erwarteten die Hopi »Bahana«, die Mayas »Kululcan«  und die Azteken »Quetzalcoatl«.


[Seite 27] Ca. 700 n. Chr. wanderten die Hopis in ihr heutiges Gebiet ein. Die Gründung der Stadt Oraibi auf dem Hopi-Reservat läßt sich auf das Jahr 1100 zurückdatieren. Die berühmten Ruinen von Mesa Verda, Montezuma etc. sind Zeugnis für eine Jahrtausende alte Bewohnung der Gebiete. Im Jahre 1175 begann eine Dürre, die länger als eine Generation andauerte und zur









Die Hopis verbringen einen großen Teil ihrer knappen Freizeit damit, rituelle Tänze und Handlungen zu vollziehen.


Flucht aus den architektonischen Wunderwerken indianischer Baukunst führte. Oraibi gilt zusammen mit dem Pueblodorf Acoma als die älteste noch heute bewohnte Stadt Nordamerikas überhaupt. Heute leben auf den drei »Mesas« in 12 Dörfern ca. 10.000 Hopis.

»Hopi« bedeutet »friedvoller Mensch«, was als Leitmotto für die Lebensführung aller Hopi verstanden und auch erfolgreich umgesetzt wird:

»Einige Leute meinen, daß Hopi nur unser Name ist. Es ist aber viel mehr als das! Man muß sich diesen Namen verdienen! Um diese Bezeichnung Hopi zu verdienen, muß man freundlich sein, sanft, wahrhaftig, bescheiden und mit einem wachen Sinn für alles um sich herum: Tiere, Vögel, Pflanzen. Für alle diese Dinge ist man verantwortlich. Und durch Meditation, Gebet und religiöse Zeremonien nimmt man sich all dieser Dinge an und sorgt für sie.«1)

Das Reservat des heute größten Indianerstammes — nämlich der Navajo — bildet einen geschlossenen Ring um das Hopi-Reservat, so daß deren Gebiet wie ein »Schutzwall«  gegenüber weißen Kultureinflüssen wirkt. Die nächstgrößere »amerikanische« Stadt Flagstaff liegt ca. 100 km entfernt. Die Hopis betrachten »ihr« Land als spirituelles Kraftzentrum — ebenso bedeutsam wie das Gebiet Tibets, mit deren Bewohnern sie sich auch sehr verbunden fühlen. Die Hopis gelten unter allen noch existierenden Indianerstämmen als diejenigen, welche als einzige noch den kompletten Jahresrhythmus traditioneller Zeremonien einhalten. Unabhängig davon, daß der gesamte Tagesablauf von einer religiösen Haltung gegenüber der Schöpfung geprägt ist: » Arbeit ist Gottesdienst«, mit den Maispflanzen — Hauptnahrung der hauptsächlich vegetarisch lebenden Hopi — wird gebetet und meditiert (Wissenschaftler vermuten inzwischen einzig und allein hier den Grund für das mit gängigen Modellen nicht erklärbare Wachstumsverhalten der Pfanzen in dieser lebensfeindlichen Umgebung). Die Hopis verbringen einen großen [Seite 28] Teil ihrer knappen Freizeit damit, rituelle Tänze und Handlungen zu vollziehen. Alleine im Dorf Shungopovi finden an 200 (!) Tagen im Jahr Rituale statt, und jedes der heute noch zwölf Dörfer, welche quasi selbständig »verwaltet« werden, hat seinen eigenen Zeremonienablauf.

Unter den Indianerstämmen gelten die Hopis als die »Mystiker«, und ihre »Navoti«  (Prophezeiungen) sind inzwischen weltberühmt. Ihr eigenes Überleben als Kultur verknüpfen die Hopis eng mit dem Überleben der gesamten Menschheit, die — wie die Hopi-Überlieferung sagt — vom Ende der »vierten Welt« bedroht ist. Die ersten drei Welten sind durch Feuer, Eis und eine große Wasserflut zerstört worden, da die Menschen zu sehr vom Gottglauben abgefallen waren und der Große Geist die Erde reinigen mußte. Parallelen insbesondere bezüglich der letzten Zerstörung durch Wasser zu der biblischen »Sintflut« (oder auch »Sündflut«) sind offensichtlich. Wissenschaftliche Errungenschaften unseres Jahrhunderts überraschen die Hopis nicht, da sie aus ihren Überlieferungen wissen, daß z.B. die Menschen in den früheren Welten bereits zum Mond geflogen sind. Laut Hopi-Überzeugung gibt es für jede der Welten folgende »Entwicklungsstufen«: Harmonie, Ehrgeiz, Materialismus, Drangsal und Leiden. Die traditionellen Tänze auf dem Reservat sind teilweise der Öffentlichkeit zugänglich. Seit 1910 sind jedoch sämtliche Ton- oder Fotoaufzeichnungen verboten, und seit 1986 dürfen »Nicht-Hopi« auch nicht mehr beim berühmtesten Tanz, dem Schlangentanz, anwesend sein.

Hopis glauben an ein Weiterleben nach dem Tod. Der Tod wird wie eine Geburt in ein neues Dasein betrachtet. Das neue Dasein stellt eine spiegelbildliche Welt zu unserer dar. Für Selbstmörder und Mörder gibt es keine Wiedergeburt, da diese den Sinn ihres Daseins verwirkt haben. Als Mensch wird ein Kind erst nach 19 Tagen betrachtet. Vorher findet der sanfte Übergang zur irdischen Welt statt. In dieser Zeit dürfen lediglich die Mutter und die Hebamme (meist die Tante) das Kind sehen und das Kind darf seinerseits kein Sonnenlicht zu Gesicht bekommen. Erst am 20. Tag seines irdischen Lebens wird das Kind der Öffentlichkeit vorgestellt und erhält seinen Namen. Mit neun Jahren findet der Übergang vom Jugendlichen zum Mann oder zur Frau statt. Heiratet ein Paar, dann zieht der Mann in das Haus seiner Frau. Dieser gehört so gut wie alles, und eine »Scheidung« vollzieht sich, indem die Ehefrau den Ehemann vor die Türe setzt. Der Mann ist zuständig für die Feldarbeit und die Zeremonien. Trotz dieser eindeutigen Aufgabenteilung existiert zwischen den beiden Geschlechtern absolute Gleichberechtigung. [Seite 29] Nicht Gleich-Sein heißt die Devise, sondern den gleichen Wert vor Gott haben. »Tot« ist ein Mensch erst vier Tage nach seinem Hinscheiden. Auch hier wird ein sanfter Übergang vollzogen. Sehr schön wird das Zeitverständnis durch folgendes Zitat einer Hopi-Frau zum Ausdruck gebracht:

»Was bedeuten Daten für die Hopi von ehedem? Was bedeuteten ihnen Tage und Monate? Sie lebten die Tage, wie sie kamen, und machten sich keine Sorgen um die Länge ihres Aufenthaltes auf der Erde. Solange sie lebten, gab es Arbeit zu tun. Wenn sie im hohen Alter dann langsam wieder in die Erde wuchsen, dann wußten sie, daß sie bald wieder in die Welt des Geistes reisen würden«.2)

Zu den berühmtesten Aspekten der Hopi-Kultur gehören die Prophezeiungen. In einem Brief religiöser Führer wird deren Tragweite sichtbar:

»... Wir befinden uns jetzt in einem Wettlauf mit der Zeit, da der heutige Mensch das Gleichgewicht des natürlichen Lebens der Menschen und der Natur schwer gestört hat. Wir wissen, daß ein dritter Weltkrieg möglich ist, aber auch eine Zunahme natürlicher Katastrophen sowie das Auftreten neuer Krankheiten, die man nicht heilen kann. Die Hopi erinnern sich an vergangene Welten, die vor dieser existierten. Jede von ihnen wurde zerstört, weil das Gleichgewicht der Natur durch den Menschen gestört worden war...

Wir kennen diese alten Prophezeiungen, Warnungen und religiösen Weisungen: Deshalb rufen wir alle guten Menschen allerorten auf, jede Anstrengung zu unternehmen, zum spirituellen Weg zurückzukehren, von dem wir abgewichen sind. Nur so können wir dauerhaften Frieden, Harmonie und ewiges Leben gewinnen. Laßt nicht zu, daß dieses Land und dieses Leben zerstört werden. Wir müssen aufwachen, bevor es zu spät ist; und wir müssen das höchste Gesetz des Lebens erkennen: Spiritualität, die alle Dinge leitet.«3)

Diese Erklärung bringt die weitreichende Bedeutung der Botschaft der Hopi zum Ausdruck. Trotz ihrer geringen Anzahl sehen sich die Hopi als Hauptverantwortliche für das natürliche Gleichgewicht der Erde und ihrer Bewohner. Nach dem zweiten Weltkrieg entschied man sich erstmals, mit den bis dahin geheimgehaltenen Prophezeiungen an die Öffentlichkeit zu treten. 1947 in Shungopovi bestimmte man erstmals bestimmte Personen, in englischer Sprache über die Weissagungen der Hopi zu reden. Bislang waren diese Informationen Geheimwissen und durften nur in einem ausgewählten Kreis unter den Hopi in Hopi-Sprache weitergegeben werden. Die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg war für die Verbreitung vorgesehen, da die Hopi von dem Abwurf des »Aschenkürbisses« wußten und diesen Abwurf zum Anlaß nahmen, auf ihre Botschaft aufmerksam zu machen. Die Christianisierung ihres eigenen Volkes war bereits weit fortgeschritten und der »Hopi-Way-of-Life«  gefährdet. Die entscheidende Konferenz fand im Jahre 1948 statt. Man bestimmte drei Hopis, sich der Aufgabe zu widmen, die Botschaft zu verbreiten. Von den drei damals Ausgewählten, die übrigens nicht zu dem »Ältestenrat« der Hopi gehörten, lebt heute lediglich noch Thomas Banyacya. Er war gerade jahrelanger Zwangsarbeit entronnen, zu der er verurteilt worden war wegen seiner Weigerung, den Wehr- bzw. Kriegsdienst anzutreten (damals gab es noch die allgemeine Wehrpflicht in den USA). Ich hatte die Ehre, ihn auf dem Reservat persönlich kennenzulernen und bei ihm zu übernachten. Er hat sein gesamtes Leben in den Dienst der Verbreitung der Hopi-Botschaft gestellt und ist



Es liegt in der Macht der wahren Hopi, die Gedanken und Spirits aller Völker der Erde, die nach wahrem Frieden suchen, zu vereinen... Die wahren Hopi behüten das heilige Wissen über den Zustand der Erde, denn die wahren Hopi wissen, daß die Erde eine lebende... sich entwickelnde Person ist ... und daß alle Dinge darauf ihre Kinder sind. Die wahren Hopi erklären, daß Hopi-Macht eine Kraft ist, die eine Weltveränderung zustande bringen wird.


[Seite 30] nach wie vor unermüdlich im Einsatz, wenn es darum geht, z.B. an die Vereinten Nationen heranzutreten, um für die Erfüllung der Voraussetzungen zum »Größten Frieden« zu kämpfen. Andere religiöse Führer standen ihm zur Seite: Dan Katchongva, David Monongye, James Kootshongsie. Die christlichen Vornamen rühren noch aus der Zeit, als man die Kinder Anfang unseres Jahrhunderts unter Zwang in Schulen westlicher Prägung steckte und jahrelang von ihren Eltern und deren Kultur fernhielt, um ihnen alles Indianische auszutreiben.










Hopis verbringen viel Zeit mit der Herstellung künstlerisch hochwertiger Gegenstände.


Die Veröffentlichung begann mit einem Brief an den damaligen Präsidenten der USA, Harry S. Truman:

»Dieser Boden ist die heilige Heimat des Hopi-Volkes und aller Indianer in diesem Lande... Die Grenzen unseres Landes wurden dauerhaft festgelegt und eingeschrieben in Steintafeln, die wir noch besitzen. Eine Tafel wurde (am Beginn dieser Welt) auch dem älteren Weißen Bruder (BAHANA) gegeben, der mit ihr zu den Hopis zurückkehren wird. Er wird die Ordnung wiederherstellen und alle Menschen hier richten. Dieses Land steht nicht zum Verpachten oder zum Verkauf an. Es ist unser heiliger Boden. Unsere Tradition und unsere religiöse Ausbildung verbieten uns, jemanden zu belästigen, ihm Schaden zuzufügen oder ihn zu töten...«

Mit dem Dalai Lama fand 1981 ein Treffen statt. Dieser bezeichnete die Hopis als »das wahre Volk, das imstande ist, mit den Lebenskräften umzugehen und die Erde im Gleichgewicht zu halten.« Interessanterweise ist das Hopi-Wort für Mond identisch mit dem tibetanischen Wort für Sonne. Und das tibetanische Wort für Mond entspricht dem Hopi-Wort für Sonne. Die einfache Erklärung der Hopi zu diesem kuriosen Zusammenhang lautet: »Beide Gebiete liegen sich genau gegenüber«! Ein Blick auf den Globus überzeugt den staunenden Leser: derselbe nördliche Breitengrad und 180 Grad Längenunterschied! Die Tibetaner werden als die Hüter der Steintafeln der Gelben Rasse betrachtet.

Als Massau’u die Welt erschuf, kam auch der Mensch ins Dasein. Die Menschheit war ursprünglich eine Einheit und erhielt heilige Lehren, welche die »ursprünglichen Lehren«  genannt werden, sowie Steintafeln. Jede der vier bestimmten Rassen erhielt jeweils zwei Steintafeln und besondere Aufgaben auf den Weg: Die Aufgabe der »Roten Rasse« war, die Lehren der Erde und derjenigen Nahrung, die aus der Erde stammt, kennenzulernen. Die Aufgabe der »Schwarzen Rasse« war, sich mit den Lehren des Wassers vertraut zu machen. Die Aufgabe der »Gelben Rasse« war, die Lehren der Luft zu ergründen — und auch die Rolle des Atmens für den geistigen Fortschritt herauszufinden. Schließlich war die Aufgabe der »Weißen Rasse«, die Lehren des Feuers zu erforschen und diese Kraft für die notwendige Wiedervereinigung der Menschen im Transportwesen zu nutzen. Alle diese Elemente bergen auch destruktive Kräfte. Insbesondere wurde der größte Mißbrauch des Hütertums über das Feuer als ein »Aschenkürbis« bezeichnet, der vom Himmel fallen und die Menschen durchstrahlen würde.

Den amerikanischen Kontinent würden vom Osten kommende weiße Menschen besiedeln. Diese Menschen wären die Nachfahren der »Schildkröten«, die zu einer vorbestimmten Zeit die Hopis besuchen würden. Zu der damaligen Zeit durchstreiften Soldaten des Spanischen Eroberers Coronado den Südwesten der heutigen USA. Eine Abordnung Coronados unter der Führung von Tovar erreichte die Siedlungen [Seite 31] der Hopis bedeckt mit einer Rüstung, die einem Schildkrötenpanzer ähnelte! Die Hopi erwarteten nun den »Heiligen Handschlag« als Erkennungszeichen für den »Bahana« (beide richten ihre Handoberfläche nach oben, wobei einer die Hände des anderen unterfaßt). Die Spanier verstanden diesen Gruß nicht und dachten, die Hopi würden durch die offene Hand ein Geschenk erwarten. Die verwirrten Spanier gaben ihnen schließlich ein Schmuckstück — schließlich waren sie ohnehin auf der Suche nach den sagenumwobenen »goldenen« Städten von Cibola. Ihr Eroberungsdrang galt inzwischen der Gier nach Gold, für das sie auch zu morden bereit waren. Für die Hopis stand damit fest, daß sie eine schwere Zeit erleben und die Erde ein schweres Schicksal zu erwarten hatte. Seit diesem Erlebnis erwarten nun die Hopi die Ankunft ihres »Bahana« — ihres wahren weißen Bruders. Sie sind immer noch empfänglich für alle Zeichen, die auf ihren Bruder hinweisen, und geben sich selbst u.a. durch das Tragen eines roten Stirntuches zu erkennen. Der weiße Bruder soll auch lediglich die Haut, nicht aber die Haarfarbe geändert haben.

Der bereits erwähnte Thomas Banyacya war in den vergangenen Jahrzehnten sehr viel unterwegs, um die Welt über die Botschaften der Hopi aufzuklären. Abgesehen von vielen Vortragsreisen durch Deutschland und das angrenzende Ausland ist er unermüdlich tätig, Briefe zu schreiben und zu beantworten. Im folgenden ein Auszug aus einem Brief, den er im Januar 1961 an eine Frau in Deutschland schrieb:

»Wie Sie wohl wissen, haben alle Indianer in diesem Lande ungezählte Leiden erduldet unter den diktatorischen Regimen von Spanien, Mexiko und unter der Regierung der Vereinigten Staaten. Und dieses hält noch an, nicht so sehr in Form von Gewalttätigkeiten, sondern in Form von Spitzfindigkeiten, Betrug und Einschüchterung. Heute haben die meisten Indianer den größten Teil ihres Heimatlandes verloren, ihre Lebensform ist völlig zerstört, und viele von ihnen sind jetzt Indianer ohne Land. Alles dieses ist die Folge der Tatsache, daß der Rote Mann sein will, was er ist: Er möchte seinen ›way of life< leben und in Übereinstimmung mit den Instruktionen des Großen Geistes alles Land gemeinschaftlich besitzen.


Ich war Mitglied einer Delegation aus sechs Personen, die vor zwei Jahren zu den Vereinten Nationen nach New York reiste. Als Dolmetscher der traditionellen Hopi-Führer mußte ich sie begleiten auf dieser historischen Reise, mit der sie ihre heilige Mission in Übereinstimmung mit ihren uralten Instruktionen erfüllten. Wegen ihres Wissens um die Prophezeiungen empfanden die Hopi-Führer, daß es Zeit war, zum östlichen Rand unseres Mutterlandes zu gehen, wo nach einer Vorhersage ›ein Haus aus Glas stehen würde, in dem große Führer von vielen Ländern versammelt sein würden, um jedem Volk zu helfen, das in Not wäre.‹ Die Hopi-Führer mußten vor allem aus drei Gründen zu den Vereinten Nationen im Osten des Landes reisen:

Erstens, um Ausschau nach dem wahren Weißen Bruder zu halten; zweitens, um wahre Gerechtigkeit zu erbitten für alle indianischen Brüder und für alle rechtschaffenen Menschen in diesem Land; drittens, um die großen Führer im Haus aus Glas zu warnen vor dem kommenden Tag der Reinigung, der nach der Prophezeiung für dieses Land des Roten Mannes kommen soll, wenn die Bösen unter den Weißen alles Leben zurückdrehen zu den Tagen vor der ersten Flut, die schon in einer früheren Welt, der Unterwelt, alles zerstört hat.

Unsere Väter haben alle der Überzeugung Ausdruck gegeben, daß wenigstens ein, zwei oder drei Führer bzw. Nationen zuhören und verstehen würden, wenn die Hopi zu dieser Zeit vor die großen Führer in dem Haus aus Glas treten würden. Denn es heißt, daß auch diese anderen Führer oder Nationen unsere uralten Weisheitslehren kennen. Es heißt, daß sie die Botschaft der Hopi hören und dann sofort handeln würden, um viel Unrecht richtigzustellen, das der auserwählten Rasse, dem Roten Mann, angetan wird. Er ist es, dem das Recht zugestanden wurde, alles Land und Leben treuhänderisch für den Großen Geist zu verwalten. Hopi-Führer wissen auch, daß sie vielleicht nicht vorgelassen werden, um ihre Botschaft zu übergeben. Vielleicht finden sie die Tür der Vereinten Nationen für sie verschlossen... Dann haben sie eine der Prophezeiungen erfüllt. Diese besagt: Wenn die großen Führer in dem Haus aus Glas sich weigern, die Türe für Euch zu öffnen, wenn Ihr davor steht an jenem Tage, so seid nicht entmutigt und kehrt nicht um auf Eurem Wege, sondern stärkt Euren Mut [Seite 32] und Eure Entschlossenheit und habt große Freude in Eurem Herzen, denn an jenem Tage hat die Weiße Rasse, die mit Euch auf Eurem Land lebt, die Verbindung mit Euch getrennt, und sie geht der größten Bestrafung am Tage der Reinigung entgegen. Viele werden vernichtet werden wegen ihrer Sünden und ihrer Übeltaten. So hat es der Große Geist verfügt, und niemand kann es aufhalten, es ändern oder etwas hinzufügen. Es wird sich erfüllen!«

Es kam wie es kommen mußte: Die Hopis wurde nicht hereingelassen und mußten sich zurückziehen. Die Anhörung der Hopis scheiterte am Veto-Recht der Vereinigten Staaten (eines von fünf Mitgliedern mit sogenanntem Veto-Recht). Als Begründung hieß es: »Reservate seien zwar kein Teil der USA, aber von ihr beschützt und verwaltet.«

Aus diesem Schlüsselerlebnis ergeben sich den Prophezeiungen entsprechend weitere Vorfälle, die nun die Menschheit zu erwarten habe. Thomas Banyacya stellt sie im oben genannten Brief komprimiert dar:

»Die Hopis glauben, daß die menschliche Rasse seit ihrem Ursprung drei Entwicklungsstufen durchschritten hat. Am Ende einer jeden Entwicklungsstufe muß das menschliche Leben durch bestimmte Akte des Großes Geistes gereinigt oder bestraft werden. Dieses ist vor allem notwendig wegen der Verdorbenheit, der Gier und der Abwendung von den Lehren des Großen Geistes. Die letzte große Zerstörung geschah durch eine Flut, die alle Menschen, außer einigen wenigen Gläubigen, vernichtete.

Bevor dieses geschah, erwarteten und erhielten diese wenigen Gläubigen vom Großen Geist die Erlaubnis, mit ihm in diesem neuen Land zu leben. Der Große Geist sagte: >Es liegt an Euch, ob Ihr bereit seid, mein armes, bescheidenes und einfaches Leben zu teilen. Es ist ein hartes Leben, aber wenn Ihr bereit seid, entsprechend meinen Anweisungen und Lehren zu leben und niemals den Glauben an das Leben verliert, das ich Euch geben werde, dann könnt Ihr kommen und bei mir leben.<

Die Hopi und alle, die vor der großen Flut gerettet wurden, schlossen mit dem Großen Geist einen heiligen Bund. Sie schworen einen Eid, daß sie sich niemals von ihm abwenden würden... Der große Häuptling nun, der die Rechtschaffenen in dieses neue Land und Leben führte, hatte zwei Söhne. Diesen beiden Brüdern wurden heilige Steintafeln gegeben, und es wurde ihnen gesagt, sie sollten diese zu einem Ort bringen, den der Große Geist ihnen genannt hatte. Der ältere (Weiße) Bruder sollte daraufhin sofort nach Osten gehen, der aufgehenden Sonne entgegen. Wenn er seinen Bestimmungsort erreicht hatte, sollte er sich sofort auf den Rückweg machen, um nach seinem jüngeren Bruder Ausschau zu halten, der im Land des Großen Geistes bleiben würde. Seine Aufgabe würde es dann sein, seinem jüngeren Bruder dabei zu helfen, den Tag der Reinigung herbeizuführen. An diesem Tag sollten alle Gottlosen und alle Übeltäter bestraft oder vernichtet werden. Danach sollten wirklicher Friede, Brüderlichkeit und immerwährendes Leben herrschen. Der ältere Bruder wird dem jüngeren alles Land zurückgeben, das diesem die Bösen unter den Weißen genommen haben werden. Der ältere Bruder wird auch kommen, um Ausschau zu halten nach den heiligen Steintafeln und um den heiligen Auftrag zu erfüllen, der ihm vom Großen Geist gegeben wurde...

Wir wissen, daß unser wahrer Weißer Bruder sehr mächtig sein wird, wenn er zurückkommt, und er wird eine rote Kopfbedeckung oder einen roten Umhang tragen. Ein zahlreiches Volk wird zu ihm gehören. Er wird keiner Religion angehören außer seiner ureigenen. Er wird die heiligen Steintafeln bei sich haben...

Bei dem älteren Bruder werden zwei wichtige Helfer sein, beide sehr intelligent und machtvoll...Wenn diese drei in ihrer Sendung versagen, dann wird einer von Westen kommen wie ein großes Gewitter. Er wird aus vielen, vielen Menschen bestehen, und er wird unbarmherzig sein. Wenn er kommt, wird er das Land bedecken wie Ameisen. Die Hopi-Menschen sind gewarnt worden, nicht auf die Hausdächer zu gehen, um zu schauen. Denn er wird kommen, um alle Menschen zu bestrafen...

Sollte keiner von diesen seine Mission erfüllen, so werden die Hopi-Führer unter Anrufung des Großen Geistes ihre Gebetsfedern an den vier Enden der Erde niederlegen. Er aber wird den Blitz [Seite 33] veranlassen, die Menschen der Erde zu schlagen. Nur die Rechtschaffenen werden wieder zum Leben erwachen. Wenn aber alle Menschen sich vom Großen Geist abgewandt haben, dann wird er die großen Wasser veranlassen, die Erde wieder zu bedecken. Wir Menschen werden dann die Chance verspielt haben, immerwährendes Leben zu erlangen. Es heißt, daß danach vielleicht Ameisen die Erde bewohnen werden.

Aber wenn die drei ihre heilige Mission erfüllen und wenn einer oder zwei oder drei Hopi bis zum letzten Augenblick den uralten Lehren und Weisungen treu geblieben sind, dann wird Massau’u, der Große Geist, vor denen erscheinen, die gerettet werden, und die drei werden einen neuen Lebensplan entwerfen, der zu einem immerwährenden Leben hinführen wird. Diese Erde wird neu werden, sie wird sein, wie sie am Anfang war. Blumen werden wieder blühen, wilde Tiere wieder heimkehren, und es wird für alle Nahrung im Überfluß geben. Diejenigen, die gerettet worden sind, werden alles gleichmäßig miteinander teilen. Sie werden alle den Großen Geist erkennen, Stämme werden untereinander heiraten, und sie werden eine Sprache sprechen. Eine neue Religion wird gegründet werden, wenn die Menschen es wünschen...

Wir stehen jetzt an einer Wegkreuzung: entweder folgen wir dem Weg, der zu immerwährendem Leben führt, oder wir folgen dem Weg, der in die totale Zerstörung führt! Die Hopis bewahren immer noch die heiligen Steintafeln, und sie warten nun auf die Ankunft ihres wahren Weißen Bruders...«4)

Für den Zustand, auf den die Welt zusteuert, haben die Hopis den Begriff »Koyaanisquatsi« — es bedeutet: »Welt, die aus dem Gleichgewicht geraten ist«. Vor einigen Jahren wurde auch ein erfolgreicher Kinofilm mit eben diesem Titel gedreht und der Öffentlichkeit präsentiert. Der Film avancierte zum Kultfilm. Er kommt ohne Worte aus und beschreibt mit Bildern den Kreislauf der menschlichen Zyklen, die diese quasi selber heraufbeschwören. »Kooyanisquatsi« stellt jedoch auch die Chance dar, sich aus der Krise zu befreien durch konstruktive Maßnahmen, das Gleichgewicht der Welt wieder herzustellen. Eine eindrucksvolle Darstellung dieser Ansicht ist der sogenannte »Prophecy-Rock« (Prophezeiungsfelsen) auf dem Hopi-Reservat.







Detail der alten Hopi-Felszeichnung mit Darstellung der beiden Möglichkeiten der Menschheit: Chaos oder umfassender Friede


Thomas Banyacya erklärte detailliert die Bedeutung der einzelnen Elemente dieser Felszeichnung, die sich nach Osten gerichtet auf einer senkrechten Felswand befindet und von einem in die geheimnisvollen Prophezeiungen eingeweihten Hopi-Ältesten stammen muß, der die Zeichnung [Seite 34] vermutlich um die Jahrhundertwende angefertigt hat. Diese Erklärung stammt von der Hopi Mental Health Conference des Jahres 1982:

»Unsere Hopi-Geschichte und unser Wissen teilen uns mit, daß wir zur Zeit des Auftauchens in dieser Welt das Geistwesen trafen, dem diese Welt gehört. Es begegnete uns, und wir baten es, unser Führer zu sein. Es weigerte sich jedoch und sagte, daß wir unsere eigene Mission zu erfüllen hätten, bevor es daran denken könnte, unser Führer zu werden. Es breitete dann dieses Leben für uns aus. Es gab uns Anweisungen. Dieses wird dadurch symbolisiert, daß es die eine Linie in seiner Hand hält.

Der Kreis unten in der Zeichnung symbolisiert die physikalische Welt und die Schöpfung. Wir gingen auf unsere Reisen, die Klan-Wanderungen. Rechtzeitig erreichten wir einen bestimmten Punkt, vielleicht schon vor tausend Jahren. Dort begegneten wir Massau’u. Er gab uns weitere Anweisungen. Den Hopi gab er einen Lebenspfad, dem sie folgen sollten. Dieser wird durch die gerade Linie angezeigt, die quer verläuft. Dem Weißen Bruder gab er andere Anweisungen. Dieser Weiße Bruder ging deshalb weiter nach oben...

Bei dem zweiten Treffen teilte uns Massau’u mit, daß es innerhalb des Lebens dieser gegenwärtigen Welt drei Lebensphasen geben werde, in denen die ganze Welt erschüttert werden würde. Drei Völker würden aufstehen und die Welt erschüttern. Wir deuten diese Erschütterungen als Weltkriege...

Zweimal ist die Welt jetzt schon erschüttert worden. So steht nur noch eine große Kriegserschütterung aus.

Nach diesem zweiten Treffen mit Massau’u ging der Weiße Bruder seines Weges, und wir Hopi gingen unseres Weges, entsprechend den Anweisungen. Aber es war vorhergesagt, daß wir uns eines Tages wiedertreffen würden; daß nämlich dieser Weiße Bruder zurückkehren werde, um uns zu reinigen, so daß wir wieder ein Volk werden würden. Die Linie oben in der Zeichnung bedeutet also dieses: sie zeigt die Reise des Weißen Bruders, der sich als schlau und begabt offenbart. Er erfindet viele wissenschaftliche Dinge.

Deshalb zeigen die ersten drei Figuren auf der oberen Linie die Entwicklungsstufen des Weißen Mannes, seine wissenschaftlichen Fortschritte vom Wagen über das Automobil zum Flugzeug. Die Kreise unter den Figuren prophezeien die drei Kürbisschalen voller Asche, die auf die Erde fallen sollen. Die ersten beiden Kreise deuten wir als die Atombomben, die im Zweiten Weltkrieg auf Japan geworfen wurden.

Die Figuren ohne Kopf (die Köpfe wurden später ergänzt, Anm. des Verfassers) auf der oberen Linie symbolisieren die Hopi, die wie Weiße geworden sind. Es sind die Hopi, die ihren Lebensweg verlassen haben. Sie sind diesem Lebensweg verfallen, dem einfachen Leben, dem Leben mit modernen Apparaten, und sie kümmern sich nicht mehr um den Lebensweg der Hopi. Diese Hopi laden andere Hopi ein, ihrem Weg zu folgen. Wenn aber alle Hopi sich hiervon einfangen lassen, dann wird das Leben so sein wie die Linie rechts oben. Es wird auf und ab gehen, und es wird Durcheinander, Erdbeben, Überflutungen und Trockenperioden geben. Die Leute sagen, daß wir uns jetzt in diesem Stadium des Lebens befinden...

Aber es ist prophezeit, daß eine Lebensphase kommen wird, wenn jene Hopi, die wie Weiße geworden sind, sich ihres falschen Tuns bewußt werden und versuchen, sich wiederum den Hopi anzuschließen, die ihrem Lebensweg treu geblieben sind. Dieses wird symbolisiert durch die Linie, die nach unten geht zum Lebensweg der Hopi. Wenn dieses geschieht, dann wird eine Zeit der Einheit sein, in der alle Hopi zusammenarbeiten. Dann sind wir zurückgekehrt zu dem Lebensplan, den der Große Geist für uns ausgelegt hat. Dieses wird durch den Kreis und durch den Mais symbolisiert.

Es ist vorausgesagt, daß wir noch einmal mit Massau’u zusammentreffen werden. Er wird uns richten. Und wenn wir es verdienen, mit ihm weiterzuleben, dann wird er bereit sein, Führer der Hopi zu werden. Danach werden wir ein glückliches Leben haben. Wie man sehen kann, handelt diese einfache Zeichnung von der ganzen Welt, von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende.«

Für mich persönlich war der Anblick des Felsens mit der Zeichnung eines der Höhepunkte meiner Reisen auf den Reservaten. [Seite 35] Ich habe gelernt, daß es mehr Zusammenhänge im Leben gibt, als jene, die sich mit unserem gängigen Verstandeswissen erklären lassen. Auch wenn die Hopi keiner explizit erklärten »Weltreligion« angehören, so repräsentieren sie für mich ein Höchstmaß an religiöser Kultur. Ihre Beziehung zur natürlichen Umwelt scheint ein mystisches Bündnis zu sein. Wie kann man sonst auch anders unter den harschen Bedingungen ein so glückliches und erfülltes Leben führen? Was vermittelt den Hopi eine solch transzendente Zufriedenheit im Angesicht der täglichen Herausforderungen des Daseins auf Erden? Es regt sich in mir der Verdacht, daß die Hopi sich einen wesentlichen Teil des Menschseins bewahren konnten. Ich empfinde eine geistige Verwandschaft mit den Prinzipien, wie sie ihr Leben führen und den Zweck ihres Daseins betrachten. Meiner Meinung nach kann die Beschäftigung mit solchen Kulturen dazu führen, sich jene Überzeugungen anzueignen, die nötig sind, die Menschheit zu einem integrierten Ganzen zu führen. Bei den Hopi wird die Einheit der Menschheit gelebt. Sie sind so bescheiden und trotzdem der Mittelpunkt der Welt. Und das, was wir in der westlichen Welt mit dem angsteinflößenden Begriff »Apokalypse« umschreiben, erhält bei den Hopi den Begriff »Reinigung«. Das persönliche Überleben scheint dem einzelnen Hopi nicht wichtig zu sein, solange die menschliche Kultur als Ganzes bestehen bleibt und sich weiterentwickeln kann. Welche Fortschritte würde die Menschheit machen, wenn sich ihre gewählten oder bestimmten Führer an solchen Prinzipien orientieren würden?


»Großer Geist, dessen Stimme ich im Wind vernehme und der allen Dingen das Leben gibt, höre mich an! Ich bin klein und schwach. Ich brauche Deine Stärke und Deine Weisheit. Laß meine Augen niemals das Rot und den Purpur des Sonnenuntergangs vergessen. Bringe meine Hände dazu, alles zu achten, was Du erschaffen hast, und schärfe meine Ohren, um Deine Stimme zu vernehmen. Laß mich weise genug sein, damit ich alles verstehen kann, was Du mein Volk gelehrt hast. Möge ich die Botschaft verstehen, die Du in jedem einzelnen Blatt und in jedem Stein verborgen hast. Ich suche nach Kraft — nicht um stärker zu sein als mein Bruder, sondern um meinen allergrößten Feind zu erkennen: MICH SELBST! Laß mich immer dazu bereit sein, vor Dich zu treten mit sauberen Händen und geradem Blick — damit meine Seele ohne jede Scheu zu Dir kommen kann, wenn das Leben vergeht — wie die letzten Strahlen der untergehenden Sonne.«


INDIANERGEBET


1) Hopi Mental Health Conference 1984, S. 64
2) Polingaysi = Elisabeth White (No Turning Back, S. 104)
3) Aus einem Brief religiöser Führer der Hopi, 1983
4) Thomas Banyacya, Oraibi, Arizona, Januar 1961 (Clemmer, Richard 1978: Continuities of Hopi Culture Change; Ramona/California)


Weiterführende Literatur:

Arden, Harvey & Wall, Steve: »Hüter der Erde«, Frederking & Thaler Verlag, 1993
Buschenreiter, Alexander: »Mit der Erde für das Leben«, Edition Pax, 1989; »Spuren des Großen Geistes«, Lamuv-Verlag, 1993; »Unser Ende ist Euer Untergang«, Lamuv-Verlag, 1987
Kaiser, Rudolf: »Die Stimme des Großen Geistes«, Kösel-Verlag, 1990; »Gott schläft im Stein«, Kösel-Verlag 1990; »Im Einklang mit dem Universum«, Kösel-Verlag, 1992
Peterson, Scott: »Indianische Seher und ihre Prophezeiungen«, Peter Erd Verlag, 1993
Seattle: »Wir sind ein Teil der Erde«, Walter-Verlag, 1991
Waters, Frank: »Das Buch der Hopi«, Diederichs-Verlag, 1980
Willoya/Brown: »Im Zeichen des Regenbogens«, Horizonte-Verlag, 1993


[Seite 36]



Hermine Mayer-Berdjis

Familienreport 1994[Bearbeiten]


Bericht der Deutschen Nationalkommission für das Internationale Jahr der Familie 1994



Unter dem Leitthema »Die Familie: Ressourcen und Aufgaben in einer sich wandelnden Welt« sollen im für 1994 von den Vereinten Nationen ausgerufenen Internationalen Jahr der Familie Maßnahmen und Programme auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene mit und für die Familien entwickelt werden. Sie sollen zu einer Stärkung des Bewußtseins für die Bedeutung der Familie, zu einer größeren Sensibilisierung für die von Familien erbrachten Leistungen und nicht zuletzt zu einer Vertiefung der Kooperation der Träger von Familienarbeit national wie auch international beitragen. Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie und Senioren, schreibt in ihrem Vorwort zum Familienreport 1994:

»Die Bundesregierung mißt dem Internationalen Jahr der Familie große Bedeutung bei... Vor diesem Hintergrund hat sie ca. 120 Vertreterinnen und Vertreter der Familienverbände, der Freien Wohlfahrtsverbände, der Tarifvertragsparteien, der Wissenschaft, der Kirchen, der Medienanstalten und der Politik, kurz, all derjenigen Kräfte, deren Wirkung für die Familien von Bedeutung ist, in eine Deutsche Nationalkommission zur Vorbereitung des Internationalen Jahres der Familie 1994 berufen.

Die Deutsche Nationalkommission legt nach nunmehr einjähriger Arbeit ihren Bericht vor. Dieser »Familienreport 1994« ist nicht nur eine Bestandsaufnahme der Situation der Familien in Deutschland. Er will auch zeigen, auf welche unterstützenden Hilfen und Netzwerke Familien zurückgreifen können. Er enthält eine Fülle von Anregungen für konkrete Maßnahmen und Aktivitäten im kommenden Jahr, und er stellt schließlich in den von der Kommission gewählten neun Schwerpunktthemen eine Fülle von Forderungen für eine zukünftige Familienpolitik an die politisch Verantwortlichen in Bund, Ländern und Gemeinden sowie an die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Kräfte in Deutschland.... Durch seine Praxisnähe ist er nicht zuletzt für die einzelnen Familien ein interessanter Wegweiser... Ich wünsche mir, daß der Familienreport ’94 auf eine breite Resonanz in unserem Land stoßen wird.«

In der Präambel wird festgestellt, daß »für die menschliche Gesellschaft insgesamt ... die Familie, das ist unbestritten, unersetzbar« bleibt. »Hier werden Leistungen erbracht, die weit über die materielle Daseinsfürsorge für die einzelnen Familienmitglieder hinausreichen. Familie ist die entscheidende Bedingung für die Vermittlung grundlegender kultureller und sozialer Werte und gleichzeitig Voraussetzung einer auf Zukunft hin orientierten Gesellschaft. Sie sichert das Nachwachsen kommender Generationen, die Persönlichkeitsentwicklung und Sozialisation von Kindern. Sie ist Ort der Solidarität für ältere und behinderte Angehörige. Sie ist Ort der Förderung wie auch der Regeneration der Begabungen, Fähigkeiten und Kräfte des Menschen. Wie die Familien ihre Aufgaben definieren, wie sie ihr Familienleben gestalten, ist zuerst ihre eigene Sache. Unter welchen gesellschaftlichen, sozialen und politischen Bedingungen sie ihre Vorstellungen von Familienleben verwirklichen können, das hängt von den Rahmenbedingungen ab, die ihnen Staat und Gesellschaft auf den unterschiedlichen Ebenen bieten.«

Die Deutsche Nationalkommission hat sich in neun Arbeitsgruppen auf drei Themenfelder mit jeweils drei Schwerpunktthemen konzentriert, und zwar auf a) die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Familien, b) das Lebensumfeld und das Wohnen und c) Familie und Bildung, Medien und Europa. Der Familienreport ’94 ist somit das Ergebnis eines Dialogs zwischen Wissenschaft und Praxis, Politik und Verbandwesen.

[Seite 37] Teil I des Berichts behandelt »Gesellschaftliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen für Familienleben in Deutschland« mit zahlreichen Hinweisen auf Hilfen von Staat, Ländern und Kommunen, Forderungen zur Verbesserung des Familienlastenausgleichs, nach sozialer Gerechtigkeit für Mütter und Väter, familiengerechtes Wohnen mit generationsbezogener Sozialplanung u.ä. für eine präventiv und langfristig wirksame soziale Strukturpolitik.

Zum sozialen und kulturellen Umfeld wird in Teil II gesagt:

»Die letzten Jahrzehnte sind geprägt von tiefgreifenden politischen, demographischen, sozialen und kulturellen Veränderungen. Hiermit ist eine Zunahme an Freiheit und an Mobilität, aber auch Vereinzelung einhergegangen. Diese Entwicklung beeinflußt das Zusammenleben von Menschen und das soziale und kulturelle Umfeld von Familien in erheblichem Umfang. ... Familien brauchen ein stützendes soziales Umfeld. Dies ist notwendig, weil Familien eine Vielzahl von Aufgaben und Funktionen wahrnehmen müssen. .... Angesichts des Wertewandels sind Leitbilder im sozialen und kulturellen Umfeld von Familien notwendig. ... Grundlage unserer Demokratie bildet die Akzeptanz der unterschiedlichen Lebens- und Glaubensformen in der Gemeinschaft. ... Gerechtigkeit und Chancengleichheit sind unverzichtbare Grundlagen für ein gewaltfreies Zusammenleben. ... Die Würde des Menschen verwirklicht sich in der Beziehung zum anderen, Respekt und Achtung ohne Vorbehalte gegenüber jedem Menschen ist hierfür Voraussetzung.« Zum Punkt »Strukturen der Familienarbeit« stellt der Bericht fest: »Ziel der Familienarbeit ist es, darauf hinzuwirken, daß ein für alle Familienmitglieder befriedigendes Zusammenleben gelingen kann. ... Die Zweckmäßigkeit von Strukturen der Familienarbeit muß sich daran messen lassen, inwieweit sie zur Verbesserung der Lebensqualität von Familien beitragen.« »Familienarbeit darf nicht als ›Heftpflaster‹ für Probleme mißbraucht werden, die gesellschaftliche Entwicklungen oder staatliches Handeln erzeugen.« Gleichzeitig ist zu bedenken, daß der Staat zu einem unmittelbaren Eingriff in das innere Beziehungsgefüge der Familie — »abgesehen von strafrechtlichen Tatbeständen — nur in den gesetzlich eng definierten Fällen berechtigt und verpflichtet« ist, d.h. »wenn Eltern ihrer Fürsorge- und Erziehungsaufgabe nicht nachkommen oder nachkommen können und das Wohl des Kindes gefährdet ist.« Der Bericht nennt drei Herausforderungen, mit denen die Familienarbeit derzeit besonders konfrontiert ist: die zunehmende Individualisierung und Pluralisierung von Lebenslagen und Lebensformen, die größer werdende Verunsicherung durch soziale und wirtschaftliche Probleme und die zunehmende Ausländerfeindlichkeit. »Die Tatsache, mehr Entscheidungsmöglichkeiten über die eigene Biographie zu haben, bedeutet auch den Druck, mehr Entscheidungen treffen und dann auch verantworten zu müssen. In einer Zeit, in der verläßliche Orientierungen abnehmen und lange geglaubte Gewißheiten ins Wanken geraten, entsteht daraus ein großer Bedarf an Neuorientierung und Beratung mit anderen Menschen, die vertrauenswürdig erscheinen. Großen Verbänden und Organisationen wird vielfach mit Mißtrauen begegnet, sie werden eher dem ›System‹ zugeordnet, das an der eigenen Verunsicherung mitwirkt. Wenn der private Rahmen verlassen wird, dann wird vielmehr die kleine Gruppe in der vertrauten ›Lebenswelt‹ gesucht, die überschaubar und glaubwürdig erscheint.« Der Bericht regt die Möglichkeit der Beratung mit einem multiprofessionellen Team an und sagt: »Ziel der Beratung ist es, im Beratungsdialog gemeinsam ein Verständnis der problembelasteten Situation zu erarbeiten, Handlungsalternativen zu klären und Entscheidungshilfen zu finden, die unter Berücksichtigung der persönlichen, familiären und sozialen Ressourcen und Begrenzungen zu realisierbaren Lösungen führen. ... Damit leistet Beratung einen Beitrag zur Prävention.«

Teil III befaßt sich mit dem »Familienleben zwischen Eigengestaltung und Außeneinwirkung«. Die Familie wird als der erste Lernort bezeichnet, denn »gesellschaftliche und familiale Wandlungsprozesse stellen neue und lebenslange Anforderungen an das familien- und haushaltsbezogene Wissen und die Lebensführung.«  Nicht nur Industrie und Technologie verursachen ständig neue Herausforderungen; auch die Familien erleben eine historisch rasante Wandlung u.a. »durch die Pluralisierung der familialen Lebensformen, die Veränderung des regenerativen Verhaltens, die abnehmende Stabilität von Ehen, zunehmende Rollenkonflikte aus beruflichen Orientierungen und Familienaufgaben.« »Aus diesen Wandlungsprozessen ergeben sich neue und veränderte Anforderungen an die familien- und [Seite 38] haushaltsbezogene Bildung jedes einzelnen. Ihre gesteigerte Bedeutung wird deutlich in der Orientierung an lebenslangem Lernen, wie es für die berufliche Bildung bereits selbstverständlich ist, und vor allem in der Vermittlung von sinnstiftender Wertorientierung. So können die Presse der Enttraditionalisierung, der Individualisierung und Pluralisierung familialer Lebensformen genutzt werden für einen Zugewinn an Selbstverantwortung, Bewußtheit und Freiheit, Rücksichtnahme und Solidarität.« Von den Schulen wird verlangt, die gesellschaftlichen, familiären und individuellen Wandlungen konstruktiv aufzunehmen und in die Wertediskussion einzuführen. Außerdem wir ein familien- und haushaltsbezogenes Fach als Teil des Pflichtunterrichts empfohlen.

Auch eine Vielzahl an Print- und audiovisuellen Medien prägen heute mit den Alltag der Familie und bieten sowohl Lernchancen als auch Risiken. »Untersuchungen zeigen..., daß der Zuwachs an ›technischer Kommunikation‹ in den Familien die personale Kommunikation von Mensch zu Mensch z.T. verdrängt bzw. ersetzt. ... Familien und vor allem Kinder brauchen den direkten, kontinuierlichen und zuverlässigen zwischenmenschlichen Kontakt und Möglichkeiten zur Aussprache.«  Bei der Diskussion zum Thema Gewalt dürfen einzelne Medien nicht allein verantwortlich gemacht werden. Dennoch »bleibt die Tatsache bestehen, daß gewaltverherrlichende Filme, Computerspiele und Brutalvideos einen Gewöhnungseffekt haben können und die Einstellungen gegenüber der Gewalt, die als gleichsam ›legitime Realität‹ und als ein Konfliktlösungsmittel dargestellt wird, verändern und gewaltauslösend wirken können« (ähnlich wie Werbung, die zum Ausprobieren anregt). Der Report verlangt, daß die gesetzlichen Bestimmungen stärker angewandt und die Richtlinien erweitert werden, und schlägt einen »Preis für familiengerechte Hörfunk- und Fernsehprogramme« vor, sowie eine umfangreichere Informationsarbeit für Eltern zu Medienfragen. Außerdem verweist der Bericht darauf, daß eine angestrebte Veränderung des Medienverhaltens in der Familie, bei Kindern und Jugendlichen eine Verbesserung der Lebensbedingungen für viele Familien verlangt.

Im Teil IV wird das Thema unter dem Aspekt des europäischen Einigungsprozesses betrachtet. Eine kürzliche Untersuchung der familienpolitischen Fördersysteme in der Europäischen Gemeinschaft hat erhebliche Diskrepanzen allein innerhalb der zwölf Mitgliedstaaten aufgezeigt. Das betrifft nicht nur die in Höhe und Ausgestaltung sehr unterschiedlichen materiellen Leistungen, sondern auch die Familienkonzeptionen, die dahinterstehen. ... Zu fordern ist deshalb die Aufnahme von Kinder-, Familien- und Altenpolitik in die EG-Verträge als Gegenstand der gegenseitigen Information und Konsultation mit dem Ziel einer schrittweisen Konvergenz. Angeregt werden u.a. gesamteuropäische Reisevergünstigungen für Familien und Senioren sowie die Anerkennung von Bildungs- und Berufsabschlüssen und Rentenansprüchen. Schließlich gehe es heute um ein kulturelles Miteinander, das eine Erziehung zu tolerantem und auf den anderen zugehenden Zusammenleben voraussetzt, so daß Europa wirklich zusammenwachsen kann.

Dem Familienreport 1994 folgt eine umfangreiche, interessant vielseitige Dokumentation (ca. 140 S.) über die 1. Fachtagung der Deutschen Nationalkommission vom 12.-14. März 1993, mit Beiträgen hochrangiger Wissenschaftler und Politiker, ergänzt durch Statistiken und Schaubilder. In ihrer Eröffnungsrede hat die Präsidentin der Deutschen Nationalkommission, Bundesfamilienministerin Hannelore Rönsch, ausgeführt: »Nur eine Gesellschaft, die weiß, welche Leistungen von Familien erbracht werden, eine Gesellschaft, der bewußt ist, daß sie ohne Unterstützung der Familien ihre eigene Zukunft verspielt, wird sich zu einer gezielten Förderung von Familien bereitfinden. ...denn eine Gesellschaft, in der die Menschen sich nicht mehr zutrauen, Kinder aufzuziehen, bringt sich um ihre eigene Zukunft.«

Diese knappe Zusammenfassung soll ein Beitrag dazu sein, daß dieser Familienreport 1994 in weiten Kreisen bekanntgemacht wird. Die Bahá’í-Gemeinden in der Bundesrepublik bemühen sich nach Kräften, die in ihren Lehren gegebenen geistigen und praktischen Prinzipien als neue ethische Orientierung in die Arbeit mit der Familie einzubringen und durch die Vermittlung neuer geistiger Werte, die auf Vielfalt und Verantwortung eingehen, den Familien zu helfen, einen kreativen, wachstumsfähigen Kern zu schaffen, der den Anforderungen unserer im Umbruch begriffenen Zeit gerecht werden kann.


[Seite 39]



Reden von einem, der schauen kann[Bearbeiten]


Butros Butros-Ghali, UN-organisierte Welt - Plädoyer für die große Reform der Vereinten Nationen, Horizonte Verlag 1993



Er spricht die Sprache der Menschen, kennt das Recht der Völker und weiß sie zu lenken: Butros Butros-Ghali ist Journalist, Völkerrechtler und Staatsmann. In seiner Heimat, dem islamischen Ägypten, mußte er als Angehöriger der christlich-koptischen Minderheit stets im Hintergrund agieren. Ein koptisches Regierungsoberhaupt wäre eine untragbare Provokation und Gefahr für die nationale Einheit am Nil. Ghali mußte sich also mit dem Posten des Staatsministers im Außenministerium und des stellvertretenden Ministerpräsidenten begnügen; tatsächlich führte er aber von 1977 bis 1991 die Amtsgeschäfte des Außenministers.

Praxisnah und visionär zugleich sind die Vorschläge des Generalsekretärs für eine Reform der Vereinten Nationen. Der Weltbürger aus Erfahrung und Überzeugung sieht nach dem Ende des Kalten Krieges die Chance für die UN, endlich handlungsfähig und glaubwürdig zu handeln, um auf internationale Akzeptanz zu stoßen. Damit meint er in erster Linie die Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas.

Welche Mittel die Mitgliedsstaaten einsetzen sollten, um die UN in diese Richtung zu steuern, legt Ghali in seiner agenda for peace dar — nachzulesen in der Neuerscheinung UN-organisierte Welt. Schließlich hat sich die UN-Welt seit Perestroika, Glasnost und Mauerfall grundlegend verändert: die beiden Großmächte stimmen ihre Politik miteinander ab und der Sicherheitsrat wird von Krise zu Krise entscheidungsfähiger.

Ghali will durch die UN-Reform nicht nur Frieden sichern, auch stiften. Der Völkerrechtler fordert, daß sich bis zum Jahre 2000 alle Mitgliedsstaaten der Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag unterwerfen — er setzt große Hoffnung in das Potential des Gerichtes, würde es nur ausgenützt.

Auch die Blauhelmtruppen, die in jedem einzelnen Fall erneut von den Staaten bereitgestellt werden müssen, sollten neue Aufgaben bekommen. Sie sollten die Kriegsparteien entwaffnen, Minen entsorgen, Flüchtlinge zurückführen, beim Aufbau einer neuen politischen Ordnung helfen und demokratische Strukturen stärken. Die UN benötigen eigene schwerbewaffnete Truppenkontingente. So wäre die Organisation nicht länger darauf angewiesen, auf die Zustimmung der Mitgliedstaaten zu warten, die zuweilen lange überlegen müssen, ob sie ihre Soldaten für eine fremde Front opfern wollen.

Bislang gibt es diese Streitkräfte nicht, obwohl sie in der Charta der Vereinten Nationen vorgesehen sind. Danach ist der Generalsekretär Oberbefehlshaber dieser Truppen, deren Auftrag es ist, die Beschlüsse des Sicherheitsrates durchzusetzen. Mit diesen Kontingenten könnte die Weltgemeinschaft einer amerikanischen oder europäischen Hegemonie entgegenwirken. Gerade die Staaten der südlichen Hemisphäre würden so größeres Vertrauen in die Vereinten Nationen gewinnen.

Die Agenda ist eine Pflichtlektüre für jeden, der verstehen möchte, in welche Richtung Ghali die UN zu steuern versucht und welche Konzepte schon in wenigen Jahren weltpolitische Wirklichkeit werden können. UN-organisierte Welt bietet auch andere lesenswerte Reden von Butros Butros-Ghali. Eine Einordnung der Texte des Generalsekretärs in den aktuellen Kontext, zu Beginn oder im Anschluß an die Reden, wäre für den Laien sicherlich eine Verständnishilfe gewesen. Auch wenn das UN-deutsch nicht immer leicht zu verstehen ist: was Ghali denkt und fordert, sollten wir wissen.


Isabel Schayani


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