Bahai Briefe/Heft 60/Text

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Bahá’í-Briefe



Heft 60 19. Jahrgang Dezember 1991




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Bahá’í-Briefe Heft 60 Dezember 1991 19. Jahrgang


Die Bahá’í-Briefe wollen eine intensive Auseinandersetzung mit den Inhalten der Bahá’í-Religion fördern und auf der Grundlage zeitgemäßen Denkens zu einem Dialog mit allen beitragen, die sich um die Lösung der Weltprobleme mühen.



Inhalt


Hermeneutik . . . . . . . . . . 1
Dann J. May


Núr-Universität . . . . . . . . . . 13


Der Gipfel für die Erde- Die UNCED-Konferenz . . . . . . . . . . 18
Uwe Still


Alan LeRoy Locke und die Harlem Renaissance . . . . . . . . . . 27
Nassim Berdjis


Vorurteile - Nährboden für Ungerechtigkeit . . . . . . . . . . 31
Hossain B. Danesh


Der Buchtip . . . . . . . . . . 38



Herausgeber: Der Nationale Geistige Rat der Bahá’í in Deutschland e.V., Hofheim-Langenhain. Redaktion: Nassim Berdjis, Nawid Maher, Dr.Bijan Sobhani, Uwe Still, Karl Türke jun. Redaktionsanschrift: Bahá’í-Briefe, Redaktion, Eppsteiner Straße 89, D-6238 Hofheim 6. Namentlich gezeichnete Beiträge stellen nicht notwendig die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers dar. Die Bahá’í-Briefe erscheinen halbjährlich. Abonnementpreis für vier Ausgaben 20, — DM. Einzelpreis 6, — DM. Vertrieb und Bestellungen: Bahá’í-Verlag, Eppsteiner Straße 89, D-6238 Hofheim 6.

Zum Titelbild: Erste Seite aus der zweisprachigen Schmuckausgabe Die Verborgenen Worte von Bahá’u’lláh

© Bahá’í-Verlag GmbH 1991 ISSN 0005-3945


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Hermeneutik[Bearbeiten]


Deutung und Auslegung der Heiligen Schriften

Dann J. May


Zuerst erschienen in The Journal of Bahá’í Studies Vol.1, Nr.3, 1989. Die Übersetzung und Kürzung des Artikels besorgte Peter Zaplinski.


Unter Hermeneutik versteht man die Wissenschaft und Methodik der Auslegung von Texten. Das Studium der Hermeneutik wird zunehmend als Grundlage für Fächer wie Theologie, religiöse Studien, Philosophie und Literaturkritik betrachtet. Die folgenden Betrachtungen behandeln drei Themen:

• Die Rolle der verbindlichen Auslegung und ihr Verhältnis zur individuellen Auslegung

• Die Darstellung von acht Prinzipien der Auslegung, die in den Bahá’í-Schriften zu finden sind

• Eine Untersuchung der Bahá’í-Interpretation an einem Beispiel


□ Verbindliche Auslegung gegenüber Individueller Auslegung

Verbindliche Auslegungen durch die Zentralgestalten des Bahá’í-Glaubens - Báb, Bahá’u’lláh, 'Abdu'l-Bahá und Shoghi Effendi - bilden einen wesentlichen Bestandteil des Bahá’í-Schrifttums. Ihre AusLegungen können in zwei Gruppen unterteilt werden: solche, die die Bahá’í-Schriften erklären, eine umfassende Zusammenfassung oder einen Auszug davon geben, und solche, die Überlieferungen und heilige Schriften vergangener Religionen erklären und auslegen. Beide sind nach den Bahá’í-Lehren als unfehlbar und göttlich inspiriert anzusehen. Nun stellt sich die Frage, ob das Vorhandensein einer unfehlbaren Auslegung innerhalb des Bahá’í-Glaubens Auslegungen durch den einzelnen ausschließt oder zumindest weitgehend einschränkt. Dies ist nach Shoghi Effendi nicht der Fall, vorausgesetzt, solche Auslegungen werden als »persönliche Bemerkungen und Überlegungen«1) dargestellt. Das Universale Haus der Gerechtigkeit schreibt, daß »individuelle Auslegung als Frucht der menschlichen Verstandeskraft angesehen (wird) und als förderlich für ein besseres Verständnis der Lehren (gilt)«2). In den Bahá’í-Schriften werden wir ausdrücklich aufgefordert, über die symbolische und verborgene Bedeutung religiöser Texte nachzusinnen, sie zu erklären und auszulegen. Nachdem 'Abdu'l-Bahá die symbolische Erzählung von Adam und Eva im 1. Buch Mose erklärt hatte, sagte Er: »Dies ist eine der Bedeutungen der biblischen Geschichte von Adam. Denke nach, bis du die anderen findest.«3) Es ist somit klar, daß die Auslegung durch den einzelnen eine wesentliche Rolle für das Verständnis religiöser Schriften [Seite 2] und Traditionen spielt.

In den Bahá’í-Schriften ist jedoch auch die Erkenntnis enthalten, daß sich unsere Auslegungen und unser Verständnis im Laufe der Zeit wandeln, so wie wir einen Text in zunehmendem Maße begreifen. Mit anderen Worten, unsere Auslegungen sind ständiger Überprüfung, Veränderung und Korrektur unterworfen. Darüberhinaus beeinflussen diese Auslegungen nicht nur die Art, wie wir einen bestimmten Text verstehen, sondern auch, wie wir im Leben handeln.


□ Prinzipien der Auslegung


Religiöse Texte enthalten viele Bedeutungen

Das erste Prinzip der Auslegung ist, daß religiöse Texte viele Bedeutungen enthalten. Da wir gezeigt haben, daß die Bahá’í-Schriften den einzelnen ermutigen, einen heiligen Text auszulegen und in ihm andere Bedeutungen zu entdecken, folgt daraus, daß die Worte dieser Texte eine Vielzahl von Bedeutungen enthalten müssen. Bahá’u’lláh sagt, »daß der Sinn dieses Wortes (Gottes) niemals auszuschöpfen ist.«4). Wir dürfen uns also weder auf nur eine Auslegung eines bestimmten religiösen Textes beschränken, noch auf eine Art oder einen Stil der Auslegung. Gleichermaßen dürfen wir »nicht mit einem zu kritischen Auge die Aussagen und Schriften anderer betrachten, seien sie Bahá’í oder nicht. Selbst wenn eine verbindliche Auslegung für einen bestimmten Abschnitt vorliegt, schließt diese Auslegung durch ihr bloßes Vorhandensein nicht die Möglichkeit anderer bedeutsamer Auslegungen aus.


Die symbolische Natur religiöser Sprache

Das zweite Prinzip der Auslegung besagt, daß religiöse Texte häufig absichtlich in zweideutiger, verhüllter und symbolischer Sprache geschrieben sind. Bahá’u’lláh schreibt im Buch der Gewißheit, daß die Religionsstifter eine zweifache Sprache sprechen. Die erste Sprache ist klar und unzweideutig, während die zweite »verhüllt und versiegelt« und voll von »sinnbildlichen Worten und verhaltenen Andeutungen« ist6). Beispiele für die erste Art der Sprache sind Gesetze und Verordnungen, Ratschläge und Ermahnungen sowie Lehren und Prinzipien, die in allen Religionen enthalten sind. Beispiele für die zweite Art der Sprache sind


Bahá’u’lláh schreibt im Buch der Gewißheit, daß die Religionsstifter eine zweifache Sprache sprechen.

symbolische, mythologische, mystische, prophetische, apokalyptische und eschatologische Textpassagen, die in den meisten, wenn nicht in allen, religiösen Texten und Überlieferungen zu finden sind. In Fällen, wo verhüllte Sprache klar als solche zu [Seite 3]














Text aus dem Koran



[Seite 4] erkennen ist, sagt Bahá’u’lláh, daß »die wörtliche Bedeutung, wie sie allgemein von den Menschen verstanden wird, nicht das (ist), was beabsichtigt ist.«7). Weiter sagt Bahá’u’lláh, daß die wörtliche Auslegung verhüllter Sprache einer der Hauptgründe für die Verfolgungen ist, die sich im gestaltgebenden Zeitalter jeder Religion ereignen. 'Abdu'l-Bahá erläutert in einer Seiner Ansprachen in New Hampshire, daß »die heiligen Bücher ihre spezielle Terminologie haben, die man kennen und verstehen muß. Ärzte haben ihre eigenen, besonderen Ausdrücke; ..Dichter haben ihre Wendungen; Wissenschaftler ihre Fachsprache.«8)

Patrick Burke legt in seinem Aufsatz The Reluctant Vision9) überzeugend dar, daß die Hauptfunktion religiöser Sprache darin besteht, eine Vision des Lebens darzustellen, und nicht eine Beschreibung historischer und wissenschaftlicher Tatsachen zu geben. Wenn daher der Gebrauch verhüllter und symbolischer Sprache, wie Bahá’u’lláh sie beschrieben hat, erkennbar ist, müssen wir über eine streng wörtliche Auslegung hinausgehen und die innewohnenden symbolischen und allegorischen Bedeutungen entdecken.

Aber warum ist die Bedeutung religiöser Sprache so oft in Symbolen verhüllt und in mytholgische Erzählungen gekleidet? In den Bahá’í-Schriften werden mehrere Gründe angegeben. Zum ersten sollen durch die symbolische Sprache »die Völker der Welt versucht und geprüft werden«, und sie dient dazu, »daß alles, was im Herzen der Bösgesinnten verborgen liegt, offenbar werde«10). Zweitens werden nach ’Abdu’l-Bahá Symbole und Mythen, die Belohnung und Bestrafung in der nächsten Welt beschreiben, benutzt, um den ethischen Horizont der unwissenden und ungebildeten Massen zu erweitern und ihr moralisches Verhalten zu verbessern, da sie häufig nicht in der Lage sind, logische Argumente, philosophische Erörterungen und theologische Debatten zu verstehen11). ’Abdu’l-Bahá schreibt drittens: »...nichts auf Erden kann durch Worte allein belegt werden, und jede Ebene des Seins ist an ihren Zeichen und Symbolen erkennbar...«12). Schließlich erklärt Er, daß religiöse Begriffe zu tief sind, um mit gewöhnlichen Wörtern ausgedrückt zu werden, und daß diese Begriffe deshalb in Gleichnissen ausgedrückt werden, um verständlich zu sein und für künftige Zeiten bewahrt zu werden.

Es sollte daher einleuchtend sein, daß religiöse Sprache zuvorderst symbolisch und mythologisch ist, daß sie sich grundlegend von der Sprache philosophischer Abhandlungen, wissenschaftlicher Zeitschriften, historischer Dokumente oder von Gesetzestexten unterscheidet. Darüberhinaus hat religiöse Sprache das Vermögen, tiefes Verständnis für und Einsichten in letzte Fragen zu vermitteln, die gewöhnliche wissenschaftliche oder technische Sprache häufig nicht einmal beschreiben, geschweige denn befriedigend beantworten kann.


[Seite 5] Die Rolle von Wissenschaft und Vernunft bei der Auslegung

Die Forschungsabteilung im Bahá’í-Weltzentrum stellt fest: «Im Westen ist die Denkweise üblich geworden, daß Wissenschaft und Religion zwei getrennte - sogar entgegengesetzte — Bereiche menschlichen Denkens und Handelns sind. Diese Gespaltenheit kann durch Gegensatzpaare gekennzeichnet werden: Glaube und Vernunft; Werte und Tatsachen. Es ist eine Gespaltenheit, die dem Bahá’í-Denken fremd ist, und sie sollte von Bahá’í-Gelehrten jeder Richtung mit Argwohn betrachtet werden. Das Prinzip der Übereinstimmung von Religion und Wissenschaft bedeutet nicht nur, daß religiöse Lehren sowohl im Lichte von Vernunft und Beweisen als auch von Glauben und Inspiration studiert werden sollen, sondern daß alles in der Schöpfung, alle Aspekte menschlichen Lebens und Wissens sowohl im Lichte der Offenbarung als auch von rein rationaler Forschung studiert werden sollten.«13)

Also basiert das dritte Prinzip der Auslegung auf dem wichtigen Bahá’í-Prinzip, daß »Religion und Wissenschaft in Übereinstimmung sein müssen«14). Unter »Religion« wird in den Bahá’í-Schriften Religion befreit von verkrustetem Aberglauben, Nachahmungen, Dogmen und veralteten Gesetzen verstanden. Unter »Wissenschaft« werden wissenschaftliche Methoden, eingeführte Theorien, Prinzipien und die Naturgesetze, die durch solche Methoden gefunden wurden, verstanden. Wir müssen uns bei der Auslegung davor hüten, religiöse Texte wörtlich zu nehmen und dann abzulehnen, wenn sie Vernunft und wissenschaftlichem Verständnis widersprechen. Wenn solche offensichtlichen Widersprüche auftreten, sollten wir uns zunächst zwei Fragen stellen: Ist dieser Widerspruch eine Folge meines beschränkten Verständnisses? Folgt er aus der Natur und der Absicht der verhüllten und symbolischen Sprache, die wir oben diskutiert haben? Wenn wir also eine religiöse Aussage zunächst wörtlich


Wir müssen uns bei der Auslegung davor hüten, religiöse Texte wörtlich zu nehmen und dann abzulehnen, wenn sie Vernunft und wissenschaftlichem Verständnis widersprechen.

verstehen und dann dieses Verständnis auf der »Waage von Wissenschaft und Vernunft« wägen, sollten wir in der Lage sein zu entscheiden, ob die innewohnende Bedeutung vorwiegend wörtlich oder symbolisch ist. Indem wir die bisher besprochenen Prinzipien der Auslegung anwenden, können wir Auslegungen machen, die annehmbar und in Übereinstimmung mit der Vernunft und dem wissenschaftlichen Verständnis der Welt sind, auch wenn dies für die wörtliche Bedeutung des Textes nicht zutreffen mag.


Religiöse Wahrheit ist fortschreitend und relativ

Ein grundlegendes Prinzip des [Seite 6] Bahá’í-Glaubens besagt, daß »religiöse Wahrheit nicht absolut, sondern relativ ist«, nicht statisch, sondern dynamisch, und daß der Prozeß der »göttlichen Offenbarung fortschreitend und nicht endlich ist«.15) Sollten unsere eigenen Auslegungen religiöser Texte und Überlieferungen nicht den gleichen Bedingungen unterworfen sein?

Jede religiöse Sendung entsprach den Erfordernissen und dem Zustand












Text aus dem Alten Testament


[Seite 7] der menschlichen Entwicklung in der Zeit, zu der sie erschien.16) Religiöse Texte und Überzeugungen sind immer durch eine bestimmte Weltsicht geprägt und in die Sprache einer bestimmten Zeit und Kultur gekleidet. Shoghi Effendi schreibt in diesem Zusammenhang: »Es ist sicherlich äußerst schwierig, alle Suren des Koran völlig zu begreifen, da es ein gründliches Wissen über soziale, religiöse und geschichtliche Hintergründe Arabiens zu Zeiten des Propheten erfordert.«17)

Bewußte Mißachtung dieser historischen und kulturellen Zusammenhänge kann zu unbewiesenen und unwahrscheinlichen Auslegungen führen, die anachronistisch, sinnwidrig oder übertrieben allegorisch sind.


Der zweifache Charakter religiöser Offenbarung

In den Bahá’í-Schriften werden zwei grundsätzliche Teile der Religion unterschieden: einer ist unveränderlich, der andere zeitabhängig. Der unveränderliche Teil ist allen Religionen gemeinsam und enthält Lehren über menschliche Tugenden und Ethik, über grundlegende Wahrheiten des Lebens und die Förderung der Fähigkeiten des Menschen. Der zeitabhängige Teil wirkt innerhalb kultureller und historischer Zusammenhänge und enthält im wesentlichen soziale Gesetze und Regelungen, die die menschlichen Angelegenheiten und die Beziehungen zwischen den einzelnen betreffen.

Unsere Auslegungen müssen diesen zweifachen Charakter religiöser Offenbarung berücksichtigen. Einerseits sollten wir Gesetze und Gebräuche vergangener Religionen, die zu ihrer Zeit angemessen waren, nun aber mit unseren Ansichten der Welt oder mit unserem eigenen kulturellen und religiösen Hintergrund im Widerspruch zu stehen scheinen, nicht unziemlich kritisieren. Andererseits sollten wir uns, ohne die reiche Vielfalt der verschiedenen Religionen zu mißachten, bemühen, die wesentlichen Anteile, die den meisten Überlieferungen gemeinsam sind, zu


Unsere Auslegungen müssen diesen zweifachen Charakter religiöser Offenbarung berücksichtigen.

erkennen und uns nicht durch zeitabhängige Unterschiede der Ausdrucksweise, der Begriffe oder der historischen Umgebung ablenken zu lassen.


Persönliche Vorurteile und Voraussetzungen

Das sechste Prinzip der Auslegung befaßt sich mit den Voraussetzungen, Vorurteilen und unbewußten Annahmen, die wir religiösen Texten und Überlieferungen entgegenbringen. In den Bahá’í-Schriften werden wir immer wieder ermahnt, religiöse Schriften nicht an unseren eigenen unvollkommenen Maßstäben zu messen. Beispielsweise warnt Bahá’u’lláh die Religionsführer mit folgenden Worten:

»Wäget das Buch Gottes nicht mit [Seite 8]
















Text aus den Schriften des Báb


solchen Gewichten und Wissenschaften, wie sie bei euch im Schwange sind, denn das Buch selbst ist die untrügliche Waage, die unter den Menschen aufgestellt ist. Auf dieser vollkommenen Waage muß alles gewogen werden, was die Völker und Geschlechter der Erde besitzen, während ihre Gewichte nach ihrem eigenen Richtmaß geprüft werden sollten - könntet ihr es doch erkennen!«18)

An anderer Stelle werden wir aufgefordert, uns von menschlichen Begrenzungen frei zu machen und unseren Geist von leeren Einbildungen, hinderlichen Gedanken und dem eitlen Gerede der Menschen zu reinigen.19) Diese und andere menschliche Begrenzungen können unsere Fähigkeit, die vollständige Botschaft eines [Seite 9] Textes mit all seinen verschiedenen Bedeutungen aufzunehmen, erheblich einschränken, und somit ist unser Verständnis gleichermaßen


In den Bahá’í-Schriften werden wir ermutigt, die Wahrheit unabhängig von der Meinung anderer zu suchen

beschränkt und unsere Auslegungen sind beeinträchtigt. Wir können jedoch einen religiösen Text niemals völlig frei von Voreingenommenheit und menschlichen Beschränkungen angehen, wie sehr wir uns auch mühen. Dennoch müssen wir uns bemühen, bestehende Vorurteile und Annahmen, zumindest teilweise, bewußt wahrzunehmen, um auf diese Weise ihren schädlichen Einfluß zu mindern.


Unabhängige Suche nach Wahrheit

Dieses Prinzip der Auslegung ist mit dem sechsten eng verbunden und handelt von dem Bahá’í-Grundsatz der »unabhängigen Suche nach Wahrheit«. Dieses Prinzip umschließt zwei eng miteinander verbundene Aspekte, die beide entscheidend für das richtige Verständnis religiöser Texte sind. Der erste Aspekt fordert die Aufgabe aller Formen von Vorurteil, Aberglauben und dogmatischem Denken. ’Abdu’l-Bahá sagte während Seines Aufenthaltesin Paris 1912 über diesen Punkt:

»Darum sollten wir gebieterisch den eigenen persönlichen Vorurteilen und dem Aberglauben entsagen, wenn wir ernstlich die Wahrheit zu erforschen wünschen. Wenn unser Verstand nicht zwischen Dogmen, Aberglauben und Vorurteilen auf der einen und der Wahrheit auf der anderen Seite unterscheidet, so können wir nicht zum Ziel gelangen.«20)

Der zweite Aspekt der unabhängigen Suche nach Wahrheit betrifft die menschliche Neigung, anderen blind zu folgen oder sie nachzuahmen. In den Bahá’í-Schriften werden wir ermutigt, die Wahrheit unabhängig von der Meinung anderer zu suchen, wie mächtig oder gelehrt sie auch sein mögen. 'Abdu'l-Bahá sagte Seinen Zuhörern in Malden, Massachusetts, daß »Gott nicht wollte, daß der Mensch seine Väter und Vorfahren blind nachahmt... Er sollte keine Seele nachahmen oder ihr blind folgen. Er sollte sich nicht ohne weitere Nachforschung auf die Meinung anderer verlassen; nein, jedermann muß mit Verstand und unabhängig suchen und zu einem objektiven Schluß kommen, nur durch ebendiese Objektivität geleitet.«21)

Das Universale Haus der Gerechtigkeit schrieb an einen einzelnen Gläubigen: »Die Freunde müssen deshalb lernen, einerseits den Ansichten anderer zuzuhören, ohne davon eingeschüchtert oder im Glauben erschüttert zu werden, und andererseits ihrer eigenen Meinung Ausdruck zu geben, ohne sie ihren Mit-Bahá’í aufzuzwingen.«22)


Mäßigung bei der Auslegung

In den Bahá’í-Schriften wird uns [Seite 10] gesagt, daß alles, was im Übermaß betrieben wird, »aufhören wird, einen wohltätigen Einfluß auszuüben (und) sich als Quelle des Übels erweisen wird«.23) Für die Auslegung gilt keine Ausnahme von diesem Prinzip. Solange wir die Auslegung nicht unter dem Gesichtspunkt der Mäßigung angehen, kann jedes der Prinzipien der Auslegung, die wir hier untersucht haben, in extremer Weise benutzt werden. Wir müssen demnach lernen, alle Neigung zu ausschließlichen Methoden und extremen Formen der Auslegung zu mäßigen.


□ Ein Beispiel

Im folgenden soll an einem Beispiel das Verfahren der Auslegung und das Zusammenspiel einiger der Prinzipien der Auslegung, die zuvor diskutiert wurden, aufgezeigt werden. Als Beispiel dient ein prophetischer Abschnitt aus dem Buch Jesaja (11, 6-9):

»Die Wölfe werden bei den Lämmern wohnen und die Parder bei den Böcken liegen. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden auf der Weide gehen, daß ihre Jungen beieinander liegen; und Löwen werden Stroh essen, wie die Ochsen. Und ein Säugling wird seine Lust haben am Loch der Otter, und ein Entwöhnter wird seine Hand stecken in die Höhle des Basilisken. Man wird nirgends Schaden tun noch verderben auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land ist voll Erkenntnis des Herrn, wie Wasser das Meer bedeckt.«

Die Bahá’í-Interpretation dieses Abschnitts geschieht in drei Schritten. Im ersten Schritt werden der Verstand und wissenschaftliche Erkenntnis genutzt, um zu klären, wieweit die wörtliche Bedeutung gilt. »Der Tag, an dem sich diese Prophezeiung wörtlich erfüllt, wird niemals kommen,«  erklärt ’Abdu’l-Bahá, »denn diese Tiere können wegen ihrer Natur niemals miteinander verkehren oder sich in Güte und Liebe zusammentun.«24) Nachdem Bahá’u’lláh die Unwissenheit und Unvernunft derer aufgezeigt hat, die eine wörtliche Erfüllung dieses Abschnitts erwarten, fragt Er: »Von welchem Nutzen wäre es überdies für die Welt, wenn so etwas geschähe?«25) So beweist die Unsinnigkeit des wörtlichen Verstehens dieses Abschnitts, daß er überwiegend symbolische Bedeutung hat.

Der zweite Schritt besteht in der Auslegung des symbolischen Inhalts. ’Abdu'l-Bahá erklärt, daß diese verschiedenen Tiere - Beutetiere und Raubtiere, Pflanzenfresser und Fleischfresser — die »verschiedenen Nationen und Völker, sich bekämpfende Sekten und feindliche Rassen, die in ihrer Gegnerschaft und Feindschaft wie Wolf und Lamm sind,« darstellen.26) Daß diese selben Tiere beieinander liegen und miteinander fressen, ist ein Beispiel für »die Einheit und die Eintracht der Rassen, Nationen und Völker, die in Verständnis, Erleuchtung und Geistigkeit [Seite 11] zusammenkommen.«27) Dies geschieht im gestaltenden Zeitalter jeder Religion, wenn die verschiedenen Glaubensrichtungen, die feindlichen Stämme und die widerstreitenden Länder in einem gemeinsamen Glauben vereinigt werden.

Der dritte und letzte Schritt ist eine Bahá’í-zentrierte Auslegung. 'Abdu'l-Bahá erläutert, daß dieser Abschnitt aus Jesaja durch Christus erfüllt wurde, während Bahá’u’lláh erklärt, daß er ebenso von Muhammad erfüllt wurde.28) ’Abdu‘l-Bahá weist jedoch darauf hin, daß die verschiedenen widerstreitenden Nationen, Völker und Lehrmeinungen noch heute existieren. Er schließt daraus, daß Christus diesen Abschnitt nur teilweise erfüllte, während »diese Verse Wort für Wort auf Bahá’u’lláh« zutreffen.

Obwohl diese Auslegung von Bahá’u’lláh und ’Abdu'l-Bahá stammt, kann sie doch als Beispiel für unsere eigene Auslegung dienen. Wir sollten festhalten, daß weder Bahá’u’lláh noch ’Abdu'l-Bahá die Echtheit von Jesaja Kapitel 11, Vers 6-9 bestreiten oder in Frage stellen, nur weil das wörtliche Verständnis nicht mit der Vernunft oder den wissenschaftlichen Beobachtungen des Verhaltens von Beutetier und Raubtier übereinstimmt. Statt dessen lehnen sie die wörtliche Bedeutung dieses Abschnitts ab und geben eine vernunftgemäße und zutiefst bedeutsame Auslegung, die die mythologische Natur religiöser Sprache verherrlicht.


□ Schlußbetrachtung

Einige wichtige Schlußfolgerungen können aus unserer vorläufigen Untersuchung von acht Prinzipien der Auslegung, die in den Bahá’í-Schriften gefunden wurden, gezogen werden. Erstens: Wenn dies auch nicht alle Prinzipien der Auslegung in den Bahá’í-Schriften sein mögen, so gehören sie sicher zu den wichtigsten. Zweitens wird in den Bahá’í-Schriften wiederholt zu individueller Auslegung ermutigt und sie wird als wesentlich für unser Verständnis der verschiedenen Religionen angesehen. Drittens sollten wir nicht nur religiöse Texte und heilige Schriften auslegen, sondern auch die Vorstellungen, Lehrmeinungen, Rituale und Zeremonien, die aus diesen Texten


Ganz wesentlich ist, daß religiöse Sprache vorwiegend eine Vision des Lebens vermittelt

abgeleitet wurden. Viertens wirken die acht Prinzipien der Auslegung, die wir untersucht haben, abhängig voneinander und miteinander. Daher sollten wir einen ausgewogenen Zugang zur Auslegung anstreben und den extremen, übermäßigen Gebrauch eines dieser Prinzipien vermeiden. Fünftens: Da alle religiösen Schriften eine Vielzahl von Bedeutungen enthalten, sollten wir alle Auslegungen berücksichtigen, die vom Text gestützt werden. Ganz wesentlich ist, daß religiöse Sprache vorwiegend [Seite 12] eine Vision des Lebens vermittelt im Gegensatz zu philosophischen, historischen und wissenschaftlichen Darstellungen über die Welt. Diese Vision des Lebens ist oft in symbolische Sprache gekleidet und in mythologische Erzählungen eingebettet, die in jedem Zeitalter neu ausgelegt werden müssen.


1) Unfolding Destiny, S.423
2) Botschaften des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, Band 1, S.55
3) Beantwortete Fragen, S.127
4) Ährenlese, S.154
5) Ährenlese, S.286
6) Buch der Gewißheit, S.167 und S.41
7) Buch der Gewißheit, S.167f
8) Promulgation of Universal Peace, S.246
9) Fortress Press, Philadelphia 1974
10) Buch der Gewißheit, S.41 und S.167
11) Das Geheimnis göttlicher Kultur, S.78
12) Das Geheimnis göttlicher Kultur, S.89
13) Bahá’í-Weltzentrum, veröffentlicht in Bahá’í News, Juni 1979 und The Journal of Bahá’í Studies 1.1 (1988), S.33
14) ’Abdu'l-Bahá, Ansprachen in Paris, S.112
15) Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá’u’lláhs, S.91
16) s. Ährenlese, S.73
17) Lights of Guidance, S.373
18) Kitáb-i-Aqdas, Inhaltsübersicht, S.40
19) Bahá’u’lláh, Buch der Gewißheit, S.13, 39, 123
20) Ansprachen in Paris, S.108
21) Promulgation of Universal Peace, S.291, und 293-294
22) Botschaften, Band I, S.56
23) Bahá’u’lláh, Ährenlese, S.189
24) Promulgation of Universal Peace, S.370
25) Buch der Gewißheit, S.81
26) Beantwortete Fragen, S.71
27) Promulgation of Universal Peace, S.370
28) Beantwortete Fragen, S.70f; Buch der Gewißheit, S.81
29) Beantwortete Fragen, S.71



Dem Studium der Sache ist keine Grenze gesetzt.
Je mehr wir in den Schriften lesen, desto mehr Wahrheiten können wir in ihnen finden, und desto mehr werden wir feststellen, daß unsere früheren Ansichten falsch waren.


Shoghi Effendi


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Núr-Universität[Bearbeiten]


Eine Bahá’í-Initiative in Bolivien


Zuerst erschienen in One Country, Vol.2, Nr.3, 1990. Die Übersetzung aus dem Englischen besorgte Petra Orth.


Santa Cruz, Bolivien — Bei einer Abschlußfeier sind es gewöhnlich die Studenten, die etwas erhalten, ein Diplom oder ein Zeugnis, verbunden mit all den Privilegien, die solche Dokumente mit sich bringen. Bei einer kleinen Abschlußfeier, die hier im Juli 1990 veranstaltet wurde, vertauschten sich jedoch vorübergehend die traditionellen Rollen, als sechs Studenten der Núr-Universität ihrer Hochschule eine kleine Gedenktafel als Zeichen ihrer Dankbarkeit überreichten. »An die Núr-Universität, in Dankbarkeit für die umfassende Bildung, die wir erhielten«, lautete die Inschrift.













Das Gebäude der Núr-Universität


Bei einer Zeremonie vor einem Publikum aus Lehrern, Verwaltungsangestellten, Familienmitgliedern und Gästen wurde die von den sechs Studenten unterschriebene Tafel dem Präsidenten von Núr, Manucher Shoaie, überreicht.

Obwohl dies vielleicht ein eher unbedeutendes Ereignis war, spiegelt diese Geste der Studenten das hohe Ansehen und die öffentliche Wertschätzung wider, die die Núr-Universität [Seite 14] seit ihrer Gründung vor sechs Jahren gewonnen hat. Nachdem sie praktisch ohne Geld von einer Gruppe weitgehend unbekannter Lehrer und Entwicklungsspezialisten gegründet worden war, ist die Zahl der bei Núr eingeschriebenen Studenten seit 1985 von 97 auf heute 993 angestiegen. Sie ist damit die zweitgrößte private Universität Boliviens.

Dieser zahlenmäßige Erfolg wird sowohl von dem wachsenden guten Ruf der Universität als auch dem Streben nach akademischen Auszeichnungen gekrönt. Obwohl das Wachstum Núrs den Trend zu privaten Hochschulen in Lateinamerika widerspiegelt, hat sie sich durch die Integration von akademischer und praktischer Bildung, durch ihre neuartige Verwaltung und ihre einzigartige Philosophie besonders hervorgetan.


□ Von Bahá’í gegründet

Wenngleich Núr auch nicht von der Bahá’í-Religion oder einer seiner Institutionen geleitet wird, so wurde sie doch von Bahá’í gegründet und ihr pädagogisches und administratives Gedankengut geht auf Bahá’í-Prinzipien zurück. Diese Grundsätze - so sagen die Mitglieder der Fakultät und der Verwaltung, von denen die meisten selbst nicht Bahá’í sind - bilden das Fundament für die besondere Konzeption der Universität.

Núrs Lehrkonzept betont die »Integration« von traditionell akademischer Ausbildung, praktischer Erfahrung und Vermittlung grundlegender moralischer Prinzipien, wie z.B. den Dienst an der Gemeinschaft, soziale Gerechtigkeit und den Respekt vor der menschlichen Vielfalt. »Das Wesentliche, wodurch Núr sich von anderen Ausbildungsstätten unterscheidet, ist dieser umfassende integrierte Studienplan«, sagt Dr. Sarah Garcia Betancourt, Núrs akademische Leiterin, die bereits vielfach an anderen Universitäten Boliviens gearbeitet hatte, bevor sie zu Núr kam. »An der Universität wird nicht nur auf der akademischen Ebene gelehrt, man versucht wesentliche Lebensgrundsätze zu vermitteln; Prinzipien wie die selbständige Suche nach Wahrheit, die Überwindung von Vorurteilen und Chancengleichheit für Frauen und Männer.«

»Obwohl ich selbst katholisch bin, stimme ich mit den Bahá’í hier überein, die sagen, daß diese Grundsätze universell und sehr wichtig sind«, sagt Dr. Betancourt, die bei Núr auch Geschichte unterrichtet. Diese von Dr. Betancourt erwähnten Prinzipien werden neben anderen in einer Reihe von Kursen für »Allgemeine Studien« besprochen, die Teil des akademischen Grundprogramms jedes Studenten darstellen.

»Der Programmabschnitt »Allgemeine Studien« ist einzigartig«, sagt Präsident Shoaie, »weil er auf einigen universellen, sozialen, pädagogischen und humanitären Prinzipien basiert, die den Frieden und die gesellschaftliche Integration fördern. Die »Allgemeinen Studien« umfassen fünf Bereiche: die persönliche Entwicklung, die gesellschaftliche Entwicklung, die Entwicklung der Zivilisation, Wissenschaften, die sich mit dem Leben befassen, und Führungsschulung.« Die Kurse für »Allgemeine Studien« konzentrieren sich besonders darauf, den Studenten ein Gefühl für die Geschichte der Zivilisation, [Seite 15] die Rolle der Religion in der Geschichte und für die wechselseitige Abhängigkeit der Völker untereinander zu vermitteln. Laut Präsident Shoaie werden die Studenten dazu ermutigt, diese Kerngedanken selbständig zu erforschen. Dies wiederum entspricht der Absicht der Universität, die selbständige Suche nach Wahrheit zu fördern.

»Unser Lehrkonzept vertritt nicht einen bestimmten Glauben oder eine bestimmte Ideologie«, sagt Präsident Shoaie. »Vielmehr weisen wir die Studenten an, über viele Glaubensrichtungen Nachforschungen anzustellen, einschließlich des Islam, des Buddhismus, des Christentums und des Bahá’í-Glaubens. Sie sollen die Beiträge der Religionen zur Zivilisation untersuchen und vor der Klasse darüber referieren.«











Das Tonstudio der Núr-Universität


□ Unpolitische Haltung

Tatsächlich ist es die Betonung des freien Forschens, begleitet von politischer Unparteilichkeit, die Núr gerade in Bolivien besonders auszeichnet. Es ist schwierig, einem Außenstehenden die Kompliziertheit des Lebens an öffentlichen Universitäten in Lateinamerika zu beschreiben, wo politisches Parteigängertum oft die traditionellen Geisteswissenschaften erdrückt. Durchschnittlich benötigt man acht Jahre für einen Abschluß, den man eigentlich in fünf Jahren erreichen könnte, und zwar deshalb, weil politisch motivierte Streiks und Unterbrechungen an diesen Universitäten [Seite 16] so viel Zeit rauben. »Es gibt viele Streiks, die jedesmal den Studienablauf unterbrechen«, sagt Prof. José Gonzales, der Koordinator der Abteilung für »Allgemeine Studien«. »Bei Núr wird das gesamte Programm gelehrt, und es wird großen Wert auf die Qualität des Unterrichts gelegt.«

Der Lehrplan einiger Universitäten spiegelt oft die engstirnigen ideologischen Interessen der jeweiligen politischen Partei wider, die die Kontrolle über die Universität hat. Zu oft geht politische Ideologie über praktische Ausbildung. Das Ergebnis ist, daß Hochschulabsolventen manchmal nur schlecht gerüstet sind, eine produktive Rolle in der Gesellschaft wahrzunehmen, so meinen Prof. Gonzales und andere. Bei Núr liegt der Schwerpunkt der Ausbildungsprogramme auf der Förderung von Qualitäten und Fertigkeiten, die von der sich rasch entwickelnden Gesellschaft Boliviens benötigt werden. Abschlüsse werden in sechs Berufsrichtungen angeboten: Landwirtschaft, Betriebswirtschaft, Kaufmännisches Ingenieurwesen, angewandte Informatik, Kommunikations- und Sozialwissenschaften.

Núrs Studenten bekunden freimütig die politische Zurückhaltung der Universität. »Ich war ein Jahr lang an der staatlichen Universität in La Paz«, sagte Javier Ramallo Fernandez, ein 22 Jahre alter Student des Nachrichtenwesens aus der Stadt Cochabamba. »Und wie bei allen staatlichen Universitäten gab es eine ganze Menge politischen Bekehrungseifer. Für mich ist hier das Wichtigste die ideologische Freiheit. Obwohl Núr auf Bahá’í-Gedanken basiert, wird einem nicht irgendeine Bahá’í-Philosophie aufgedrängt. Wir haben Religionsfreiheit und Gedankenfreiheit«, sagt Herr Fernandez. Lenin Garcia Perez, auch Studentin des Nachrichtenwesens aus Cochabamba, fügt hinzu: »Es ist für alle Menschen sehr wichtig, Gedankenfreiheit zu besitzen. An anderen Universitäten ist dies nicht der Fall. Dort gibt es keinen offenen Gedankenaustausch.«


□ Betonung des Dienstes an der Gemeinschaft

Ein weiteres Thema, das sich durch Núrs akademisches und administratives Gefüge zieht, ist die Betonung des »Dienstes an der Gemeinschaft«. Wie bereits erwähnt, streben die Ausbildungsprogramme und ihre Kursarbeit danach, den Bedürfnissen der bolivianischen Gesellschaft zu entsprechen. Zusätzlich zu den Kursen müssen die Studenten vor ihrer Abschlußprüfung mindestens 200 Stunden an einem Gemeinschaftsprojekt gearbeitet haben. Diese Projekte werden oft von den Studenten selbst entworfen. Gegenwärtig beteiligen sich zum Beispiel etwa 20 Studenten an einem Projekt, um den Analphabeten in der Stadt Kenntnisse im Lesen und Schreiben zu vermitteln. Die Studenten organisieren und unterrichten selbst Klassen, sowohl an der Universität als auch außerhalb des Universitätsgeländes in acht verschiedenen Gebieten. Das vor etwa einem Jahr ins Leben gerufene Alphabetisierungsprogramm hat schon über 200 Menschen zu grundlegenden Kenntnissen in Lesen, Schreiben und Mathematik verholfen.

»Einer der Hauptunterschiede zwischen Núr und den anderen Universitäten ist der Stellenwert, den [Seite 17] Núr dem Konzept des »Dienstes an der Gemeinschaft« gegeben hat«, sagt Herr Jeremy Martin, einer der Mitbegründer der Schule. »Wir wollen, daß die Universität im gesellschaftlichen Leben aktiv ist«.


□ Einige Zahlen

Zur Zeit erhalten etwa 30 Prozent der Studenten in irgendeiner Form Studiengeldermäßigung oder Beihilfen in Form eines Stipendiums. Abiturienten des öffentlichen Schulsystems erhalten zum Beispiel Schulgeldermäßigungen zwischen 20% und 50%, je nach den individuellen Erfordernissen. Bei der gegenwärtigen Studentenzahl von etwa eintausend fehlen zur Rentabilität immer noch einige hundert Studenten. Núr wirtschaftet mit einem Defizit von ca. 20.000 US-Dollar pro Jahr. Trotzdem steht fortlaufendes Wachstum in Aussicht. Núrs Wachstum war so rasant, daß sie seit ihrer Gründung bereits dreimal den Standort wechseln mußte; zur Zeit ist sie in einem vierstöckigen Bürogebäude nicht weit vom Stadtzentrum von Santa Cruz untergebracht. Die Schule initiierte kürzlich eine internationale Spendenaktion und hofft darauf, bald eigene Universitätsgebäude errichten zu können.

»Wir mußten immer um unser Überleben kämpfen«, sagt Herr Martin, »trotzdem ist es uns gelungen, alle Erwartungen zu übertreffen. Der Grund dafür ist, daß wir eine andere Vision haben.«









Ein Blick ins Klassenzimmer


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Der Gipfel für die Erde[Bearbeiten]


UNCED - Konferenz für Umwelt und Entwicklung

Uwe Still


Die Umweltprobleme und der Nord-Süd-Konflikt sind die anspruchsvollsten und zugleich drängendsten Herausforderungen der heutigen Welt. Im Juni 1992 sollen bei der Konferenz für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen (UNCED) in Brasilien hierfür Lösungen erörtert und Maßnahmen eingeleitet werden. Dieser »Welt-Umwelt-Gipfel«, an dem Regierungschefs aus aller Welt teilnehmen werden, ist eine Veranstaltung ohne Beispiel. Es geht um wirklich grundlegende Veränderungen: Die Wirtschaft soll sich umstellen, um eine »verträgliche Entwicklung« überall auf der Erde zu ermöglichen. Die Politik soll Strukturen finden, die weltweite Entscheidungen durchsetzbar machen, ohne die Umweltprobleme kaum lösbar sind. Der Schutz der Erde soll zusammen mit einer gesunden wirtschaftlichen Entwicklung von Regierungen wie von nichtstaatlichen Organisationen als unabdingbare Aufgabe formuliert werden. - Kommt nach der »Erklärung der Menschenrechte« jetzt der nächste Schritt, die Charta für die Menschheit und die Erde, auf der sie lebt?

»Von dieser Konferenz werden Entscheidungen erwartet, die zu grundlegenden Änderungen für die Richtung und die Natur unseres wirtschaftlichen Lebens und Verhaltens führen und die die Grundlage für eine zunehmend sichere, gerechte, hoffungsvolle und verträgliche Zukunft der ganzen menschlichen Gesellschaft schaffen.« Maurice Strong, Generalsekretär der »United Nations Conference on Environment and Development« (UNCED) umreißt in einem Satz, welche Aufgabe sich die Teilnehmer dieser auch als »Earth Summit« bezeichneten Tagung in Brasilien vorgenommen haben. Es geht hier nicht um die Lösung irgendeines Einzelproblems, sonden um die erforderliche neue Grundlage für die weitere Entwicklung der Menschheit.

Es ist kein Zufall, daß UNCED schon im Vorfeld überall auf der Welt ganz besondere Beachtung findet. Denn in den letzten Jahren wurde fast überall anerkannt, daß viele Umweltprobleme nur weltweit sinnvoll gelöst werden können. Und die damit eng verknüpften Entwicklungsprobleme der armen Länder sind sowieso ein Thema, das nur in größeren Zusammenhängen verstanden und angegangen werden kann. Die Entwicklungsländer mit ihrer meist durch Armut verursachten Naturzerstörung wie auch die Industrieländer mit ihrem hohen Ressourcenverbrauch und ihrer Umweltbelastung durch immer mehr selbstproduzierte Schadstoffe haben lebhaftes Interesse, eine langfristig »verträgliche«  wirtschaftliche Entwicklung zu erreichen. Daß wir nicht einfach so weitermachen können wie zur Zeit, ist dabei von allen Seiten unbestritten.

Aber auch die nichtstaatlichen Organisationen haben sich dieses Themas in noch nie gekanntem [Seite 19] Ausmaß angenommen. Es ist das erste Mal, daß parallel zu einem politischen Gipfeltreffen im Rahmen der Vereinten Nationen etwa 20.000 Vertreter der nichtstaatlichen Organisationen zusammenkommen werden. Insgesamt wird UNCED in jedem Fall die weltweit größte Veranstaltung zu diesem Themenkomplex sein.

Hinter dem Kürzel UNCED versteckt sich nicht nur die eigentliche Konferenz. Schon die zahlreichen Vorbereitungsveranstaltungen überall auf der Welt sorgen dafür, daß UNCED nicht ein Termin, sondern ein Prozeß ist. Auf einer der Vorbereitungstagungen wurde zum Beispiel bereits ein »Universaler Kodex für umweltgerechtes Verhalten« entworfen, den wir in vollem Wortlaut abdrucken. Und vor allem wird UNCED mit dem Gipfeltreffen nicht beendet sein; eigentlich ist dies dann erst der Anfang.

Ein Schlüsselbegriff im Zusammenhang mit dieser Konferenz ist »Sustainable Development« Im Deutschen finden sich zahlreiche Übersetzungen dafür, von denen keine das ausdrücken kann, was im Englischen gemeint ist: eine Entwicklung, die dauerhaft mit der Umwelt verträglich ist und den Menschen eine langfristige Zukunft sichert. Im reichen Norden ist klar, daß wegen des hohen Rohstoffverbrauchs sowie der Belastung von Luft, Wasser und Boden nicht lange so weitergewirtschaftet werden kann wie heute. Und im armen Süden geht das bloße Überleben der heutigen Menschen häufig auf Kosten der Natur, die immer weiter zerstört wird. Beides kann nicht weiter so fortgesetzt werden. Eine Lösung für eine wirtschaftliche Entwicklung muß gefunden werden, die unsere Erde nicht ausbeutet und zerstört, sondern als Lebensgrundlage auch für die Zukunft erhält. Zur Erreichung des Ziels »Sustainable Development« ist auch eine Lösung des Nord-Süd-Konflikts unerläßlich. Dafür genügt zweifellos nicht der Erlaß von einigen Schulden der unterentwickelten Länder. Die Politiker und Wirtschaftler stehen hier vor großen Aufgaben.

Die Erwartungen an die Ergebnisse von UNCED sind recht unterschiedlich. Von der pessimistischen Einschätzung, daß bei einem solchen Mammuttreffen nur unverbindliche Erklärungen herauskommen können, bis zur Vorstellung, daß in Brasilien sehr weitgehende Entscheidungen getroffen werden, reicht das Meinungsspektrum. Immerhin gibt es Experten, die von UNCED einen Einstieg in eine weltweite Exekutive zur Durchsetzung bestimmter Umweltmaßnahmen erwarten. Und das würde nichts anderes bedeuten als den ersten Schritt zur Einrichtung einer Art Weltregierung.

Unter den Organisationen, die den UNCED-Prozeß von Anfang an mitgetragen haben, befindet sich auch die Internationale Bahá’í-Gemeinde (BIC). In einem Positionspapier unter dem Titel »Internationale Gesetzgebung für Umwelt und Entwicklung« formuliert BIC (der vollständige Text ist untenstehend abgedruckt): »Ehe nicht neue, kreative Maßnahmen zur Neugliederung der internationalen Ordnung ergriffen werden können - davon ist die Internationale Bahá’í-Gemeinde überzeugt — wird allein die Verschlechterung der Umweltsituation mit ihren Langzeitfolgen für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung [Seite 20] unweigerlich zu einer Katastrophe entsetzlichen Ausmaßes führen.«  Das sind sehr klare Worte.

Dieser Warnung folgen eine Reihe von Vorschlägen. Die Bahá’í sind im Rahmen der Entwicklung, die mit UNCED verknüpft ist, jetzt überall sehr stark gefordert. Denn was die Welt jetzt braucht, sind genau die Ansätze, die sich in der Bahá’í-Religion als wesentliche Elemente finden: Die »Einheit der Menschheit« als Grundkonzept, neue Strukturen zur Lösung der aktuellen weltweiten Probleme und die Zielvorstellung für eine langfristige Entwicklung der Menschheit.



1992

Das Jahr der Umweltereignisse


Gleich drei herausragende Ereignisse werden in diesem Jahr die Umweltthematik in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rücken:

Am 30. Mai startet mit einem großen Aktionstag die Medienkampagne »Eine Welt für alle«. Das Fernsehen (ARD) und zahlreiche Organisationen (auch die Bahá’í)tragen mit vielen Aktionen im ganzen Land zu diesem Projekt bei.

Im Juni findet die UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Brasilien statt. (Siehe Beiträge auf diesen Seiten).

Im September wird in Frankfurt die Großveranstaltung »Deutscher Umwelttag '92«  abgehalten, ein Ereignis, das nicht nur wegen seiner Größe neue Maßstäbe setzt (im Frühjahr beginnen bereits einige Vorveranstaltungen) sondern auch wegen der Beteiligung sehr verschiedener Gruppierungen: die wichtigsten Umweltschutzorganisationen, Verbraucher- und Industrieverbände, Gewerkschaften, Kirchen usw. sind mit von der Partie.

Weitere Initiativen wie » Tag der Erde« (22. April), »Globaler Aktionsplan«  (weltweites Projekt bis zum Jahr 2000 unter Mitwirkung des ZDF) usw. ergänzen dieses Jahr der großen Umweltereignisse.



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Internationale Gesetzgebung für Umwelt und Entwicklung[Bearbeiten]

Eine Erklärung der Internationalen Bahá’í-Gemeinde

Diese Erklärung wurde dem Vorbereitungskomitee für die Konferenz über Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen (UNCED) vorgelegt.


Vor etwas mehr als hundert Jahren sprach Bahá’u’lláh in einer Reihe von Briefen an die damaligen Herrscher der Welt davon, daß für die Menschheit ein zeitgeschichtlicher Abschnitt beginne, der für das Leben auf diesem Planeten eine radikale Neugliederung mit sich bringen werde. Herausforderungen, mit denen man niemals gerechnet hatte, werden, so sagte Er, die Ressourcen selbst der fortgeschrittensten Nationen bald verschlingen. Ihnen kann nur mit einem Weltbundsystem begegnet werden, dessen Zentralorgan ein repräsentatives Weltparlament wäre, das die Macht hat, ein weltweit vereinbartes und durchsetzbares Recht zu schaffen. »Die Erde ist nur ein Land«, versicherte Bahá’u’lláh, »und alle Menschen sind seine Bürger«.1)

Da Ausmaß, Kompliziertheit und Dringlichkeit der Umweltprobleme sich Schritt für Schritt von selbst die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erzwangen, wird die Logik dieser Leitlinie täglich deutlicher. Die verfügbaren internationalen gesetzgebenden Einrichtungen und deren Verfahren erweisen sich als unzulänglich, vor allem auf Grund der Tatsache, daß sie auf Gesetzen beruhen, die für Nationalstaaten bestimmt sind. Ehe nicht neue, kreative Maßnahmen zur Neugliederung der internationalen Ordnung ergriffen werden können - davon ist die Internationale Bahá’í-Gemeinde überzeugt - wird allein die Verschlechterung der Umweltsituation mit ihren Langzeitfolgen für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung unweigerlich zu einer Katastrophe entsetzlichen Ausmaßes führen.

Der derzeitige Prozeß zur Schaffung einer internationalen Gesetzgebung, der sich jeweils nur einem Problem zuwendet, ist bruchstückhaft und unsystematisch. Zu so verschiedenen Fragen wie dem Schutz der Ozonschicht und der Kontrolle über internationale Geschäfte mit gefährlichen Abfällen wurden Übereinkommen, Verträge und Protokolle angenommen. Über andere Konventionen zur Klimaveränderung und zur Artenvielfalt wird verhandelt. Weitere Übereinkommen wurden noch zu Fragen wie der vom Festland aus verursachten Meeresverschmutzung vorgeschlagen. Es gibt weder ein zentrales Organ, das für die Formulierung internationalen Umweltrechts verantwortlich ist, noch konnten sich die Nationen der Welt auf eine Reihe von Prinzipien einigen, die als Grundlage für Umweltgesetzgebung dienen könnten. Zudem [Seite 22] unterzeichnen selten dieselben Länder die verschiedenen gesetzgebenden Dokumente. Deshalb ist es nahezu unmöglich, Vereinbarungen aufeinander abzustimmen oder zu kombinieren.

Der internationale Gesetzgebungsprozeß ist dafür bekannt, langsam, schwerfällig und kostspielig zu sein. Ist ein Problem einmal identifiziert, werden Expertentagungen einberufen, um einen Entwurf für ein Abkommen vorzubereiten. Die daran interessierten Regierungen verhandeln über das Abkommen, und bei einer Tagung der Regierungsbevollmächtigten wird es unterzeichnet. Treten dann nach einem oft sehr langen Zeitraum für Ratifikation und Beitritt die gegebenen Gesetze in Kraft, geschieht dies nur in den Unterzeichnerstaaten. Im allgemeinen wird ein Büro eingerichtet, das die Durchführung der Konvention fördert und überwacht. Wenn das erlassene Gesetz geändert werden muß, wie das beim Montrealer Protokoll der Fall war, als die angestiegene Zerstörung der Ozonschicht die Bestimmungen des Protokolls überholt hatte, kann die Aktualisierung ebenso langsam vor sich gehen wie die Annahme der Konvention. Viele Länder, die nur über eine begrenzte Anzahl Diplomaten und Experten verfügen, sind solchen zeitraubenden und teuren Verfahren nicht gewachsen, besonders, weil die Anzahl der Verhandlungen als Antwort auf die dringlichen globalen Umweltprobleme ständig steigt.

Das derzeitige ad-hoc-Verfahren für die Umweltgesetzgebung kann sich nur dahingehend entwickeln, daß es immer schwerer zu handhaben sein wird. Für die Bereitstellung weltweiter Mechanismen, die ein verträgliches Entwicklungsmodell schaffen und stützen sollen, wurden unzählige Vorschläge gemacht. Einige Experten raten, das bestehende UN-System zu stärken, indem die Vollmachten von ausführenden Organen wie dem UN-Umweltprogramm (UNEP) höher eingestuft werden, der Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) eine Umbildung erfährt oder der Treuhandrat zur Verwaltung bestimmter globaler Ressourcen eingesetzt wird. Andere schlagen neue Organe vor wie z.B. einen Umweltsicherheitsrat, einen Weltgerichtshof für Umweltrecht oder ein internationales Verhandlungsgremium für Umweltfragen, das die internationale Gesetzgebung zu Problemen, die globale Aktionen erfordern, vorbereitet, annimmt und überarbeitet.

Wie wohlgemeint und hilfreich solche Vorschläge auch sein mögen, für die Internationale Bahá’í-Gemeinde liegt auf der Hand, daß der Aufbau eines auf lange Sicht aufrechtzuerhaltenden Entwicklungsmodells eine komplizierte Aufgabe mit weitreichenden Verzweigungen darstellt. Sie erfordert offensichtlich einen neuen Grad an Engagement bei der Lösung größerer Probleme, die nicht ausschließlich mit der Umwelt verbunden sind. Zu diesen Problemen gehören die Militarisierung, der übermäßige Besitztumsunterschied innerhalb und zwischen den Nationen, der Rassismus, der mangelnde Zugang zu Bildung, ungezügelter Nationalismus und die fehlende Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Einer nur stückweise und allmählich vorgehenden Methode, die sich an den Bedürfnissen von Nationalstaaten orientiert, ist die Annahme eines [Seite 23] umfassenden Abkommens, das spezifische internationale Gesetze veröffentlichen könnte, deutlich vorzuziehen.

Langzeitlösungen werden eine neue und umfassende Sichtweise einer globalen Gesellschaft erfordern, unterstützt durch neue Werte. Aus der Sicht der Internationalen Bahá’í-Gemeinde ist die Anerkennung der Einheit der Menschheit die erste, grundlegende Voraussetzung für diese Reorganisation und Verwaltung der Welt als ein Land, die Heimat der Menschheit. Die Anerkennung dieses Prinzips bedeutet nicht das Ablegen legitimer Loyalität, die Unterdrückung kultureller Vielfalt oder die Abschaffung nationaler Autonomie. Sie verlangt eine weitreichendere Loyalität, ein viel höheres Streben als bisher menschliche Bemühungen angespornt hat. Sie verlangt deutlich die Unterordnung nationaler Impulse und Interessen unter die gebieterischen Ansprüche einer vereinten Welt. Sie stimmt weder mit irgendeinem Versuch überein, Uniformität aufzuerlegen, noch mit irgendeiner Tendenz zu übermäßiger Zentralisierung. Ihr Ziel wird durch das Konzept der »Einheit in Mannigfaltigkeit«  korrekt erfaßt.

In den Bahá’í-Schriften wird ein weltweites föderatives System ins Auge gefaßt, in welchem der Absicht Bahá’u’lláhs entsprechend »...alle Nationen der Erde willig den Anspruch, Krieg zu führen, gewisse Rechte der Erhebung von Steuern und alle Rechte auf Kriegsrüstung außer zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung in ihren Gebieten abtreten...«2) Zu diesem Weltgemeinwesen wird eine »Weltlegislative« gehören, »deren Mitglieder als Treuhänder der ganzen Menschheit die gesamten Hilfsquellen aller Mitgliedstaaten überwachen. Sie muß die erforderlichen Gesetze geben, um das Leben aller Rassen und Völker zu steuern, ihre Bedürfnisse zu befriedigen und ihre wechselseitigen Beziehungen anzupassen. Eine Weltexekutive, gestützt auf eine internationale Streitmacht, wird die Beschlüsse jener Weltlegislative ausführen, deren Gesetze anwenden und die organische Einheit des ganzen Gemeinwesens sichern. Ein Weltgerichtshof wird seine bindende, endgültige Entscheidung in sämtlichen Streitfragen, die zwischen den vielen Gliedern dieses allumfassenden Systems auftreten können, fällen und zustellen...«3) In diesem Rahmen wird ein »..einheitliches System internationalen Rechts als Ergebnis der wohlüberlegten Entscheidung der weltweit vereinigten Volksvertreter durch das sofortige, zwingende Eingreifen der vereinten Streitkräfte der Verbündeten sanktioniert...«4) Gleichzeitig werden »...die Autonomie seiner nationalstaatlichen Glieder sowie die persönliche Freiheit und Selbständigkeit der einzelnen Menschen, aus denen es gebildet ist, ausdrücklich und völlig gesichert...«5) sein.

Daher bittet die Internationale Bahá’í-Gemeinde den Vorbereitungsausschuß dringend, kühne und kreative Ansätze zur Schaffung internationaler gesetzgebender Einrichtungen und Verfahrensweisen in Erwägung zu ziehen. Ohne eine Vorstellung [Seite 24] von der Zukunft ist keine wirkliche Veränderung möglich. Die vorgelegte »Erdcharta« hat möglicherweise noch einen langen Weg vor sich, bis sie eine vereinende Vorstellung von der Zukunft zum Ausdruck bringt und mutig die Werte bekräftigt, auf denen sie beruhen muß. In seiner Arbeit am Text wird der Vorbereitungsausschuß unter Umständen den Wunsch haben, die Verheißung des Weltfriedens, eine Erklärung an die Völker der Welt, die das Universale Haus der Gerechtigkeit zur Unterstützung des Internationalen Jahres des Friedens der Vereinten Nationen veröffentlicht hat, heranzuziehen.

Die Bahá’í in aller Welt betrachten die Entwicklung des UNCED-Programms als nachdrückliche Bestätigung des Optimismus, den sie für die Zukunft der Menschheit empfinden. Wir glauben, daß - angetrieben durch die weltweite Erkenntnis der Gefahren, die derzeit den Planeten bedrohen - die Regierungen der Welt dazu gebracht werden können, mutig im Namen der gesamten Menschheit zu handeln. Das Ergebnis wird möglicherweise nicht nur eine wirkungsvolle Reaktion auf die jetzigen Umwelt- und Entwicklungsprobleme sein, sondern ein weiterer enormer Schritt nach vorne beim Aufbau eines föderativen Systems, das in der Lage ist, sich der gesamten Bandbreite an Herausforderungen, der sich eine rasch zusammenwachsende Menschheit gegenübersieht, anzunehmen.


1) Bahá’u’lláh, Botschaften aus ’Akká, 11:13
2) Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá’u’lláhs, S.66
3) Shoghi Effendi, ebenda S.297
4) Shoghi Effendi, ebenda S.67
5) Shoghi Effendi, ebenda S.269-97



EARTH SUMMIT
Rio de Janeiro, 1-12 June 1992
SOMMET PLANÈTE TERRE
Rio de Janeiro Ier-I2 juin 1992



In our hands
Entre nos mains


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Universaler Kodex für umweltgerechtes Verhalten


Dieses Dokument wurde von einem Symposium nichtstaatlicher Organisationen über Umweltfragen, das im Oktober 1990 in Bangkok, Thailand stattfand, erarbeitet. Vertreter der Internationalen Bahá’í-Gemeinde waren daran beteiligt und konnten zahlreiche Bahá’í-Prinzipien einbringen.

Die Welt befindet sich in einer tiefen Umweltkrise. Diese Krise wurzelt in weltweiten menschlichen Verhaltensmustern, die ökologisch unhaltbar, für die Gesellschaft schädlich und wirtschaftlich ungerecht sind. Wir benötigen eine Wandlung menschlicher Zielsetzungen, die materielle und geistige Wahrheiten verbindet und ein gemeinsames Gewissen schafft, ein Gewissen, das eine Welt der Ausgeglichenheit und Harmonie, des Friedens und der Gerechtigkeit wiederherstellt und hegt, ein Gewissen, das sich um Treuhänderschaft und Verwaltung der Gemeinschaft kümmert und sich der jetzigen und zukünftigen Generationen gegenüber zur Rechenschaft verpflichtet.

In Anerkennung der Tatsache, daß Einheit unbedingt erforderlich ist, wenn unter schiedliche Menschen für eine gemeinsame Zukunft arbeiten sollen, verkünden wir, die Bürger dieser Erde, diesen allgemeingültigen Verhaltenskodex:

Alle Völker und ihre Regierungen sollten danach streben:

zu erkennen, daß wir die menschliche Seele nicht von der Umwelt trennen können. Die Menschheit ist organisch mit der Welt verbunden: ihr inneres Leben gestaltet die Umwelt und wird auch selbst tief von der Umwelt beeinflußt.

einzutreten für wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit gegenüber den stillen Massen, die eine unverhältnismäßig große Last der Konsequenzen der Verschlechterung der Umweltsituation tragen.

das Recht des einzelnen auf Zugang zu Informationen über die Umwelt aus allen Quellen zu unterstützen.

den wirklichen Wert und die Vielfalt der Natur zu schätzen; Lebensweisen zu schützen, zu befürworten und zu fördern, die sowohl kulturelle Vielfalt als auch die Mäßigung von Bedürfnissen bereichern, auf der Grundlage von ökologisch tragbaren Prinzipien, Wachstum und Entwicklung.

[Seite 26]zu erkennen, daß biologische Regionen und ihr organischer Lebensrhythmus, ihre Lebenszyklen und Arten über politische Grenzen hinausgehen, und sich daher darum zu bemühen, angeregte globale und regionale Aktionen auszubauen.

das natürliche Erbe künftiger Generationen zu schützen, indem sie eine allumfassende Sichtweise und das angestrebte Ziel einer nicht zu Ausbeutung führenden Technologie für Industrie, Landwirtschaft und Wasser annehmen.

die Unversehrtheit und Unverletzlichkeit der Natur zu erhalten, indem sie extreme Vorsicht üben bei der Müllbeseitigung und beim Gebrauch und der Verbreitung der von Menschen hergestellten Substanzen und Organismen.

eine ländliche Infrastruktur zu entwickeln, die Leben erhält und die Übervölkerung und Entfremdung von der Natur vermeidet, die die heutige Stadtgesellschaft charakterisieren.

eine Verpflichtung zur Rechenschaft gegenüber der Gesellschaft und der Umwelt von seiten der Regierungen, der mächtigen globalen Unternehmen und Organisationen zu unterstützen und nachdrücklich zu fordern.

den diesem Kodex zugrunde liegenden Geist in uns selbst und in allen Menschen zu fördern und den Samen der Verpflichtung zum Schutz und zur Erhaltung der Umwelt zu säen.

einen Beratungsprozeß mit Regierungsgremien, mit gemeinsamen Institutionen verschiedener Regierungen und mit nichtstaatlichen Organisationen in Gang zu setzen, der zu der Errichtung einer globalen Übereinkunft über Umweltrechte und -pflichten führen würde.





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Alain LeRoy Locke[Bearbeiten]


und die Harlem Renaissance

Nassim Berdjis


Alain LeRoy Locke wurde im September 1886 in Philadelphia geboren, wo er bis zum Schulabschluß lebte. Er gehörte zu den ersten Schwarzamerikanern, die durch ihre hervorragenden akademischen Leistungen allgemeine Anerkennung genossen. In den frühen zwanziger Jahren nahm er den Bahá’í-Glauben an und bemühte sich fortan bis zu seinem Tode im Jahre 1954 um die Verbreitung der Lehren und um ihre Anwendung auf das Zusammenleben der Rassen in den USA. Seine Veröffentlichungen über die kulturelle Entfaltung der Afro-Amerikaner gelten bis zum heutigen Tage als bahnbrechend.

Als im Jahre 1619 die ersten in Afrika gefangen genommenen Schwarzen nach Nordamerika verschleppt wurden, wurden sie dort nicht offiziell als Sklaven eingeführt, denn in der englischen Rechtsprechung gab es diesen Begriff noch nicht. Leicht von anderen Neuankömmlingen durch ihre Hautfarbe zu unterscheiden, wurden die Schwarzen als separate Gruppe gebrandmarkt, und in den wirtschaftlich aufstrebenden Kolonien entwickelte sich das Konzept der Sklaverei, das systematisch die Dehumanisierung der Schwarzen - egal, ob sie aus Afrika oder aus der Karibik kamen - vorantrieb.












Alain LeRoy Locke


Als die inzwischen von England gelösten Vereinigten Staaten 1787 ihre eigene Verfassung formulierten, ließen diese Staatsmänner den Sklavenhandel für zwei weitere Jahrzehnte zu, stellten die Flucht von Sklaven unter Strafe und zählten bei Steuerfragen jeden Schwarzen als drei Fünftel Mensch, obwohl bereits die Unabhängigkeitserklärung von 1776 behauptete: »Folgende Wahrheiten bedürfen keines Beweises: Daß alle Menschen gleich geschaffen sind; daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; daß dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören...«1) Obwohl der Staat Massachusetts bereits im Jahre 1793 die Sklaverei verbot und alle anderen Nordstaaten [Seite 28] bis 1804 diesem Beispiel folgten, kurbelte der wachsende Baumwollanbau und -handel der Südstaaten eben dieses System der Unterdrückung an. Um die riesigen Plantagen kostengünstig betreiben zu können, wollten die Südstaaten billige Arbeitskräfte ohne jegliche Rechte auf jeden Fall behalten und drohten sogar mit ihrer Sezession, die dann zum Bürgerkrieg von 1861-1865 führte. Während jenes Krieges, der mehr amerikanische Soldaten das Leben kostete als irgendein vorheriger oder späterer Krieg, verkündete Abraham Lincoln die Emancipation Proclamation, die mit ihrem Inkrafttreten am 1.1.1863 die schwarze Bevölkerung offiziell befreite. (In diesem Zeitzusammenhang sei daran erinnert, daß im russischen Zarenreich die Leibeigenschaft erst kurz zuvor, nämlich 1861, abgeschafft worden war.)

Dieser kurze Einblick in die ersten zweieinhalb Jahrhunderte des Lebens Schwarzer auf dem nordamerikanischen Kontinent verdeutlicht, daß jene geknebelten und gedemütigten Menschen in der Regel weder die Muße noch die Möglichkeit zu kultureller Entfaltung hatten, wenn man von Ausnahmen wie Juppiter Hammon (1711-ca.1800) und Phyllis Wheatley (ca.1753-1784) absieht, deren Besitzer ihnen im Sinne christlicher Nächstenliebe eine elementare Schulbildung angedeihen ließen und ihre kreativen Fähigkeiten förderten. Im Laufe der Zeit wurden, von der damit verbundenen Begabung abgesehen, die daraus resultierenden, meist christlich geprägten Gedichte oft als Nachahmung »weißer«  Dichtkunst betrachtet und daher nicht als genuiner Ausdruck des Lebens eines Schwarzen akzeptiert. Im Gegensatz dazu gilt die seit dem späten 18. Jahrhundert (von weißen Gegnern der Sklaverei) aktiv gesammelte Folklore - Erzählungen, Balladen, bei der Arbeit gesungene Lieder, und allem voran die Spirituals - als kraftvolle Überlieferung des Lebensgefühls, des Leidens, der Zuflucht im christlichen Glauben und das Hoffen auf weltliche und seelische Erlösung. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts waren in der schwarzamerikanischen Bevölkerung bewußtes Kunstschaffen und Folklore voneinander getrennt, bis schließlich einige Autoren den Versuch wagten, beide Elemente miteinander zu verbinden und so neue Formen und Inhalte zu schaffen bzw. überlieferte Dinge auf neue Art zu verschmelzen. Die lyrischen Werke von Paul Laurence Dunbar (1872-1906), James Weldon Johnson (1871-1938) und Charles Chesnutt (1858-1932) beeindrucken durch die brisante Kombination von schwarzem Dialekt, mythischem Volksglauben, Negro Spirituals und strengen Formen der englischen Dichtung wie dem Shakespeare-Sonett. Zu jener Zeit strebte eine wachsende Anzahl von Schwarzen danach, die sich langsam eröffnenden Ausbildungschancen wahrzunehmen, und mit der Gründung der NAACP (National Association for the Advancement of Colored People) im Jahre 1909 entstanden auch kulturelle Einrichtungen wie eigene Zeitschriften und Fördervereine.

Die bisher skizzierte Entwicklung kulminierte in den 1920er Jahren in der literarischen Schule der »Harlem Renaissance«. Seit 1910 waren aus allen Landesteilen sowie aus der Karibik Scharen Schwarzer nach Harlem in New York geströmt, um u.a. die neuen Arbeitsmöglichkeiten in der [Seite 29] aufblühenden Industrie wahrzunehmen. Harlem wurde ein Sinnbild für das, was diese Menschen verband: Bekannte Schriftsteller wie Richard Wright und Ralph Ellison bestätigten, daß ein Zusammengehörigkeitsgefühl nicht primär durch die gemeinsame Hautfarbe (deren Schattierungen andere Gruppen gerne zu ihrem eigenen Vorteil übersahen) entstand, sondern durch ein kulturelles Erbe, das aus den in Amerika gemachten gesellschaftlichen und politischen Erfahrungen der Benachteiligung und Unterdrückung resultierte. Die Künstler der »Harlem Renaissance« wollten jene Erfahrungen verarbeiten, offen aussprechen, aus der Perspektive der Betroffenen beleuchten und darüber hinaus zu einer Selbsteinschätzung kommen, die über historische Grenzen hinaus in die Zukunft weist.

Alain Locke, der in Philadelphia aufwuchs, schloß 1907 sein Philosophie-Studium an der Universität Harvard ab. Als erster farbiger Rhodes-Stipendiat studierte er daraufhin in Oxford (1907-1910) und Berlin (1910-1911) und erwarb 1918 seinen Doktor der Philosophie in Harvard. Als er 1911 aus Berlin zurückkehrte, verbrachte er sechs Monate in den Südstaaten und erlebte so zum ersten Mal persönlich die Spätfolgen der Sklaverei in jener Region. Er lehrte vierzig Jahre lang an der Howard Universität, einer 1867 nur für Schwarze gegründeten Hochschule in Washington, D.C. Verbunden mit seiner Lehrtätigkeit setzte er sich für die Analyse, Interpretation und Anerkennung der kulturellen Errungenschaften der Schwarzen ein. Sein 1925 veröffentlichter Aufsatz »The New Negro« gilt als theoretischer Angelpunkt der Harlem Renaissance. In jenem bahnbrechenden Werk spricht Locke von der Notwendigkeit, die klischeehaften Vorstellungen vom Charakter der Schwarzamerikaner in den Köpfen aller in Amerika lebenden Rassen zu beseitigen, da der rechtlichen Emancipation Proclamation nun eine geistigkulturelle folgen müsse. Das bis dahin einmalige Zusammenleben Schwarzer vielerlei Herkunft in Harlem müsse als eine neue Version der sprichwörtlichen »Möglichkeiten« begriffen werden, die allen Menschen die Chance gibt, sich selbst und der Welt gegenüber nicht mehr als sozial abhängig und ewig schutz- und führungsbedürftig zu erscheinen, sondern im Sinne amerikanischer und demokratischer Ideale Selbstrespekt dadurch zu erlangen, daß man in allen Bereichen nach objektiven Gesichtspunkten beurteilt wird und gesellschaftliche Verantwortung übernimmt. Dies alles soll in einem Geiste der Zusammenarbeit und gegenseitiger Achtung auf der Basis persönlicher und gemeinsamer Errungenschaften geschehen, so daß der oft zitierte Stolz auf die eigene Rasse nicht in der negativen Abgrenzung einer abzulehnenden anderen Rasse, sondern in dem objektiven Bewußtsein der eigenen Fähigkeiten und Leistungen besteht. Da in diesem Aufsatz die Situation in den USA im Vordergrund steht, betont Locke weiterhin, daß die Schwarzen die Aufgabe haben, auf die große Diskrepanz zwischen amerikanischen gesellschaftlichen Idealen und der tatsächlichen Situation hinzuweisen. Wenn sie sich den amerikanischen Zielen wie Chancengleichheit, Freiheit und gleichen Rechten für alle widmen, kann man sie - theoretisch gesehen - nicht [Seite 30] angreifen, da sie sich dadurch als »wahre Amerikaner« erweisen. Es geht also nicht um Abgrenzung, sondern um Integration und gemeinsames Beitragen zur gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung. Die friedliche Zusammenarbeit Schwarzer verschiedenster Herkunft in Harlem und die gegenseitige Förderung von Menschen verschiedener Rassen auf dem Gebiet der Kunst dient somit als Vorbild für die Gesellschaft als Ganzes. Er erweitert den Umfang möglicher Zusammenarbeit bis nach Afrika, indem er die Schwarzamerikaner auffordert, die Avantgarde für ihre afrikanischen Brüder zu sein, was die weltweite Einschätzung der kulturellen Fähigkeiten betrifft.2)

Alain Locke lernte in den frühen zwanziger Jahren die Bahá’í-Religion in Washington, D.C. kennen, nahm den Glauben an und betrachtete ihn als die Lösung für die auf Vorurteilen basierenden Probleme. Bahá’í-Gedanken spiegeln sich auch in der oben erläuterten Einordnung der Situation der Schwarzamerikaner in die allgemeine Gesellschaftsentwicklung wider, und er betonte diese Zusammenhänge in seinen Vorträgen bei den frühen Bahá’í-Konferenzen für Freundschaft unter den Rassen und bei ähnlichen Gelegenheiten. Lockes Ideen und die hervorragenden Werke der Harlem Renaissance sind ein Meilenstein in der amerikanischen Literaturgeschichte und legten den Grundstock für ein neues kulturelles Selbstbewußtsein der Schwarzamerikaner. Natürlich ist seitdem einiges passiert; die Wirtschaftskrise im Jahre 1929 bedeutete für viele Förderungsprojekte das Ende, da die Zuschüsse für Kulturförderung größtenteils versiegten; künstlerische und politische Bewegungen haben sich auch unter den Schwarzamerikanern in vielerlei, auch radikale Richtungen aufgesplittert, aber sowohl in den fünfziger und sechziger Jahren wie auch heute sind die Ideale der zwanziger Jahre in den gemäßigteren Künstlerkreisen nicht in Vergessenheit geraten.4)


1) Udo Sautter, Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, Stuttgart: Kröner, 3., erw. Aufl. 1986, S.546
2) s. Alain Locke, »The New Negro,« in Alain Locke (Hrsg.), The New Negro, Albert & Charles Boni, New York, 1968. Der Aufsatz ist auch in zahlreichen Anthologien über schwarzamerikanische Literatur zu finden.
3) s. Gayle Morrison, To Move the World: Louis G. Gregory and the Advancement of Racial Unity in America, Wilmette, IL: Bahá’í Publishing Trust, 1982, S.147, 166, 182 et al.
4) für eine allgemeine Würdigung des Lebens von Alain LeRoy Locke s. The Bahá’í World Bd. 13, S.894-95.


[Seite 31]



Vorurteile[Bearbeiten]


Nährboden für Ungerechtigkeit

Hossain B. Danesh
Zuerst veröffentlicht in Bahá’í Canada, Mai-Juni 1989. Die Übersetzung besorgte Nassim Berdjis.


Als Kind war ich immer wieder die Zielscheibe von Spott, Schlägen und Demütigungen, die mir andere Kinder zufügten, weil ich einer anderen Religion angehörte. Als ich in der achten Klasse war, rief mich eines Tages der Lehrer in der Physikstunde nach vorne, schlug mir ins Gesicht, beschimpfte mich mit hier nicht wiederholbaren Wörtern und warf mich aus dem Klassenraum. Die Schüler folgten dem Beispiel des Lehrers bei dieser »erzieherischen Übung«. Ich ging zum Schuldirektor, um Gerechtigkeit zu erbitten. Er sagte mir, daß es nicht klug von mir wäre, auf dieser Schule zu bleiben, und empfahl mir, nicht wiederzukommen: »Als Bahá’í gehörst du nicht in diese Schule.« Vier Monate später, als sich der allgemeine Haß auf die Bahá’í etwas gelegt hatte, wurde meine Rückkehr gestattet.

Als ich mein Medizinstudium beendet hatte, begann ich meine Assistenzzeit an einer Universitätsklinik in Philadelphia. Die Assistenzärzte wohnten in einem eigenen Gebäude, in dem sich zwei Personen ein Zimmer teilten. Ich war gerade drei Monate in den Vereinigten Staaten und hatte eine sehr positive und offene Kameradschaft mit meinem Zimmergenossen aufgebaut. Er war ein sensibler, freundlicher, intelligenter und entgegenkommender Mensch. Eines Tages machte ein anderer Assistenz arzt die Bemerkung, es müsse doch schwierig sein, der Zimmergenosse eines Schwarzen zu sein. Zum ersten Mal wurde mir bewußt, daß mein Mitbewohner eine andere Hautfarbe hatte. Diese Bemerkung schockierte mich gewaltig. Ich hatte mir die Hautfarbe meines Freundes und Zimmergenossen nie bewußt gemacht. Der Eindruck dieser vorurteilsträchtigen Bemerkung hält noch immer an. Liegt es in der menschlichen Natur, daß wir Vorurteile haben? Ist es ein anerzogenes Verhalten? Ist es eine Krankheit? Können wir unsere Kinder


Können wir unsere Kinder so erziehen, daß sie keine Vorurteile haben?

so erziehen, daß sie keine Vorurteile haben? Können wir eine Gesellschaft aufbauen, die vorurteilsfrei ist - und, wenn ja, wie? Diese und viele andere Fragen beschäftigen Eltern, Lehrer, Politiker und führende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Vorurteile aller Art verursachen auf der Welt unvorstellbares Leid und Zerstörung.

In Südafrika werden schwarze Kinder von weißen Polizisten erschossen, und die weißen Kinder werden dazu erzogen, die schwarzen zu hassen. Im Iran foltern und töten religiöse Fanatiker unschuldige Menschen mit unbegreiflicher Grausamkeit, weil sie eine andere Religion [Seite 32] oder Ideologie haben. Im Libanon hält der Krieg zwischen Christen, Drusen, Schiiten und Sunniten an. Im Mittleren Osten kämpfen die Juden, Araber und Palästinenser weiter für ihre Nationalstaaten. In Irland morden Katholiken und Protestanten im Namen der Religion. In der UdSSR haben Usbeken, Azerbaidjaner und Armenier ihren jahrhundertealten Haß, der auf rassischen und religiösen Vorurteilen beruht, wiedererweckt. Weitere krasse Beispiele für Vorurteile sind die Misere der Unberührbaren in Indien, der Ainu in Japan und der Maoris in Neuseeland. In den Städten Nordamerikas erleiden aufgrund von Vorurteilen Schwarze, die nordamerikanischen Ureinwohner, spanischsprechende Einwanderer und andere Gruppen grobe Ungerechtigkeit, Leid und Demütigung. Dasselbe passiert Indern, Pakistanis, Arabern und Schwarzen in Großbritannien und Türken, Nordafrikanern und anderen in Europa. An jedem Ort der Erde gibt es Opfer von Vorurteilen.

Vorurteile existieren weltweit, und ihre Auswirkungen sind verheerend. Sie verursachen Haß, Aggression und Gewalt und zerstören die Seele der Menschen, die Vorurteile haben. Sie erzeugen Angst, Scham und Demütigung bei denen, die die Opfer dieser Vorurteile sind, und führen sie nicht selten dazu, selber zu hassen und Vorurteile zu haben.

Eine der nachdrücklichsten Lehren des Bahá’í-Glaubens ist die Auslöschung jeder Art von Vorurteilen. Jeder einzelne Bahá’í und jede Gemeinde hat den eindeutigen Auftrag, Vorurteile zu bekämpfen und zu beseitigen. 'Abdu'l-Bahá sagt: »Ehe nicht alle diese durch Vorurteile errichteten Schranken hinweggefegt sind, ist die Menschheit nicht in der Lage, Frieden zu halten.« 1)

Aber können wir unsere Vorurteile loswerden und dadurch eine von deren verheerenden Auswirkungen


»Ehe nicht alle diese durch Vorurteile errichteten Schranken hinweggefegt sind, ist die Menschheit nicht in der Lage, Frieden zu halten.«

befreite Gesellschaft aufbauen? Die Antwort darauf liegt in unserer Fähigkeit, frei zu denken und unabhängig nach der Wahrheit zu suchen. Ohne einen solch freien und mutigen Geist werden wir es nicht schaffen, Vorurteile zu vermeiden.

In einem während des ersten Weltkriegs verfaßten Brief schreibt 'Abdu'l-Bahá an die Bahá’í im Westen: »Ihr seht, wie diese Welt in sich zerstritten ist, wieviele Länder rot sind von Blut, wie ihr Staub zu Klumpen gebacken ist mit geronnenem Menschenblut.«2) Dann beschreibt Er das Sterben und die Zerstörung, der die Menschen in jenem Krieg ausgesetzt waren, und stellt fest: »Der Nährboden all dieser Tragödien ist das Vorurteil: das Vorurteil der Rasse und Nation, der Religion, der politischen Meinung; und die Wurzel des Vorurteils ist die blinde Nachahmung [Seite 33] der Vergangenheit — die Nachahmung in der Religion, bei Einstellungen zu anderen Rassen, bei nationalen Vorlieben, in der Politik.3)

Man braucht viel Mut, wenn man sich von der Nachahmung der Vergangenheit befreien möchte, denn wir müssen unabhängig von unseren Eltern und Freunden denken und handeln. Wir müssen gewillt sein, anders zu sein und dadurch herauszustechen, selbst wenn wir genau wissen, daß wir dabei ebenfalls Opfer von Vorurteilen werden können. Aber wenn man die Wahl hat, entweder ein vorurteilsbehafteter Mensch oder ein Opfer von Vorurteilen zu sein, dann ist letzteres unendlich mehr vorzuziehen. Vorurteile zu haben ist nämlich eine Krankheit des Geistes mit psychologischen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen. Während die Opfer unweigerlich unter psychologischen und wirtschaftlichen Folgen leiden, leiden die Menschen mit Vorurteilen an einer geistigen Krankheit. Ihre Seelen sind überschattet, ihre Herzen haßerfüllt, und ihre Entwicklung ist gehemmt.

Starke psychologische, soziale und religiöse Gründe drängen die Menschen dazu, die Vergangenheit in der Gegenwart nachzuahmen. Psychologische Gründe für Vorurteile sind verbunden mit Gefühlen der Unsicherheit und Minderwertigkeit - Gefühle, die in der Kindheit und Jugend besonders stark sind. Als Reaktion auf diese Empfindungen sucht das ängstliche und unsichere Individuum nach Macht, um sicherer und mutiger zu werden. Wenn man auf Macht vertraut, so führt das nach und nach zu einer autoritären Einstellung zum Leben und zum Menschen. Autoritäre Personen sind oft sowohl vom Gefühl als auch vom Verstand her unflexibel und daher neuen Ideen und Denkweisen gegenüber sehr mißtrauisch. So werden sie glühende Verteidiger vergangener Praktiken und Ansichten: »Wenn es für unsere Eltern gut war, wird es sicher auch für uns gut sein« — das ist das autoritäre Motto, das Vorurteile entstehen läßt.

Die soziologischen Gründe für Vorurteile sind auch mit dem Wunsch verbunden, die Vergangenheit zurückzuholen. Anpassung wird gefordert. Eine Gesellschaft oder Familie, die Vorurteile hat, verlangt Anpassung von den Mitgliedern. Der einzelne wird akzeptiert, geliebt und geschützt, solange er bereit ist, sich der Gruppe anzupassen. Sowie eine Person versucht, unabhängig zu denken und sich anders zu verhalten, ist sie Spott, Verfolgung und Ablehnung ausgeliefert.

Die religiösen Gründe für Vorurteile sind ebenfalls eng mit der Nachahmung der Vergangenheit verbunden. Forschungsergebnisse besagen, daß zwei besondere Arten religiösen Glaubens Vorurteile verursachen: der Glaube, daß man im Besitz absoluter Wahrheit sei, und das Konzept des »auserwählten Volkes«, da beide die Nachahmung der Vergangenheit verlangen, ohne diese in Frage stellen zu dürfen.

Diese beunruhigenden Forschungsergebnisse haben theologische, psychologische und soziokulturelle Wurzeln, da viele Menschen wegen gesellschaftlicher und kultureller Vorteile wie Sicherheit, Status und Gesellschaftsleben einer bestimmten [Seite 34] Religion angehören. Wie dem auch sei, die wichtigste Aufgabe von Religion ist die Vergeistigung unseres Lebens, damit wir uns von unseren tierischen und materialistischen Neigungen befreien können und erleuchtete, liebevolle Wesen werden, frei von allen Vorurteilen, von selbstsüchtiger Voreingenommenheit und einheitswidrigem Verhalten.

Bahá’u’lláh lehrt, daß religiöse Wahrheit nicht absolut, sondern relativ ist, da das menschliche Auffassungsvermögen für geistige Wahrheit sich vergrößert, indem sich die Menschheit als Ganzes entwickelt. Daher gehören die Nachahmung der Vergangenheit und die Vorstellungen vom Besitz absoluter Wahrheit und vom auserwählten Volk nicht zu Aspekten des Religionsbildes der Bahá’í. Die Bahá’í betrachten alle Religionen als fortschreitende Offenbarungen der einen Religion Gottes und die Menschheit als eine einzige. Was die Beseitigung von Vorurteilen betrifft, gehören bestimmte Themen zum Kernpunkt der Bahá’í-Sichtweise, von denen ich hier mehrere behandeln werde.


□ EINHEIT

Die Menschheit ist eine Einheit. Das ist nicht nur eine geistige, sondern auch wissenschaftliche Wahrheit. Im innersten Kern unseres Wesens haben wir Menschen dieselben physiologischen, biologischen und anatomischen Eigenschaften; wir besitzen auch alle die geistigen Fähigkeiten des Verstehens, der Liebe und des Willens, die zu den Eigenschaften jeder menschlichen Seele gehören. So sehen alle Religionen die Erschaffung des Menschen: Er ist einzigartig, edel und nach dem Abbild unseres Schöpfers geschaffen. Dies ist die Erklärung der geistigen Einheit der Menschheit. »Verhüllt in meinem unausdenkbaren Wesen und in der Ewigkeit


So sehen alle Religionen die Erschaffung des Menschen: Er ist einzigartig, edel und nach dem Abbild unseres Schöpfers geschaffen.

meines Seins, erkannte Ich Meine Liebe zu dir; darum erschuf Ich dich, prägte dir Mein Ebenbild ein und offenbarte dir Meine Schönheit.«4)

Das folgende Zitat ist eine Stellungnahme zum selben Thema aus einer wissenschaftlichen Perspektive, verfaßt von dem Anthropologen Richard Leakey und dem Wissenschaftsautor Roger Lewin: »Wir sind eine Species, ein Volk. jedes Individuum auf dieser Erde gehört zur Art des homo sapiens, und die geographischen Variationen, die wir unter den Völkern sehen, sind nur biologische Nuancen eines grundsätzlichen Themas.5)


□ VIELFALT

Menschliche Vielfalt wird oft verwechselt mit einem Beweis dafür, daß Völker grundverschieden sind und daß manche als anderen überlegen erschaffen wurden. Wiederum gibt es zahlreiche geistige und wissenschaftliche Belege dafür, daß wir zwar alle einzigartig sind, daß aber gleichzeitig alle Menschen eins sind. Unsere individuelle Einzigartigkeit und kollektive Einheit sind Ausdruck der Tatsache, daß wir alle nach dem Bilde Gottes erschaffen wurden. Jedes Individuum ist einzigartig. Es gibt keine zwei Wesen, die genau identisch sind. Also ist sowohl die menschliche Einzigartigkeit als auch die menschliche Mannigfaltigkeit untrennbar mit der Einheit der Menschheit verbunden. In Gott sind Einzigartigkeit und Einheit ein und dasselbe. Bei den Menschen zeigt sich die Einzigartigkeit in den besonderen Charakteristika jeder Person, und die Einheit spiegelt sich in der Gleichheit unseres grundsätzlichen Wesens wider. Der wissenschaftliche Aspekt der menschlichen Vielfalt wird besonders offensichtlich durch die menschliche Fähigkeit des Kulturschaffens. In ihrer Abhandlung über die Einheit der Menschheit äußern sich Leakey und Lewin auch über die menschliche Vielfalt:

»Die Fähigkeit des Menschen, Kultur hervorzubringen, läßt sich auf sehr verschiedene und vielseitige Weise darstellen. Die oft sehr tiefgreifenden Unterschiede zwischen diesen Kulturen sollten nicht als Trennlinien zwischen Menschen betrachtet werden. Stattdessen sollte man Kulturen als das interpretieren, was sie wirklich sind: die elementare Bekundung der Zugehörigkeit zur menschlichen Species.«6)


□ GERECHTIGKEIT

Es ist offensichtlich, daß Gerechtigkeit und Vorurteile absolut unvereinbar sind. Wo immer Gerechtigkeit herrscht, dort haben Vorurteile keine Überlebenschance. Künftige Gesellschaften müssen auf einer Verwaltungsstruktur aufgebaut werden, die von den Menschen auf örtlicher, nationaler und internationaler Ebene gewählt wird und die die eindeutige Aufgabe hat, das Wohlergehen aller Mitglieder der Gesellschaft zu fördern und zu schützen und die Integrität der ganzen Gemeinschaft, von der ja jeder einzelne abhängt, zu wahren. Um das zu tun, müssen wir ein neuartiges Verständnis von der Dynamik der Gerechtigkeit entwickeln.

Bahá’u’lláh richtet sich an den einzelnen und sagt: »Von allem das Meistgeliebte ist Mir die Gerechtigkeit; wende dich nicht von ihr ab... Durch ihre Hilfe wirst du mit deinen eigenen Augen und nicht mit denen anderer sehen und durch die eigene Erkenntnis und nicht durch die deines Nächsten Wissen erlangen.« Erne7)ut werden wir dazu aufgerufen, Nachahmung zu vermeiden, unabhängig nach Wahrheit zu suchen und keine auf Voreingenommenheit begründete Fakten zu akzeptieren. Dies alles sind schließlich grundlegende Wurzeln für Vorurteile, und wir können nicht gerecht sein, wenn wir nicht vorurteilsfrei sind.


□ GLEICHWERTIGKEIT

Gerechtigkeit kann ohne Gleichberechtigung [Seite 36] der Menschen im allgemeinen und der Frauen und Männer im besonderen natürlich nicht entstehen. Ohne die Gleichberechtigung der Geschlechter werden alle unsere Bemühungen zur Schaffung von Gerechtigkeit, zur Ausmerzung von Vorurteilen und zur Errichtung des Friedens erfolglos sein.

In einer im Jahre 1912 in Paris gehaltenen Ansprache sagte 'Abdu'l-Bahá: »Die göttliche Gerechtigkeit verlangt, daß die Rechte beider Geschlechter gleicherweise geachtet werden, da in den Augen des Himmels keines dem anderen überlegen ist. Die Würde vor Gott hängt nicht vom Geschlecht, sondern von der Reinheit und Leuchtkraft des Herzens ab. Menschliche Tugenden sind im gleichen Maße Eigentum aller.«8)

Und in einer an die Völker der Welt gerichteten Erklärung zum Frieden


Ohne die Gleichberechtigung der Geschlechter werden alle unsere Bemühungen zur Schaffung von Gerechtigkeit, zur Ausmerzung von Vorurteilen und zur Errichtung des Friedens erfolglos sein.

bestätigt das Universale Haus der Gerechtigkeit, das internationale Führungsgremium des Bahá’í-Glaubens, dieses Prinzip: »Die Verweigerung der Gleichberechtigung bedeutet ein Unrecht gegenüber der Hälfte der Weltbevölkerung und leistet bei den Männern Vorschub für schädliche Einstellungen und Gewohnheiten, die aus der Familie an den Arbeitsplatz, ins politische Leben und letztlich in die internationalen Beziehungen hineingetragen werden. Es gibt keine moralischen, praktischen oder biologischen Gründe, die eine solche Verweigerung rechtfertigen. Erst wenn die Frau in allen Bereichen menschlichen Strebens zu voller Partnerschaft willkommen geheißen wird, entsteht das moralisch-psychologische Klima, in dem sich der internationale Frieden entwickeln kann.«9)


□ GEDULD

Schließlich soll darauf hingewiesen werden, daß die Beseitigung von Vorurteilen nicht einfach sein wird. Dieses Unterfangen verlangt eine völlige Veränderung in unseren Grundhaltungen, das Freisein von vergangenen Vorstellungen und Meinungen, und den Mut dazu, in einem neuen Geist miteinander umzugehen. Solche Veränderungen sind fundamental und erfordern Zeit. Wir sollten geduldig sein. Die Tatsache, daß irgendeine Gemeinschaft an die Abschaffung von Vorurteilen glaubt, bedeutet nicht, daß sie automatisch eine solche in ihrer Mitte tief verwurzelte gesellschaftliche, psychologische und geistige Krankheit überwindet. ’Abdu’l-Bahá sagte, daß man zum Erreichen eines jeden Zieles Wissen, Willenskraft und Taten benötigt. Unsere Kenntnis der Vorurteile muß umfassend sein. Wir müssen nicht nur die Gründe kennen, sondern wir müssen auch Vorurteile in uns selbst und in [Seite 37] unserer Gemeinde erkennen. Willenskraft verlangt von uns die mutige Bereitschaft dazu, Vorurteile zu beseitigen, wo und in welcher Form sie auch immer vorliegen. Schließlich müssen wir handeln. In diesem Zusammenhang müssen wir uns um unsere eigene Wandlung bemühen. Unsere Bildungseinrichtungen müssen vorurteilsfrei werden. Unsere Gesellschaftspolitik muß modifiziert werden. Wenn wir uns dann endlich der Wirklichkeit der unter uns vorhandenen Vorurteile stellen, dann werden wir erkennen, daß sie nur besiegt werden können, wenn wir die Kräfte der Einheit und Geistigkeit nutzbar machen.













Bahá’í-Kindergruppe in Ecuador mit Lehrerinnen


1) Ansprachen in Paris, Bahá’í-Verlag, 1973, S.116-117
2) Selections from the Writings of 'Abdu'l-Bahá, Bahá’í World Centre, 1978, 202:2
3) ebenda, 202:3
4) Bahá’u’lláh, Verborgene Worte, arab. 3, Bahá’í-Verlag, 1982
5) Richard E. Leakey und Roger Lewin, Origins: What New Discoveries Reveal About the Emergence of Our Species and its Possible Future, New York: E.P.Dutton, 1977
6) ebenda
7) Verborgene Worte, arab. 2
8) Ansprachen in Paris, S.129-130
9) Die Verheißung des Weltfriedens: Eine Botschaft des Universalen Hauses der Gerechtigkeit an die Völker der Welt, Bahá’í-Verlag, 1989, S.24



[Seite 38]



Der Buchtip[Bearbeiten]


IRAN - Drehscheibe zwischen Ost und West

Gerhard Schweizer, Klett-Cotta 1991


»Khomeini ist tot. Und doch dominiert in iranischen Amtsstuben und öffentlichen Gebäuden weiterhin das Bild des weißbärtigen, meist streng blickenden Revolutionsführers mit schwarzem Turban wie eine Ikone. Ein Gespenst geht um...« - auch in den Köpfen der Menschen.

Der Golfkrieg 1991, Betty Mahmoodys Bestseller - die Vorstellung vom Iran wird reduziert auf Khomeini, Fundamentalismus, Heiliger Krieg, kaum mehr.

Gerhard Schweizer, ein Kenner der islamischen Kultur, will mit seinem Buch IRAN - Drehscheibe zwischen Ost und West bekannt machen, zu welch großen Leistungen es die persische Kultur in ihrer 2500-jährigen Geschichte gebracht hat, welche weltpolitische Bedeutung das Landin früherer Zeit schon einmal hatte und in welchem Ausmaß unsere Geistesgeschichte von seinen Denkern nachhaltig beeinflußt wurde.

Von Zarathustra bis in unsere heutige Zeit: 2500 Jahre voller Extreme, glanzvoller Höhepunkte und finsterer Epochen in rascher Folge.

Das 413 Seiten umfassende Porträt dieses Landes weiht den Interessierten in die Schönheiten des Landes ein und klärt den Mißtrauischen auf. Sowohl Historiker als auch Freunde der Gegenwart werden diesem Buch einiges Interessantes entlocken können, ist doch der erste Teil lediglich dem geschichtlichen Überblick, angefangen bei Zarathustra, gewidmet, während ein zweiter Teil die jüngste Geschichte, wie die Entstehung der Bahá’í-Religion, bis hin zu Zukunftsprognosen dieses vielversprechenden Landes behandelt.

Ein »Muß« für alle, die das Gespenst vertreiben wollen.

Anja Dustdar



Physik und Transzendenz

Hans-Peter Dürr (Hrsg.), Scherz Verlag 1989


Die moderne Physik hat das naturwissenschaftliche Weltbild grundlegend verändert. Die Konsequenzen jedoch haben bis heute noch nicht das öffentliche Bewußtsein erreicht.

Immer noch ist man der Meinung, die Wissenschaft wird in Zukunft auch religiöse und transzendente Phänomene »aufklären«. Daß eine solche »Zuversicht« unbegründet ist und jeglicher wissenschaftlichen Grundlage entbehrt, geht aus den Artikeln der zwölf berühmten Physiker, darunter Einstein, Planck, Bohr, [Seite 39] Weizsäcker, deutlich hervor. Pascual Jordan stellt in diesem Zusammenhang klar: »Es muß heute mit aller Eindringlichkeit die Tatsache hervorgehoben werden, daß das, was heute noch zum festen Schema der Tagesmode allgemeinen Denkens gehört, nämlich die Vorstellung, daß die Entzauberung der Welt durch die Naturwissenschaft ein unvermeidliches Ergebnis naturwissenschaftlicher Forschung sei, auf zeitgebundenem Irrtum beruht.«

Nicht die unvollkommenen wissenschaftlichen Techniken und Methoden behindern das immer tiefere Eindringen in die Zusammenhänge der materiellen Welt, sondern die Bedingungen menschlicher Erkenntnis stellen die wirklichen Barrieren dar. So ist es zu verstehen, daß sich besonders die moderne Physik auch mit dem menschlichen Geist und seinen Denkstrukturen beschäftigt.

In den oftmals philosophischen Auseinandersetzungen mit den Konsequenzen der neuen Physik tritt immer wieder deutlich zutage, wo die absoluten Grenzen der Naturwissenschaft liegen und daß ein bedeutender Bereich des menschlichen Lebens durch andere Lehren bestimmt werden muß. Hier beginnt - wie der Titel des Buchs es ausdrückt - die Transzendenz.

Die persönlichen Eindrücke dieser hervorragenden Wissenschaftler bei der Begegnung mit dem Wunderbaren und Ihre Ansichten zu Religion, Ethik und Transzendenz bilden neben einigen naturwissenschaftlichen Passagen den interessanten Inhalt des Buches.

Jedem, der um ein tieferes Verständnis der Beziehung zwischen religiöser und wissenschaftlicher Weltanschauung bemüht ist, wird dieses Buch neue Einsichten vermitteln.

Bijan Sobhani




Die Naturwissenschaft
braucht der Mensch zum Erkennen,
die Religion aber braucht er
zum Handeln.
Max Planck