Bahá’í
BRIEFE
- Zeitschrift
- für Religion und Gesellschaft
- Nr. 63 / Juni 1993
Religion und Kunst:
Offenbarung und Kunst
John »Dizzy« Gillespie
Krieg und Frieden
Beiträge zur Umwelt
Bei den Bahá’í-Indianern im Reservat
INHALT
Krieg und Frieden . . . . . . . . . . . 4
- Die Entwicklung internationaler Zusammenarbeit
- John Huddleston
Offenbarung und Kunst . . . . . . . . . . . 9
- Otto Donald Rogers
John Birks »Dizzy« Gillespie . . . . . . . . . . . 17
- Ein Musiker, seine Trompete, seine Weltsicht
- Nassim Berdjis
UmWeltBewußtSein in der Sackgasse . . . . . . . . . . . 21
- Essay von Peter Spiegel
Werte für die Umwelt . . . . . . . . . . . 2O
- Claudia Gollmer
Bei den Bahá’í-Indianern im Reservat . . . . . . . . . . . 28
- Thorsten Klapp / Petra Schwartz-Klapp
Die erwachende Erde — Unser nächster Evolutionssprung . . . . . . . . . . . 32
- Buchbesprechung von Siegmund Dexheimer
Der Einfluß des Islam auf das europäische Mittelalter . . . . . . . . . . . 33
- Buchbesprechung von Isabel Schayani
Bahá’í-Religion in der weltweiten Verbreitung an zweiter Stelle . . . . . . . . . . . 34
- Statistik aus der „Encyclopedia Britannica“
Titelbild:
Jazz-Trompeter Dizzy Gillespie
Bahá’í-Briefe
- Heft 63
- Juni 1993
- 21. Jahrgang
Die Bahá’í-Briefe wollen eine intensive Auseinandersetzung mit den Inhalten der Bahá’í-Religion fördern und auf der Grundlage zeitgemäßen Denkens zu einem Dialog mit allen beitragen, die sich um die Lösung der Weltprobleme mühen.
Herausgeber: Der Nationale Geistige Rat der Bahá’í in Deutschland e.V., Hofheim-Langenhain
Redaktion:
Nassim Berdjis, Bijan Sobhani,
Uwe Still, Karl Türke jun.
Redaktionsanschrift: Bahá’í-Briefe, Redaktion, Eppsteiner Str. 89, D-6238 Hofheim 6.
Namentlich gekennzeichnete Beiträge
stellen nicht notwendig die Meinung der Redaktion
oder des Herausgebers dar.
Die Bahá’í-Briefe erscheinen halbjährlich.
Abonnementpreis für vier Ausgaben 30,- DM.
Einzelpreis 8,50 DM.
Vertrieb und Bestellungen:
Bahá’í-Verlag Eppsteiner Str. 89
D-6238 Hofheim 6
© Bahá’í-Verlag GmbH 1993 ISSN 0005-3945
Bahá’í
BRIEFE
- EDITORIAL
Ein Jahr ist es nunmehr her, daß sich über 100 Staatsoberhäupter zum Umweltgipfel in Rio de Janeiro trafen, um dort über die drängenden globalen Belange des Umweltschutzes und der Entwicklungsarbeit zu beraten (s. Bahá’í-Briefe Nr. 62). Die Problematik besteht nach wie vor und die Suche nach Lösungsansätzen wird mit unverminderter Anstrengung fortgesetzt. Zwei Beiträge in dieser Ausgabe beschäftigen sich mit diesem überlebenswichtigen Thema, wobei die geistigen Aspekte und Bewußtseinsinhalte behandelt und in den Vordergrund gestellt werden.
Die bedeutende Rolle der Kunst für Mensch und Gesellschaft wird niemand in Frage stellen. Inwieweit jedoch Kunst und Offenbarung verknüpft sind, wie Offenbarung sich auf den künstlerischen Prozeß auswirken kann und welche Entsprechungen zu erkennen sind, damit setzt sich Otto Donald Rogers, der selbst ein anerkannter Künstler ist, am Beispiel der Bahá’í-Offenbarung auseinander.
Anfang dieses Jahres ist der große Jazz-Musiker Dizzy Gillespie verstorben. Seine Begegnung mit dem Bahá’í-Glauben, den er schließlich auch annahm, und einzelne Abschnitte seines Lebens schildert der Artikel von Nassim Berdjis.
John Huddleston ist anerkannter Autor mehrerer Bücher über Weltfrieden und Weltordnung. In dieser Ausgabe bringen wir einen Artikel von ihm, der einen Überblick über die wesentlichen Ereignisse auf dem Weg zum internationalen Frieden vermittelt.
Der Weg zum Frieden, wenn er von der Menschheit erfolgreich beschritten werden soll, erfordert auch das Wissen um andere Kulturen und die Wertschätzung ihrer Traditionen. Mit dem Bericht über einen Besuch bei einer indianischen Bahá’í-Gemeinde soll in dieser Richtung ein Beitrag geleistet werden.
Die Redaktion
- John Huddleston
Krieg und Frieden[Bearbeiten]
Die Entwicklung internationaler Zusammenarbeit
Nun, da der kalte Krieg überwunden ist, in der Öffentlichkeit eine neue Weltordnung diskutiert wird und das zweite christliche Jahrtausend in weniger als einem Jahrzehnt endet, dürfte es interessant sein, eine tabellarische Darstellung von Schlüsselereignissen der letzten beiden Jahrhunderte zu präsentieren, die den Weg hin zum Weltfrieden markieren. Lediglich grundlegende Ereignisse wurden hier aufgenommen. Die Tabelle (S. 6, 7) konzentriert sich auf direkte internationale Zusammenarbeit von Nationen und beinhaltet weder die Geschichte freiwilliger Friedensbewegungen noch gesellschaftliche Strömungen, die uns vom Krieg weg- und zum Frieden hinführen. Bevor die Tabelle selbst erläutert wird, soll zu diesen Bewegungen noch etwas gesagt werden.
Die Friedensbewegung war hauptsächlich ein Produkt der letzten beiden
Jahrhunderte; sie begann zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf das
Blutvergießen der Napoleonischen Kriege. Obwohl daraus keine weltweite Vereinigung
entstand und man sie manchmal als angriffslustig und gespalten empfand, hat die
Friedensbewegung sehr dazu beigetragen, die internationale Friedensentwicklung
voranzutreiben. Es waren nicht Staaten, sondern die Friedensbewegung, die die
meisten kreativen Ideen zur internationalen Zusammenarbeit hervorgebracht hat,
darunter die mit den Haager Friedenskonferenzen und dem Völkerbund verbundenen
Gedanken. Sie hat außerdem viel getan, um das öffentliche Bewußtsein von
der Sinnlosigkeit des Krieges zu überzeugen.
Die wohl offensichtlichsten dieser grundlegenden gesellschaftlichen Strömungen, die uns zum Frieden zwingen, liegen im Bereich der materiellen Verhältnisse, die im Laufe zweier Jahrhunderte unsere Welt zu einem globalen Dorf haben schrumpfen lassen. Kommunikation und Medien, Handel, Ein- und Auswanderung machten von Generation zu Generation immer deutlicher, daß die verschiedenen Völker alle Teile einer Familie sind und weder isoliert für sich allein noch als Herrscher über andere leben können. Diese Erkenntnis wird unterstützt einerseits durch ein wachsendes Bewußtsein von der Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit, um unsere gemeinsame globale Umwelt zu schützen, und andererseits durch das Bewußtsein, daß die wachsende Anhäufung von Waffengewalt nicht mehr die Privatangelegenheit einzelner Gruppen sein kann. Z.B. würde ein Nuklearkrieg zwischen Israel und seinen Nachbarn, zwischen Indien und Pakistan oder zwischen Nord- und Süd-Korea die Sicherheit der übrigen Welt erheblich beeinträchtigen.
[Seite 5]
Aber es sind noch weitere Kräfte am Werke, die man als Aspekte des Reifeprozesses
der Gesellschaft ansehen könnte und die eine Ausgangsbasis bieten, von
der aus wir auf die Abschaffung des Krieges zwischen den Nationen hinarbeiten
können. Diese Kräfte unterscheiden sich von den angeführten Trends, da sie mehr
mit dem Verstand und dem menschlichen Geist, als mit materieller Entwicklung zu
tun haben. Zunächst ist die Idee der Demokratie zu erwähnen, die Gesetze regieren
läßt, deren Regierungen dem Volk gegenüber Rechenschaft ablegen müssen
und in der freie Meinungsäußerung herrscht; die Demokratie betont auch die
Rechte des einzelnen Bürgers, den Schutz von Armen und Minderheiten und die
gesellschaftliche Gleichberechtigung für Mann und Frau. Eng mit dem Gedankengut
der Demokratie verbunden ist die Idee der kulturellen Selbstbestimmung, dem
Wunsch von Menschen derselben Kultur und mit denselben Interessen, die eigenen
Angelegenheiten selbst zu regeln und sich nicht von Außenstehenden beherrschen zu
lassen. Natürlich führt übertriebener Patriotismus zu Nationalismus und kann
dann völlig irrational und schrecklich zerstörerisch sein, aber er kann im Rahmen
eines größeren Gesamtbildes ein Zeichen der Reife und des Selbstrespekts sein.
Vor zweihundert Jahren konnte man die Anzahl der existierenden Demokratien noch an den Fingern einer Hand abzählen; heute sind mehr als die Hälfte aller Staaten im weitesten Sinne Demokratien und regieren die Mehrheit der Weltbevölkerung. Ebenso gab es vor zweihundert Jahren wenige homogene Nationen, dafür aber Königreiche, Stadtstaaten und so weiter. Obwohl heute die Entwicklung zur kulturellen Selbstbestimmung aller Völker noch nicht abgeschlossen ist, hat dennoch die Mehrheit der Völker dieses Ziel erreicht. Die Demokratie und der Nationalstaat sind zwar in der Praxis noch äußerst fehlerhaft, aber man kann guten Gewissens behaupten, daß sie einen Fortschritt gegenüber dem vorherigen Zustand und einen Schritt auf dem Weg zu einer geistigen und gerechten Gesellschaft darstellen. Demokratien haben im allgemeinen eine bedeutend bessere Friedensbilanz als autoritäre Regierungssysteme, und Nationalstaaten sind starke Säulen, auf denen eine weltweite Föderation begründet werden könnte.
Wenden wir uns nun kurz der Tabelle zu, um sieben Wege zu definieren, die die Staaten zur Verhinderung von Kriegen beschritten haben. Diese sieben Ansätze sind direkte Reaktionen auf das Problem von Krieg und Frieden. Aber man sollte im Auge behalten, daß diese Reaktionen durch ein umfangreiches Netzwerk internationaler Zusammenarbeit erheblich unterstützt und gestärkt wurden, so z.B. auf Gebieten wie der technischen Zusammenarbeit (z.B. im Postverkehr), der Förderung des freien Welthandels, der Beseitigung von Armut in der Welt, dem Umweltschutz und der Einsetzung international anerkannter Menschenrechte.
Unter den ersten der sieben Reaktionen war die Einrichtung internationaler Konferenzen zur regelmäßigen Diskussion über zwischenstaatliche Streitigkeiten und andere internationale Probleme. Diese Entwicklung begann mit dem Kongreßsystem in Europa (Wiener Kongreß 1814/1815) und wurde durch die Friedenskonferenzen in Den Haag (1899 und 1907), den Völkerbund (1919) und die Vereinten Nationen (1945) fortgesetzt.
Eine zweite Reaktion war die Errichtung eines internationalen Systems der Vermittlung bei Disputen zwischen Staaten. Dazu gehörte die Vermittlung durch Drittstaaten wie z.B. im Alabama-Fall von 1865-1870, in den Großbritannien und die Vereinigten Staaten von Amerika verwickelt waren. Weiterhin wurden internationale Untersuchungskommissionen eingerichtet, wie im Fall der Dogger Bank von 1905. Schließlich wurde durch die Berufung des Haager Schiedsgerichtshofs (1899) der Grundstein für einen endgültigen Weltschiedsgerichtshof gelegt.
Als dritte Reaktion wurden die Regeln der Kriegsführung entwickelt
und ausgedehnt, um die Schrecken zu begrenzen, die nicht zu rechtfertigen
sind, auch wenn die Kriegsparteien den betreffenden Krieg für gerecht
halten. Die meisten Kulturen kannten solche Regeln;
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Schritte auf dem Weg zum Weltfrieden | ||
---|---|---|
Eine chronologische Auswahl von Ereignissen im Bereich der internationalen Zusammenarbeit im 19. und 20. Jahrhundert | ||
Jahr | EREIGNIS | BEDEUTUNG |
1817 | Rush-Bagehot-Abkommen zur Entmilitarisierung der US-kanadischen Grenze | Bahnbrechender bilateraler Abrüstungsvertrag (noch gültig) |
1818 | Kongreß von Aix-la-Chapelle | Erster internationaler Kongreß zur Regulierung internationaler Streitfälle in Friedenszeiten |
1864 | Internationales Rotkreuz-Abkommen (Genfer Konvention) | Übereinkunft, durch die Krankenhäuser, Ärzte, Sanitäter und Verwundete vor Kriegshandlungen geschützt werden sollten. 1907 ausgeweitet auf Verwundete auf hoher See; 1929 ausgeweitet auf Gefangene; 1949 ausgeweitet auf Zivilisten. |
1865 | Internationale Telegraphenunion | Erste ständige internationale Organisation |
1870 | Schiedsentscheidung von Alabama | Bahnbrechendesinternationales Beispiel der freiwilligen Vermittlung durch einen Dritten |
1874 | Weltpostverein | Erste ständige Organisation mit angestelltem Mitarbeiterstab; erste internationale Organisation mit Mehrheitsvotum zur Entscheidungsfindung; erste internationale Verpflichtung zur Schiedsgerichtsbarkeit |
1885 | General Act von Brüssel | Internationale Charta für die Abschaffung von Sklaverei in der ganzen Welt |
1899 | Erste Konferenz in Den Haag | Erstes permanentes System zur Schlichtung internationaler Streitfälle: (i) Vermittlung durch einen Dritten; (ii) Untersuchungsausschüsse; (iii) Schiedsgerichtshof (gestärkt durch neue Bestimmungen der Jahre 1919 und 1945) |
1919 | Gründung des Völkerbunds | Erste ständige und internationale beratende Vollversammlung. Erste offizielle Anerkennung der territorialen Integrität aller Nationen. Erstes allgemeines Abkommen darüber, drei Monate zwischen der Erklärung der Kriegsabsicht und Ausbruch des Krieges verstreichen zu lassen und diese für Vermittlungsversuche zu nutzen. Erstes Abkommen über wirtschaftliche Sanktionen gegen einen Aggressor. |
1921 | Washingtoner Abrüstungskonferenz | Erstes allgemeines Abrüstungsabkommen (u.a. Festsetzung der Flottenstärke der 5 Großmächte USA, Großbritannien, Japan, Frankreich und Italien) |
1925 | Genfer Protokoll über chemische und biologische Waffen | Abkommen über das Verbot solcher Waffen; das Abkommen von 1974 verbietet die Entwicklung, Herstellung, Ansammlung und Verbreitung biologischer Waffen (über chemische Waffen wird noch verhandelt) |
1928 | Pariser Vertrag (Briand-Kellogg-Pakt) | Erste allgemeine Verurteilung des Krieges als Instrument der Politik; Krieg wird als Verbrechen bezeichnet. |
1935 | Kollektive Wirtschaftssanktionen gegen den Einmarsch in Äthiopien | Erster Fall internationaler Wirtschaftssanktionen gegen einen Aggressor. |
1945 | Gründung der Vereinten Nationen | Neue Betonung wirtschaftlicher Unterstützung und Zusammenarbeit. |
1945 | Nürnberger Prozesse | Erste Urteile aufgrund internationaler Staatsverbrechen: (i) Verbrechen gegen den Frieden; aggressive Kriegsführung; (ii) Kriegsverbrechen; Verstoß gegen Gesetze der Kriegsführung; (iii) Verbrechen gegen die Menschheit; Völkermord, Versklavung von Zivilisten usw. |
1948 | Allgemeine Erklärung der Menschenrechte | Erste internationale und allgemeingültige Norm für den Umgang von Regierungen mit den Bürgern ihres Landes. Es folgten ergänzende Erklärungen und Abkommen. |
1950 | Entscheidung des Sicherheitsrates über den Einmarsch in Korea | Erste kollektive militärische Maßnahme gegen einen Aggressor. |
1960 | Kongokrise | Bahnbrechender Erfolg der Vereinten Nationen bei der Wiederherstellung von Recht und Ordnung. |
1963 | Moskauer Vertrag über begrenzte Verbote von Nuklearversuchen | Erste bedeutsame Begrenzung von Nuklearwaffen (gefolgt vom Threshold Test Ban Treaty im Jahre 1974 zur Einschränkung der unterirdischen Atomtests). |
1963 | UN-Sicherheitsrat verfügt freiwilliges Waffenembargo gegenüber Südafrika | Bedeutsamer Schritt der UN gegen Nationen, deren Innenpolitik gegen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verstößt. Wurde 1977 verbindlich; nicht verbindliche Wirtschaftssanktionen folgten 1985. |
1968 | Atomwaffensperrvertrag | Elementare gesetzliche Begrenzung von Nuklearwaffen außerhalb der 5 im Sicherheitsrat vertretenen Nationen. |
1972 | SALT I (Vertrag zur Begrenzung strategischer Waffen) | Erster Vertrag zur Beschränkung der Anzahl von Nuklearwaffen; Folgeabkommen SALT II im Jahr 1974. |
1975 | Abschlußakte von Helsinki | Erste offizielle Verbindung von wirtschaftlicher Zusammenarbeit, Sicherheits- und Menschenrechtsfragen. |
1987 | Protokoll von Montreal zum Schutz der Ozonschicht | Erster globaler Vertrag zur Regelung der Wirtschaftstätigkeit mit dem Ziel des Umweltschutzes. |
1988 | INF-Vertrag (über nukleare Mittelstreckenwaffen) | Erster Vertrag zur Reduzierung der Anzahl von Atomwaffen. |
1989 | Beendigung des Kalten Krieges und Ausbreitung der Demokratie in Europa | Dramatischste Demokratiebewegung seit der Französischen Revolution. Folgt früheren Entwicklungen in Deutschland, Japan, Italien (40er Jahre), Spanien, Griechenland, Portugal (70er Jahre) und Südamerika (80er Jahre). Rückgang von regionalen Kriegen in Südamerika, Afrika und Asien. |
1990 | 12 Resolutionen des UN-Sicherheitsrats gegen den Einmarsch in Kuwait | Bisher einmütigster Ausdruck globaler Opposition gegen militärischen Überfall. |
1991 | CFE-Vertrag über konventionelle Waffen in Europa | Abkommen zwischen der NATO und den Ländern des Warschauer Pakts zur Reduzierung der Truppenstärken und konventioneller Waffen (Kriegsflugzeuge, Panzer, Artillerie usw.). |
1991 | START-Abkommen zur Reduzierung strategischer Waffen | Abkommen der beiden militärischen Supermächte zur Reduzierung nuklearer Sprengköpfe um 25-30%. |
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die christlichen und islamischen Werte der Ritterlichkeit dürften uns am ehesten
bekannt sein. In unserer Zeit sind die größten Errungenschaften auf diesem Gebiet mit
der Rotkreuzkonvention von 1865 und deren Folgebestimmungen verbunden, besonders in
Bezug auf den Schutz von Zivilisten und Verwundeten auf dem Schlachtfeld; das Genfer
Protokoll von 1925 versuchte durch weitere Bestimmungen, die Entwicklung, Herstellung,
Lagerung und Anwendung chemischer und biologischer Waffen zu verbieten.
Die vierte Reaktion bestand in der Idee der multilateralen Abrüstung, davon ausgehend, daß Waffen zwar eher Symptome als ein direkter Anlaß für Auseinandersetzungen zwischen Nationen sind, daß ihre exzessive Anhäufung die Dispute aber verschlimmern, Mißtrauen verursachen und so große Angst auslösen können, daß sie zu einem »Präventivschlag« (wie im Jahre 1914) führen können. Obwohl es im neunzehnten Jahrhundert verschiedene bilaterale Abrüstungsverträge gegeben hatte, war der Washingtoner Vertrag von 1921 der erste wirklich internationale Abrüstungsvertrag. Er war sozusagen der Großvater der verschiedenen international abgestimmten Rüstungsbegrenzungen, die uns heute im Hinblick auf Massenvernichtungswaffen und konventionelle Waffen bekannt sind.
Die zunehmende Anerkennung der Idee, daß ein Akt militärischer Aggression gegen eine andere Nation als illegal gilt, können wir als fünfte Reaktion anführen. Obwohl diese Entwicklung bereits mit der Gründung des Völkerbundes begann, bei der die Nationen eine dreimonatige Frist ab der Ankündigung der Kriegsabsicht vereinbarten und damit drei Monate für Vermittlungsversuche einrichteten, war der Pariser Vertrag (Briand-Kellogg-Pakt) von 1928 das Schlüsselereignis, durch das die Unterzeichnenden die erste allgemeine Ablehnung des Krieges als nationales Politikinstrument verkündeten. Der Briand-Kellogg-Pakt wurde oft abgetan, da seine Bedingungen vielfach nicht eingehalten wurden, obwohl die meisten Regierungen ihn unterzeichnet hatten. Trotzdem hat dieser Vertrag gesetzliche und moralische Maßstäbe gesetzt, die den Regierungen die Kriegführung erschweren, da nur wenige — sogar autoritäre Regierungen — in der Weltöffentlichkeit als Verbrecher bezeichnet werden möchten.
Eine sechste Reaktion ist die Thematik kollektiver Sanktionen gegen einen Aggressor. Sowohl die Satzung des Völkerbunds als auch die Charta der Vereinten Nationen treffen Vorsorge für wirtschaftliche und, im Extremfall, militärische Sanktionen gegen einen Aggressor. Kollektive wirtschaftliche Sanktionen kamen erstmals 1935 gegen Italien zur Anwendung — als Reaktion auf den Einmarsch in Äthiopien. Es gab Anzeichen dafür, daß diese Sanktionen entsprechend wirken würden, besonders durch die Verhängung eines Ölembargos, aber in der letzten Minute ließen Frankreich und England, die führenden Nationen im Völkerbund, das Ölembargo aus Angst davor fallen, es könnte Italien in die Arme Nazi-Deutschlands treiben, was dann ohnehin geschah. Die beiden Fälle der erfolgreichsten Verhängung kollektiver Sanktionen betrafen die Konflikte um Korea (1950-53) und Kuwait (1990-91).
Als siebte Reaktion sei die Entwicklung des Gedankens genannt, daß die internationale Gemeinschaft einzelne für oder in Regierungen Tätige für Kriegsverbrechen zur Verantwortung ziehen kann. Das herausragendste Beispiel für die Anwendung dieses Prinzips waren die Nürnberger Prozesse 1946, bei denen Nationalsozialisten wegen Verbrechen gegen den Frieden, wegen Kriegsverbrechen, wie der Nichteinhaltung von Regeln der Kriegsführung, und wegen Völkermords vor Gericht standen. Der amerikanische Rechtsexperte Telford Taylor sagte dazu: “Nürnberg ist eine historische und moralische Tatsache, der sich ab jetzt jede Regierung bei ihrer Innen- und Außenpolitik stellen muß.”
(Übersetzung des Artikels »War & Peace« aus: Herald of the South, April-Juni 1992, S. 28-32.)
Offenbarung und Kunst[Bearbeiten]
Der Einfluß der Offenbarung auf die künstlerische Ausdrucksweise
- Otto Donald Rogers
- „Offenbarung und Kunst” ist eine Übersetzung des Artikels ‚The Effect of Revelation on Artistic Expression” von Otto Donald Rogers, Bahá’í Studies, Vol. 10, 1982, mit Genehmigung der Association for Bahá’í Studies, Kanada.
▪ Der Mensch als Instrument
Es ist eine Tatsache, daß sich der Mensch nicht als Schöpfer betätigt, sondern die Fähigkeit hat, die Eigenschaften der Schöpfung zu reflektieren.
»Wähnst du dich nur eine schwächliche Form, wo in dir doch das Weltall im Kleinen verborgen ruht?«1)
Universelle Eigenschaften werden in unterschiedlichem Maße von vielen Instrumenten widergespiegelt. Die Kombination verschiedener individueller Interessen und Begabungen erzieht uns dazu, das Ganze zu verstehen. Die individuelle und gemeinsame Verantwortung besteht darin, die Fähigkeiten jedes Menschen möglichst weit zu entwickeln. Der Grad, bis zu dem wir das Instrument vervollkommnen, bestimmt die Klarheit des Liedes, das wir hören.
»Diese Intelligenz des Menschen ist der Mittler zwischen seinem Körper und seinem Geiste. Wenn der Mensch durch die Seele dem Geist gestattet, seinen Verstand zu erleuchten, dann umfaßt er die ganze Schöpfung. Da der Mensch der Gipfelpunkt all dessen ist, was voranging, und deshalb allen vorhergehenden Entwicklungen überlegen ist, schließt er in sich die ganze niedere Welt ein. Wenn der Mensch vom Geiste durch die Seele erleuchtet ist, so macht ihn seine strahlende Intelligenz zur Krone der Schöpfung.«2)
Das Instrument, wie wichtig es auch sein mag, ist nicht großartiger als das Lied selbst. Es gibt viele Instrumente, aber die Melodie ist ewig. Die Melodie oder das Thema kann sich jedes Instruments bedienen, sogar der Instrumente, die noch nicht völlig ausgereift sind.
»O mein Bruder! Nicht jedes Meer enthält Perlen, nicht an jedem Zweig erblühen Rosen, noch wird die Nachtigall überall singen. Darum bemühe dich, ehe die Nachtigall des Paradieses der inneren Bedeutung sich wieder zum Garten Gottes aufschwingt und die Strahlen des himmlischen Morgens zur Sonne der Wahrheit heimkehren .. .«3)
▪ Schönheit und Ordnung
Die Sehnsucht nach Ordnung liegt in der Natur des Menschen. Ordnung im absoluten Sinne erscheint selten in der von Wandel und Zufall bestimmten bedingten Welt. Absolute Ordnung ist ein Zustand der göttlichen Welt, und sie bleibt außerhalb der Reichweite menschlichen Strebens, obwohl der Mensch manchmal einen Blick von ihr erhaschen kann. Durch das ständige Bemühen des Menschen, diesen Abgrund zu überbrücken, trägt er bei zu einer ständig voranschreitenden Kultur.
Der Mensch steht an einem einzigartigen und aufregenden Punkt der Schöpfung. Er hat
Anteil an den anderen Teilen der materiellen Schöpfung, aber die neue Wirklichkeit
der vernunftbegabten Verstandeskraft
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oder Seele macht den Menschen zur Brücke zwischen der materiellen
Schöpfungsebene und der göttlichen Schöpfungswelt.
Der Mensch steht mit je einem Fuß in jeder dieser Welten. Das Königreich Gottes ist in ihm. Daher kann er in seinem Bemühen um das Verstehen der materiellen Existenz auch die göttliche Wirklichkeit zu erfassen suchen und immer wieder das bekannte materielle Dasein und seine Bestandteile verwandeln, um neue Inhalte auszudrücken. Der menschliche Verstand erkennt die Kluft zwischen diesen beiden Welten. Durch seine Wahrnehmungskraft kann er Dinge anordnen und Beziehungen herstellen. Er wird gedrängt durch diese Erkenntnis, und sein Verlangen nach neuen Kompositionen führt ihn zur Umwandlung. Er ist gewillt, sich zu verändern. Mit jedem Atemzug, den er zwischen diesen Welten einnimmt, erreicht er ein neues Maß an Totalität. Er erlebt ein anderes Maß der Schönheit des Ganzen.
Schönheit und Ordnung sind nur eine Wirklichkeit. Oft weckt die in der Schönheit erlebte Natur im Künstler die Sehnsucht, Form auf eine neue Art und Weise darzustellen und neu anzuordnen. Das Gegenteil trifft auch zu; wir sehen ein Kunstwerk, und die für das Kunstwerk ausgewählte Ordnung lehrt uns, die Schönheit in der Natur zu sehen. Es ist von großer Bedeutung, daß der Bahá’í-Glaube auf eine neue Weltordnung hinarbeitet, jedoch zugleich die Schönheit im Leben des einzelnen und die besondere Qualität des Bahá’í-Lebens fördert. Bahá’u’lláh wird sowohl ’göttlicher Architekt’ als auch "Gesegnete Schönheit’ genannt.
▪ Die Auswahl der Materialien
Auf der Ebene der Welt der Erscheinungen brauchen wir, um etwas Schönes zu schaffen, auch Material. Materielle Substanzen müssen sich Gestalt und Form unterwerfen und zu einer Komposition werden. Diese Komposition muß Eigenschaften und Ideen anziehen und widerspiegeln. Die Materialien haben im Vergleich zu den Ideen, die sie reflektieren, kein Eigenleben. Materialien sind Rohstoffe, die natürlich aus Mineralien, Pflanzen oder Tierprodukten bestehen. Sie haben in diesen Reichen ein Eigenleben, besitzen aber kein Bewußtsein und kein rationales Begriffsvermögen. Das Kunstwerk, dem Form verliehen wird, muß, wenn es sich mit Kraft und Autorität ausdrücken will, Bewegung und Inspiration beinhalten, muß sich über das Materielle erheben und den Menschen auf seiner höchsten Stufe widerspiegeln. Die von den Sinnen erfaßbaren Eigenschaften von Materialien sind wichtig für die Kunst, da sie die Sinne einbeziehen und den Verstand erziehen. Die Materie ist Teil der kompositionellen Entwicklung, aber sie ist nicht der Inhalt der Kunst. Die aus der materiellen Welt entstehende Sinneswelt wird durch eine großartige Komposition transzendiert. Der Künstler nimmt Materialien, die in sich grundlegend und einfach sind, und er ermutigt sie zur Annahme neuer Eigenschaften und Bedeutungen auf einer höheren Ebene. Im Grunde genommen überwinden die Materialien dadurch ihre Begrenzungen und erlangen durch geordnete Komposition eine Stufe, die nach Auffassung vieler Künstler eine göttliche Ebene reflektiert.
▪ Das Prinzip der Einheit
Eine Komposition kann nicht allein durch Materialien erreicht werden; auf diese grundlegenden Bestandteile müssen Prinzipien angewendet werden. Die Auswirkung der Prinzipien auf die Elemente und das Material machen die Komposition aus. Prinzipien sind eine Art von Energie. Die Beziehungen zwischen Materie, Form und Energie sind für die Kunst so grundlegend wie für die ganze Schöpfung. Elemente und Prinzipien werden hier in einem umfassenden Sinn verstanden. Sie beschränken sich nicht auf die Mittel und Methoden der Kunst, sondern sie sind eher allgegenwärtige Faktoren der Schöpfung und zeigen sich in einer Vielzahl von Zuständen und Anordnungen in der Natur.
Materie, die aus Elementen besteht und durch Prinzipien angetrieben wird, muß Beziehungen entwickeln, muß Verbindungen zwischen den Teilen schaffen, die zu Ganzheit führen. Eine Voraussetzung für Schönheit ist Ganzheit, Vollständigkeit. Dann offenbart sich eine vollständige Ordnung.
[Seite 11]
Kunst besteht aus einem Komplex von Beziehungen, deren Ziel Einheit ist.
Beziehungen können nur hergestellt werden, wenn Unterschiede zwischen der
Eigenschaft oder dem Zustand des einen Gegenstands im Vergleich zu einem
anderen bestehen. Es ist wesentlich zu verstehen, daß zur Erfahrung von
Ganzheit die Fähigkeit des Gebrauchs von Mannigfaltigkeit entwickelt sein
muß. Durch Mannigfaltigkeit wird Einheit geschaffen. In einer Komposition
sind alle Einzelteile schön und in sich selbst vollständig, aber sie stehen
in gegenseitiger Abhängigkeit zu anderen Teilen, die das Gesamtbild schaffen.
Ohne diese wechselseitige Beziehung der verschiedenen Teile innerhalb einer
Gesamtordnung ist keine auf irgendeine Weise wichtige oder tiefgründige
Botschaft möglich. Offensichtlich ist Einheit das wichtigste Prinzip. Einheit
muß wie Ordnung ihren höchsten Ausdruck in der göttlichen Welt finden, und
wenn sie in der materiellen Welt erreicht wird, zieht sie die göttliche Botschaft an
bzw. reflektiert sie. Das ist der Inhalt von Kunst. Einheit ist der Mittelpunkt der
Brücke zwischen dem Verstand und der
Anziehungskraft einer höheren Wirklichkeit.
- Gemälde von Volker Hofmann
▪ Die Rolle des Lichts
Licht ist der Schlüssel zur Wahrnehmung und zum Erreichen von Einheit. Wenn Einheit erreicht wird, kann man Schönheit erleben. In dieser Vereinigung von Licht und Einheit wird der Zustand des Menschen erhoben. In der Kunst ist das Licht das zentrale Element, und Einheit ist das zentrale Prinzip.
Wenn man den Bahá’í-Glauben als Kunstwerk betrachtet, steht er weit über allem, was der Mensch sich je vorzustellen vermag. Den Bahá’í-Glauben zu erleben bedeutet, als Teil einer neuen globalen Komposition zu leben. Die Weltordnung Bahá’u’lláhs ist ein von Gott erdachtes Kunstwerk, deren Errichtung dem Menschen zur Aufgabe gemacht wurde. Der Mensch wird die Eigenschaften dieses Werks in dem Maße annehmen, in dem er an seiner Errichtung teilnimmt.
Der Glauben offenbart Schönheit und überwältigt die Vorstellungskraft mit seiner Reichweite, die den ganzen Planeten und alle seine Völker umfaßt. Das Hauptziel aller Bahá’í-Aktivitäten ist die Förderung von Einheit, und diese Einheit wird ermöglicht durch das Element Licht, d.h. durch die Erleuchtung göttlich-inspirierter Lehren. Man könnte jetzt meinen, Einheit und Harmonie müßten nicht geschaffen werden, da sie als Wirklichkeit in der Schöpfung existieren. Es gibt jedoch viele Wirklichkeiten in der Schöpfung, die der Mensch nicht sieht und die er daher in der Gesellschaft noch nicht verwirklicht hat. Die Bahá’í-Religion wird das Wesen des Menschen durch das Licht göttlicher Lehren erhellen.
▪ Der Teil und das Ganze
Wenn wir verstehen, daß jeder Mensch die gesamte Schöpfung widerspiegelt, während er gleichzeitig nur ein Teil der Schöpfung ist, dann erkennen wir Vielfalt als ein Mittel zur Einheit an. Die Gesellschaft muß lernen, wie man diese Vielfalt nutzen kann. Ohne einen umfassenden Plan zur Umsetzung dieser Mannigfaltigkeit führt sie eher zu Trennung, Streit und Konflikt, als daß sie Einheit fördert. Die Menschenherzen werden verbunden werden, wenn wir verstehen, daß es nur eine Quelle des Lichts und der Erleuchtung gibt, die göttliche Quelle. Individualismus wird dann nicht mehr verschwendete Freiheit sein, sondern eher die Freiheit, zu einem bedeutenden Bestandteil einer Gesamtordnung, einer Weltordnung zu werden.
Ein bedeutender Teil eines großen Kunstwerkes zu sein, ist eine tiefgreifende und erfüllende Erfahrung. Ein reicher Teil abgetrennt von der Gesamtkomposition zu sein, wäre, wenn das überhaupt möglich wäre, der Tod des Individualismus. Der Künstler weiß, daß der Teil bereichert wird, wenn die gegenseitige Wechselbeziehung hergestellt wird. Eine Wechselbeziehung bringt die gesamte Konfiguration zustande. Diese Gesamtkonfiguration bereichert, sobald sie entstanden ist, erneut jeden Bestandteil. Ein vereinigtes Ganzes, das sich aus einem Maximum an Vielfalt entwickelt hat, zieht neue Inhalte an, oder anders ausgedrückt: Einheit ist Bestätigung. Jede Stufe der Einheit wird daher bestätigt, während diese Bestätigung gleichzeitig eine Einladung zum Erreichen einer höheren Ebene der Einheit darstellt. Diese Evolutionskraft besteht in der ganzen Schöpfung und in allen Phasen.
Auf der Anerkennung des Bahá’í-Glaubens gründet sich daher die Erkenntnis, daß die vom Menschen in der Vergangenheit erreichten Stufen der Einheit bestätigt wurden und dabei zu größeren Ebenen der Einheit einluden. Daher wurden die Einheit der Familie, die Einheit des Stammes und die der Stadtstaaten bestätigt durch ihren jeweiligen Beitrag zur Zivilisation und waren gleichzeitig Schritte hin zur Einheit eines Landes oder einer Nation. Das Phänomen der nationalen Einheit wurde durch beispiellose Beiträge zur Zivilisation bekräftigt; aber noch nie zuvor war der Appell zu einem größeren Ausmaß an Einheit stärker als heute. Die große Bestätigung führte zu einer großen Einladung. Die Nationen sind nun dazu aufgerufen, Teile einer Weltordnung zu werden. Wie in einem Kunstwerk kann der isolierte Teil keine wahre Größe erlangen; je länger sich also die Nationen gegen Welteinheit sträuben, desto unmöglicher wird es sein, eine neue nationale Identität zu erlangen.
[Seite 13]
»In jedem Zeitalter und Zyklus hat Er durch das strahlende Licht, das die
Manifestationen Seines wundersamen Wesens verbreiten, alle Dinge neu geschaffen,
damit nichts, was in den Himmeln und auf Erden die Zeichen Seiner Herrlichkeit
widerspiegelt, der Ströme Seiner Barmherzigkeit beraubt sei, noch ohne
Hoffnung auf die Schauer Seiner Gunst bleibe.«4)
▪ Energie und Kraft
Das Verhältnis zwischen einem Teil und dem Ganzem in einer Komposition erhält eine neue Bedeutung, wenn wir die Funktion der Energie oder die Anwendung von Kraft einbeziehen. Selbstverständlich wird Energie zerstreut, wenn sie nicht gebunden wird. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit überallhin wenden, haben wir sie tatsächlich nirgendwo hingewandt. Diese Erkenntnis hilft uns zu verstehen, warum Buddha, Moses, Christus und heute Bahá’u’lláh als Offenbarer Gottes benötigt werden. Sie offenbaren als Zentren geistiger Autorität die Macht und Eigenschaften Gottes. Gott ist überall, und die Menschheit schwebt in Gefahr, in ihrer Beziehung zu Gott nirgends zu sein, wenn sie nicht ihre Aufmerksamkeit einer einzigen Manifestation Gottes zuwendet. Diese Kraft Gottes fließt von Zeitalter zu Zeitalter, von Offenbarer zu Offenbarer. Darin besteht fortschreitende Gottesoffenbarung.
»Als Zeichen Seiner Barmherzigkeit und als Beweis Seiner Gnade hat Er jedoch den Menschen die Sonnen Seiner göttlichen Führung, die Sinnbilder Seiner göttlichen Einheit offenbart und hat verfügt, daß die Erkenntnis dieser geheiligten Wesen mit der Erkenntnis Seines eigenen Selbstes gleichbedeutend sei. Wer sie erkennt, hat Gott erkannt.«5)
In der Kunst werden Kraft oder Energie benutzt, um die Lebendigkeit der ganzen Komposition zu erhalten. Die Einbindung von Energie in ein Kunstwerk ist entscheidend für dessen Lebendigkeit und seine Existenz im Raum. Diese Lebendigkeit entsteht dadurch, daß die Begrenzungen oder Grenzen des Werkes anerkannt werden und die gesamte Energie in ihm erscheint. Das Fließen der Energie durch alle Teile des Werkes sorgt für den Ausgleich der Kräfte. Dieser Ausgleich führt zu einem Gleichgewicht zwischen Ruhe und Bewegung. Der Raum zwischen Statik und Dynamik befindet sich im Zustand der Ruhe. In einem großen Kunstwerk zeigt sich deutlich ein Ausdruck des Friedens, und dieser wird als zeitloses Element beschrieben. Dieser anziehende Zustand wird geschaffen durch das Fließen von Energie, die gleichzeitig im Ganzen enthalten bleibt. Das Ganze behält diese Kraft inne, weil alle Bestandteile den Übergang der Energie von einem Punkt zum anderen erlauben. Wenn ein Punkt, nachdem er die Energie erhalten hat, versucht, diese für sich zu behalten, wird aus diesem Punkt der Harmonie ein Ort der Aggression. Wenn viele Teile versuchen, Energie für sich zu vereinnahmen, kann die Energie nicht mehr zielgerichtet fließen, und das führt zu Fragmentierung. Die für die Einheit der Schöpfung benötigte Kraft wird so zur Energie der Zwietracht. Daraus folgt eher Zerstörung als Aufbau. Wenn die Nationen die Anwendung von Energie verstehen könnten, wären statische und dynamische Kräfte im Gleichgewicht, und Frieden wäre das Ergebnis.
Ich habe versucht, die Bewegung von Energie zu beschreiben, sobald sie eine Komposition durchdringt. Ich deutete auch meinen festen Glauben an, daß die Quelle aller Energie Gott ist und daß diese Kraft von Zeitalter zu Zeitalter in den Gottesoffenbarern konzentriert ist und so immer wieder die Menschheit erreicht. Die Annahme dieses Geschenks erfordert unsere Offenheit. Das Menschenreich besitzt im Unterschied zu den niedrigeren Reichen der Schöpfung freien Willen und kann daher dieses Geschenk ablehnen. Energie abzulehnen oder zu versäumen, sie für das Wohlergehen der Gesamtheit einzusetzen, bedeutet, das einzige Mittel zur Verwandlung abzulehnen. Wie kann man für Energie offen sein?
Der künstlerische Prozeß hängt, wie der des organischen Wachstums, von
Empfänglichkeit für Energie ab. Pflanzen sind so aufgebaut, daß sie von Dingen
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profitieren, die außerhalb ihrer eigenen Zusammensetzung liegen. Feuchtigkeit
dringt in die Pflanze ein und wird Teil des Systems. Licht ist ein Hauptfaktor, da es
grundlegende Veränderungen in der Pflanze bewirkt. Bei der Suche nach Schönheit
benötigt man eine ähnliche Aufnahmebereitschaft. Der Künstler beschreibt,
formt und setzt die Komposition zusammen, aber andere Aspekte des Werkes
werden angedeutet oder sind dazu bestimmt, Kraft von außen anzuziehen. In
jeglicher Lyrik oder in jeder Form der Kommunikation besteht Raum zwischen
dem, was geschaffen, und dem, was angezogen wird. In allen Dingen, die die
Schönheit betreffen, erscheinen das Konkrete und das Zweideutige gleichzeitig in
Zeit und Raum. Wenn die Struktur zu sehr abgeschlossen ist, gibt es keine
Aufnahmefähigkeit für Kräfte von außen. Die Komposition wird starr, eingewachsen
und unfähig, verwandelnde Einflüsse anzuziehen.
»Religion ist der Ausdruck der göttlichen Wirklichkeit. Deshalb muß sie lebendig, kraftvoll, beweglich sein und sich entwickeln. Ermangelt ihr Bewegung und Fortschritt, so ist sie ohne das göttliche Leben; sie ist tot. Die göttlichen Gesetze sind beständig wirksam und in der Entwicklung begriffen; deshalb muß ihre Offenbarung fortschreitend und kontinuierlich sein. Alles ist der Erneuerung unterworfen. Wir stehen in einem Jahrhundert des Lebens und der Neugestaltung. Wissenschaft und Kunst, Industrie und Erfindungsgeist wurden neu gestaltet, Gesetz und Ethik wurden wieder eingesetzt, neu organisiert. Die Welt des Denkens wurde neu belebt.« 6)
Im Bahá’í-Glauben findet sich ein großes Mysterium in der Vielfalt angedeuteter, aber verborgener Bedeutungen. Ein tiefgreifendes Mysterium liegt vor, weil eine tiefgreifende Struktur oder Komposition dazu einlädt. Die globale Verwaltungsordnung Bahá’u’lláhs ist eine große Komposition von unvorstellbarer Schönheit. Schönheit bedeutet göttliche Botschaft, angezogen durch die Einheit von Gegensätzen. Größtmögliche Einheit entsteht aus größtmöglicher Vielfalt.
▪ Gleichgewicht der Gegensätze
Beim künstlerischen Schaffen ist dieses Thema der Gegensätze oder Polaritäten von hervorragender Bedeutung. Der Künstler benutzt Kontraste: einerseits Licht und andererseits Schatten, harte und weiche Kanten, Statik und Dynamik. Der Inhalt des Werkes drückt sich nicht durch den einen oder anderen Pol aus, sondern er entsteht aus dem Zusammenspiel der beiden. Wie in der Musik liegt die Botschaft nicht im Klang oder der Stille, sondern in dem Raum, der beide umfaßt. Genauso ist im Tanz nicht Bewegung oder Ruhe Trägerin der Botschaft, sondern der Raum, der sowohl Ruhe als auch Bewegung beinhaltet.
Die Struktur und der Aufbau der Verwaltungsordnung sind sehr präzise. Sie zeigen konkrete Formen in ihrer höchsten Entwicklungsstufe, aber ihre kompositionelle Ordnung ist wie bei allen Kunstwerken offen und empfänglich. Sie ist offen, weil ihre Komposition trotz ihrer Struktur frei von rigiden Dogmen, Theologien, geschlossenen Formen und Vorhersagbarem ist. Die Entwicklung des Bahá’í-Glaubens verläuft durch ständigen Wandel, während die Komposition ihre grundlegenden Gesetze, Prinzipien und Einrichtungen beibehält. Die genaue Anwendung der Prinzipien und Gesetze schafft eine neue Offenheit und wahre Freiheit. Der einzelne, der sich glücklich schätzen kann, diese im täglichen Leben anwenden zu können, stellt fest, daß er die Freiheit hat, wahre Individualität zu erforschen. Die Weltordnung Bahá’u’lláhs, vollkommen und vollständig in ihrer Struktur, nimmt alle Fähigkeiten, die von ihr angezogen werden, in sich auf, und kann Vielfalt wegen der tiefgreifenden Wesensart ihrer Komposition am besten nutzen. Im Laufe der Zeit wird sie zweifellos alle Kräfte des Fortschritts anziehen und nutzen. Der Bahá’í-Glaube birgt daher in sich ein Höchstmaß an potentieller Schönheit, deren Wesensart der Mensch nie zuvor erlebt hat.
»Die Welt ist aus dem Gleichgewicht geraten durch die Schwungkraft dieser
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größten, dieser neuen Weltordnung. Das geregelte Leben der Menschheit ist
aufgewühlt durch das Wirken dieses einzigartigen, dieses wundersamen Systems,
desgleichen kein sterbliches Auge je gesehen hat.«7)
Die Ordnung, die die Bahá’í-Religion errichten will, ist absolut in ihrer praktischen Beschaffenheit und absolut in ihrer Schönheit. Sie leitet das Leben der Gesellschaft und des einzelnen an, ein Kunstwerk zu werden. Eine Weltkomposition zu werden, die göttliche Inhalte anzieht, ist das ihr von Gott verordnete Schicksal. Es ist verständlich, daß die Zentralgestalten des Glaubens als "göttliche Baumeister’ einer Weltzivilisation bezeichnet werden, während Bahá’u’lláh ’Gesegnete Schönheit’ genannt wird.
▪ Gestaltung und Beweglichkeit
In der Kunst sieht sich der junge Künstler oft nicht in der Lage, sich einem Schöpfungsakt hinzugeben, der das Kunstwerk und den Künstler verwandeln kann. Wir fürchten, daß wir durch die Hingabe an eine evolutionäre Entwicklung unsere Identität, unsere Individualität verlieren könnten. Aber das Gegenteil trifft zu. Wenn wir unsere direkten Vorlieben und Abneigungen einer Ordnung opfern, die großartiger ist als wir selbst, werden wir erstaunt sein, in uns eine derart tiefe Individualität zu finden, auf die wir nicht zu hoffen gewagt hatten. Wenn wir jung sind, sind wir zu bewußt und uns noch nicht des Unbewußten bewußt, d.h. wir sind uns noch nicht des göttlichen Mysteriums bewußt. Später lernen wir, daß wir durch Hingabe unseres Selbstes an etwas Erhabeneres und durch die gleichzeitige Anwendung universeller Prinzipien und Elemente unsere wahre Individualität erlangen. Unsere Botschaft wird ein Nebenprodukt unserer Bewegung innerhalb einer höheren Ordnung. Wie die Künstler entdecken wir unser Innerstes durch das Praktizieren göttlicher Elemente und Prinzipien. Wir werden auf unsere eigene und einzigartige Weise Offenbarungen dieser Prinzipien, wenn wir sie anwenden und uns mit ihnen fortbewegen.
Durch die Offenbarung Bahá’u’lláhs ist es nun möglich geworden, die auf diesem Planeten existierende Mannigfaltigkeit zu einer globalen Komposition zu verschmelzen. Die Offenbarung beinhaltet eine neue Verwaltungsordnung mit neuen Institutionen und einem Bund, der das Fließen von Energie und Kraft beinhaltet. Ich sprach vom Licht als dem einzigen Hauptelement der Kunst und von Einheit als dem einzigen Hauptprinzip. Licht erleuchtet die Vielfalt; diese Vielfalt erlangt Einheit durch eine Ordnung, deren Lebenskraft durch das Fließen von Energie erhalten wird.
Gottes Ziel bei der Komposition dieses Planeten ist Einheit, die Verbindung aller Menschenherzen in einem Herzen, in einem herrlichen Lobpreis ihres Schöpfers. Dieser herrliche Lobpreis, dessen Echo aus jedem Winkel der Erde erklingen wird, wird die Verwaltungsordnung mit Energie erfüllen und wird das lange verheißene Königreich Gottes auf Erden herbeiführen. Ein solches Reich wird eine Zivilisation hervorbringen, die für uns in unserer heutigen Entwicklungsphase unvorstellbar ist, da sie auf einer anderen Art von Einheit basiert, die aus der Zielsetzung Gottes für die Menschheit stammt. Dieses Prinzip zeigte sich in der Tat bereits in einfacheren und weniger abstrakten Formen in der früheren Menschheitsgeschichte.
Die erste Offenbarung Gottes an die Menschheit war die Naturwelt. Der
Mensch war in der Natur, ein Teil der Natur und ihr Beobachter. Daher konnte er
in einem rudimentären Sinne alle Prinzipien erlernen, die ihre Entsprechungen in
der göttlichen Welt haben. Diese Entwicklung setzte sich fort, und diese Erziehung
schritt voran bis zum heutigen Zeitpunkt in der Geschichte, an dem es möglich und
notwendig ist, diese beiden parallelen Linien — das materielle Dasein und die
göttliche Wirklichkeit — in engere Harmonie zu bringen. Diese beiden Linien können
zu einer Linie werden, zu einer Weltordnung, die das Wesen des Reiches Gottes
beinhaltet und die Eigenschaften Gottes überallhin reflektiert. Dies ist das Licht
der Göttlichen Welt. Dies ist Erleuchtung, vergleichbar mit der Art von Licht, die in
Kunstwerken die divergierenden und
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unterschiedlichen Eigenschaften der einzelnen Bestandteile erleuchtet und gleichzeitig
die Einheit ihrer Gesamtsicht herstellt. Wenn wir in dieses Licht treten, darin
stehen, es aufsaugen, werden wir dazu befähigt, den Reichtum, die Komplexität
und Feinheit unseres eigenen Wesens zu begreifen.
Ich habe zu erklären versucht, daß die Vielfalt der Elemente in der Kunst und im Leben durch Licht erleuchtet wird und daß das Ziel der Kunst Einheit ist, die göttliche Inhalte anzieht. Daher könnte man sagen, daß Kunst dasselbe Ziel hat wie die Offenbarung Bahá’u’lláhs: Einheit.
Für den einzelnen ist Bewegung möglich, wenn er sein letztendliches Ziel nicht kennt. Um Mobilität zu entwickeln, braucht man Glauben. Was die Kunst betrifft, muß man an die Kunst als Disziplin glauben. Im Bahá’í-Glauben wird Mobilität geschaffen, da der einzelne an die von Bahá’u’lláh skizzierte Komposition glaubt. Daher kann der Gläubige innerhalb der neuen Verwaltungsordnung handeln, auch wenn er das Endergebnis in seiner Gesamtheit nicht völlig begreifen kann. Die Zivilisation, die mit der Errichtung des Reiches Gottes auf Erden entstehen wird, ist für uns unvorstellbar, und dennoch müssen wir handeln und uns bewegen, als ob wir zu jedem Zeitpunkt genau wüßten, was wir tun. Der Künstler sieht sich vor derselben Aufgabe; obwohl er die grundlegenden Bestandteile seiner Kunst kennt und etwas über ihre Methoden weiß, kann er dennoch keine Inhalte gestalten, ohne zu handeln. Er kann sich nicht hinsetzen und jede Bewegung im vorhinein entwerfen, die er zwischen dem Beginn des Gemäldes bis zur Vollendung des Werkes vollziehen wird. Er ist dazu aufgerufen, gleichzeitig zu handeln, zu denken, zu erfinden, zu entwerfen - in der Hoffnung, daß ihn dies zum Verstehen führt.
Im Bahá’í-Glauben erkennen wir eine ähnliche Situation, denn im Glauben müssen Verstand und Herz in Harmonie miteinander handeln. Das Herz steht für Beweglichkeit. Wir müssen unserem Verstand voraus, aber dennoch mit ihm handeln. Nur wenn wir uns dem Entwicklungsprozeß des Glaubens anvertrauen und dessen Prinzipien anwenden, können wir diese neue Sprache sprechen und entdecken, wer wir sind und welche Botschaft wir in uns tragen. Wir empfinden Glück, weil wir beobachten, daß unsere Individualität als Ergebnis aktiver Teilnahme an einer Ordnung entsteht, die großartiger ist, als wir es uns je vorstellen konnten. Das ist meines Erachtens das Hauptmittel, durch dessen Hilfe ein Individuum zum Künstler werden kann, und auch das Hauptmittel, durch das ein einzelner Bahá’í wird.
- 1) Bahá’u’lláh, Die Sieben Täler und Die Vier Täler, Bahá’í-Verlag, 3. Aufl. 1971, S. 51.
- 2) 'Abdu'l-Bahá, Ansprachen in Paris, Bahá’í-Verlag, 6. Aufl. 1973, S.74-75
- 3) Bahá’u’lláh, Die Sieben Täler und Die Vier Täler, S. 54-55.
- 4) Bahá’u’lláh, Ährenlese, Bahá’í-Verlag 1980, 3. rev. Aufl., Kap. 26:3
- 5) Bahá’u’lláh, Ährenlese 21
- 6) 'Abdu’l-Bahá, Promulgation of Universal Peace, S. 140
- 7) Bahá’u’lláh, Ährenlese 70:1
Otto Donald Rogers wurde 1935 in Kerrobert, Saskatchewan (Kanada) geboren und studierte an der Universität von Wisconsin. Er lehrte ab 1959 als Dozent und von 1975 bis 1988 als Professor für Kunst an der Universität von Saskatchewan und ist Mitglied der Königlichen Kanadischen Akademie der Künste. Seine Werke wurden in zahlreichen Einzelausstellungen gezeigt und sind in über 100 Privatsammlungen und der Öffentlichkeit zugänglichen Sammlungen, so auch im Museum der Feinen Künste in Boston, Massachusetts (USA) vertreten. Seit 1988 ist er im Bahá’í-Weltzentrum in Haifa, Israel, tätig. 1992 produzierte ein kanadisches Filmteam einen Dokumentarfilm über Don Rogers mit dem Titel „Approach to a Sacred Place” („Annäherung an eine heilige Stätte”). Im Laufe seiner zahlreichen Auslandsreisen gibt Donald Rogers Gastvorträge an Universitäten und Kunstakademien und trifft mit einheimischen Künstlern zusammen, so z.B. im vergangenen Herbst in Moskau und St. Petersburg.
- Nassim Berdjis
John Birks »Dizzy« Gillespie[Bearbeiten]
Ein Musiker, seine Trompete, seine Weltsicht
In aller Welt trauern Bahá’í-Gemeinden und Jazzfans um Dizzy Gillespie. Als einer der größten Innovatoren der Jazzmusik anerkannt und geschätzt, war Dizzy Gillespie im wahrsten Sinne des Wortes ein Weltbürger. Durch seine Musik und sein Auftreten in der Öffentlichkeit bemühte er sich um Frieden und Harmonie und sprach damit Menschen jeglicher Rassen und Religionen an. Auf seinen Tourneen nahm er sich immer Zeit, auch die Bahá’í-Gemeinden zu besuchen und z.B. bei Benefiz-Veranstaltungen aufzutreten. Wie in der letzten Ausgabe der Bahá’í-Briefe berichtet wurde, wurde beim zweiten Bahá’í-Weltkongreß in New York im November 1992 ihm zu Ehren ein Konzert in der Carnegie Hall veranstaltet, an dem er bereits aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr teilnehmen konnte. Er verstarb nach langer Krankheit am 6. Januar 1993 in Englewood, New Jersey.
Dizzy Gillespie wurde am 21. Oktober 1917 als das jüngste von neun Kindern in
Cheraw, South Carolina, geboren. Sein Vater, der als Maurer und am Wochenende
als Bandleader arbeitete, starb, als Dizzy 10 Jahre alt war. Bereits als
Vierjähriger machte Dizzy die ersten Versuche auf dem Klavier und begann im Alter
von 12 Jahren, Trompete und Posaune zu lernen. 1935 nahm seine Profi-Karriere bei
Frankie Fairfax in Philadelphia ihren Anfang. Vier Jahre später wurde er von Cab
Callowayund daraufhin von Lionel Hampton engagiert. Während einer Tournee traf Dizzy
Gillespie 1940 den Saxophonisten Charlie »Bird« Parker. Aus dieser Zusammenarbeit
entstand der Be-bop, und die beiden Musiker gehören damit zu den Begründern des
Modern Jazz. Der Be-bop entwickelte eine neue Sprache innerhalb des Jazz, indem er
z.B. afrikanische Rhythmen mit der Melodieführung und der Harmonielehre europäischer
Musik verband. Diese neue Jazz-Richtung eroberte in den vierziger und fünfziger
Jahren die Jazzwelt; bereits 1945 kam es zu ersten Plattenaufnahmen mit
Dizzy Gillespie als Bandleader, und 1948 eröffnete er in Paris mit dem
Dizzy Gillespie Orchestra seine erste große Europatournee.
Doch die musikalische Entwicklung endete keineswegs mit dem Be-bop. Ab den späten vierziger Jahren führte Gillespie auch südamerikanische Elemente in den Jazz ein. Als erster amerikanischer Musiker nahm er 1962 eine Platte mit Bossa Nova auf. In seiner Autobiographie To Be or Not...to Bop schreibt er: »Brasilien hat den Horizont meines Musikverständnisses wirklich erweitert. Es zeigte mir die Einheit der Musik und wie man Musik verschiedener ethnischer Herkunft in eine völlige Einheit verschmelzen kann, ohne daß die einzelnen Bestandteile ihre besonderen Eigenheiten verlieren und die Mannigfaltigkeit verloren geht. Es lehrte mich die Einheit in der Vielfalt in der Musik — ein Grundsatz, den mich der Bahá’í-Glauben für das Leben lehrte. In der Bahá’í-Religion glauben wir nicht daran, uns von irgendetwas Gutem loszusagen. Uns von unserem Kulturerbe lossagen? Nein! Die Bahá’í glauben, daß man es einbringt, wenn und indem man mit anderen zusammenarbeitet.«1)
Dizzy gehörte zu den ersten Bandleadern von Orchestern, in denen schwarze und weiße Musiker zusammen spielten, obwohl bis in die sechziger Jahre hinein der Großteil solcher Bands noch nach Rassen getrennt war. Sein Engagement in dieser Richtung war wahrscheinlich ein Grund dafür, daß er 1956 als musikalischer Botschafter des US-Außenministeriums auf Tournee durch Afrika, den Nahen Osten, Asien, Osteuropa und Südamerika geschickt wurde. Seine Verdienste um den Jazz wurden auch in anderer Form vielfach gewürdigt. 1972 erhielt er die Händel-Medaille der Stadt New York und im selben Jahr den Paul Robeson Award. Vier Jahre später wurde er beratendes Mitglied der Nationalen Stiftung der Künste in den Vereinigten Staaten. Er erhielt insgesamt 14 Ehren-Doktorwürden und wurde zum Professor an der University of California ernannt. In jüngerer Zeit wurde ihm 1989 vom damaligen US-Präsidenten George Bush der Kennedy-Kulturpreis verliehen. Auch in Europa und Afrika wurde er geehrt, so z.B. 1989 mit der höchsten französischen Auszeichnung im Bereich der Künste (Commandeur dans l’Ordre des Arts et des Lettres) und in Nigeria mit dem Titel des »Baashere of Iperu«, womit er zum Ehrenhäuptling wurde.
Seine Tourneen umspannten den ganzen Erdball — so gab er allein im Jahr 1989 über 300 Konzerte in 27 Ländern auf allen Kontinenten. Die Öffnung zwischen Ost und West veranlaßte ihn zu zahlreichen Benefiz-Konzerten, wie z.B. am 9. Mai 1990 im Palast der Republik in Berlin im Rahmen des Projekts »Eine Welt für alle«, im Hotel Rossija in Moskau am 10. Mai 1990 und im Kulturpalast von Prag am 11. Mai 1990. Sein Bemühen um das gute Zusammenleben der Menschen in den USA drückte Dizzy im Jahr 1964 auch dadurch aus, daß er sich um die Kandidatur als US-Präsident bewarb. Nicht zuletzt durch den Bahá’í-Glauben sah er seine Aufgabe später weit über nationale Grenzen hinaus und stellte in seiner Autobiographie fest: »Mich um die Präsidentschaft einer Weltregierung zu bewerben, käme meinen Interessen näher.«2)
Im Jahr 1968 lernte Dizzy Gillespie die Bahá’í-Religion kennen und wurde
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noch im selben Jahr Mitglied der weltweiten Bahá’í-Gemeinde. Dazu formulierte er:
»Bahá’í zu werden, hat mein Leben in jeder Hinsicht verändert und hat mir eine neue Vorstellung von der Beziehung zwischen Gott und Mensch, zwischen Mensch und Mensch und zwischen dem einzelnen und seiner Familie gegeben. Es umfaßt einfach alles. Ich wurde mir geistiger Dinge bewußter, und wenn man mit dem Geistigen bewußt umgeht, spiegelt sich das in Taten wider. Der Bahá’í-Glauben lehrt — ohne Passivität zu predigen — daß man sein Leben mit sinnvollen Tätigkeiten füllen soll, und alle anderen Dinge, die eben nutzlos sind, werden von selbst verschwinden. Ich muß nie sagen: ‘Ich werde das nicht mehr tun.’ Ich habe herausgefunden, daß einfach keine Zeit mehr für diese Dinge blieb. Ich begann zu beten und auch viel zu lesen. Die Schriften vermittelten mir neue Erkenntnisse über den Plan — den göttlichen Plan für diese Zeit — , über die Wahrheit der Einheit Gottes, die Wahrheit der Einheit der Propheten, die Wahrheit der Einheit der Menschheit ...
- Dizzy Gillespie mit Willy Brandt
Es gibt eine Parallele zwischen Jazz und Religion. Im Jazz stößt ein Bote auf die
Musik und übt bis zu einem gewissen Punkt Einfluß aus, und dann kommt ein anderer
und führt uns einen Schritt weiter. Bei der Religion im geistigen Sinne sucht Gott
bestimmte Einzelpersonen dieser Welt aus, damit sie die Menschheit bis zu einem
bestimmten Punkt geistiger Entwicklung bringen. Das bedeutet, daß das Judentum,
das Christentum, der Islam, der Buddhismus und alle Weltreligionen ein und dieselbe
sind. Die geistigen Gesetze bleiben ganz genauso bestehen... Aber die zur jeweiligen
Religion gehörende gesellschaftliche Ordnung ändert sich mit dem Kommen eines
Propheten. Die Offenbarer sind die einzigen, die das tun können. ...
Als ich mit dem Bahá’í-Glauben in Berührung kam, stellte ich fest, daß er mit
allem übereinstimmte, woran ich die ganze Zeit geglaubt hatte. Ich glaubte an die
Einheit der Menschheit. Ich glaubte daran, daß wir alle aus derselben Quelle kommen, daß
keine Rasse von der Anlage her einer anderen überlegen ist. Und die Bahá’í-Religion
lehrt die Einheit — das zog mich an. Ich glaube, daß es einen Gott gibt und daß Er
Sich der Menschheit durch bedeutende Lehrer für bestimmte Zeitspannen innerhalb unserer
geistigen Entwicklung offenbart, daß Er sie von Zeit zu Zeit zu uns schickt. Das ist wie
bei einem Staffelläufer, der den Stab in der Hand hält. Man könnte das Wort Gottes
oder den Heiligen Geist mit dem Stab vergleichen. Der Läufer ergreift den Stab und
rennt und rennt und rennt; und während er rennt, passiert sozusagen
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die Offenbarung. Wenn er am Ende seines Streckenabschnitts angekommen ist,
gibt er an den nächsten Läufer weiter, der dann damit weiterläuft — und das ist dann
die nächste Religion. Genauso ist es mit der Religion; nur läuft jeweils ein
anderer Läufer mit dem Stab in der Hand. Er gibt ihn an den nächsten Läufer weiter
und wiederum an den nächsten, bis dann Frieden und Einheit der Menschen auf Erden
herrschen, wie auch im Himmel.«3)
Die Wertschätzung und Zuneigung der Jazz-Welt und der Bahá’í-Gemeinde zeigte sich auch deutlich bei den Beerdigungs- und Gedenkfeierlichkeiten für den großen Jazzmusiker. Am 9. Januar versammelten sich etwa 250 Familienmitglieder und Freunde in der St. Peter’s Lutheran Church in Manhattan zur Beisetzung Dizzy Gillespies. Diese Kirche gilt als »Jazzkirche« New Yorks, da viele berühmte Jazzmusiker an den dortigen Gottesdiensten teilnehmen. Unter den Gästen, die bei der Beisetzung Dizzy Gillespie ihre Hochachtung darboten, waren Tony Bennett, Paquito D’ Rivery, Slide Hampton, Jimmy Heath, Milt Jackson, Hank Jones, Mike Longo, Wynton Marsalis, James Moody, George Shearing, Clark Terry, Steve Tory und Paul West.
Da unter Jazz-Musikern und -Kennern Dizzys Zugehörigkeit zum Bahá’í-Glauben gut bekannt war, lud der Pfarrer der St. Peter’s Lutheran Church die Bahá’í zur Teilnahme an der Gestaltung der Messe ein. Es wurde ein Bahá’í-Gebet für die Verstorbenen gelesen, und Techeste Ahderom, ein Vertreter der Internationalen Bahá’í-Gemeinde — der Bahá’í-Vertretung bei den Vereinten Nationen — hielt eine kurze Ansprache, in der er auf das Konzert in der Carnegie-Hall im Rahmen des Weltkongresses hinwies, aus einem an die Trauergäste gerichteten Brief des Nationalen Geistigen Rates der Bahá’í in den Vereinigten Staaten zitierte und eine Botschaft des Universalen Hauses der Gerechtigkeit verlas. Andere Redner, darunter der Pfarrer, verwiesen in ihren Ansprachen ebenfalls auf den Bahá’í-Glauben. Am Grab sprachen der Pfarrer und eine Bahá’í-Vertreterin je ein Gebet. Die Bahá’í verblieben länger am Grab, um auch das Totengebet zu sprechen, das Bahá’u’lláh für Beisetzungen offenbarte.
Am 12. Januar folgte in der Cathedral of St. John the Divine in Harlem eine öffentliche Gedenkmesse, an der 9.000 Menschen teilnahmen. Wynton Marsalis leitete eine Gruppe weltbekannter Jazz-Musiker bei einer speziellen Trauermusik im Stile des New Orleans Jazz. An der langen Prozession nahmen auch David Dinkins, der Bürgermeister der Stadt New York, und Judge James Nelson, ein Mitglied des Nationalen Geistigen Rates der Bahá’í in den Vereinigten Staaten, teil. Es folgten erneut Ansprachen und musikalische Darbietungen zu Ehren Dizzy Gillespies.
Die Hingabe Dizzy Gillespies an Ideen, die zu Frieden und Wohlfahrt der Menschen in aller Welt führen sollen, machten ihn für viele zum Vorbild als Mensch und als Musiker, der seiner Kunst eine geistige Dimension verlieh. In einem Interview im deutschen Fernsehen wurde ein Saxophonist, der im April und Mai auf Deutschland-Tournee war, nach seiner Weltanschauung gefragt, und er verwies in seiner Antwort auf Dizzy Gillespie, denn seines Erachtens nach bräuchte die Welt einen Weltpräsidenten wie Dizzy, da er die ganze Menschheit liebte und gegen niemanden Vorurteile hatte. Vielleicht hat dieser Musiker die Autobiographie von Dizzy Gillespie gelesen, in der es heißt:
»So möchte ich in der Erinnerung weiterleben: als Humanist, denn es muß außer meiner Musik noch etwas gegeben haben, was mich hierbehalten hat, während alle meine Kollegen gestorben sind. Mein Haupteinfluß auf das, was wir als Geschichtsschreibung haben werden, muß etwas anderes sein, denn Gott hat mich so lange hier bleiben lassen, und die meisten meiner Zeitgenossen — Charlie Parker, Clifford Brown, Lester Young, Bud Powell, Oscar Pettiford, Charlie Christian, Fats Navarro, Tadd Dameron — sind fort. Die meisten von ihnen sind dort oben. So ist vielleicht meine Rolle in der Musik nur das Sprungbrett für eine größere Rolle. Die höchste Rolle ist die des Dienstes an der Menschheit, und wenn ich das schaffe, bin ich glücklich. Wenn ich zum letzten Mal atme, wird es ein glücklicher Atemzug sein.«4)
- 1) Dizzy Gillespie with Al Fraser: To BE or not ... to BOP: Memoirs, New York, Da Capo, 1985, S. 430
- 2) a.a.O., S. 461
- 3) a.a.O., S. 474f
- 4) a.a.O., S. 502
Essay von Peter Spiegel
UmWeltBewußtSein in der Sackgasse[Bearbeiten]
Vom ökologischen zum globologischen Denken
»Mehr Umweltbewußtsein!« Das ist seit Jahren die Forderung aller Forderungen, die in Richtung auf ein umweltgerechtes Leben der Menschen auf diesem Planeten zielen. Von »mehr Umweltbewußtsein« — bei den Politikern, bei den Konsumenten, bei der Wirtschaft - erwarten sich noch immer viele Menschen eine magische Lösungskraft. Warum aber wuchert das Krebsgeschwür namens Zerstörung der planetaren Lebensgrundlagen munter weiter und metastiert und metastiert und metastiert — scheinbar weitestgehend unbeeindruckt von der jeweils präferierten Therapieform, ob Chemo oder sanft? Haben wir bisher auf der falschen Ebene gedacht und gehandelt?
Fest steht: Wir haben die Marke längst passiert, wo — nüchtern betrachtet — »mehr
Umweltbewußtsein« noch irgendwelche Hoffnung erlauben würde. Ganz im Gegenteil:
In der heutigen Lage lähmt »mehr Umweltbewußtsein« bereits mehr als es hilft,
und zwar aus drei Gründen:
1. Der kleinen, verantwortlich denkenden und persönlich engagierten Minderheit, die wirklich glaubwürdig sich etwas aus dem Schicksal der Umwelt macht, droht inzwischen der Motivationskollaps durch Überinformation. Denn je mehr man über die (Um-)Weltlage weiß, desto unrettbarer muß sie einem erscheinen. Wenn selbst die gigantischste globale Kommunikationsanstrengung auf dem Gebiet der Umwelterhaltung, die Welt-Umwelt-Konferenz vom Juni 1992 in Rio, so wenig bewegt, daß die Welt eine Woche danach kein Wort mehr darüber verliert - wo soll da noch Hoffnung blühen auf wachsende Wirkung durch wachsendes Umweltbewußtsein? Die Umweltbewegung steckt tief in einer Sinnkrise und der innere Kampf der bisher Engagierten zwischen Resignation und Durchhaltewillen dezimiert täglich die einst so hoffnungsvoll große und breite Umweltfront.
2. Die große (Konsumenten-)Mehrheit hat sich ohnehin vom Thema Umwelt bereits wieder ab- und wichtigeren Fragen zugewandt: der Existenzsicherung in den eher unteren, der Wohlstandssicherung in den eher oberen Gesellschaftsschichten. »Umweltsicherung« fiel in nur einem Jahr in der Hitparade der Wohlstandssorgen aus unterschiedlichen Gründen von Platz 1 auf Platz 5 bis 10 zurück:
- Für die wohlständigen und an unstillbarem Konsumhunger Leidenden verlieren »Umweltprobleme« derzeit rapide ihren Reiz: Echtes Umweltengagement ist einfach zu anstrengend, und der täglichen Umweltzerstörungsmeldungen muß man ja mit der Zeit überdrüssig werden. Was an »Umweltbewußtsein« übrig blieb, ist der Konsum umweltheuchelnder Werbung (das neue Auto mit 10% weniger Schadstoffausstoß, aber selbstverständlich doppelter PS-Zahl).
- Für das inzwischen etwa 2-Milliarden-Heer armer und ärmster Menschen (auch im reichen Norden werden es wieder mehr) erscheint „mehr Umweltbewußtsein« schlicht als Bedrohung
- und letztlich gar tödlicher Angriff auf ihre Existenzgrundlagen. Warum lassen wir diesen inzwischen zum wichtigsten und gefährlichsten Ursachenfaktor der globalen Umweltvernichtung aufgestiegenen Teufelskreis der progressiven Massenverelendung in unseren Diskussionen noch immer weitgehend außer Acht? Wer nichts zu essen und nichts zum Heizen hat, muß auch die letzte Erdkrume auslaugen und den letzten Baumstamm ins Feuer werfen. Umweltschutz durch Überwindung der extremen Kluft zwischen Arm und Superreich ist noch immer nicht auf der Agenda der Weltpolitik.
3. Der wichtigste Grund für die Schädlichkeit von »mehr Umweltbewußtsein« in der
augenblicklichen Lage ist jedoch seine nebelbildende Wirkung gegenüber den Kerndefiziten
dieses Zeitalters, von denen die Umweltzerstörung nur einer der Hauptfolgen ist.
Bahá’u’lláh, der Stifter der Bahá’í-Religion, markiert das Kerndefizit der
Menschheit an ihrem Mangel an Bewußtsein über das Wesen der Einheit. Er schreibt: »So
machtvoll ist das Licht der Einheit, daß es die ganze Erde erleuchten kann... Bemüht
euch, daß ihr diese überragende, diese höchst erhabene Stufe erreicht, die Stufe, welche
der ganzen Menschheit die Gewähr für Schutz und Sicherheit bieten kann. Dieses
Ziel überragt jedes andere Ziel, dieses Streben ist der Fürst allen Strebens.«1)
Bahá’u’lláh spricht dabei nicht nur von der für viele offenbar schwer zu fassenden metaphysischen »Einheit allen Seins«, ohne die Umweltbewußtsein aber immer nur ein Umwegbewußtsein bleiben wird. Er spricht auch die sehr handfeste Ebene der Einheit der Menschheit an, deren konkrete, sinnfällige und glaubwürdige politische, wirtschaftliche und kulturelle Umsetzung.
Die von Politikern und Umweltinitiativen bis heute vorgetragenen Lösungen, um das gigantischste Umweltzerstörungsprogramm der Menschheitsgeschichte doch noch vor dem »point of no retum« zu stoppen, greifen an diesen beiden Angelpunkten jeglicher globaler Zusammenhänge einfach zu kurz und damit ins Leere. Können wir es uns noch immer leisten, uns um eine offene, wirklich rationale Auseinandersetzung über diese Weiterungen unseres Verständnisses übergreifender Zusammenhänge zu winden?
▪ 1. Die Einheit des menschlichen Seins
Rein technische Lösungen der Umweltprobleme — so wichtig und sinnvoll sie im einzelnen sind — greifen grundsätzlich zu kurz, solange immer mehr Menschen an Sinnhunger leiden. Die Entwicklungshilfeexpertin Brigitte Erler sagte einmal, der schlimmste Hunger, den sie auf ihren Reisen kennengelernt habe, sei der Hunger aus unerfülltem Lebenssinn im sogenannten nördlichen Wohlstandsgürtel der Erde, denn dieser habe die letztlich alleszerstörende Eigenschaft, daß er grundsätzlich nicht durch noch so rasantes Wachstum materieller Güter zu stillen ist. Da aber unsere materialistische Gesellschaft an fortschreitender Sinnentleerung leidet, setzte sich ein Teufelskreis in Gang, der sein Heil immer mehr und immer ausschließlicher im Konsum sucht.
Dieser Teufelskreis ist in seinem Kern nichts anderes als die direkte Folge der Abwesenheit des — nennen wir es ruhig »Himmelskreises«. Alle Religionen sehen dieses Leben als Vorbereitung auf ein weiteres, nachfolgendes, transzendentes Leben. 'Abdu'l-Bahá zog den plastischen Vergleich mit dem Embryo im Mutterleib, das Organe entwickelt, die ihre volle Sinnhaftigkeit erst in ihrem Vorbereitungscharakter auf ein transzendentes Leben jenseits des Endes des embryonalen Lebens finden. Auf unser Verhältnis zu unserem transzendenten Weiterleben, zu unserer Einheit mit den geistigen Welten jenseits dieser materiellen übertragen, heißt dies, daß wir Sinn letztlich allein in der Fortentwicklung unserer seelisch-geistigen Fähigkeiten suchen und finden.
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Es bedeutet also ein radikal anderes Verhältnis zu der materiellen Seite dieses
Lebens, wenn man um seine Stellung in einer größeren, dieses Leben transzendierenden
Einheit des menschlichen Seins weiß. Wenn dieses Leben selbst die Erfüllung allen
Lebens sein soll, dann kann man grundsätzlich nie genug davon bekommen. Alles andere
als Konsum wird sinnlos. Aber Konsum ist nicht sinnfüllend, wodurch der Teufelskreis
der »Öko«-kalypse in seinem Wesen beschrieben sein dürfte. Die Öko-Krise ist ihrem
Wesen nach also eine Sinnkrise.
Das hat nichts mit einer asketischen Lebenshaltung zu tun, wie sie einige als Antwort auf die globale Umweltzerstörung fordern. Bahá’u’lláh hat Askese ausdrücklich verworfen, denn was wir brauchen, ist keine neue Materiefeindlichkeit. Ganz im Gegenteil lehrt Bahá’u’lláh die gesamte Schöpfung als unendlich mannigfaltige und lehrreiche »Zeichen Gottes«: »Betrachte die Welt und denke eine Weile darüber nach. Sie entschleiert das Buch ihres eigenen Selbstes vor deinen Augen und offenbart, was die Feder deines Herrn, des Gestalters, des Allwissenden, hineingeschrieben hat. Sie will dich mit allem vertraut machen, was in ihr und auf ihr ist und dir klare Darlegungen geben...2)
In diesem Bewußtsein wandelt sich unser Leben von unstillbarer Konsumgier zu unvorstellbaren geistigen Entdeckungsreisen, weil wir wissen, daß uns die materielle Welt letztlich von den dahinterstehenden geistigen Welten erzählen will. Ökologie ist so nicht länger eine Erfahrung der Konsumbeeinträchtigung, Ökologie wird zur Erfahrung der Logik und Einheit der materiellen und der geistigen Ökosysteme, denn beide unterliegen ganz ähnlichen Gesetzen des Werdens, Wachsens und der Erfüllung. Achtung vor der Würde der Schöpfung und Leben innerhalb ihrer Grenzen und Reorganisationszyklen braucht dann nicht mehr herbeigeredet werden, sondern sie ist die einzige Lebenshaltung, die man als sinnerfüllend empfindet, die einen weiterreisen läßt auf den Bahnen seelisch-geistiger Weiterentwicklung. Das Gleichgewicht der materiellen Welt wird so gleichbedeutend mit dem Gleichgewicht der umgreifenden geistigen Welt. Solange Umweltbewußtsein nicht zu dieser Urbotschaft aller Religionen wiederfindet, wird es sein Ziel nicht erreichen.
▪ 2. Die Einheit der Menschheit
Es muß so deutlich gesagt werden: Der Gedanke der Einheit der Menschheit ist so einfach und in sich so selbstverständlich, daß künftige Generationen mit dem Staunen nicht fertig werden, warum sich unsere Generationen so schwer damit getan haben. Lieber finden wir uns mit der realen Gefahr des Endes der menschlichen Geschichte ab, als daß wir eine im Grunde so primitive Einsicht annehmen, daß die Erde eine Einheit ist, ebenso wie die Menschheit auf ihr.
Umso unverständlicher wird dies, da sich doch heute schon jedes Schulkind über zahlreiche grundlegende globale Zusammenhänge im klaren ist: es gibt nur eine Ozonschicht, nur einen Treibhaus-Effekt, nur einen Artenschwund und nur eine Strahlenverseuchung. Aber viele andere globalen Zusammenhänge verdrängen wir noch, z.B.
- daß die Kluft zwischen arm und reich in der Welt noch immer größer wird und daß dieser von uns maßgeblich mitverursachte Teufelskreis der Massenverelendung inzwischen zur Hauptursache globaler Umweltzerstörung geworden ist (gegen diese Hauptquelle globaler Umweltvernichtung gibt es bis heute noch fast gar keine Aktionen und keine Pläne);
- daß die Erde den verschwenderischen Lebensstil des reichsten Fünftels der Menschheit keine 50 Jahre mehr aushält, daß sich aber das schlechte Vorbild dieser Lebensweise wie ein Lauffeuer über die ganze Erde verbreitet als das Wunschmodell fast aller Menschen (was den Selbstzerstörungsprozeß der Menschheit weiterhin exponentiell anheizt);
- daß der Jahresgewinn der internationalen Drogenmafia im vergangenen Jahr bereits den addierten Jahresgewinn der 100 größten Weltkonzerne übertraf und uns die ungebremste Dynamik dieses Prozesses binnen weniger Jahre in die Hände der skrupellosesten Gangster ausliefert (müssen wir selbst diese Spielart einer Welt(un)ordnung noch durchleben?);
- daß sich (noch kurz hinter dem Horizont) völlig neue Arten von Kriegsgefahren zusammenbrauen — vom Tourismus der Kernwaffenspezialisten zusammenbrechender Weltmächte in die Laboratorien der ambitioniertesten Gewaltherrscher dieser Erde bis zur Gefahr eines Weltbürgerkrieges aller Frustrierten und Fanatiker gegeneinander und gegen den Rest der Menschheit. Weit entfernt, die Diskussion um bessere Müllvermeidungskonzepte oder »grüne Punkte« geringzuachten, so dürfen wir doch nicht auf dieser Ebene mit dem Denken und Handeln aufhören, während gleichzeitig solcherart globale Zusammenhänge alles kaputtmachen. »Global denken - lokal handeln« reicht heute nicht mehr. Das neue Motto muß lauten: »Global und lokal denken lokal und global handeln«. Nur unter dieser Prämisse macht lokales Handeln überhaupt noch Sinn.
Die Probleme, Zusammenhänge und Wechselwirkungen scheren sich schon lange nicht mehr um unsere antiquierten nationalen Grenzen und nationalen politischen Ordnungen. Sie organisierten sich längst und mit ungeheurer Dynamik auf globaler Ebene. Unsere wenigen und viel zu schwachen internationalen Einrichtungen sind zudem ihrer ganzen Anlage nach eben noch inter-nationale Einrichtungen, also Clearingstellen zum Abgleich national-egoistischer Interessen. Wir haben noch praktisch überhaupt keine Lobbyisten oder Politiker des Planeten Erde oder der Menschheit in ihrer Ganzheit. Dieses Leck zwischen Problemebene und Ordnungsebene schuf das Vakuum, in dem sich alle sozialen Krebsgeschwüre auf der größtmöglichen, nämlich der globalen Ebene fast völlig ungehindert ausbreiten konnten. Es ist nicht allzu schwer abzusehen, daß dieses Leck letztlich selbst die besten Errungenschaften der nationalen Demokratien unterspülen und hinwegfegen wird und auch die letzten, aber in sich eben heute viel zu schwachen Bastionen von (familiärer bis nationaler) Ordnung schleifen wird.
Heute ist der Nicht-Glaube an die Einheit der Menschheit und ihre zivilisierte Organisation die größte und verhängnisvollste Illusion. Und die sogenannten Realpolitiker, die einfach nicht an die Organisationsfähigkeit der Menschheit jenseits der nationalen Egoismen glauben wollen (Wissenschaft und Wirtschaft tun’s ja auch, und für ihre Bereiche mit Erfolg), sind dementsprechend die größten Illusionisten. Der Zerfall des Ökosystems Erde ist in diesem Licht also vor allem ein Zerfallsprodukt der Illusion einer nationalstaatlichen Ordnung innerhalb einer Gesellschaft, die durch und durch eine Weltgesellschaft ist. Das Festhalten an nationaler Souveränität ist heute nichts anderes als die Preisgabe der Souveränität der Menschheit, ihr unteilbar ganzheitliches Schicksal noch selbst bestimmen zu können.
Dabei bräuchten wir nur einige unserer gewachsenen Erfahrungen mit unseren nationalen Demokratien auf die globale Ebene zu übertragen, und schon könnten wir ein gewaltiges Stück politischer Steuerbarkeit wieder zurückerlangen. Bahá’u’lláhs Modell für eine Ordnung der globalen Belange ist in vieler Hinsicht nahe bei den besten Errungenschaften der Demokratie angesiedelt — nur auf die globale Ebene hochgedacht. Was macht uns also Angst vor einer solchen Weltordnung, wo z.B. in den meisten nationalen Demokratien ohnehin schon längst eine hochdifferenzierte ethnische, religiöse oder kulturelle Vielfalt normale Alltagsrealität geworden ist? Die Behauptung ihrer Unmöglichkeit widerspricht also handfester historischer Erfahrung.
Bahá’u’lláh fordert für die Ordnung der Welt ein dreigliedriges System einer
Weltlegislative, Weltexekutive und Weltjurisprudenz. Er fordert die Einrichtung
eines Weltschiedsgerichtshofes, vor den alle Streitpunkte zwischen Völkern und
Nationen gebracht werden und der diese verbindlich schlichtet und entscheidet. Er
fordert ein System kollektiver Sicherheit, das durch einen Pakt aller Nationen
etabliert wird und keinerlei gewaltsame Konfliktaustragung mehr duldet. Er schlägt ein
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System globaler Vorsorge für den Umgang mit den Rohstoffen der Erde vor. Er fordert
die gemeinsame Vereinbarung auf und Einführung einer Welthilfssprache, die der
beste Garant für gleichen Zugang zum Weltwissen ist. Er fordert die Gleichstellung
des weiblichen Elements in der Weltgesellschaft — als besten Garant für einen
sanften Umgang untereinander wie auch mit der Natur usw. Was ist daran utopistisch?
Was ist daran angsteinflößend? Wann wird endlich globale Vernunft zur
aktuellen Real- und Tagespolitik?
Bahá’u’lláhs Impulse gehen jedoch noch weit über diesen Grobrahmen einer neuen Weltordnung, einer gerechten Gestaltgebung der Einheit der Menschheit hinaus. Die von ihm vorgesehenen neuen Institutionen der Entscheidungsfindung, »Häuser der Gerechtigkeit« genannt, samt der in ihnen sich umsetzenden neuen Prinzipien der Beratung bedeuten nichts weniger als eine den meisten heute noch kaum vorstellbare neue Kultur der Politik, eine neue »Kultur des Friedens« in den Entscheidungsprozessen der Menschheit. Macht wird gebannt in Kommunikationsprozesse gleichwertiger Menschen, die ohne Wahleinschränkungen wie Parteien oder Wahllisten aus dem Volk gewählt werden. Es würde hier zu weit führen zu begründen, wie dieses Räte- und Beratungs-Konzept der Entscheidungsfindung die Menschheit auf allen Ebenen aus den Fesseln von Lobbyismus, Partikularinteressen und ideologischen und politischen Parteiungen befreien würde.
Ein oft zu wenig beachtetes weiteres Element der Weltordnung Bahá’u’lláhs ist die Neuorientierung aller Entscheidungsfragen nach dem Grundsatz Problemebene gleich Entscheidungsebene. 'Abdu'l-Bahá erläuterte dies an einem Dorfmodell, wonach die örtliche Ebene ihre eigenen Belange zunächst und vor allem auch selbständig regelt. Nur Überschüsse und nicht örtlich ausgleichbare Defizite werden durch überörtliche Strukturen aufgefangen und ausgeglichen. Die Schaffung von lebensfähigen und lebenswerten lokalen Entitäten wäre an sich schon eine ungeheure Umweltentlastung. Ein solches Konzept sich weitestgehend selbstregulierender örtlicher Einheiten kann jedoch nur funktionieren, wenn die Grundvoraussetzungen dafür auf globaler Ebene stabil gesichert werden: von der Erhaltung des Friedens über die Sicherung gerechter Wirtschaftsbeziehungen bis zur global verantworteten Vorsorge für die Rohstoffe der Erde. Die Umwelt-Krise ist also vor allem auch eine Welt-Ordnungskrise.
Ein umweltverträgliches Weltgemeinwesen ist nur in Verbindung mit dem Schritt zum Bewußtsein der Einheit des Ökosystems Erde und der Einheit des Humansystems Menschheit denkbar. Ein solcher Schritt ist das genaue Gegenteil der Horrorvisionen einer Weltdiktatur, die heute leider viele vermeintliche Vordenker mit der Idee der Einheit der Menschheit verbinden. Was wir heute haben, ist eine seltsame Mischform von Weltdiktatur und Weltanarchie, denn eine kleine Gruppe von Menschen lebt rücksichtslos auf Kosten von Milliarden Menschen, die man im schlimmsten aller Zustände leben läßt, dem Zustand völliger Hoffnungslosigkeit. Das System ist jedoch gleichzeitig so, daß wir dabei die Kontrolle über die dadurch erwachsenden Weltprobleme verloren haben.
Bahá’u’lláh verglich seine Weltordnung mit dem menschlichen Organismus: Alle Zellen und Organe sind zunächst auf ihrer Ebene so weit wie möglich selbstregulierende Systeme. Sie organisieren sich über mehrere Stufen zu einem Gesamtorganismus von unvorstellbaren Potentialen. Die Erde war schon immer eine Einheit, ein Gesamtorganismus. Wann erkennt ihr fähigster Bewohner, daß auch er Teil eines ganzheitlichen Organismus ist mit Namen Menschheit? Erst die Erkenntnis und ganzheitliche Gestaltung dieses Gesamtorganismus Menschheit bringt ihr die Steuerbarkeit wieder zurück — eine Steuerbarkeit mit Potentialen, die wir uns heute noch nicht im geringsten vorzustellen vermögen.
- 1) Bahá’u’lláh, Ährenlese, Bahá’í-Verlag 1980, 3. rev. Aufl., Kap. 132:3-4
- 2) Bahá’u’lláh, Botschaften aus ’Akká, Bahá’í-Verlag 1982, Kap. 9:13
Werte für die Umwelt[Bearbeiten]
Verknüpfung eines Problems mit einem Prinzip
- Claudia Gollmer
Umweltprobleme gehören zu den größten unserer Zeit. Sie sind existentiell
drängend, komplex und scheinen unlösbar. Der Bahá’í nun - stets dazu aufgerufen, die
Antworten auf die Fragen seiner Zeit in den Schriften seines Glaubens zu suchen - steht
diesen Fragen zunächst etwas ratlos gegenüber. Unter »Umwelt« findet sich nichts im
Register für die Schriften Bahá’u’lláhs und 'Abdu'l-Bahás. Der Begriff entstand erst
mit dem Problem. Nach dem Selbstverständnis der Bahá’í ist die Bahá’í-Religion
jedoch so umfassend, so grundsätzlich in ihrem Denken und so stark auf diese heutige
Zeit bezogen, daß sich aus der Schrift Denkansätze extrapolieren lassen müßten.
Die Natur wird in den Schriften als eine Einheit verstanden. Ein ständiges Werden und Vergehen, unablässige Bewegung und ein reger Austausch zwischen ihren Individuen und zwischen ihren Stufen, Mineral, Pflanze und Tier, kennzeichnen sie. Sie funktioniert als ein ausgewogenes Gefüge, als komplexer Organismus, dessen Teile untrennbar miteinander verwoben sind. Was einem Teil widerfährt, betrifft alle übrigen. In ihrer Gesamtheit ist die Natur dem Willen Gottes entsprungen und wird durch ihn in Bewegung gehalten. Alles Werden in ihr bedarf der göttlichen Kraft, die die ganze Natur durchdringt. Ehrfurcht und Andacht gegenüber diesem göttlich gewollten, vielfältigen Organismus, der Natur, sind ein Grundmotiv, das sich den Bahá’í-Schriften entnehmen läßt. Zurückhaltung, Vorsicht bei jedem Eingriff in dieses komplexe Gefüge sind eine naheliegende Konsequenz aus dieser Haltung. Sie erinnert an die heilige Scheu der Naturvölker, das Gleichgewicht der Natur zu stören.
Demgegenüber - scheinbar diametral entgegengesetzt — finden sich andere Stellen, die den technischen Fortschritt und die daraus resultierende Naturbeherrschung freudig willkommen heißen, ja in ihm geradezu eine notwendige Voraussetzung für den nächsten Schritt in der Entwicklung der Menschheit sehen. So sind ein weltweites Kommunikationssystem und eine rasche Verkehrsverbindung zwischen allen Teilen dieser Erde unabdingbar Vorboten für die Einheit der Menschheit. Der Mensch nutzt und gestaltet die Natur. Er ist ihr prinzipiell, d. h. in der Terminologie ‘Abdu’l-Bahás in der »Stufe«, übergeordnet. Der Mensch ist nicht Teil der Natur, wenn er ihr auch körperlich angehört und ihren Gesetzen unterworfen ist; er ist vielmehr ihr Herr; die gesamte Natur erfährt nur Sinn in ihrer Zuordnung zum Menschen. Dieses »Der Mensch mache sich die Erde untertan« des Alten Testaments, das manch umweltbewußter Zeitgenosse als ursächlich sieht für das heutige Umweltdesaster, findet sich also auch bei 'Abdu'l-Bahá.
Aber das Bezugssystem für diese Haltung hat sich entscheidend geändert. Zur Zeit des Alten Testaments hieß »sich die Erde untertan machen«, der Natur einen Lebensraum abzutrotzen, Nahrung, Kleidung, Schutz vor Kälte und Hitze, vor wilden Tieren und vor Unwettern zu finden. Es konnte nicht heißen, die Natur in ihrer Gesamtheit zu beherrschen. Erst heute gerät uns die Erde als Ganzes in den Blick. Immer weniger steht der Mensch einer allgewaltigen Natur gegenüber, der er das Lebensnotwendige entreißt, ohne sie als Ganzes wirklich zu tangieren; vielmehr ist die Natur in ihrer Gesamtheit immer mehr durch den Menschen manipulierbar. Vielfalt und Gleichgewicht der Natur sind durch den Menschen bedroht.
Wenn daher der Mensch heute erneut, diesmal durch die Bahá’í-Schriften,
dazu aufgefordert wird, Herrscher der Natur
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zu sein, so enthält diese Aufforderung eine neue Dimension und Qualität. Der
Mensch ist zu Orten vorgestoßen, wie der Tiefsee, dem Himmel und dem Weltraum,
die ihm früher unzugänglich waren; er hat Bereiche entdeckt, wie die Elektrizität, die
Radiowellen und die Atomkraft, von deren Existenz er nichts ahnte; und gerade durch
diesen Vorstoß wurde die Interdependenz innerhalb der Natur immer deutlicher. Mit
dem Vermögen des Menschen, in das Gesamtgefüge der Natur einzugreifen, hat er
prinzipiell — nicht aber faktisch — Verantwortung für die Natur als Ganzes übernommen.
Ein Zurück ins Land der Unschuld ist weder möglich noch wünschenswert. Die
Entwicklung entspricht der gottgewollten Dynamik der menschlichen Geschichte.
Das für die heutige Zeit proklamierte Ziel der Einheit der Menschheit bedarf
des technischen Fortschritts, und damit auch einer weitreichenderen
Naturbeherrschung.
Naturbeherrschung kann jedoch nicht länger als partieller Sieg im Kampf gegen die Naturgewalten verstanden werden, sondern weit eher als Verantwortung für ein anvertrautes Gut. Die eingangs erwähnte Achtung vor der Natur, das Staunen vor dem schöpferischen Wirken Gottes in ihr sind Teil dieser Verantwortung. Das Verhältnis zwischen Mensch und Natur gleicht dem der Erziehung. In seiner Liebe und Achtung gegenüber der Natur entdeckt und entwickelt der Mensch das in ihr liegende Potential und führt sie dadurch ihrer eigentlichen Bestimmung zu. Vorsicht und Zurückhaltung ist dabei geboten. Die Schriften warnen vor einem Übermaß an Zivilisation und rufen immer wieder zur »Mäßigung in allen Dingen« auf. Schutz und Pflege der Natur sind notwendige Voraussetzungen für die Entfaltung des in ihr ruhenden Potentials. Es bedarf einer Haltung, die das Produzieren unter die Vorherrschaft des Hegens stellt, einer Haltung, die weniger vom jeweiligen Nutzen des Menschen ausgeht als vom Gesamtgefüge der Natur. D. h. es bedarf des Denkens in den Rhythmen der Natur, in ihren Zeiträumen und des immer gründlicheren Wissens um ihre Gesetze und um ihre Vielfalt, um diesen Schutz zu leisten. Und es bedarf der Geduld, der Ausdauer, auch dann, wenn sehr lange keine Ergebnisse meßbar werden, auch der Bereitschaft zur bloßen Pflege, die scheinbar gar keine Ergebnisse zeitigt. Es bedarf des sparsam planenden Haushaltens, der Fürsorge und vielleicht eines intuitiven Wissens darüber, was heilsam und was destruktiv wirkt.
Die Werte und die entsprechenden Fähigkeiten, die das Verhältnis Mensch — Natur heute kennzeichnen müssen, sind andere als vor dem Eintritt des entscheidenden Wandels in diesem Verhältnis. Es sind die, welche traditionell als eher weibliche Qualitäten empfunden werden. Ich denke, sie sind nicht mythisch oder genetisch an das weibliche Geschlecht gebunden, vielmehr sind es jene Fähigkeiten, die Frauen sich über die Jahrhunderte hin erworben haben in der Sorge für ihre Kinder und Familien, in der Erziehung und im Haushalt. Mit diesen Aufgaben sind die dazu erforderlichen Qualitäten gewachsen. Es gilt heute, diese Qualitäten in die Gesellschaft einzubringen, sie über den Rahmen der Familie hinaus wirksam werden zu lassen.
Die aktive Beteiligung der Frau am gesellschaftlichen Leben ist daher ein Lösungsansatz, den die Bahá’í-Schriften für die Umweltproblematik bieten. Es handelt sich hier um das Konzept einer Teilnahme, die — anders als das häufig geschieht — nicht als Gegensatz zu den traditionellen weiblichen Aufgaben verstanden wird, sondern als deren konsequente Fortführung. Jene seit alters her im häuslichen Bereich entwickelten Fähigkeiten müssen heute, gepaart mit Sachkompetenz und Wissen, gesellschaftsfähig werden. Ein gesamtgesellschaftliches Klima, in dem diese Werte ganz allgemein, für Männer wie Frauen, ein stärkeres Gewicht haben, ist eine notwendige Voraussetzung, um das Verhältnis zwischen Mensch und Natur neu zu gestalten.
Bei den Bahá’í-Indianern im Reservat[Bearbeiten]
:Text + Fotos: Thorsten Klapp / Petra Schwartz-Klapp
- Häuptling der Guaymi: Don Pedro
Parviz schaltet in den ersten Gang zurück. Schon seit einer Stunde holpern
wir auf schlechten Wegen in einem alten Land Cruiser durch die Berge Costa Ricas.
Wir sind auf der Suche nach dem überlebensfähigen Menschen, nach seinem
Geheimnis, das es ihm ermöglicht, über Jahrtausende in der Natur zu leben, ohne
sie zu zerstören. Nur noch einen breiten Bach durchqueren und das Ziel ist erreicht:
Das Reservat der Guaymi-Indianer, weit abgelegen von Costa Ricas Gesellschaft.
Eine andere Welt betreten wir. Eine Welt der Ruhe. Unter lichtem Baumbewuchs
stoßen wir auf eine Gruppe Indios. Bunt gekleidet, kleinwüchsige, freundliche
Menschen. Parvis kennt sie bereits. Er stellt uns vor. Ihre Gesichter zeugen
unverkennbar von asiatischen Ahnen. Man schätzt, daß vor rund 17 000 Jahren
die ersten Menschen über den damals vereisten Behringsee auf den amerikanischen
Doppelkontinent gelangten.
Vor uns breitet sich eine hügelige, reichstrukturierte Landschaft aus. Teils Regenwald, teils Wiese, Sträucher, Ackerland. Hier und da eine Hütte. Sie verlieren sich in der Landschaft. 500 Guaymis sind hier zuhause.
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Da erscheint der Häuptling. »Don Pedro« wird er genannt. Uns schlägt
das Herz. Barfuß kommt er näher, beobachtet still das bunte Treiben. Kleine
Kinder spielen mit Alten. Jeder wird von jedem akzeptiert. Kein aggressives Wort.
Zweifellos, der Häuptling ist eine Autorität in seinem Volk. Die Menschen fürchten
ihn nicht. Sie lieben ihn. Wir setzen uns zu ihm, fragen ihn nach ihren Sorgen.
»Früher hatten wir mehr Land, viele Tiere, gute Luft. Heute ist alles anders. Die
Weißen kamen und packten uns in kleine Reservate.« Nach einiger Zeit fügt er an:
»Dadurch haben wir unseren Stolz verloren«. Wir begreifen, daß sie sich eingesperrt
vorkommen. Und den übrigen Indianervölkern Costa Ricas geht es nicht besser.
Ursprünglich betrieben die Indianer Wanderfeldbau im tropischen Regenwald. Ein kleines Stück wurde gerodet, bewirtschaftet und nach wenigen Jahren zogen die Indianer weiter. Der Wald regenerierte sich schnell wieder von selbst. Heute müssen sie seßhaft sein - in ihren Reservaten.
Die Guaymis leben von der Landwirtschaft. Alles, was sie zur Ernährung benötigen, pflanzen sie selbst in kleinräumigen Mischkulturen auf ökologische Weise an: Reis, Bohnen, Kaffee, Kakao, Kürbisse, Getreide, Knollenfrüchte und vieles mehr. Sie brauchen keine Pestizide. Das Wissen um die Natur und ihre Funktionen macht sich bezahlt. Der Wald ist ihre Heimat. Die Natur ist ihre Mitwelt. Und nicht nur ihre Um-Welt. Die Indianer betrachten sich selbst als Natur.
Am Fluß: Kinder baden und planschen im kühlen Naß. Der Fluß gibt ihnen ihr Trinkwasser. Und Fische als Ergänzung zur Pflanzenkost. Die enge Bindung zur Natur und die direkte Abhängigkeit ist offenkundig. Das prägt sie, ihr Leben und ihre Weltsicht. Sie führen ein sehr spirituelles Leben. Die Erde ist ihnen heilig. Die Tiere, die Planzen, die Menschen, die ganze Welt ist die Schöpfung eines Gottes. Und die Erde gehört allen Lebewesen. Sie kann nicht Besitz einzelner Menschen sein. So waren jegliche Bestrebungen der Regierung, die Reservate zu parzellieren, zum Scheitern verurteilt. Denn sie gingen an der Realität der Indianer vorbei. Betrachten sie die Erde doch als einen großen Organismus. Der Mensch ist ein Teil davon. Zerstört er die Erde, zerstört er sich. Ihr Bewußtsein verbietet ihnen, mehr der Natur zu entnehmen, als sie wirklich zum Leben brauchen. Produktionssteigerung und wirtschaftlicher Gewinn ist nicht ihr Ziel. Was zählt, ist Gemeinschaft, Menschlichkeit und Zufriedenheit.
Auf dem Lagerfeuer brutzelt in einem verrusten, großen Topf das Mittagessen: Kochbananen und rote Bohnen. Dominga steht auf und bringt jedem einen Becher Wasser. Zuletzt nimmt sie sich selbst. Keine gespielte Geste für den Besuch. Selbstverständlichkeit. Sie nehmen sich die nötige Zeit für ihre geistige Entwicklung. Einen Menschen messen sie nicht am Geld oder Einkommen. Einzig und allein zählt der Charakter, seine Taten für die Gesellschaft. Von klein auf bekommen die Kinder den Respekt und Achtung vor Mitmenschen und der Natur beigebracht. Kriminalität ist ihnen fremd. Wir sehen in diesen Menschen den lebendigen Beweis dafür, daß es funktionieren kann, Harmonie in der Gesellschaft, Harmonie im Umgang mit der Natur.
Das ganzheitliche Weltbild der Indianer weist enorme Parallelen zu den Lehren Bahá’u’lláhs auf. Die Bahá’í-Religion fällt auch in diesem Reservat auf einen guten Nährboden. 70 Indios haben sich bereits erklärt. Manche sind über 20 Jahre Bahá’í. Parviz schwärmt von den so starken und ausgeprägten Bahá’í-Gemeinden in den Reservaten. Don Petro bemerkt: »In mein Volk kamen schon viele Religionen. Sie behaupteten, nur ihre Religion sei gut, die anderen schlecht. Die Bahá’í-Religion sagt: Alle Religionen seien gut. Das gefällt mir.«
Der Abend bricht an - ein neuerrichtetes Bahá’í-Zentrum wird eingeweiht.
Wir treffen uns zu einem Meeting. Kinder singen Lieder. Eine Andacht. Es wird
getanzt. Dann erhebt sich der Häuptling und spricht einige Worte. Andere schließen sich
an: »Wir haben durch die Bahá’í-Religion wieder einen Sinn in unser Leben bekommen
und Selbstbewußtsein gefunden.« Denn 'Abdu'l-Bahá spricht von der großen
Bedeutung der indigenen Völker, wenn die Indianer ’erzogen’ seien, würden sie die
ganze Menschheit erleuchten. Die Guaymis haben wieder Rückhalt, eine
Richtung für ihr Leben gefunden. Doch in
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Costa Rica gibt es viele Reservate. Die Situation darin ist unterschiedlich. Viele
der 20 000 Indios fallen in einer Zeit der Verwirrungen der westlichen Kultur zum
Opfer, viele verlieren ihre Spiritualität, ihre Wesensart — sich selbst. Parviz erklärt:
«Bei Abwesenheit der richtigen Führung beginnen auch Indianer, die Natur zu
zerstören, wie die anderen Menschen."
Nach dem Erdbeben im April 1991 traten Bodenschätze ans Tageslicht, auch in einem Reservat von Indianern. Die Folge: Schürfunternehmen »stürmten« das Indianergebiet. Immer noch dasselbe Spiel. Seitdem Kolumbus und sein Gefolge das Land betraten, war es mit ihrer Unabhängigkeit vorbei. Diskriminiert und verachtet — Opfer des Macht- und Reichtumstrebens der Europäer. Heute sind es Bananenmultis, Industrieprojekte, Goldschürfer oder einfache Siedler, die die Indianer weiter ins Eck schupsen. Und immer wieder kommt es vor, daß Indianer durch negative Veränderungen durch die Außenwelt gezwungen sind, in die Stadt zu gehen. Hoffnung auf einen Job? Für Indianer fast aussichtslos. Mit viel Glück als Putzhilfe. In der Regel bedeutet dieser Schritt Prostitution, Alkohol, Drogen, Verelendung. Sie kommen mit dem korrupten System nicht zurecht, wo Egoismus und Geld die Hauptrollen spielen. Ihr ganzheitliches Denken geht verloren, da die Gesellschaft ihnen ein anderes aufzwingt. Vielen Indianern dieser Welt widerfuhr solch ein Schicksal. Ihre Kulturen zerbröckeln zusehends. Uns gibt das zu denken.
- Guaymi-Mädchen
Die Bahá’í-Gemeinde von Costa Rica entschloß sich, letzten Indianerstämmen — wie dem
Guaymivolk — zu helfen. Nicht mit landwirtschaftlichen Entwicklungsprojekten oder
ähnlichem. Sie glauben, daß nur jene Projekte wahre Früchte tragen, die von den
Betroffenen durch eigenes Entscheiden wirklich gewollt sind. Daher möchten sie den
Indianern helfen, ihre Entscheidungsfähigkeit erst einmal zu entwickeln: Durch
eine fundierte Ausbildung. Die in der Regel vorhandenen Grundschulen wollten sie
durch weiterführende Hochschulen ergänzen. Die Indianer sind sehr dankbar dafür.
Einige Costa Ricanische Bahá’í gründeten die Fundation NUR, die für die
Umsetzung eines Schulprogramms in
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Indianergebieten zuständig ist. Mittlerweile gibt es drei Hochschulen: Bri Bri-Reservat
im Talamanca-Gebirge, Guaymi-Reservat in Coto Brus, Guaymi-Reservat in Conte
Burica.
NUR greift auf das Unterrichts-Programm SAT (Sistema de Aprendizaje Tutorial) zurück, das von der kolumbianischen Organisation FUNDAEC entwickelt wurde. Dahinter verbergen sich Bahá’í-Wissenschaftler, darunter Dr. Farzam Arbab und Dr. Gustavo Correa. In Kolumbien erlebten diese Materialen hohe Popularität und Hochachtung. Die Regierung erkannte das Lehrmaterial als gleichwertig zum offiziellen System an. Mittlerweile gibt es in Kolumbien 450 SAT-Gruppen.
Parviz ist Lehrer von NUR. In Kolumbien wurde er von FUNDAEC dafür ausgebildet. Den Indianern begegnet auch er mit äußerster Würde und ist stets darum bemüht, nicht durch materielle Dinge von den Indios als höherwertig empfunden zu werden. Sein ursprüngliches Haus verkaufte er, und lebt nun mit seiner fünfköpfigen Familie in einem bescheidenen Häuschen. Die Küche läßt sich einfach beschreiben: wenige, vor dem Haus liegende Steine, zwischen denen Feuer brennt, darüber ein Topf. Kühlschrank gibt es keinen. Parviz ist ein Mann der Taten. Nun zeigen wir ihm einen Plan für die Errichtung einer brennholzsparenden Kochstelle. Eigentlich für die Indianer gedacht. Doch nach dem Grundsatz: "Die Indianer müssen selbst entscheiden", will Parviz den Plan nur in seinem Garten ausprobieren. »Wenn die Indianer mich besuchen und diese Technik für gut empfinden, übernehmen sie diese«, sagt er selbstsicher.
Sein Terminkalender ist voll. Alle zwei Wochen fährt er in entlegene Reservate. Für so manchen Studenten bedeutet der wertvolle Unterricht körperlichen Einsatz: Die Anreise zur Schule erfolgt per pedes: 7 Stunden durch Bergurwald, Morast und Regen. Drei breite Flüsse durchqueren, die zeitweise unpassierbar sind.
Das Gelernte nehmen die Indios in ihre Gemeinschaften zurück, dort unterrichten sie einen Teil ihrer Mitmenschen. Somit wird das Schulsystem zu einer Art Schneeballeffekt.
Es hat sich gezeigt, daß im Bri Bri-Reservat — dem ersten Schulprojekt -— bereits eine positive Entwicklung eingetreten ist, im technologischen, wirtschaftlichen, sozialen, moralischen und spirituellen Bereich. Nicht zuletzt wächst ihr Selbstvertrauen, in der Welt etwas verändern zu können. Viele werden sichtlich erfüllt von der Motivation, gewappnet mit dem Erlernten in die Welt zu gehen. Wie im Herbst 1992 neun Bahá’í-Indios aus Mittelamerika — darunter auch Guaymis und Bri Bri-Indianer aus Costa Rica — es machten. Auf der Reise zum Weltkongreß in New York besuchten sie in zehn Staaten neunzehn Indianervölker, um von Bahá’u’lláh zu berichten und Seine Lehren zu verkünden. Ihnen wurde äußerste Freundlichkeit und Gastfreundschaft entgegengebracht. Auf breiter Ebene interessierten sich die lokalen Medien für ihre Besuche. Sie sprachen in Radios, traten im Fernsehen auf und waren in der Zeitung zu lesen. Sechs Wochen lang dauerte ihr engagiertes Unternehmen. Und man nannte es den »Trail of Light«.
Wenn auch - zu tiefster Bedauerung - die meisten Urvölker dieser Erde nicht nur von der Welt vergessen sondern auch zerstört wurden beziehungsweise noch werden, tragen heute letzte Indios, so auch unsere Guaymis, umso fester, bewußter und überzeugter das Geheimnis des Überlebens - die wirklich gelebte Religion — fest in sich. Sie senden wichtige Impulse aus ihrem - nur geographisch - so winzigen Reservat: Für uns ein großartiges Modell des Friedens.
Zur Unterstützung der Aktivitäten der Fundation NUR, um Schulen zu erweitern und neue zu errichten, wurde das
Projekt INDIANER
ins Leben gerufen.
Infos bei Petra Schwartz-Klapp u. Thorsten Klapp.
Sachsenring 26; 35041 Marburg-Wehrda; Tel./Fax: 06421/82885.
Die erwachende Erde -— Unser nächster Evolutionssprung[Bearbeiten]
Peter Russell, Wilhelm Heyne Verlag 1984 und 1991
So umfassend der Titel dieses Buches erscheint, so weitreichend ist die Absicht des Autors, seinen Leser zu einer »Erkundung des Potentials der Menschheit im Kontext unseres Planeten« einzuladen.
Aufbauend auf der Frage, ob die Erde selbst ein Lebewesen ist, stellt Peter Russell in einem Prolog Jim E. Lovelocks »Gaia-Hypothese« vor (Gaia oder Ge ist die Erdmutter in der griechischen Mythologie): der gesamte Planet als »ein sich selbst regulierendes, selbsterhaltendes System, das seine physikalischen, chemischen und biologischen Prozesse ständig justiert, um die optimalen Bedingungen für Leben und dessen weitere Evolution nicht schwinden zu lassen«. Diese Hypothese ordnet er in eine »Allgemeine Theorie der lebenden Systeme« ein. Weiterhin beschreibt er James Grier Millers These, die besagt, daß sich alle lebenden Systeme aus Subsystemen zusammensetzen und diese offenbar neunzehn verschiedene Funktionen übernehmen.
Die Rolle des Menschen innerhalb von Gaia beschreibt der Autor in den zwei Hauptkapiteln, die er zum einen allgemein der Evolution in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und zum anderen speziell der inneren Evolution des Menschen widmet. Er untersucht die Hauptetappen der Evolution des Lebens und stellt ihre gleichzeitig hervortretenden Ordnungen in ihrer zunehmenden Komplexität dar. Dabei unterscheidet er 0. Leere von 1. Energie, 2. Materie (zunehmende Komplexität), 3. Leben und 4. selbstreflexivem Bewußtsein. Nach der Feststellung, daß die Evolution eher als Kette sprunghafter Übergänge verstanden werden kann, belegt er anhand der gesellschaftlichen Entwicklung in den letzten zweihundert Jahren seine Annahme, daß »die Gesellschaft die Voraussetzungen für die Emergenz einer neuen Evolutionsebene zu erfüllen scheint«.
Nach einer Darstellung von Modellen, wie wir uns selbst und die Welt verstehen, befaßt sich Peter Russell mit der Frage von Einheit und Einssein. Die Aussage, daß eben auch »die Entwicklung höherer Bewußtseinszustände als mit zum Evolutionsprozeß überhaupt gehörend« betrachtet werden kann, führt ihn zu der Annahme, daß geistige Entwicklung die Menschheit immer näher an eine Schwelle heranführt, an der sie ın ein neues Zeitalter eintaucht, welches durch völlig neue Charakteristika gekennzeichnet sein wird, daß es aber an den Menschen selbst läge, wie sie die bevorstehenden Prüfungen be- und überstehen.
In einem Epilog erläutert Peter Russell seine Vorstellung davon, wie die Entwicklung von Gaia nur als ein winzig kleiner Ausschnitt innerhalb der Evolution unserer Galaxis begriffen werden kann, die selbst wiederum nur eine von vielen Galaxien im Universum ist, welches sich über Stufen hin zum universalen Superorganismus entwickelt, und darüber hinaus.
Wer sich für eine Gesamtschau der Entwicklung der Menschheit interessiert, findet in diesem Buch, das ein Physiker und Psychologe geschrieben hat, eine gut verständliche und einleuchtende Darstellung wesentlicher Zusammenhänge auf der Grundlage verschiedener Wissenschaftsdisziplinen und Weisheitslehren.
Siegmund Dexheimer
Der Einfluß des Islam auf das europäische Mittelalter[Bearbeiten]
W. Montgomery Watt, Verlag Klaus Wagenbach 1992, 128 S.
Fast eine Haß-Liebe: Nicht ohne den Islam aber auch nicht mit ihm. So zeigt sich das schwierige Verhältnis zwischen dem christlichen Abendland und dem islamischen Morgenland vor allem heute. Umso schwerer fällt es uns, die arabischen Einflüsse auf unsere Kultur objektiv zu verstehen. Montgomery Watt, britischer Arabist und Islamkenner, unternimmt den Versuch, als Westeuropäer den Einfluß des Islam auf das europäische Mittelalter, wie sein soeben als Paperback erschienenes Buch heißt, zu beschreiben. Dabei stellt sich Watt ein Hauptproblem: »Offenbar fällt es schwer, die wissenschaftlichen Leistungen der Araber gerecht zu beurteilen. Bei dem herrschenden Vorurteil gegen sie — zweifellos hängt es mit dem entstellten Bild vom Islam zusammen... — ist man geneigt, ins andere Extrem zu verfallen und ihre Leistungen zu übertreiben.«
Watt schildert anschaulich historische Zusammenhänge, vorwiegend aus der Zeit des islamischen Spaniens (715-1223). Nach den frühen Eroberungen hatte sich die überlegene arabische Kultur durch den Handel und die politische Nähe des Islam in Spanien und Sizilien den Weg nach Europa bahnen können. Damit widerlegt er die gängige Meinung, daß erst durch die Kreuzfahrer muslimisches Gedankengut in das mittelalterliche Europa getragen worden sei. Der Arabist kommt zu dem Schluß, daß sich die europäische Naturwissenschaft und Philosophie, die bis 1100 in einen tiefen Winterschlaf gefallen war, ohne die arabisch-islamischen Impulse nie so früh hätte entfalten können. Im Baghdad des 9. Jahrhunderts wurden medizinische Texte von Hippokrates, Platons Staat, Gesetze und Logik-Werke des Aristoteles aus dem Griechischen oder dem Altsyrischen ins Arabische übersetzt. Doch die Verdienste der arabischen Gelehrten gingen über die wertvolle Übersetzertätigkeit hinaus, denn sie entwickelten wichtige Disziplinen der alten Griechen weiter: Algebra, analytische Geometrie, Trigonometrie, Astronomie, Philosophie und Logik.
Der Wert dieses Buches liegt nicht allein in seiner historisch und philologisch genauen Darstellung, was die wertvollen Quellen und Literaturangaben unterstreichen, sondern vor allem in der Einordnung dieser Fakten in den Konflikt zwischen Orient und Okzident. »So haben wir Westeuropäer heute, an der Schwelle zum Zeitalter der Einen Welt, die wichtige Aufgabe, diese falsche Akzentsetzung zu korrigieren und uneingeschränkt anzuerkennen, was wir den Arabern und der islamischen Welt verdanken.«
Isabel Schayani
Encyclopedia Britannica:
Bahá’í-Religion in der weltweiten Verbreitung an zweiter Stelle[Bearbeiten]
Im diesjährigen Jahrbuch der Encyclopedia Britannica wird der Bahá’í-Glauben als die nach dem Christentum am weitesten verbreitete Religion aufgeführt. Unter der Rubrik »Statistik der Weltreligionen« heißt es, daß in 205 unabhängigen Ländern und abhängigen Gebieten Bahá’í-Gemeinden bestehen. Nur das Christentum ist in mehr, nämlich in den 254 in die Statistik einbezogenen Ländern, vertreten. An dritter Stelle steht der Islam mit 172 Ländern. Das Judentum ist dem Jahrbuch nach in 125 Ländern verbreitet, während der Hinduismus und Buddhismus in 88 bzw. 86 Ländern Gemeinden hat.
Die Statistik wurde von Dr. David D. Barrett erstellt, der als Herausgeber der World Christian Encyclopedia als einer der weltweit führenden Experten religiöser Demographie gilt.
ONE COUNTRY, Januar-März 1992
Geographische Verbreitung
der unabhängigen Religionen der Welt
Zahl der Länder mit bedeutenden Gemeinden
Bahá’í-Religion
Grafik: Bahá’í-Briefe
Buddhismus
Christentum
Hinduismus
Judentum
Islam
Quelle: Encyclopedia Britannica
Bahá’í
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