Bahai Briefe/Heft 59/Text

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Bahá’í-Briefe



Heft 59 19. Jahrgang Mai 1991






Schülerinnen der Badí-Schule in Sucre, Bolivien


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Bahá’í-Briefe Heft 59 Mai 1991 19. Jahrgang


Die Bahá’í-Briefe wollen eine intensive Auseinandersetzung mit den Inhalten der Bahá’í-Religion fördern und auf der Grundlage zeitgemäßen Denkens zu einem Dialog mit allen beitragen, die sich um die Lösung der Weltprobleme mühen.


Inhalt


Alte Ideologien - Neue Visionen . . . . . . . 1
Holly Hanson Vick


Kinder - Bürger einer neuen Welt . . . . . . . 15
Barbara Hacker


Werte und kulturelle Entwicklung . . . . . . . 29
Christian Spreter


Der Vielfalt eine Chance . . . . . . . 33
Hermine Mayer-Berdjis


Mark Tobey . . . . . . . 41
Hermine Mayer-Berdjis


Buchbesprechung . . . . . . . 46


Herausgeber: Der Nationale Geistige Rat der Bahá’í in Deutschland e.V., Hofheim-Langenhain. Redaktion: Dr.Klaus Franken, Dr.Farideh Motamed, Dr.Bijan Sobhani, Christian Spreter, Karl Türke jun. Redaktionsanschrift: Bahá’í-Briefe, Redaktion, Eppsteiner Straße 89, D-6238 Hofheim 6. Namentlich gezeichnete Beiträge stellen nicht notwendig die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers dar. Die Bahá’í-Briefe erscheinen halbjährlich. Abonnementpreis für vier Ausgaben 20, — DM. Einzelpreis 6, — DM. Vertrieb und Bestellungen: Bahá’í-Verlag, Eppsteiner Straße 89, D-6238 Hofheim 6.

Zum Titelbild: Die Badí-Schule wurde 1984 eröffnet und unterrichtet zweisprachig. Ihr Lehrplan baut auf den Bahá’í-Prinzipien auf.

© Bahá’í-Verlag GmbH 1991 ISSN 0005-3945


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Alte Ideologien - Neue Visionen[Bearbeiten]


Die geistige Dimension des Fortschritts

Holly Hanson Vick
Die Übersetzung aus dem Englischen besorgte Norbert Kröger.


Was bringt gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt? Gibt es zwischen dem kapitalistischen und dem kommunistischen Verständnis dieses Vorgangs wirklich einen unüberwindlichen Widerspruch? Ist eines der beiden Systeme wirklich erfolgreich?


Wenn wir die Einstellung der Kapitalisten und Kommunisten zu ihren eigenen Gesellschafts- und Wirtschaftstheorien betrachten, stellen wir fest, daß keiner zufrieden ist mit dem, was er selbst glaubt. Keine dieser Ideologien hat Wohlfahrt und Wohlstand für alle Teile der Gesellschaft hervorgebracht; kein System hat unparteiliche, umfassende Gerechtigkeit bewirkt. Und damit das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem überhaupt funktioniert, geben die Politiker in beiden Lagern Wesenszüge ihrer Ideologie preis.

Kommunistische Volkswirtschaften, die eine durch brüderliche Solidarität verbundene Gemeinschaft von Produzenten sein sollen, lassen Initiativen zu, die Einzelpersonen Gewinne einbringen. Die Wiedereinführung des Gewinnstrebens in der chinesischen Landwirtschaft - den Bauern ist erlaubt, einen Teil ihrer Erzeugnisse selbst zu verkaufen, anstatt alles dem Kollektiv zu übergeben - wurde nicht antikommunistisch genannt, sondern »ursozialistisch«. Kapitalistische Volkswirtschaften, die beanspruchen, die Freiheiten und Rechte des einzelnen zu fördern, weiten die Regierungskontrollen aus, wenn die »unsichtbare Hand« des Kapitals eine unangenehm große Zahl von Arbeitern an die Luft setzt und arbeitslos auf der Straße stehen läßt. In vorhersehbaren Abständen pendelt die amerikanische Wirtschaft vom strikten Laissez-faire-Kapitalismus zum Drang nach stärkerer öffentlicher Kontrolle und Planung. Sowohl das wirtschaftliche Experimentieren in Staaten mit bisherigem Verbot von Privateigentum als auch der fließende Übergang vom sozial Wünschenswerten zum haushaltsmäßig Vertretbaren in den westlichen Demokratien - beides verdunkelt die Tatsache, daß das kapitalistische wie das kommunistische System grundlegend fehlerhaft sind. Nähern wir uns der Gesellschafts- und Wirtschaftstheorie mit der Frage nach den Glaubensvorstellungen jedes Systems über das Wesen des Menschen, die gesellschaftlichen Ziele und die zugrundeliegender Kräfte des Fortschritts, erkennen wir folgendes: Die kommunistische Ideologie hat eine Grundwahrheit über die Funktionsweise der menschlichen Gesellschaft erfaßt, die kapitalistische Ideologie wiederum eine Grundwahrheit über die Motivation des einzelnen Menschen. Beide Systeme drohen jedoch zugrundezugehen, weil sie das Wesen des Menschen nicht begreifen.

[Seite 2] Das Konzept des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritts in der Bahá’í-Offenbarung verknüpft die Wahrheiten beider


Beide Systeme drohen jedoch zugrundezugehen, weil sie das Wesen des Menschen nicht begreifen.

Ideologien mit einem Bewußtsein für die der Menschheit innewohnende, geistige Schaffenskraft. Und dies ist ein wesentlicher Unterschied. Wenn ein Gesellschaftssystem auf die Vorstellung gegründet ist, daß Gott den Menschen erschaffen hat, damit dieser aus dem Nichtsein hervortritt und sich für die Besserung der Menschenwelt einsetzt, dann entwickelt dieses System eine einzigartige positive Dynamik.1) Es motiviert die Menschen zur Veränderung. Es veranlaßt sie zum Wachstum und zum gegenseitigen Vertrauen. Dies ist mehr als die Solidarität praller Brieftaschen im Kapitalismus oder die beschworene Kameradschaft des Kollektivs im Kommunismus. Das gesamte System ist andersartig, weil die zugrundeliegenden Kräfte anderer Art sind. Es sind geistige Kräfte. Das geheimnisvolle Band, das jeden Menschen mit Gott vereint, führt zu handfesten Auswirkungen. Durch das Nutzbarmachen dieser Kraft in der Gesellschaft, glauben die Bahá’í, ist es möglich, »eine Gesellschaftsordnung zu errichten, die zugleich fortschrittlich und friedlich, dynamisch und harmonisch ist, eine Ordnung, die der individuellen Kreativität und Initiative freien Lauf läßt, aber auf Zusammenarbeit und Gegenseitigkeit beruht.«2)

Für das Nachdenken über Ideologien können wir eine Grundlage schaffen, indem wir kurz umreißen, wie sich jede von ihnen in der Praxis auf die Entwicklung der Gesellschaft und Wirtschaft auswirkt. Jeder an der Entwicklung Beteiligte möchte Armut, Analphabetentum und wirtschaftlichen Stillstand durch Wohlstand, Erziehung und allgemeines Wohlbefinden ersetzen, aber die verwandten Methoden und Entscheidungen werden von der Ideologie bestimmt. Was können die Menschen selber für sich tun? Wie können sie dazu bewegt werden? Welche Maßnahmen schaffen Wohlstand? Was für eine Art von Gesellschaft ist das Ziel? Wie erreicht man sie? Die Entwicklungsstrategie liefert eine vernünftige Basis für Vergleiche, weil sie grundlegende Glaubensvorstellungen von gesellschaftlichem Fortschritt herausfiltert.


□ Die kapitalistische Entwicklungsstrategie

Als erstes wollen wir betrachten, wie sich die kapitalistische Ideologie in Entwicklungsstrategien ausdrückt. Das grundlegende, nicht immer anerkannte Ziel ist, arme Länder den reichen Ländern anzugleichen. Gesellschafts- und Wirtschaftsbedingungen [Seite 3] werden als eine Hierarchie materiellen Wohlstands von oben nach unten verstanden; der Verlauf der Entwicklung führt Gemeinschaften von einem Zustand des Mangels zu einem Zustand des »Mehrhabens«. An der Spitze dieser Hierarchie stehen die Vereinigten Staaten, die Bundesrepublik Deutschland und die anderen hochindustrialisierten Konsumgesellschaften; sie gelten als »entwickelt«. Länder, die sie erfolgreich nachahmen, »entwickeln« sich, und Länder, die sich am meisten von ihnen unterscheiden, sind am wenigsten »entwickelt«.

Die nächstliegenden Ziele der Entwicklungsarbeit können verbesserte Landwirtschaft, Gesundheitsfürsorge oder eine bessere Wohnsituation sein; aber das Streben des Coca Cola trinkenden, nur für den eigenen Unterhalt arbeitenden Landwirts wie auch des Weltbank-Bevollmächtigten, der die Bedingungen des nächsten Kredits aushandelt, geht dahin,


Die kapitalistische Entwicklungsstrategie versucht, die Volkswirtschaften der Dritten Welt nach dem Muster westlicher Länder zu formen.

der Dritten Welt die Verhältnisse und Segnungen des westlichen Wirtschaftssystems zu bringen.

Die kapitalistische Entwicklungsstrategie versucht, die Volkswirtschaften der Dritten Welt nach dem Muster westlicher Länder zu formen, indem sie die ärmeren Länder mit allem versorgt, was in Europa und Amerika zur Industrialisierung beigetragen hat. Wohlstand entsteht nach der Theorie des Kapitalismus durch Einzelunternehmer, die in einem günstigen Umfeld zu ihrem besten eigenen Nutzen handeln. Daraus folgt, daß die tüchtigen Unternehmer der Dritten Welt in der Lage sein werden, für ihre Länder Wohlstand zu schaffen, wenn man ihnen nur die richtigen Werkzeuge an die Hand gibt. »Tüchtige« Menschen der Dritten Welt brauchen eine entsprechende Ausbildung, damit sie ihre Fähigkeit, Reichtum hervorzubringen, in die Tat umsetzen. »Tüchtige« Bauern brauchen zur Förderung der Landwirtschaft die geeignete Technik. »Tüchtige« Menschen der dritten Welt brauchen anständige Straßen und ein Nachrichtennetz, um Märkte aufzubauen. Die unternehmerische Oberschicht in der Dritten Welt braucht Industrie, um die Entwicklung in Gang zu setzen. Der Prozeß der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Entwicklung ist aus diesem Blickwinkel eine Folge von »Inputs« in eine »unterentwickelte« Gemeinschaft, um Verhältnisse ähnlich denen herzustellen, die in entwickelteren Gemeinschaften zu wirtschaftlichem Wachstum geführt haben.

Praktisches Beispiel der kapitalistischen Ideologie in der Entwicklungsarbeit sind zweckbetonte Alphabetisierungsprojekte. Zweckbetonte Alphabetisierung lehrt Lesen mittels Informationen, die als nützlich für den Lernenden ausgewählt werden. Die Unterrichtsthemen umfassen Informationen über die Gesundheit des Kindes, den Aufdruck auf einer Arzneiflasche, Anweisungen über den Einsatz von Kunstdünger oder die Bedienung von Maschinen. Ziel ist, die Menschen moderner zu machen, ihnen neue Ideen nahezubringen, [Seite 4] ihre Arbeitsleistung zu steigern und sie zu befähigen, Entwicklungsinformationen aufzunehmen. Weil der Verdacht besteht, daß traditionelle Haltungen und das Fehlen eines technischen Bewußtseins den gesellschaftlichen Fortschritt verzögern,


Ziel der Entwicklungsprojekte ist, unterentwickelte Länder in eine Wirtschaft nach westlichem Erfolgsmuster hineinzumanövrieren.

soll die Alphabetisierung die Menschen für Veränderungen geneigter machen.

Ziel der Entwicklungsprojekte ist, unterentwickelte Länder in eine Wirtschaft nach westlichem Erfolgsmuster hineinzumanövrieren. Die Menschen selbst bewirken diesen Entwicklungsprozeß, und die Kraft, die sie antreibt, ist der Eigennutz. In diesem System gibt es nichts Böses: Die kapitalistische Ideologie geht davon aus, daß die Menschen gut sind, daß Reichtum gut ist und daß die Menschen die Werkzeuge, die man ihnen gibt, benutzen werden, um Reichtum für sich selbst zu schaffen, was wiederum für die Gesellschaft gut ist.


□ Die kommunistische Entwicklungsstrategie

Die vom Kommunismus geprägte gesellschaftlich-wirtschaftliche Entwicklung ist ein ganz anderer Prozeß. Ziel ist nicht die allmähliche Zunahme materiellen Wohlstands, sondern eine völlige Umgestaltung der Gesellschaft. Hunger, Analphabetentum, Krankheit und wirtschaftlicher Stillstand werden als Anzeichen von Ungerechtigkeit angesehen; der erste Entwicklungsschritt muß die Überwindung dieser Ungerechtigkeit sein. Zum Beispiel sind die Arbeiter auf einer Zuckerplantage schlecht ernährt und hoffnungslos verarmt, weil der Grundbesitzer ihnen Angst vor dem Verlassen der Plantage einbläut; städtische Slumbewohner haben geringe Arbeitsmöglichkeiten, weil die Industriellen viele Arbeitslose anstreben, damit die Löhne niedrig bleiben. Diese Bauern und Arbeiter sind nicht arm, weil ihnen die fortschrittliche Einstellung oder Werkzeuge des wirtschaftlichen Fortschritts fehlen; sie sind arm, weil das kapitalistische System nur dann funktioniert, wenn jemand ganz unten ist.

Die Kommunisten betrachten Unterentwicklung als Folge der Klassenstruktur der Weltgesellschaft. Die kommunistische Entwicklungspolitik


Ziel ist nicht die allmähliche Zunahme materiellen Wohlstands, sondern eine völlige Umgestaltung der Gesellschaft.

strebt danach, die Trennwand zwischen machtlosen Arbeitern und Bauern einerseits und mächtigen Industriellen und Grundbesitzern andererseits niederzureißen. Wenn die menschlichen Fähigkeiten durch das Elend als Bestandteil kapitalistischer Klassenverhältnisse nicht länger gehemmt und unterdrückt werden, werden die Menschen in der Lage sein, gerechtere Strukturen des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und persönlichen Lebens zu schaffen.

[Seite 5] Kommunistische Entwicklungsaktivitäten suchen die Macht an die Unterdrückten zurückzuverteilen, indem sie ihnen Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten und die Mittel zur Herrschaft über ihr eigenes Leben verschaffen. Unterdrückung entmenschlicht die Menschen: sie zerstört ihre Selbstachtung, macht sie widerstands- und sprachlos. Eine radikale Entwicklungsstrategie benutzt Wut und Empörung, um bei den unrecht Leidenden ein Gefühl der Macht und Würde zu wecken. Die Triebfedern kommunistischer Entwicklung sind jene Menschen, die sich ihrer Unterdrückung bewußt sind und an die eigene Fähigkeit zur Umgestaltung ihres Lebens glauben. Sie bilden sich selbst aus, richten ihre eigene Gesundheitsfürsorge ein, bauen Genossenschaften zu ihrem eigenen Nutzen auf und kämpfen für ihre Rechte.

Auch die Wirkung der kommunistischen Entwicklungsideologie können wir an einem Alphabetisierungsprojekt beobachten. Ein radikaler Entwicklungsarbeiter beginnt den Unterricht, indem er Bauern oder Arbeiter zum Diskutieren bringt und Bilder benutzt, die ihre Verhältnisse veranschaulichen. Die Menschen gewinnen Selbstvertrauen und lernen, über sich nachzudenken, indem sie über die Bilder sprechen. Der Lese- und Schreibunterricht beruht auf den eigenen Aussagen der Schüler, die ihre Wut über die Ungerechtigkeit in ihrem Leben ausdrücken. Das Ziel des Alphabetisierungsunterrichts ist, die Menschen von ihrer Fähigkeit zu überzeugen, das Böse in der Gesellschaft zu überwinden.

Kurz, die von der kommunistischen Ideologie geprägte gesellschaftlich-wirtschaftliche Entwicklung hat die Beseitigung der gesellschaftlichen Unterdrückungsstrukturen des Kapitalismus und die Entwicklung gerechter, nutzbringender Gesellschaftsmodelle zum Ziel. Es gibt eindeutig Gutes und Böses in diesem System: Das Böse ist die Klassenstruktur, die wesenhaft den gesellschaftlichen Fortschritt verhindert. Die gute Kraft ist die menschliche Entwicklungsfähigkeit. Gesellschaftlich-wirtschaftliche Entwicklung tritt ein, wenn unterdrückte, schlechter gestellte Menschen die Macht und die Herrschaft über ihr eigenes Leben gewinnen. Die Werkzeuge dieser Menschen sind Wut und Protest gegen die Unterdrückung, ihr Bewußtsein über die Macht menschlichen Willens und ihre Fähigkeit zur Zusammenarbeit und Opferbereitschaft im Dienste gesellschaftlichen Wandels.


□ Die Entwicklungsstrategie der Bahá’í

Die Entwicklungsarbeit auf der Grundlage der Bahá’í-Lehren setzt bei einer andersartigen Wahrnehmung der Welt an. Es ist keine kapitalistische Welt, in der einzelne ihr Geschäft vorrangig zum eigenen Nutzen erledigen, aber auch keine kommunistische Welt, in der »befreite« Menschen die Natur zur Kultur umgestalten. Es ist die Welt Gottes, in der Frauen und Männer dazu »erschaffen sind, eine ständig fortschreitende Kultur voranzutragen«3), indem sie die ihnen von ihrem Schöpfer verliehenen [Seite 6] Fähigkeiten einsetzen.

Das Bewußtsein für die geistige Dimension der menschlichen Wirklichkeit durchzieht den Bahá’í-Ansatz zur gesellschaftlich-wirtschaftlichen



Die Entwicklungsarbeit auf der Grundlage der Bahá’í-Lehren setzt bei einer andersartigen Wahrnehmung der Welt an.

Entwicklung. Auch die Bahá’í streben eine grundsätzliche Wandlung der Gesellschaft an. Jedoch ist der gesellschaftliche Wandel ein positiver Prozeß, in dem die Merkmale einer reiferen Kultur wie Menschenwürde, Beseitigung von Vorurteilen, Gleichwertigkeit der Geschlechter und Uneigennützigkeit in wirtschaftlichen Beziehungen eingeführt und langsam von den Menschen angenommen werden, da sie mehr Erfolg versprechen und mehr ihren Zweck erfüllen als bisherige Versuche. Für die Bahá’í vollzieht sich die gesellschaftliche Umgestaltung schrittweise; entscheidend für die gesellschaftliche Entwicklung ist das sichtbare Vorbild eines edlen, geistig orientierten Verhaltens. Die Bahá’í-Vision einer friedvollen, dynamischen, geeinten Weltgesellschaft leitet sich ab aus den Gesetzen und Lehren Bahá’u’lláhs, des Begründers des Bahá’í-Glaubens. Für die Bahá’í ist die Annahme dieser Grundsätze und die Bemühung, sie weltweit in die Praxis umzusetzen, nicht nur ein Verfahren der gesellschaftlichen Veränderung, sondern eine religiöse Verpflichtung.

Initiatoren dieses langfristigen Entwicklungsprozesses sind wiederum einzelne Menschen. Aber es sind Menschen, die bewußt moralische Kraft zu entwickeln suchen und den Dienst an der Menschheit wie auch den persönlichen Erfolg zu ihrem Lebensziel machen. Die Bahá’í-Entwicklungsstrategie zeigt den praktischen Wert der aus den Schriften Bahá’u’lláhs abzuleitenden Glaubensgrundsätze und geistigen Eigenschaften wie Liebe, Mut und Opferbereitschaft auf. Die Bahá’í glauben, daß diese Grundsätze und Tugenden die Gesellschaft nicht nur zum Jenseits hin beeinflussen, sondern zugleich die Ursache materieller Wohlfahrt sind. Die Beseitigung des Rassismus fördert Wohlstand; Liebe und Interesse an der Arbeit verbessern die Leistungsfähigkeit; die Gleichwertigkeit der Geschlechter und die Schulerziehung für Mädchen senken die Sterblichkeitsrate bei Säuglingen.

Viele Bahá’í-Entwicklungsaktivitäten werden durch örtliche Geistige Räte auf dem Land ins Leben gerufen.


Auch die Bahá’í streben eine grundsätzliche Wandlung der Gesellschaft an.

Sie zeigen die Bemühungen der Gemeinde, eigene Hilfsquellen zu nutzen, um ihren Bedarf selbst zu decken. Oft werden einfache Schulen bei den Bahá’í zu Hause eingerichtet. Gemeinden bringen die Mittel auf, um eines ihrer Mitglieder zu einem Ausbildungskurs für Gesundheitserziehung zu schicken. Bahá’í-Jugendliche pflanzen Bäume und führen andere Entwicklungsprogramme durch.

Nichtmaterielle Gesichtspunkte sind hierbei für diese Aktivitäten entscheidend. Wenn ein Dorf einen Wasserspeicher selbst baut, benutzt es [Seite 7] nicht nur Spaten und Schaufel: Die Menschen müssen auch beraten, einander vertrauen, hundert andere Einwohner anspornen, ihren Teil zu graben, Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten entwickeln. Den Bahá’í ist die Art und Weise, wie etwas getan wird, ebenso wichtig wie das Ergebnis. Die Entwicklungsaktivitäten sollen die menschliche Würde fördern, das Zusammengehörigkeitsgefühl einer Gemeinde stärken und den Menschen helfen, fruchtbare Beratung zu erlernen.

Vom Bahá’í-Gauben beeinflußte Alphabetisierungsprojekte können mit einer Gruppe von Bahá’í beginnen, die beschließen, daß sie Lesen lernen möchten, weil für den Bahá’í Erziehung, Bildung und das Lesen der Bahá’í-Schriften Pflicht sind. Der Lehrer ist im allgemeinen ein Freiwilliger; als Texte werden häufig Bahá’í-Schriften benutzt. Iranische Bahá’í richteten schon zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, bevor im Iran öffentliche Erziehungseinrichtungen aufgebaut waren, Klassen dieser Art ein; örtlich organisierte Alphabetisierungsmaßnahmen sind in Bahá’í-Gemeinden auf der ganzen Welt zu finden. Ziel der Alphabetisierung ist es vor allem, den Menschen Zugang zu den Schriften Bahá’u’lláhs zu ermöglichen. Sie sind für die Bahá’í eine Quelle der Ermutigung, der Erleuchtung und Einsicht, und letztlich Mittel zu einer umfassenden Erziehung. Die Bahá’í gehen in der Entwicklungsarbeit nicht davon aus, daß der Mensch gut sei, daß Reichtum gut sei und die bestmögliche Gesellschaft entstehe, wenn jeder nach seinem Eigennutz handle. Auch glauben sie nicht, daß alles Falsche in der Welt allein auf die Klassenstruktur des Kapitalismus zurückzuführen sei. Die Bahá’í glauben, daß die Menschen die Möglichkeit zum Guten haben und diese Welt zum Besseren führen können, indem sie ihren persönlichen Willen dem Willen Gottes unterordnen. Menschen können Gesellschaften errichten, die die Ehre und Würde jedes ihrer Mitglieder nachdrücklich bewahren. Sie können Wirtschaftsordnungen errichten, die Wohlstand ermöglichen, sie können Regierungsformen aufbauen, die den persönlichen Ausdruck fördern und zugleich eine stabile Ordnung aufrechterhalten. Jedoch können sie das alles nicht alleine tun. Die Vision für die Entwicklung der Gesellschaft und die Strategie, sie in diese Richtung zu bewegen, sind aus den Lehren des Offenbarers Gottes abzuleiten. Die Motivation, auf schwierige Ziele hinzuarbeiten, und die Disziplin, das Eigeninteresse zum Wohle der Gesellschaft zu zügeln, sind geistige Eigenschaften, die aus der Beziehung zu Gott entstehen.


□ Ein Vergleich der Entwicklungsstrategien

Wie wirken die Ideologien als Entwicklungsstrategien? Jeder ideologische Ansatz hat in einigen Entwicklungsländern den Lebensstandard einiger Gemeinden verbessert. Aber keiner von ihnen hat sein Ziel erreicht. Wenn wir auf das Beispiel der Alphabetisierung zurückkommen, sehen wir, daß über alle ideologischen Grenzen hinweg Menschen Lesen gelernt haben.

Einige der »angehenden Kapitalisten«, die lernten, medizinische Beipackzettel und Düngeanweisungen [Seite 8] zu lesen, hatten häufig zuletzt nichts mehr zu lesen, wenn die Materialien ausgegangen waren. Wie dem auch sei - auch diese zweckgebundenen Alphabetisierungsprogramme hoben das Niveau und hatten einige positive Nebenwirkungen. Während die Menschen zu mehr Bildung, Gesundheitsfürsorge und tauglicheren Techniken kamen, wurden sie unglücklicherweise auch ärmer. Der Abstand zwischen reichen und armen Ländern ist in den vergangenen zwanzig Jahren immer größer geworden; in Afrika und Lateinamerika hat sich das Pro-Kopf-Einkommen drastisch verschlechtert, da die Länder alles aufbieten müssen, um ihre Schulden zurückzuzahlen.4) Zusätzliche Bemühungen im Bereich der Entwicklungshilfe brachten die Menschen nicht zu Wohlstand.

Radikalen Entwicklungsexperten gelang es, den Menschen das Lesen zu lehren, indem sie deren Wut und Ohnmacht gegen die Ungerechtigkeit freisetzten. Den Revolutionen folgen häufig unmittelbar bedeutende Verbesserungen in der Alphabetisierung und Gesundheitsfürsorge. Das Empfinden von Stolz und Macht, das die radikal ausgerichtete Alphabetisierung weckt, sowie die materiellen Vorteile für die Menschen selbst, verlieren jedoch unglücklicherweise oft an Wert, wenn die Revolutionspartei eine straffe Kontrolle über die Menschen ausübt, um den Staat funktionstüchtig zu machen. Unabhängigkeit für alle wird nicht dadurch erreicht, daß der Staat alle Produktionsmittel und alle Macht besitzt.

Es ist nicht einfach, die Bahá’í-Entwicklungsarbeit zu bewerten, weil sie gerade erst beginnt. Die Bahá’í gehen von der Erwartung aus, daß der kulturelle Aufbau ein schrittweiser, evolutionärer Vorgang ist. Es scheint lange Zeit zu brauchen, bis der Impuls zu Entwicklung aus dem Kern des Glaubens heraus einen Menschen zu greifbaren Taten hinführt. Damit Bahá’í-Entwicklungsarbeit eine sichtbare Wirkung zeigt, müssen die Bahá’í-Gemeinden in ihrem gesellschaftlichen Handeln mehr Vertrauen in die Umsetzung ihrer Grundsätze gewinnen, und die Zahl der Bahá’í muß wachsen.

Die kapitalistische und die kommunistische Ideologie haben dann Erfolg, wenn man sie am passenden Ort anwendet, versagen aber, wenn man auf die kritischen Stellen blickt. Die jüngst entwickelten Länder Asiens sind Modelle des kapitalistischen Erfolgs. Aber Kinder unter fünfzehn Jahren, manche sogar nur sieben Jahre alt, bestreiten als Arbeiter elf Prozent der Beschäftigten. Sie sind billige Arbeitskräfte in Ausbeutungsbetrieben der Bekleidungs- und anderer Industrien. Nicaragua, Tansania und andere sozialistische Regierungen haben Netzwerke von Sozialdiensten errichtet, wie sie in anderen Staaten nicht erreicht werden; aber der Lebensstandard hat sich verschlechtert.5)


□ Ein Vergleich der Ideologien

Betrachten wir die grundlegenden Elemente dieser Ideologien, sichtbar in den Entwicklungsstrategien, und [Seite 9] schauen wir uns an, wie sie in der Welt funktionieren, so wird augenscheinlich, daß jede Ideologie einen Teil der Lösung, aber auch deutliche Mängel enthält. Interessanterweise zeigen das kapitalistische wie das kommunistische System Elemente, die dem jeweils anderen fehlen. Keine der beiden Ideologien und auch keine Mischung ihrer Bestandteile kann jedoch wahren gesellschaftlichen Fortschritt bewirken, denn sie versuchen, die Wirklichkeit mit rein materiellen Begriffen zu erfassen.

Die Stärke des Kapitalismus besteht in der Anerkennung der Tatsache, daß die Menschen Freiheit brauchen, um ihre natürlichen Fähigkeiten zu entwickeln, daß jeder Mensch ein angeborenes Verlangen hat, nach etwas zu streben, dafür zu arbeiten und die Früchte seiner Arbeit zu genießen. Dieser schöpferische Eigennutz gehört zur menschlichen Natur. Er ist für den Fortschritt des Menschen absolut notwendig und an und für sich gut.6) Der Eigennutz ist jedoch nur eine Seite der menschlichen Natur. Die Menschen müssen auch über sich hinauswachsen, freigebig sein, für andere Opfer bringen und anerkennen, daß sie Teil eines voneinander abhängigen Menschengeschlechts sind. Die kapitalistische Ideologie fördert die Initiative und die Schaffung von Reichtum, aber sie fördert auch die Habsucht. Sie verursacht ungeheures Leid, weil sie sich auf den einzelnen konzentriert und die Menschheit als Ganzes unbeachtet läßt. In einer erfolgreichen, florierenden Volkswirtschaft wie den Vereinigten Staaten sind sieben Prozent der Bevölkerung, das sind 17 Millionen Menschen, dauerarbeitslos, 33 Millionen sind unterernährt und die Säuglingssterblichkeitsrate in den städtischen Slums ist höher als die der meisten Entwicklungsländer.7)

Der Kapitalismus schafft keinen Wohlstand für die Gesellschaft; er bringt wenige sehr reiche Menschen hervor, die aus dem Kampf um Reichtum seelisch krank und oft unglücklich hervorgehen. Den größten Teil der Bevölkerung läßt der Kapitalismus hinter sich: all jene, die der Materialismus zur Verzweiflung bringt, und von denen einige im Elend leben. Die kapitalistische Ethik des übermäßigen Konsums zerstört die Umwelt. Eine weitere Begleiterscheinung der wirtschaftlichen Ungleichheit sind krasse soziale Unterschiede von solchem Ausmaß, daß sie die Stabilität der Gesellschaft gefährden.

Die kommunistische Ideologie wiederum anerkennt die wechselseitigen Verpflichtungen der Mitglieder einer Gesellschaft. Sie unterstellt, daß die Menschen bereit sind, ihre persönlichen Wünsche dem Wohle der Gesellschaft zu opfern. Die Menschen sehnen sich nach Gerechtigkeit, haben Mitgefühl mit anderen, streben nach einem edlen Charakter. Die kommunistische Ideologie übt ihre Anziehung auf Menschen aus, weil sie die transzendenten Aspekte des menschlichen Wesens anspricht. Nichtsdestotrotz führen auch die kommunistisch geprägten Versuche, [Seite 10] sei es in der Regierung oder im Bereich sozialen Wandels, nicht zu jener neuen Gesellschaft, die sie propagieren. Das Übel, das man in der Klassenstruktur wähnt, lebt auch im Verhalten der »befreiten« Menschen fort. Es besteht auch, nachdem die bösen Kapitalisten verschwunden sind, und früher oder später wird die treu ergebene Partei müde, sich für die Gesellschaft zu opfern, solange dies offensichtlich keinen Nutzen bringt. Wut und Haß als Triebkräfte der Befreiung von einer unterdrückenden Klasse entwickeln ihre eigene Dynamik; revolutionäre Bewegungen neigen dazu, sich aufzusplittern und schließlich untereinander zu bekämpfen.

Das kommunistische Gedankengut inspiriert die Menschen zu dem Wunsch, die Welt verändern zu wollen, führt jedoch nicht dazu, daß sie es tatsächlich tun. Die Menschen sind selbstgefällig und arbeiten nicht zusammen, die Begeisterung läßt nach. Die Menschen verlieren ihr revolutionäres Bewußtsein und beginnen statt dessen, über sich selbst nachzudenken. Der Parteiapparat, der nach der Theorie nichts Böses tun kann, weil das Böse ein Merkmal der Klassenstruktur war, wird in Wirklichkeit bei seinem Bemühen, die Menschen zu motivieren, mehr und mehr zum Zwangsapparat. Die Folge ist, daß das persönliche Verantwortungsgefühl abstumpft, der Einsatz bei der Arbeit nachläßt, die Wirtschaft zum Stillstand kommt und die Gesellschaft gelähmt wird.

Die kapitalistische Ideologie entzündet den persönlichen Unternehmungsgeist, der den kommunistischen Volkswirtschaften fehlt. Die kommunistische Gesellschaftsideologie bietet wiederum eine Ethik der wechselseitigen Abhängigkeit, die dem Kapitalismus abgeht. Können die verwendbaren Teile beider Systeme verknüpft werden zu etwas, das den gesellschaftlichen Fortschritt wirklich fördert? Das Ergebnis dieses Versuchs - zu beobachten im Wohlfahrtsstaat - ist eine Gesellschaft, in der die Erfolgreichen sich motiviert zeigen, Steuern zu hinterziehen, die Armen, arbeitslos zu bleiben, in der die Wirtschaft steigende Sozialleistungen aller Art erbringt und die extrem Reichen sich veranlaßt sehen, nach Monaco zu ziehen. Tatsächlich ist die gemischte Wirtschaftsordnung kaum erfolgreicher als die beiden ideologischen Extreme: Die persönliche Verantwortung stirbt aus, die sozialen Spannungen wachsen, und obwohl für jeden gesorgt wird, fühlt sich keiner gerecht behandelt.


□ Die geistige Dimension der Wirtschaftstheorie

Das Problem mit dem Kapitalismus, Kommunismus und jeglicher Vermengung beider besteht darin, daß sie die Wirklichkeit nicht in ihrer Ganzheit wahrnehmen. Das Leben besteht nicht nur aus Menschen, Gegenständen und der Kultur, die Männer und Frauen hervorbringen. Die Wirklichkeit schließt die schöpferische Kraft ein, welche die Menschen Gott nennen, wie auch den transzendenten Aspekt des menschlichen Wesens, den man Seele nennt. Diese geistige Wirklichkeit kann nicht einfach für besondere Gelegenheiten beiseite geschoben werden. Sie ist ein Wesensbestandteil des menschlichen Lebens und ein maßgeblicher Faktor des wirtschaftlichen Handelns. Versuchen [Seite 11] Volkswirtschaftler und Sozialphilosophen, eine dreidimensionale Wirklichkeit - eine geistige, menschliche und materielle - in einen zweidimensionalen Rahmen zu pressen, so ergeben sich Verzerrungen und Fehlfunktionen. Dies kann nicht gutgehen. Menschen und Materielles allein können keinen gesellschaftlichen Fortschritt bewirken. Es bedarf vielmehr sowohl der Menschen, der Materie wie auch der geistigen Mittel, die Gott der Menschheit verleiht.

In jeder Ideologie ist die Einzelperson Urheber gesellschaftlicher Veränderungen. Wir können uns die Einzelperson als ein Fahrzeug vorstellen, das der Menschheit den Weg zu einer besseren Gesellschaft zeigt.


Wer sich als einzelner auf Gott zu bewegt, bringt auch die Welt um sich in Bewegung.

Für die Bahá’í ist der Treibstoff dieses Fahrzeugs die Liebe zu Gott. Dieser Treibstoff, der ständig durch Gebet und Studium der Bahá’í-Schriften erneuert wird, hilft dem einzelnen über Enttäuschungen mit anderen Menschen hinweg, er bringt ihn durch kritische Situationen, in denen sich das Ich meldet, er zieht den einzelnen vorwärts, wenn er entmutigt ist und sich nicht in der Lage fühlt, für gesellschaftliche Veränderungen zu arbeiten; er verleiht den Menschen einen klaren Sinn für die Richtung. Wer sich als einzelner auf Gott zu bewegt, bringt auch die Welt um sich in Bewegung.

Auch das kommunistische Gedankengut verlangt von jedem einzelnen, die Gesellschaft durch eigene Taten vorwärtszubewegen. Das Fahrzeug des einzelnen soll sich für das Wohl des vollkommenen sozialistischen Staates opfern, es soll der Partei gehorchen und ihren Nutzen voranstellen; aber nach einer Weile ist der revolutionäre Treibstofftank leer. Die Menschen sind enttäuscht, verärgert wegen des geringen Warenangebots, besorgt um ihre Zukunft; sie sind nicht mehr motiviert zu opfern. Das Fahrzeug des gesellschaftlichen Fortschritts bleibt stecken; der einzelne möchte nichts mehr beisteuern. Übt die Partei Druck aus, um das Fahrzeug wieder vorwärts zu bewegen, wird der einzelne überrollt. Bei vielen Bemühungen um Kollektivierung ähnelt die revolutionäre Partei einem Panzer, der die festgefahrenen, unkooperativen Revolutionsverbände anschiebt und zwingt, sich zu bewegen. Bauern konnten sich dem Kollektiv anschließen oder wurden erschossen; sie konnten wählen, in die kollektive Dorfgemeinschaft zu ziehen oder ihre Ernte zu verlieren.

Beim Kapitalismus verhält es sich mit der Analogie des Fahrzeugs etwas anders: Die Gesellschaft kommt voran, wenn jeder das luxuriöseste Fahrzeug baut, das möglich ist, und es so lenkt, wie er möchte. Die erfolgreichste Gesellschaft ist die mit den protzigsten Wagen. Jeder Unternehmer muß sein eigenes Fahrzeug für den gesellschaftlichen Fortschritt zusammensetzen. Wer zuerst kommt, kriegt alle Teile, die er haben möchte. Die Menschen am Rande des Gedränges finden wahrscheinlich nur Material für einen Motorroller, und wer verspätet ankommt, muß zu Fuß gehen, weil nichts mehr übrig ist. Der Mann, der sich eine schicke Limousine mit Bar und Video zusammenbaute, [Seite 12] mag das System für eine gute Wirtschaftsordnung halten, aber sein übermäßiger Konsum bringt seine Kinder und Enkel um zukünftige Ressourcen, und Menschen, die zu Fuß gehen müssen, können zu Gewalt und Raub verführt werden.

Was der einzelne tut, ermöglicht gesellschaftlichen Fortschritt. Geistige Kräfte wiederum ermöglichen dem einzelnen, erfolgreich zu handeln. Die durchdringende, belebende Macht der Verbindung jedes einzelnen mit Gott wirkt sich auf das Wirtschaftsleben anregend, aber auch steuernd aus. Die Liebe zu Gott regt den Menschen an, Tugenden zu entwickeln, schöpferisch zu sein, nach Vortrefflichkeit zu streben und die eigene Begabung zum besten einzusetzen. Gleichzeitig veranlaßt das Bewußtsein einer geistigen Wirklichkeit die Menschen, nach Zufriedenheit zu streben, übermäßigen Konsum zu vermeiden und ihre Reichtümer mit den Armen zu teilen. Wahrer religiöser Glaube erzieht das Ich, befähigt den Menschen zu Selbstlosigkeit und schafft ein Klima guten Willens in der gesellschaftlichen Zusammenarbeit. Die Anerkennung dieser geistigen Dimension des Wirtschafts- und Gesellschaftslebens würde sowohl die kommunistische als auch die kapitalistische Ideologie in die Lage setzen, die eigenen Ziele zu erreichen.


□ Das Erreichen kommunistischer und kapitalistischer Ziele für die Gesellschaft

Die kommunistische Zielsetzung, daß die Menschen ihre natürliche Selbstsucht überwinden und dem Wohle der ganzen Gesellschaft dienen, kann dann erfüllt werden, wenn sich die Menschen der geistigen Wirklichkeit bewußt sind und erkennen, daß es für ihre materiellen Opfer auch immateriellen Lohn gibt. Umsonst werden die Menschen nichts opfern; die Religion gibt ihnen einen logischen und überzeugenden Grund, dazu bereit zu sein.

Das Glücksgefühl der Befreiung soll Revolutionäre geduldig, freundlich, vertrauensvoll und demütig machen, aber diese Eigenschaften entstehen bei den meisten Menschen nicht auf natürliche Weise, oder sie wurden durch Zermürbung in der Gruppenarbeit ausgezehrt. Eine Gesellschaft durch persönliches Beispiel umzugestalten, ist eine harte, mühselige Arbeit; die Energie, Disziplin und Geduld, dies fortzusetzen, entsteht aus dem Glauben an Gott und dem Vertrauen in Gott.

Die kapitalistische Erwartung, daß Einzelpersonen, die für sich Reichtum schaffen, schließlich eine blühende Gesellschaft hervorbringen, kann dann verwirklicht werden, wenn das Recht des einzelnen, zu arbeiten und die Früchte der eigenen Arbeit zu genießen, von dem geistigen Gesetz durchdrungen wird, daß persönliches Glück durch Selbstlosigkeit und Dienst am Nächsten entsteht. Ein Bewußtsein der geistigen Wirklichkeit lehrt die Menschen, was tatsächlich wichtig oder unwichtig ist und was zu menschlichem Glück führt. Es zeigt den Menschen, wofür ihr Reichtum gut ist; in der Verwendung des Reichtums zum Nutzen der Gesellschaft erfahren sie persönliche Erfüllung, und die Gemeinschaft als Ganzes profitiert davon.


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□ Marx trifft Calvin

In der Bahá’í-Auffassung von gesellschaftlichem Fortschritt treffen Marx und Calvin zusammen. Die protestantische Überzeugung, wonach Gott wünscht, daß die Menschen hart arbeiten und ihre Begabungen einsetzen, um Reichtum zu schaffen, wird angenommen. Dies jedoch unter der Bedingung, daß die Menschen ihren Wohlstand zum Nutzen der Gesellschaft einsetzen, was im Kommunismus seinen Widerhall findet. »Wohlstand ist allen Lobes Wert, wenn er durch die eigenen Anstrengungen eines Menschen und durch die Gnade Gottes auf den Gebieten des Handels, der Landwirtschaft, der Kunst oder des Gewerbefleißes erworben und für menschenfreundliche Zwecke ausgegeben wird.«8) Alle können dem kapitalistischen Impuls folgen und aus ihren eigenen Anstrengungen Nutzen ziehen. Dann wird von ihnen jedoch eine nahezu kommunistische Geisteshaltung erwartet, nämlich ihren Wohlstand zu nutzen, um auf breiter Ebene den Lebensstandard der Massen zu heben. »Wohlstand ist in höchstem Maße lobenswert, sofern die ganze Bevölkerung in Wohlstand lebt. Wenn jedoch nur einige wenige übermäßige Reichtümer besitzen und alle übrigen verarmt sind, wenn keine Frucht, kein Nutzen aus dem Wohlstand erwächst, dann bedeutet dieser nur eine Verpflichtung für den Eigentümer. Wird der Reichtum andererseits dazu verwendet, Wissen zu fördern, Grund- und andere Schulen zu eröffnen, Kunst und Gewerbe anzuregen, Waisen und Arme zu erziehen - kurz gesagt, wird er dem Wohle der Gesellschaft gewidmet -, dann steht der Eigentümer vor Gott als der Vortrefflichste unter allen, die auf Erden wohnen, und wird zum Volke des Paradieses gezählt. «9) Die Ansichten der Bahá’í über die Entstehung und Aufteilung von Reichtum sind weit mehr als ein Weg, wirtschaftliche Gegensätze auszulöschen. Sie sind ein Weg, innerhalb der Gesellschaft moralische Kräfte zu errichten.

Dieser Prozeß des Erwirtschaftens von Einkommen und der Aufteilung von Reichtum hat tiefgreifende Auswirkungen. Das System hilft dem einzelnen, sich zu entwickeln, indem es ihn ermutigt, die eigenen Fähigkeiten einzusetzen. Als Maßstab persönlichen Erfolgs wird der Dienst an der Menschheit eingeführt; dies fördert Freigebigkeit, Geistigkeit und Anteilnahme. Menschen, die Gott lieben, werden sich mehr um ihre Mitbürger kümmern als um ihr eigenes Vermögen. Das Erlebnis, Geld für andere auszugeben, gibt dem geistigen und materiellen Leben des Menschen Tiefe und Kraft.10) Der Bahá’í-Unternehmer darf es genießen, Reichtum zu schaffen, einen beträchtlichen Teil davon herzugeben, dann nach seinem Belieben zu handeln und erneut viel Geld zu verdienen. Der Sinn der geistigen Verpflichtung des Huqúq’u’lláh, die von jedem Bahá’í fordert (aber nicht erzwingt), 19 Prozent [Seite 14] seines Mehrwerts dem Verwaltungszentrum des Glaubens zu geben, ist zweierlei: Einerseits werden beim einzelnen und in der Gesellschaft geistige Kräfte gefördert, andererseits wird die materielle Grundlage für gesellschaftlichen Fortschritt geschaffen.

Eine Bahá’í-Wirtschaftsordnung fördert auch die gesellschaftliche Entwicklung. Die Bahá’í-Haltung stellt die Liebe zum Menschen in den Mittelpunkt. Von ihr ist zu erwarten, daß sie strukturelle Veränderungen bewirkt und Armut beseitigt. Es gilt nicht, daß die Reichen sich als Wohltäter wähnen und mit unzureichenden Hilfsaktionen ihr Gewissen erleichtern, während die Armen in einem Zustand der Armut gehalten werden. Nicht länger wird wirtschaftliche Hilfe als Almosen an die Armen weitergegeben. Die wirtschaftliche Entwicklungshilfe erreicht ihr Ziel über die Zusammenarbeit im internationalen Netzwerk der verwaltenden Bahá’í-Institutionen. Dies verhindert ein Gefühl der Minderwertigkeit bei den Armen. Als Empfänger finanzieller Unterstützung tragen die örtlichen Geistigen Räte selbst die Verantwortung für ihre Entwicklungsvorhaben. Menschen, die als Empfänger aus diesem System Nutzen gezogen haben, kommen wiederum selbst in die Lage, sich als Geber zu beteiligen. Teilen die Menschen ihre materiellen Besitztümer, weil sie es möchten, und nicht, weil sie gezwungen werden, so treten sie sowohl geistig als auch wirtschaftlich miteinander in Beziehung. Weil die Gemeinde wohlhabender wird, wächst ihre Einigkeit untereinander.11)

Die geistige Dimension ist durchaus ein sehr praktischer Bestandteil des Wirtschaftslebens: Vertrauen in Gott regt die persönliche Kreativität an und die Liebe zu Gott zügelt den Egoismus zum Wohle der Gesellschaft. Eine geistige Grundhaltung bietet in Ost und West Lösungen für die jeweiligen Gesellschaftsprobleme. Um die Leere der Konsumgesellschaften, den Stillstand sozialistischer Volkswirtschaften, das Versagen der Wohlfahrtsstaaten oder die aggressiven Spannungen durch gemeindeinterne Konflikte zu überwinden


Die geistige Dimension ist durchaus ein sehr praktischer Bestandteil des Wirtschaftslebens.

und gemeinsam weiterzukommen, müssen die Menschen den kräftezehrenden Ballast des materialistischen Denkens abwerfen. Jedes der erwähnten Problemfelder hat eine geistige Dimension. Wenn die Menschen das Problem in seiner ganzen Wirklichkeit erfassen und die Macht geistiger Werkzeuge erkennen, geraten sie wirklich in Bewegung und bringen ihre Gesellschaft vorwärts.


1) »Dieser Unterdrückte bezeugt, daß die sterblichen Menschen aus dem völligen Nichtsein zu dem Zweck ins Reich des Seins gelangten, für die Besserung der Welt zu wirken und miteinander in Einklang und Harmonie zu leben.« Bahá’u’lláh, Vertrauenswürdigkeit, Bahá’í-Verlag 1990, Nr.21
2) Das Universale Haus der Gerechtigkeit, Die Verheißung des Weltfriedens, 2.Auflage, Bahá’í-Verlag 1985, S. 10
3) Bahá’u’lláh, Ährenlese 109:2, Bahá’í-Verlag, 3. Auflage 1980
4) Gaia Atlas of Planet Management
5) World Development Forum, Bd.5, Nr.18, Oktober 1987 und Bd.4, Nr.21, November 1986
6) »...daß der Mensch sich selbst erkennen und unterscheiden soll, was zu Erhöhung und Erniedrigung, zu Ruhm und Schande, zu Reichtum und Armut führt. Wenn der Mensch die Stufe der Erfüllung und seine Reife erlangt hat, bedarf er des Wohlstands. Wohlstand, den er durch Handwerk und Beruf erwirbt, ist ... lobens- und empfehlenswert.« Bahá’u’lláh, Botschaften aus ’Akká 4:8, Bahá’í-Verlag 1982
7) Loraine Granado, »The Link to Classism«, Sojourners, Bd.16, Nr.10, November 1987
8) ’Abdu'l-Bahá, Das Geheimnis göttlicher Kultur, S.31-32
9) ebd.
10) »Es ist klar und offenkundig, daß das Entrichten des Rechtes Gottes Wohlstand, Segen, Ehre und den göttlichen Schutz fördert.« »Huqúq’u’lláh ist wahrlich ein bedeutendes Gesetz. Allen obliegt, diese Gabe darzubringen, weil sie die Quelle von Gnade, Überfluß und allem Guten ist. Sie ist eine Wohltat, die jede Seele in jeder der Welten Gottes, des Allbesitzenden, des Allgütigen, begleiten wird.« Huqúq’u’lláh; ...Die krönende Zier aller Ernten der Welt .... Nr.6 und 7
11) »... daß Zusammenarbeit, gegenseitige Hilfe und Austausch essentielle Merkmale der Welt des Seins sind, da alles Erschaffene eng miteinander verbunden ist und jedes vom anderen beeinflußt wird oder direkten bzw. indirekten Nutzen davon hat. ... Dies ist das Grundprinzip, auf dem die Institution des Huqúq’u’lláh errichtet wurde, da ihre Einnahmen der Förderung dieser Ziele gewidmet sind.« Huqúq’u’lláh ... Die krönende Zier aller Ernten der Welt ..., Nr.61


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Kinder - Bürger einer neuen Welt[Bearbeiten]


Maria Montessori und der Bahá’í-Glaube

Barbara Hacker
Erstmals erschienen in The Journal of Bahá’í-Studies, Vol.1, Nr.2, 1988-1989. Die Übersetzung und Kürzung des Artikels besorgte Gudrun Sobhani.

Das Leben und Werk der Wissenschaftlerin und Erzieherin Dr. Maria Montessori (1870-1952) sind von besonderem Interesse für all diejenigen, die sich mit Fragen der Erziehung im Licht der Bahá’í-Lehren befassen. Die Autorin zeigt, daß sich Montessori mit dem Geist der Bahá’í-Epoche in Übereinstimmung befand. Sowohl ihre Gedanken als auch ihr Handeln beweisen, daß sie Bahá’í-Prinzipien wie die Einheit der Menschheit, die Gleichwertigkeit der Geschlechter, die Übereinstimmung von Religion und Wissenschaft und eine geistige Lebensausrichtung wohl verstanden hatte. Ihre Entdeckungen im Umgang mit Kindern und ihre Ansicht, daß sie eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und letztendlich für die Errichtung des Weltfriedens innehaben, werden im Zusammenhang mit den Bahá’í-Schriften dargestellt.


Unter diesem Blickwinkel sollen das Leben und Werk der wahrhaft bedeutenden Frau, Dr. Maria Montessori, betrachtet werden, die sich eingehend mit dem Thema »Erziehung« befaßte. Ihre Definition von Erziehung ist so umfassend, daß sie für unsere Betrachtung von besonderer Bedeutung ist. Maria Montessori lebte von 1870 bis 1952 und war somit eine Zeitgenossin von Bahá’u’lláh, 'Abdu'l-Bahá und Shoghi Effendi. Nichts spricht dafür, daß sie die Bahá’í-Religion kannte, aber sie zählte zu den Menschen, die für den Geist der Zeit, in der sie lebte, aufnahmebereit waren. Ihre Worte aus den dreißiger Jahren spiegeln dies wider:

»Eine Zeitepoche, die tausende von Jahren dauerte und so alt ist wie die Menschheitsgeschichte, die zu einer legendären Zeit, deren wenige Spuren im Erdinnern verborgen sind, ihren Anfang nahm, hat nun ihr Ende gefunden. Ein ungeheuer großes Kapitel der Geschichte, das sich in Jahrtausenden entfaltete, ist nun abgeschlossen. Wir erleben gerade eine Krise, in der wir hin- und hergerissen werden zwischen einer alten Welt, die ihr Ende findet, und einer neuen Welt, die bereits angefangen hat und ihre aufbauenden Elemente, die sie anzubieten hat, unter Beweis stellt. Die Krise, die wir erfahren, gleicht keiner Umwälzung, die kennzeichnend für den Übergang von einer historischen Periode in eine andere ist. Sie kann nur mit einer der biologischen oder geologischen Epochen verglichen werden, in der neue, höhere und vollkommenere Lebensformen auftraten, als völlig neue Daseinsbedingungen auf Erden entstanden.«  (Education S.24)

Montessori wurde in der Provinz Ancona in dem Jahr geboren, als Italien zum ersten Mal vereint wurde. Sie verbrachte ihre Kindheit und frühe Jugend in Rom. Doch während ihres ganzen Lebens diente sie als [Seite 16] Beispiel für Bahá’u’lláhs Anweisung: »Es rühme sich nicht, wer sein Vaterland liebt.« (Ährenlese Nr.117) Als sie einmal nach ihrer Nationalität gefragt wurde, antwortete sie: »Ich lebe im Himmel, meine Heimat ist ein Stern, der sich um die Sonne dreht und Erde heißt.« (Maria S.50) Ihr Verständnis über diesen Grundsatz war tief und


»Ich lebe im Himmel, meine Heimat ist ein Stern, der sich um die Sonne dreht und Erde heißt.«

schien teilweise auf einer intuitiven Erfahrung zu beruhen. Wie wir noch sehen werden, wurde es aber durch ihre Forschungsarbeit zugleich bestätigt und bekräftigt. Sie sprach immer wieder hierüber, sogar zu einer Zeit, da der Großteil der Welt sich für die bevorstehenden Weltkriege rüstete, bzw. an ihnen teilnahm. 1936 wandte sie sich mit folgenden Worten an den Europäischen Friedenskongreß in Brüssel:

»Wir alle sind nur ein einziger Organismus, eine Nation. Indem wir eine einzige Nation werden, haben wir schließlich erreicht, was der menschlichen Seele als ein unbewußt geistiges und religiöses Streben innewohnt, und das können wir auf der ganzen Erde verkünden. ›Die Menschheit als ein Organismus‹ wurde geboren; der Überbau, auf den die Anstrengungen der Menschen seit je her gerichtet waren, ist nun vollendet. Mit einem Wort gesagt, der heutige Mensch ist Weltbürger der großen Menschheitsnation. Es ist absurd zu glauben, daß ein Mensch, der mit der Natur überlegenen Kräften ausgestattet ist, Franzose, Engländer oder Italiener sein sollte. Er ist der neue Bürger einer neuen Welt - ein Bürger des Universums.« (Education S.28)

Wie die meisten Italiener war auch Maria Montessori katholisch. Doch ihre Schriften sind nicht so sehr vom Katholizismus durchdrungen, sondern vielmehr von ihrem tiefen Sinn für Geistigkeit und ihrer Fähigkeit, eine bestimmte Religion einer tieferen Wahrheit wegen zu transzendieren. Diese Fähigkeit ließ viele Menschen verschiedenen religiösen Hintergrunds sich mit ihrem Werk befassen. Geistigkeit zu erlangen, war das eigentliche Motiv ihrer Arbeit mit Kindern. »Unser Ziel ist weniger, Wissen zu vermitteln als vielmehr geistige Energie freizulegen und zu entwickeln.« (Maria S.47) Es war einzigartig, welche Bedeutung sie der religiösen Wahrheit und der geistigen Komponente bei der Erziehung und in ihrem ganzen Leben beimaß. Mit Bestimmtheit sprach sie über dieses Thema, auch wenn es nicht angebracht zu sein schien. Dies trug dazu bei, daß sie in wissenschaftlichen Kreisen in gewissem Sinn als ausgestoßen galt und als mystisch und unwissenschaftlich bezeichnet wurde.


«Mit einem Wort gesagt, der heutige Mensch ist Weltbürger der großen Menschheitsnation.«

Sogar in religiösen Kreisen war man sich im Urteil über sie nicht einig. In einer kürzlich erschienenen Biografie setzt ein amerikanischer Priester das Werk von Montessori herab, weil sie der Lehre von der Erbsünde aus dem Wege ging. Nach ihrem Tod jedoch wurde sie schließlich von Papst Johannes XXIII geehrt.

In ihrem Lebenswerk verschmelzen [Seite 17] das wissenschaftliche mit dem geistigen Element. Sie sah nie einen Widerspruch zwischen beiden Gebieten. Sheila Radice, die für die Zeitung Times Educational Supplement schrieb, hörte Vorlesungen und Seminare von Maria Montessori in Londen und führte viele Gespräche mit ihr, was dazu beitrug, daß Sheila Radice ein Buch mit dem Titel Die Neuen Kinder veröffentlichte, in dem sie über Montessori schreibt: »Damals erzählte sie mir, daß sie die ›beiden Lager‹ ziemlich deutlich vor sich sah - die Lehrmeister der Menschheit spotten über die Wissenschaft, und die Wissenschaftler lachen über die Philosophen. Sie war der Meinung, daß eines Tages der Lehrer kommen würde, der diese beiden entgegengesetzten Interpretationen des Lebens zu einer einzigen vereint.« Radice war der Auffassung, Maria Montessori trüge sehr viel zur Erreichung dieses Zieles bei.

Auch auf dem Gebiet der Politik bemühte sich Maria Montessori ihr Leben lang, unabhängig zu bleiben, um höheren Zielen dienen zu können. Sogar als man auf sie großen Druck ausübte, sich einer bestimmten Gruppe anzuschließen, blieb sie ihrem Grundsatz treu. Diesen Aspekt in ihrem Leben schätzen besonders die Bahá’í hoch, da die Lehren Bahá’u’lláhs die Nichteinmischung in die Politik als ein Hilfsmittel ansehen, dem höheren Ziel der Einheit dienen zu können. Dieser Druck im Leben Montessoris wurde besonders in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg spürbar, als sie versuchte, ihre Arbeit in Italien auszudehnen. Sie widerstand Mussolinis Bemühungen, ihre Schulen zu benutzen, um die Jugend ideologisch auszubilden. Als sie gezwungen wurde, ihre Schulen zu schließen, gab sie ihre Arbeit auf und ging nach Spanien, wo sie Barcelona zu ihrem Wohnsitz machte. In Deutschland und Österreich verbrannten die Nazis auf öffentlichen Plätzen in Berlin und Wien sowohl ihr Bild als auch ihre


»Der Lehrer sollte nicht im Dienste einer politischen oder gesellschaftlichen Ideologie arbeiten, sondern im Dienste der ganzen Menschheit.«

Bücher. Als in Spanien der Bürgerkrieg ausbrach, geriet ihr Leben in Gefahr, da sie als Katholikin religiöse Schriften verfaßt hatte. Mit Hilfe der britischen Regierung gelang ihr kurzer Hand die Ausreise. Sie verließ Spanien auf einem Kriegsschiff und ließ sich in Holland nieder, wo sie ihre Arbeit fortsetzte. Als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, lud die Theosophische Gesellschaft sie nach Indien ein, wo sie sich bis 1946 aufhielt.

Obwohl ihr Leben nach außen hin durch politische Kräfte beeinträchtigt wurde, blieb sie innerlich davon unberührt, wie aus folgenden Sätzen hervorgeht: »Der Lehrer sollte nicht im Dienste einer politischen oder gesellschaftlichen Ideologie arbeiten, sondern im Dienste der ganzen Menschheit. Er muß fähig sein, seine eigene Meinung frei zu äußern und sein Urteil vorurteilsfrei und mutig abzugeben.« (Maria S.53)

Viele ihrer engeren Freunde stellten fest, daß sie der Meinung war, ihr Leben würde von einer höheren Macht geführt, um einem bestimmten Zweck zu dienen. Als sie im Alter von zehn Jahren schwer erkrankt war, hatte sie ihre Mutter mit den Worten [Seite 18] getröstet: »Mach dir keine Sorgen, Mutter, ich kann nicht sterben. Ich habe in meinem Leben zu viele Aufgaben zu erfüllen.« (Maria S.6)

Eine Kollegin, Anna Maccheroni, zitiert sie: »Wenn man seine Kräfte sammelt, selbst wenn sie verbraucht scheinen, und das Ziel nur noch











Maria Montessori 1898


unklar vor einem steht, dann ist dies eine große Tat, die früher oder später Früchte hervorbringen wird.« (Standing S.30). Standing, einer der frühen Biografen, erinnert sich, daß sie gesagt habe, die Lebenskunst bestehe darin zu lernen, »den Ereignissen gegenüber ergeben zu sein«. (Standing S.31) In ihrem Leben wendete sie diese Prinzipien oftmals an.

Die junge Montessori, die diesem Gefühl einer inneren Führung folgte, sah sich vor eine Reihe Herausforderungen gestellt, die auf einem weiteren sehr bedeutsamen Bahá’í-Prinzip beruhen. Bahá’u’lláh sagt, daß die Menschheit einem Vogel gleiche, der einen männlichen und einen weiblichen Flügel besitzt. Dieser Vogel könne nicht fliegen, wenn einer der Flügel schwach und unentwickelt sei. Maria Montessori lebte nach diesem Prinzip der Gleichwertigkeit von Mann und Frau. Sie war eine hervorragende junge Schülerin und als sie in das Alter kam, um einen Beruf zu wählen, stand ihr als Frau in Italien nur der Beruf des Lehrers offen. Sie lehnte dies geradeheraus ab. Da sie an Mathematik sehr interessiert war, wählte sie die Laufbahn als Ingenieur. Das erforderte den Besuch einer technischen Hochschule - zur damaligen Zeit eine ausschließliche Domäne der Männer. Sie wurde zugelassen, mußte sich jedoch während der Pausen in einem gesonderten Raum aufhalten. Immer offen für innere Führung, änderte sie jedoch die eingeschlagene Studienrichtung und wählte die medizinische Ausbildung. Zu Anfang schien es unmöglich, doch sie bestand darauf und erhielt schließlich als erste Frau eine Zulassung an der Universität Rom für das Fach Medizin. Viele Geschichten gibt es über die »kleinen Verfolgungen« und die offiziellen Bestimmungen, die sie mit Humor ertrug. Zum Beispiel durfte sie den Hörsaal erst betreten, nachdem alle männlichen Studenten bereits Platz genommen hatten. Die Leichen durfte sie nur nachts und allein sezieren. Doch allmählich gewann sie die Achtung ihrer Professoren und Kommilitonen, und im Jahre 1896 promovierte sie als erste Frau Italiens zum Doktor der Medizin.

Auf zahlreichen internationalen Frauenkonferenzen sprach sie als Delegierte über das Recht der Frauen auf Bildung, gerechten Lohn usw. Beruflich war sie sowohl als Assistenzärztin an der psychiatrischen Universitätsklinik von Rom tätig als auch als Ärztin in eigener Praxis. 1898 wurde [Seite 19] sie Direktorin des Orthophrenischen Instituts in Rom, 1900 wurde sie Dozentin an einem Ausbildungsseminar für Lehrerinnen und von 1904 - 1906 hielt sie außerdem Vorlesungen über Anthropologie an der Universität von Rom.

Während der ersten Jahre ihrer Tätigkeit im Krankenhaus erkannte sie ihre eigentliche Lebensaufgabe: die Erforschung der kindlichen Seele und die Erziehung der Kinder. Es begann ganz zufällig. Sie entdeckte im Krankenhaus ein abgeschlossenes Zimmer, in dem geistig behinderte Kinder nur mit dem Notwendigsten versorgt wurden. In dem Zimmer befanden sich nur einige harte Bänke. Die zuständige Pflegerin sprach verächtlich von den Kindern und erzählte, daß sie auf dem Fußboden herumkriechen, um nach Brotkrümeln zu suchen, die sie dann in den Mund steckten. Montessori erkannte hierin ein Bedürfnis nach Anregung. Sie begann mit diesen Kindern zu arbeiten und sprach offen über ihre Ansicht, daß »geisteskranke Kinder nicht Wesen seien, die außerhalb der Gesellschaft stünden, sondern ebenso Anspruch auf den Segen einer Erziehung hätten wie normale Kinder, wenn nicht sogar mehr.« (Standing S.29) So kam es, daß sie Direktorin des Orthophrenischen Instituts wurde, in das alle geistig zurückgebliebenen Kinder Roms aus dem ungesunden Milieu der Heime gebracht wurden. Während dieser Zeit bildete Montessori Lehrer aus, besuchte andere Länder Europas, um deren Methoden zu erfahren, und verbrachte sehr viel Zeit mit eben diesen Kindern, indem sie sie beobachtete und mit ihnen experimentierte. Einmal sagte sie: »Erst diese zwei Jahre der Praxis berechtigen mich zu meinem Titel als Pädagogin.« (Standing S.29)

Wie weit diese Kinder nach heutigem Maßstab geistig behindert oder krank waren, wissen wir nicht. Aber alle waren geistig so zurückgeblieben, daß man sie in eine Anstalt brachte. Alle machten Fortschritte in ihrer geistigen Entwicklung, nachdem Montessori mit ihnen gearbeitet hatte. Einige lernten so gut lesen und schreiben, daß sie mit normalen Kindern an staatlichen Prüfungen teilnehmen konnten. Ihrer Tätigkeit wurde viel Lob gespendet, jedoch waren ihr andere Dinge wichtiger. Später einmal bemerkte sie: »Während jeder meine schwachsinnigen Kinder bewunderte, suchte ich die Gründe herauszufinden, warum die gesunden und glücklichen Kinder in den normalen Schulen auf so niedriger Entwicklungsstufe standen, daß sie bei einem Intelligenztest genauso abschnitten wie meine bedauernswerten Schüler.« (Standing S.30)

Erneut schrieb Montessori sich als Studentin an der Universität von Rom ein. Obwohl sie selbst Vorlesungen hielt, studierte sie vier Jahre lang Philosophie und Psychologie. Besonderes Interesse widmete sie den Werken von Itard und Seguin. Sie übersetzte und schrieb die Bücher dieser beiden Männer ab, »um so genug Zeit zu haben, den Sinn eines jeden Wortes abzuwägen und den Geist der Autoren richtig zu erfassen.«  (Standing S.32) All dies diente ihr als sorgfältige Vorbereitung für die Arbeit, die sie mit normalen Kindern durchzuführen wünschte.

1906 bot sich endlich die Gelegenheit. In einem der ärmsten Stadtteile Roms wurde von einer Baugesellschaft eine neue Wohnsiedlung für [Seite 20] über tausend Menschen errichtet. Probleme ergaben sich, als drei- bis sechsjährige Kinder, die ohne Aufsicht waren, die Häuser zu verunstalten begannen. Mehr im Hinblick auf die Häuser als auf die Kinder beschloß die Obrigkeit, einen Raum zur Verfügung zu stellen, wo sechzig Kinder unter einer Art Aufsicht zusammenkommen sollten. Montessori übernahm diese Aufgabe. Bei der Betreuung dieser Gruppe von scheuen, ungepflegten, unordentlichen und unterernährten Kindern machte Montessori eine wichtige Entdeckung, die ihrer ganzen zukünftigen Arbeit zugrundeliegt. Auch an anderen Schulen Roms, in anderen Teilen Italiens und später in anderen Ländern kam man zu gleichen Rückschlüssen.

Montessori arbeitete nicht nach einem vorgefaßten Plan, sondern sie versuchte, sich in die Kinder hineinzuversetzen, von ihnen zu lernen, ihre spontanen Handlungen zu beobachten und ihre eigene Reaktion darauf abzustimmen. Hierbei ging sie wie ein Wissenschaftler vor, der die Natur beobachtet. Ihr Labor war der Klassenraum mit dem Lehrmaterial, das sie früher für ihre zurückgebliebenen Kinder angefertigt hatte. Das Ergebnis dieses Versuchs mit den Kindern verwunderte Montessori in höchstem Maße, denn es kamen neue Eigenschaften an den Kindern zum Vorschein, die man Kindern gewöhnlich nicht zuschreibt. Sie entwickelten echtes Interesse von innen heraus für die ihnen zur Verfügung stehenden Materialien und pflegten die Übungen mit höchster Konzentration und innerer Beteiligung zu wiederholen, wobei sie ihre Arbeit mit sichtlicher Zufriedenheit und Genugtuung zu Ende führten. Sie zeigten Freude bei der Arbeit und entwickelten Ordnungssinn. Eine Disziplin entwickelte sich, eine Selbstdisziplin, die nicht von außen auferlegt war, sondern sich aus dem Kind heraus entfaltete. Die Kinder entwickelten innere Motivation und wurden zu eigenständig denkenden Schülern. Sie waren bereit zu gehorchen und respektierten eine vernünftige Autorität; sie waren äußerst wahrheitsliebend und wiesen Initiative und Selbständigkeit auf. Die bei Kindern so oft beobachtete Besitzgier wurde sublimiert, und sie entfalteten einen ausgesprochenen Sinn für persönliche Würde. Dieser Prozeß wurde als »Normalisierung« bekannt, und im Laufe der Zeit entdeckte man bei verschiedenen Kindergruppen noch weitere Wege, um diesen Prozeß in Gang zu setzen. Die Kinder wurden machmal »neue Kinder« genannt. Aus der ganzen Welt kamen Menschen, um diesen Klassenraum zu besichtigen. Froebel hatte eine schwache Ahnung, was man unter einem »normalisierten Kind« zu verstehen habe, und ebenso erging es Tolstoi an seiner Schule in Yasnaya-Polyana. Montessori aber war die erste, die herausfand, welche Bedingungen die Normalisierung ermöglichen und welche Umstände sie verhindern.

Es ist eine tiefgreifende Erfahrung für einen Lehrer, einzelne Schüler oder eine ganze Klasse während des Prozesses der Normalisierung zu beobachten. Man empfindet es als ein Vorrecht und fühlt sich geistig beflügelt. Als Montessori dies zum ersten Mal erlebte, erschien es ihr unglaublich. Ihre eigenen Worte vermitteln uns ihre große Verwunderung: »Es dauerte eine Zeit lang, bis ich mich [Seite 21] selbst davon überzeugt hatte, daß dies keine Illusion war. Nach jeder neuen Erfahrung, die die Richtigkeit der Beobachtungen bewies, sagte ich zu mir: »Ich glaube es noch nicht; das nächste Mal werde ich daran glauben«. So blieb ich lange skeptisch, doch zugleich auch höchst bestürzt und aufgewühlt. Wie oft tadelte ich die Lehrerin der Kinder, wenn sie mir davon berichtete, was die Kinder alles aus sich heraus getan hatten. »Mich kann nur die Wahrheit überzeugen«, pflegte ich streng zu antworten. Ich erinnere mich, daß die Lehrerin, ohne beleidigt zu sein und manchmal mit Tränen in den Augen, antwortete: ›Sie haben recht; wenn ich so etwas sehe, glaube ich, daß Engel diese Kinder inspirieren.‹ Eines Tages nahm ich tief bewegt mein Herz in beide Hände, als müßte ich es ermutigen, sich in die Höhen des Glaubens zu erheben, und ich stellte mich voll Ehrerbietung vor die Kinder und sprach zu mir: ›Wer also seid ihr? Bin ich etwa den Kindern begegnet, die Christus in Armen hielt und zu denen er all die heiligen Worte sprach? Ich will euch folgen, um mit euch in das himmlische Königreich einzutreten.‹ Und mit der Fackel des Glaubens in den Händen setzte ich meinen Weg fort.« (Standing S.53)

Während der folgenden sechsundvierzig Jahre arbeitete Maria Montessori für das Wohl der Kinder und durch die Kinder für das Wohl der Menschheit. Ihre Studien über die kindliche Seele fanden nie ein Ende. Sie untersuchte die vielen vom Normalzustand abweichenden Verhaltensformen wie Aggressivität, Furchtsamkeit, Ungehorsam, verschiedene Formen der Angst, Unordentlichkeit und Zerstörungswut, sowie übersteigerte Abhängigkeit, Besitzgier und übersteigerte Fantasie. Sie beschrieb, wie das Kind in den Prozeß der Normalisierung geführt werden kann. Folglich wurde Erziehung ein Heilungsprozeß für den kindlichen Geist. Hier denkt man an die Worte ’Abdu'l-Bahás: »Darum muß der Lehrer zugleich auch ein Arzt sein, das heißt, er muß, indem er das Kind unterrichtet, seine Fehler heilen. Er muß es lehren und es gleichzeitig anleiten, seine geistigen Anlagen auszubilden. Laßt den Lehrer ein Arzt des kindlichen Charakters sein, so wird er die geistigen Leiden der Kinder der Menschheit heilen.«  (Kindererziehung, Nr.47) Dies ist das erste und vornehmste Ziel der Erziehungsmethode Montessoris.

Montessori fand heraus, daß Kinder in ihrer Entwicklung plötzlich eine Phase erreichten, in der sie Lesen und Schreiben genauso selbstverständlich erlernten wie das Sprechen. Sie beobachtete und beschrieb das Phänomen der »sensiblen Phasen« bei Kindern. Den Begriff der »sensiblen Phasen« hatte als erster deVries, ein Biologe, im Zusammenhang mit Tieren verwandt. Gemeint sind zeitlich begrenzte Abschnitte höchster Empfänglichkeit, in denen der Organismus bestimmte Fähigkeiten oder wesentliche Eigenschaften erwirbt. Maria Montessori sagt über Kinder: »Kinder durchschreiten gewisse Phasen, in denen sie seelische Begabungen und Möglichkeiten aufweisen, die später wieder verschwinden. Deshalb zeigen sie zu gewissen Zeiten in ihrem Leben ein großes und außergewöhnliches Interesse an bestimmten Dingen und Tätigkeiten.«(Standing S.20)

Während Maria Montessori immer [Seite 22] tiefere Erkenntnisse über das Kind gewann und Methoden herausfand, um den Nöten des Kindes gerecht zu werden, verbreitete sich ihr Erziehungskonzept auf der ganzen Welt. Montessori bereiste verschiedene europäische Länder, hielt öffentliche Vorlesungen, richtete Übungskurse für Lehrer ein und half mit, Schulen aufzubauen. 1913 unternahm sie die erste von mehreren Reisen in die Vereinigten Staaten. Sie sprach in der Carnegie Hall in New York vor 5000 Zuhörern, gewann 1915 bei der Ausstellung in San Francisco die Goldmedaille für den Entwurf eines Klassenzimmers und sprach mit vielen interessierten Gesellschaften und Einzelpersonen über ihre Ideen. In verschiedenen Städten Südamerikas hielt sie Vorlesungen und leitete zahlreiche Kurse während ihres Aufenthaltes in Indien und Pakistan.

Menschen aus Asien, Afrika, Australien, Europa und Amerika besuchten sie. In all diesen Kontinenten wurden Schulen eröffnet, an denen Kinder aus unterschiedlichsten sozialen Schichten und kulturellem Hintergrund unterrichtet wurden. Es zeigte sich deutlich, daß das Phänomen,


»Gutes Betragen und ein hoher sittlicher Charakter müssen an erster Stelle stehen, denn ohne Charakterbildung wird sich das Erwerben von Wissen nur nachteilig erweisen.«

das Montessori beobachtet hatte, allgemeingültig war. Es war für Montessori typisch, daß sie - obwohl sie sich beim Entwurf ihres Lehrkonzeptes eingehend mit jedem kleinsten Detail befaßte - ein umfassenderes Ziel vor Augen hatte: die Auswirkung


»Jede Tat, die die Errichtung einer echten Gemeinschaft der ganzen Menschheit behindert, muß als unmoralisch und bedrohlich für das Leben der menschlichen Gesellschaft angesehen werde.«

ihrer Arbeit auf die gesamte Menschheit. Sie stellte bei ihrer Forschungsarbeit mit Kindern so unterschiedlicher Herkunft fest, daß durch die richtige Erziehung eine große, zur Verbesserung der Menschheit beitragende Kraft frei würde. Sie schreibt: »Erziehung kann nicht als ein bedeutungsloser Faktor im menschlichen Leben abgetan werden, als bloßes Mittel, dem jungen Menschen einige kulturelle Grundlagen zu vermitteln. An erster Stelle muß sie im richtigen Zusammenhang mit der Entwicklung menschlicher Werte, vor allem seiner moralischen Werte, gesehen werden; danach im Zusammenhang mit dem Entstehen einer Gesellschaft, die sich aus Individuen, die mit diesen Werten ausgestattet sind, zusammensetzt und sich ihrer Bestimmung völlig bewußt ist. Eine neue Moral muß diese neue Form von Zivilisation begleiten. Ordnung und Disziplin müssen darauf abzielen, Harmonie unter den Menschen zu erreichen, und jede Tat, die die Errichtung einer Gemeinschaft der ganzen Menschheit behindert, muß als unmoralisch und bedrohlich für das Leben der menschlichen Gesellschaft angesehen werden.« (Education S. xiii)

[Seite 23] Diese Gedanken stimmen mit den Bahá’í-Schriften überein, in denen zahlreiche Hinweise auf die Bedeutung der Erziehung sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft enthalten sind, und die die Notwendigkeit einer geistig-moralischen Erziehung verbunden mit einer materiellen Erziehung hervorheben. Die folgenden Zitate von ’Abdu’l-Bahá veranschaulichen dies: »Ihr müßt der Kindererziehung größte Aufmerksamkeit widmen, denn das ist die Grundlage des göttlichen Gesetzes und das Fundament für das Gebäude Seines Glaubens.« (Kindererziehung, Nr.44) »Jedes Kind könnte das Licht der Welt sein - und ebenfalls ihre Finsternis. Deshalb muß der Frage der Erziehung größte Bedeutung beigemessen werden.« (Kindererziehung, Nr.48) »Gutes Betragen und ein hoher sittlicher Charakter müssen an erster Stelle stehen, denn ohne Charakterbildung wird sich das Erwerben von Wissen nur nachteilig erweisen.« (Kindererziehung, Nr.58) »Erziehung muß als außerordentlich wichtig angesehen werden; denn wie Krankheiten in der körperlichen Welt sehr ansteckend sind, genauso sind Eigenschaften des Geistes und der Seele äußerst ansteckend. Erziehung hat einen allumfassenden Einfluß, und die durch sie verursachten Unterschiede sind sehr groß.«  (Kindererziehung, Nr.31)












Maria Montessori 1951


Um durch Erziehung das Potential des Kindes zu entwickeln, fordert Montessori uns auf, eine neue Geisteshaltung einzunehmen. Sie verlangt, daß wir die Vorurteile, die wir gegenüber der Natur des Kindes und der Erziehung haben, ablegen und uns bemühen, beides in einem neuen Licht zu sehen. Zu diesen Vorurteilen zählt die Vorstellung, das Kind sei ein leeres Gefäß, das zu füllen die Erwachsenen völlig berechtigt und verantwortlich seien. Auch setzt man voraus, daß das Kind nur in geringem Maß der Selbstkontrolle und Konzentration fähig ist und sich um seine Bedürfnisse nicht kümmert. Man glaubt, daß kleine Kinder keinerlei Art von Arbeit verrichten dürfen und vor jeder intellektuellen Herausforderung bewahrt werden sollten.

So verbreitet sind diese Vorurteile, daß sie fast überall akzeptiert werden. Folglich haben viele Menschen noch nie ein »normalisiertes« Kind [Seite 24] gesehen, das Merkmale wie Liebe zur Arbeit, Konzentrationsfähigkeit, Selbständigkeit, Bereitschaft zur Herausforderung, einen hilfsbereiten, kooperativen Geist und Selbstdisziplin sowie inneren Frieden und Heiterkeit entfaltet hat.

Montessori wehrte sich dagegen, daß man ihre Arbeit die »Montessori-Methode«  nannte, da dies auf ein System von Schulen und Einrichtungen schließen lasse und verhindere, die Aufmerksamkeit auf die innere Wirklichkeit des Kindes zu richten. Sie betonte, daß »uns diese Erziehung gegeben ist, und wir sie nicht selbst konstruieren können.« (Formation S.1) Oft fordert sie uns auf, Erziehung als »Lebenshilfe« anzusehen. Margaret Stephenson, eine Schülerin von Montessori, die selbst Lehrer ausbildete, erklärt: »Wenn wir an das Leben denken und nicht an eine Schule oder Klasse, dann müssen wir einen viel tiefgründigeren, breiteren und weiteren Standpunkt einnehmen, als würden wir nur ein Erziehungssystem untersuchen. Montessori arbeitete für das Leben selbst, nicht nur für den Erziehungsprozeß im Leben. Nur wenn wir das verstehen, fangen wir an zu begreifen, was sie wirklich für die Menschheit geleistet hat.« (Secret S. xvi)

Die Aufgabe der Erziehung muß daher darin bestehen, die inneren Gesetze, nach denen sich die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit vollzieht, aufzudecken. Die Umgebung, die Einstellung und die Mittel müssen bereitgestellt werden, die am wirkungsvollsten die kindliche Entwicklung gewährleisten. Gleichzeitig muß die Erziehung alles aus dem Weg räumen, was diesen Prozeß aufhält. In dem Maße, wie Montessori in dieser Weise vorging, zeigten sich wunderbare Ergebnisse. Unwillkürlich muß man an die Worte Bahá’u’lláhs denken: »Der Mensch ist der höchste Talisman. Der Mangel an geeigneter Erziehung hat ihn jedoch dessen beraubt, was er seinem Wesen nach besitzt. Durch ein Wort, das aus dem Munde Gottes hervorging, wurde er ins Dasein gerufen. Durch ein weiteres Wort ward er dazu geführt, den Quell seiner Erziehung zu erkennen. Durch wieder ein anderes Wort wurden seine Stufe und seine Bestimmung sichergestellt. Das Höchste Wesen spricht: Betrachte den Menschen als ein Bergwerk, reich an Edelsteinen von unschätzbarem Wert. Nur die Erziehung kann bewirken, daß es seine Schätze enthüllt und die Menschheit daraus Nutzen zu ziehen vermag.« (Ährenlese Nr.122)

Montessori sieht in dem Kind den Schlüssel zur Entwicklung innerhalb der menschlichen Gesellschaft - eine Entwicklung, die uns nicht nur zu den bis heute bekannten Stufen der Zivilisation, sondern zu noch nicht erkannten Stufen von Vollkommenheit und Einheit führt. Sie spricht über die verheißungsvolle Kindheit mit folgenden Worten: »Wir müssen mehr über das eine Gesetz erfahren, das hinter allem steht, über den Ursprung, aus dem die Menschheit, jeder einzelne Mensch, jede Rasse und jede Religion hervorgehen. Diese große Quelle hat einen Plan, der sich nicht nur durch den Einfluß des Erwachsenen auf das Kind, sondern auch durch den Einfluß des Kindes auf den Erwachsenen erfüllt. Und letzteres ist nicht allein ein Gefühl der Liebe, obwohl es einen sehr großen Einfluß ausübt. Es ist vielmehr ein echter Einfluß, der auf Erkenntnis [Seite 25] und Weisheit beruht. Denn wenn wir die ganze Menschheit einigen wollen, indem wir dem Kind Aufmerksamkeit schenken, kommen wir mit etwas in Berührung, was der ganzen Menschheit eigen ist... Wenn das Kind geboren wird, spricht es keine besondere Sprache, hat keine besondere Religion, kennt keine Vorurteile gegenüber Volk oder Rasse. Die Menschen


»Die Aufgabe der Erziehung ist es, Frieden zu errichten.«

erwerben diese Dinge. Welche Möglichkeit bietet sich der Menschheit durch dieses kleine Kind!« (Formation S.6)

Je mehr die Menschen Bahá’u’lláh anerkennen und nach den Bahá’í-Gesetzen und Lehren leben, umso deutlicher wird sich ein allgemeingültiger Maßstab herausstellen, nach dem die Menschen ihr Leben ausrichten. Das Werk Montessoris empfiehlt einen universalen Lehrplan und eine universelle Methode innerhalb einer so unterschiedlichen Welt, da es sich auf die im Menschen angelegten Entwicklungsgesetze, wie sie sich im Kind zeigen, stützt und nicht auf irgendwelche erdachten und kulturell beeinflußten Lehrmethoden.

Eines der größten Hindernisse, das es auf dem Weg zu einer neuen Weltzivilisation auszuräumen gilt, ist die anhaltende Kriegsgefahr sowie der Krieg selbst. 'Abdu'l-Bahá sprach oft über dieses Thema und stellte den Frieden als ein Ziel der Erziehung heraus: »Ihr müßt die Saat des Friedens in die formbaren Seelen der Kinder säen. Lehrt sie die Siege des Friedens. Umhegt sie mit Stunden des Friedens. Umhüllt sie mit der Atmosphäre des Friedens und begeistert ihre Herzen durch die ruhmreichen Ergebnisse des Friedens. Laßt Frieden ihre Nahrung sein, laßt Frieden ihr Vorhaben und ihr höchstes Streben sein, laßt Frieden die treibende Kraft in ihrem Leben sein.« (Bahá’í Quotations S.29)

Vor allem in ihrem späteren Leben widmete Montessori viele Gedanken und viel Energie der Frage des Weltfriedens und der Rolle der Erziehung bei der Förderung des Friedens. Von 1930 bis zu ihrem Tod 1952 wandte sie sich an viele Friedenskonferenzen, schrieb ausführlich über dieses Thema und wurde zweimal für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. 1932 schrieb sie an das Amt für Erziehung in Genf: »Allgemein versteht man unter dem Begriff ›Frieden‹ das Nichtvorhandensein


An erster Stelle muß die Entwicklung innerer Qualitäten stehen, erst dann kommt die Vermittlung von Fertigkeiten und Kultur.

von Krieg, aber diese negative Auffassung entspricht nicht dem Begriff von echtem Frieden.« (Education S.4) Und ebenso: »Die Tatsache, daß wir fälschlicherweise den anhaltenden Triumph der Waffen »Sieg« nennen, führt dazu, daß wir versäumen, eine Lösung zu finden, einen Weg, der uns zu wahrem Frieden führen könnte.« (Education S.6) Zu dem europäischen Friedenskongreß in Brüssel sagte sie: »Die Aufgabe der Politiker ist es, Konflikte zu verhindern. Die Aufgabe der Erziehung ist es, Frieden zu schaffen. Wir müssen die Welt von [Seite 26] der Notwendigkeit überzeugen, eine universelle, gemeinsame Anstrengung zu unternehmen, um die Grundlage für den Frieden zu legen.« (Education S.27)







Maria Montessori


Wie kann Erziehung Frieden fördern? Nicht durch die Art der Erziehung, die zur Zeit in der Welt verbreitet ist. Montessori erklärt, daß die Erziehung auf der Stufe stehengeblieben ist, wo die Menschen mit Pfeil und Bogen umgingen, während die Kriegswaffen immer ausgeklügelter geworden sind. Sie betont, daß Friedenserziehung nicht allein darin besteht, dem Krieg die Faszination zu nehmen, Kriegsspielzeug zu entfernen oder im Geschichtsunterricht nicht mehr über Kriege zu sprechen. Sie sagt, daß es nicht einmal genüge, dem Kind Liebe und Respekt vor allen Lebewesen zu vermitteln, obwohl das sehr wichtig sei. Krieg ist ein sehr komplexes Phänomen, hebt sie hervor. Die Menschheit ist von Ereignissen überschüttet. Die Gesellschaft von egoistischen Individuen hat sich in einer rein materialistischen Weise entwickelt und ist unwissend und zerrüttet geblieben. In einer Ansprache in Kopenhagen sagte sie: »Eine Erziehung, die die Menschheit zu retten vermag, ist kein geringes Unterfangen. Sie beinhaltet die geistige Entwicklung des Menschen, die Steigerung des Selbstwertgefühls beim einzelnen und die Vorbereitung junger Menschen auf das Verständnis der Zeit, in der sie leben.« (Education S.34)

An erster Stelle muß die Entwicklung innerer Qualitäten stehen, erst dann kommt die Vermittlung von Fertigkeiten und Kultur. Montessori sagt: »Die heutige Erziehung läßt den einzelnen verblöden und seine geistigen Werte verschwinden. Er wird zu einer Nummer, einem Zahnrad in der blinden Maschine, die seine Umwelt darstellt. Eine solche Vorbereitung auf das Leben war zu jeder Zeit falsch; heute ist sie ein Verbrechen, eine Sünde. Eine Erziehung, die die moralische Stimme des Menschen unterdrückt und zurückweist, die Hindernisse und Barrieren auf dem Weg zur Entwicklung von Intelligenz errichtet, die große Bevölkerungsteile zur Unwissenheit verdammt, ist verbrecherisch. Da alle Reichtümer durch die Anstrengung des Menschen zustande kommen, ist es absurd, nicht den Menschen selbst als wichtigste Grundlage für unsere Reichtümer anzusehen. Wir müssen den Wert der menschlichen Energie, seinen Verstand, seinen schöpferischen Geist, seine moralischen Kräfte herausfinden, kultivieren und steigern, auf daß nichts verloren geht. Vor allem muß den moralischen Kräften Beachtung [Seite 27] geschenkt werden. Er ist aufgerufen, eine Mission im Universum zu übernehmen und zu erfüllen. Was der Mensch erzeugt, muß auf ein Ziel gerichtet sein, das wir »Zivilisation« oder einen gesellschaftlichen Überbau nennen können. Aber der Mensch muß sich seiner eigenen Größe bewußt werden.« (Education S.xiv)

Es ist beeindruckend, wie sehr die Worte von Montessori grundlegende Bahá’í-Prinzipien widerspiegeln, nämlich die Erhabenheit des menschlichen Wesens und seine Lebensaufgabe, eine immer fortschreitende Kultur voranzutragen. Sie hatte ein tiefes Empfinden für die Größe der Zeit, in der sie lebte, und für die Wichtigkeit der in der Gesellschaft stattfindenden Veränderungen. Sie erkannte die wesentlichsten Lehren der Bahá’í-Offenbarung: Die Einheit der Menschheit, die Übereinstimmung von Religion und Wissenschaft, die Gleichwertigkeit von Mann und Frau, und empfand den geistigen Aspekt als wichtigste Realität für das Leben der Menschheit. Nicht nur ihre Worte, sondern auch ihre Taten veranschaulichen den Geist eines Lebens, zu dem uns die Bahá’í-Schriften auffordern. Von früher Jugend an sah Montessori einen Sinn in ihrem Leben und suchte aktiv nach geistiger Führung, um diesen Sinn zu erfüllen. Hindernisse auf ihrem Weg konnten sie nicht abbringen, ihre Arbeit fortzuführen. Jedem Druck, sich politisch zu binden, widersetzte sie sich aus einem starken Gefühl der Unabhängigkeit. Montessori lebte ihr Leben im Geist des Dienstes an der Menschheit und opferte sich bis zu ihrem Tod für dieses Ziel. Diese Gedenkschrift steht auf dem Familiengrab der Montessoris in Rom: »Maria Montessori, berühmte Wissenschaftlerin und Pädagogin, die ihr Leben der geistigen Erneuerung und dem Fortschritt der Menschheit durch das Kind weihte. Sie ruht auf dem katholischen Friedhof von Noordwijk (Holland), weit entfernt von ihrem Heimatland, das sie so sehr liebte, und von den geliebten Menschen, die dort begraben sind. Dies bestimmte sie so, um ein Zeugnis für die Universalität ihres Werkes abzulegen, das sie zu einer Weltbürgerin machte.« (Maria S.64)

Bei allem, was sie erreicht hatte, blieb Montessori immer bescheiden. Sie bittet uns, nicht sie zu verehren, sondern auf das Kind zu blicken, das sie zum Inhalt ihres Werkes gemacht hatte. Indem sie sich auf ihren »kleinen und unvollkommenen« Beitrag beruft, ruft sie andere auf, ihr Werk fortzuführen: »Es handelt sich nicht darum, den Menschen von einigen Bindungen zu befreien, sondern ihn ›wiederherzustellen‹; und die Wiederherstellung erfordert die Entwicklung einer ›Wissenschaft über den menschlichen Geist‹. Dies ist eine langwierige Arbeit, ein Streben, das auf Forschung beruht, zu dem Tausende von Menschen, die sich diesem Ziel weihen, beitragen müssen. Wer immer sich für dieses Ziel einsetzt, muß von einem großen Ideal getragen sein, das viel größer ist als jene politischen Ideale, die soziale Verbesserungen herbeiführen und nur das materielle Leben einiger Menschengruppen betreffen, die unter Ungerechtigkeit und Elend leiden. Dieses Ideal ist in seinem Umfang universell. Es zielt auf die Befreiung der ganzen Menschheit hin. Beständige Arbeit, wiederhole ich, ist vonnöten auf diesem Wege.«(Maria S.19)

[Seite 28]

Quellennachweis

Bahá’í Quotations on Education, National Spiritual Assembly of the Bahá’ís of the Hawaiian Islands, Honolulu 1971

Bahá’u’lláh, Ährenlese, Bahá’í-Verlag, Hofheim 1980

Montessori, Maria; Education and Peace, Chicago 1972

Montessori, Maria; The Formation of Man, The Theosophical Publishing House, Madras 1969

Montessori, Maria; The Secret of Childhood, Fides Publishers, Notre Dame 1966

Maria Montessori: A Centenary Anthology, Association Montessori Internationale, Amsterdam 1970

Radice, Sheila; The New Children, Hodder and Stoughton, London 1924

Standing, E.M.; Maria Montessori: Her Life an Work, Mentor Books, New York 1962

Ziele der Kindererziehung, Bahá’íVerlag, Hofheim 1979




Betrachte den Menschen als ein
Bergwerk, reich an Edelsteinen
von unschätzbarem Wert.
Nur die Erziehung kann bewirken,
daß es seine Schätze enthüllt
und die Menschheit daraus
Nutzen zu ziehen vermag.


Baha’u’llah


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Werte und kulturelle Entwicklung[Bearbeiten]


Partner für gesellschaftlichen Fortschritt

Christian Spreter


Dieser Aufsatz beleuchtet die Art und Weise, mit der die junge und rasch wachsende Bahá’í-Gemeinde im Stande war und ist, auf der Basis von Vielseitigkeit einen Geist der Einheit und Zusammenarbeit zu entfalten. Innerhalb von 150 Jahren haben sich der Bahá’í-Glaube und dessen Anhänger über alle Länder der Erde verbreitet. Die wesentliche Antriebskraft dieser Entwicklung basiert auf einem Zusammenspiel von geistigen und moralischen Werten, die den Glauben ihrer Anhänger prägen und durch aktive Umsetzung dieser Werte zur praktischen Entwicklungsarbeit werden.


□ Die Bahá’í-Einstellung zur Entwicklung

Die Einbeziehung menschlicher Werte stellt einen wesentlichen Aspekt jedes Entwicklungsprozesses dar. Jede Entwicklung benötigt direkt oder indirekt eine Richtung, weil sie sonst ihr Ziel nicht erreicht. Die Bedeutung dieser Zielrichtung wird für das Bewußtsein oft unterschätzt, weshalb die meisten Menschen sich kaum mutige Zukunftsvorstellungen ausmalen. Viele Jahrhunderte hindurch galt Religion als die größte Quelle für Zukunftsvorstellungen.

Die Bahá’í-Religion sieht den Sinn des Lebens in dem Bemühen, die Seele in dieser Welt zu vervollkommnen. Dieses Ziel findet in diesem Dasein seinen Ausdruck in geistigem und humanitärem Handeln und bietet Ansporn zum Dienst an der Gemeinschaft kooperativer Entwicklungsarbeit.


Bahá’í-Lehren, ein Schlüssel für’s Zusammenleben

Darüberhinaus betonen die Bahá’í-Lehren die große Bedeutung des Geistes der Einigkeit in allen Angelegenheiten. Der Offenbarer des Glaubens, Bahá’u’lláh, schrieb: »O ihr streitenden Völker und Geschlechter der Erde! Wendet euer Angesicht der Einheit zu und laßt euch vom Glanz ihres Lichtes bescheinen.«1) »Ihr seid die Früchte eines Baumes, die Blätter eines Zweiges.«2)

Die Bahá’í enthalten sich jeder Art parteipolitischer Aktivitäten, handeln aber im ethischen Sinne höchst politisch, indem sie sich bemühen, Vorurteile abzubauen und alle Völker weltweit in einer kooperativen Atmosphäre zu vereinen. Sie sehen kulturelle Vielfalt und Mannigfaltigkeit des Denkens als wertvolle Voraussetzung und Chance für eine bessere Zusammenarbeit.

Der Geist der Einheit zeigt sich nach Ansicht der Bahá’í nicht in Form von Gleichförmigkeit, sondern in der Wertschätzung der Vielfalt innerhalb der Gemeinschaft, deren Zusammenhalt einzig auf gemeinsamen geistigen Grundwerten beruhen kann. Dies macht die Bahá’í-Gemeinde im Umgang [Seite 30] mit eventuellen strittigen Problemen beachtenswert beweglich und anpassungsfähig.


Wachstum, ein Wechselspiel von Vielseitigkeit

Obwohl die Bahá’í Vielfalt als solche fördern und schätzen, glauben sie nicht, daß es erstrebenswert oder notwendig wäre, kulturelle Unterschiede zu erhalten oder gar zu unterstützen, indem man jegliche Einflüsse von außen durch gegenseitige Isolierung voneinander unterbindet.

Bahá’u’lláh, der vor Ende des 19. Jahrhunderts starb, sah die Entwicklung einer Weltgesellschaft mit einer nach und nach entstehenden Weltregierung und eine funktionierende weltweite Kommunikation mit einer Welthilfssprache voraus.

Der Schlüssel für dieses Zusammenleben einer Weltgemeinschaft liegt anstelle von Mißtrauen und Wettbewerb in einer Haltung des gegenseitigen Respekts und der Wertschätzung.

Jede Entwicklungsarbeit, die zu kultureller Identität führen soll, muß mit individueller und lokaler Initiative, mit Selbstvertrauen und Selbstbestimmung betrieben werden. Niemand soll jedoch eine Insel sein, weder als Person noch als Gemeinschaft, denn alle brauchen Hilfe, Unterstützung und Anleitung von anderen.

»Keiner kann alles tun, alle können nicht das gleiche tun.«3) So führt jedes Wachstum auch ein Eigenleben mit unterschiedlichsten Voraussetzungen. Die Basis bildet immer der einzelne und die Gemeinde. Durch ein ständiges Wechselspiel von kontinuierlicher Weiterentwicklung des einzelnen und der Einbindung seiner Fähigkeiten zum Nutzen des Ganzen wird dieser Entwicklungsprozeß genährt.


Lernen und Lehren - Nehmen und Geben

Aus Bahá’í-Sicht öffnen weder Wohlstand und Bildung noch Armut und Unkenntnis automatisch die Himmelspforte. Vielmehr muß der geistige Wert der Loslösung, d.h. die Befreiung von selbstsüchtigen und materiellen Wünschen zu einem Leben der Hilfe am Nächsten in dieser Welt führen. Das kann nur erreicht werden, indem der Mensch über Prüfungen und Schwierigkeiten des täglichen Lebens hinauswächst.

Durch diese Forderung sind die sogenannten Reichen stärker auf die Probe gestellt, weil sie durch Zerstreuung und materiellen Besitz stärker abgelenkt sind. Deshalb täten sie gut daran, sich immer bewußt zu machen, daß der Prozeß des Nehmens und Lernens auch das Geben und Lehren auf der anderen Seite abverlangt. Dies soll nicht bedeuten, daß materielle Entwicklungshilfe nicht vonnöten sei. Vielmehr muß parallel zum traditionell wirtschaftlichen Ansatz der Entwicklungshilfe eine geistige Entwicklung als Ergänzung erfolgen.

Voraussetzung für groß angelegte internationale Transaktionen wie auch für viele bürgernahe Klein-Projekte mit lokalen Zielsetzungen ist der Geist der Einheit untereinander. Erst ein solches positives Bewußtsein der Einheit fördert die konstruktive Zusammenarbeit. Deshalb betonen die Bahá’í eine offene, anerkennende und [Seite 31] vorurteilsfreie Haltung anderen gegenüber und versuchen, zwischen dem Bemühen um materielles Wohlergehen und dem Streben nach geistigen und moralischen Zielen ein Gleichgewicht zu halten. Das erfordert eine Balance zwischen der Ermutigung zu individueller und lokaler Initiative sowie der Kraft, die erst aus der vereinten Aktion der Gemeinschaft erwächst.


□ Bahá’í-Verwaltung und Organisation

Der Bahá’í-Glaubensgrundsatz, daß materielle und geistige Entwicklung in unauflöslicher Bindung miteinander betrachtet werden müssen, bestimmt die Art und Weise, wie die Bahá’í-Aktivitäten organisiert werden.


Der einzelne

Jeder Bahá’í ist angehalten, im Sinne des geistigen Wandels an sich selbst zu arbeiten und durch uneigennütziges Dienen das Zusammenleben der Gemeinschaft zu unterstützen.


Das 19-Tage-Fest

Eine Bahá’í-Gemeinde trifft sich alle 19 Tage zur Gemeindeversammlung, dem 19-Tage-Fest, in dessen Rahmen die geistigen und sozialen Beziehungen zwischen den Gemeindemitgliedern gepflegt und gefestigt werden. Es gibt weder eine Berufsgeistlichkeit noch starre Rituale und strenge Formen, die den Lauf der Gemeindeentwicklung bestimmen oder hemmen können.

Das 19-Tage-Fest gliedert sich in einen geistigen, einen administrativen und einen geselligen Teil. Während des administrativen Teils herrscht eine wechselseitige Kommunikation: der Gemeinderat (s.u.) und die Ausschüsse berichten von ihrer Arbeit, die Gemeinde trägt Meinungen und Vorschläge dazu bei. Zusätzlich werden alle Mitglieder ermutigt, bei den anstehenden Aktivitäten mitzuwirken.


Der Geistige Rat

Jede Ortschaft hat, sofern eine genügende Anzahl erwachsener Bahá’í vorhanden ist, ihre eigene Administration. Sie wählt einen »Geistigen Rat« mit neun Mitgliedern, der für die dortigen Bahá’í-Angelegenheiten zuständig ist. Der Rat wiederum wählt seine Amtsträger und ernennt die Mitglieder für verschiedene Ausschüsse. Gemeinsame Entscheidungen werden weniger durch Diskussion als durch Beratung miteinander im Geiste von Gemeinsamkeit und Einheit getroffen.


Der Nationale Geistige Rat

Auf nationaler Ebene wählen die Bahá’í in jedem Land einen Nationalen Geistigen Rat, der die Verantwortung für die Belange des Glaubens im betreffenden Land übernimmt. Die Wahl findet während einer Delegiertenkonferenz statt, ohne Nominierung und ohne Wahlkampf.


Das Universale Haus der Gerechtigkeit

Alle fünf Jahre versammeln sich die Mitglieder der Nationalen Geistigen Räte im Bahá’í-Weltzentrum in Haifa, Israel, um die neun Mitglieder des höchsten Verwaltungsgremiums des Glaubens zu wählen. Mit dem Universalen Haus der Gerechtigkeit ist die Reihe der Bahá’í-Verwaltungsstruktur [Seite 32] beendet. Alle Institutionen wählen auf örtlicher, nationaler und internationaler Ebene ihre leitenden Gremien.


□ Bahá’í - Prinzipien

Die geistige Grundlage im Bahá’í-Leben bilden die Bahá’í-Prinzipien. Diese sollen sowohl die Entwicklung des einzelnen als auch die Förderung der Gemeinschaft zum Ziel haben.


Prinzipien zur Entwicklung des einzelnen

Eine Haltung des Gottvertrauens soll zur Stärkung der eigenen Fähigkeit beitragen und das Selbstvertrauen und die Motivation erhöhen. Den Bahá’í ist der Glaube wichtiger, daß Gott jedem beistehen wird, der sich ehrlich bemüht, und daß die göttliche Kraft denen hilft, die selbst aktiv werden. Dies bedeutet, daß sie ihren Schwächen nicht zuviel Beachtung schenken, sondern sich den mannigfaltigen Herausforderungen stellen. Selbstloses Dienen an der Menschheit wird von Bahá’u’lláh zum Rang des Gottesdienstes erhoben. Er schrieb: »Vergeudet eure Zeit nicht mit Faulheit und Müßiggang. Beschäftigt euch mit dem, was euch und anderen nützt«4).


Prinzipien zur Förderung der Gemeinschaft

Mehr Sicherheit und Selbstbewußtsein der einzelnen fördern wiederum die Beziehungen zu anderen und verbessern dadurch die Zusammenarbeit. Die entstehende wechselseitige Abhängigkeit läßt das Gefühl für Würde und eigenen Wert wachsen, während bei erzwungener Abhängigkeit diese menschlichen Eigenschaften untergraben werden.

Die Bahá’í bemühen sich auf der ganzen Welt, das Selbstwertgefühl der Menschen dadurch zu stärken, daß sie ihre Probleme selbst und zuerst auf örtlicher oder persönlicher Ebene zu lösen versuchen. Die erste Frage eines Bahá’í muß sein: »Was kann ich selbst tun, um mein Problem zu lösen?«

Die Geistigen Räte beraten über Ermutigung, Hilfe von außen, Beistand und Unterstützung, ohne daß eine andauernde Abhängigkeit gefördert wird. Entwicklungsarbeit muß so aufgebaut sein, daß sie auf Dauer ohne fremde Hilfe auskommen kann und Langzeitverpflichtungen vermieden werden.

Gemeinschaftssinn soll im Bahá’í-Verständnis durch einen Geist des Teilens und Arbeitens an gemeinsamen Zielen die Klassenschranken und andere Barrieren überwinden.

Verpflichtung zu finanzieller und wirtschaftlicher Eigenständigkeit bedeutet, daß Entwicklungsprojekte vorrangig von der Bahá’í-Gemeinde selbst getragen werden müssen, jedoch mit dem Gefühl des Rückhalts in einer weltweit verbundenen Gemeinschaft.

Alle Bahá’í-Prinzipien für wirtschaftliche und soziale Entwicklung bleiben jedoch ohne jede praktische Bedeutung, wenn sie sich nicht in Taten ausdrücken.

Was die Bahá’í im Bereich allgemeiner Entwicklung tatsächlich leisten, zeigt der folgende Artikel von Hermine Mayer-Berdjis.


1) Bahá’u’lláh, Ährenlese, Nr.111, Bahá’í-Verlag, Hofheim 1980
2) Bahá’u’lláh, Ährenlese, Nr.132, Bahá’í-Verlag, Hofheim 1980
3) Ridván-Botschaft 1990, Universales Haus der Gerechtigkeit
4) Bahá’u’lláh, Botschaften aus Akká, Bahá’í-Verlag, Hofheim 1982


[Seite 33]



Der Vielfalt eine Chance[Bearbeiten]


Der Beitrag der Bahá’í in der UN-Dekade für weltweite kulturelle Entwicklung

Hermine Mayer-Berdjis

Am 8. Dezember 1986 beschloß die Generalversammlung der Vereinten Nationen, den Zeitraum 1988-1997 als »Weltdekade für kulturelle Entwicklung« auszurufen. Diese Dekade hat vier Hauptziele:1)

• Anerkennung der kulturellen Dimension der Entwicklung

• Stärkung und Bereicherung der kulturellen Identität

• Breitere Teilhabe am kulturellen Leben

• Förderung der internationalen kulturellen Zusammenarbeit

Angeregt durch die UNESCO-Generalkonferenz von 1982 steht diese Dekade unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen und der UNESCO. Zur Mitarbeit aufgerufen sind außer allen Staaten die zahlreichen regionalen und nichtstaatlichen Organisationen sowie andre Einrichtungen des UN-Systems.

Die Internationale Bahd’i-Gemeinde hat als eine der zahlreichen nichtstaatlichen UN-assoziierten Organisationen seit 1970 beratenden Status. Um die Zusammenarbeit zwischen der Internationalen Bahá’í-Gemeinde und der UNESCO zu unterstützen, wurden im Oktober 1988 und Januar 1990 weltweit Berichte über Beiträge der Bahá’í zu den Zielen dieser Dekade erstellt. Der folgende Artikel stützt sich auf die hieraus entnommenen Fakten.2)


□ Von Anfang an

Der Bahá’í-Glaube ruft alle seine Anhänger dazu auf, ihre persönlichen Fähigkeiten ständig weiter zu entwickeln und gleichzeitig an der Entfaltung ihrer Gemeinschaft mitzuarbeiten. »Alle Menschen wurden erschaffen, eine ständig fortschreitende Kultur voranzutragen«, heißt es in ihren Lehren.2) Unterstützt werden sie dabei von ihren selbst gewählten Bahá’í-Räten, die für das Bereitstellen von Mitteln und Möglichkeiten verantwortlich sind.

Um dieses zentrale Anliegen ihres Glaubens zu verwirklichen, haben die Bahá’í im Iran schon um 1880 informell zu unterrichten begonnen. Zu dieser Zeit rang man im Westen noch um die Anerkennung der allgemeinen Schulpflicht. Bis 1930 hatten sie ein Netz von über 40 Mädchen- und Jungenschulen aufgebaut, die für jeden zugänglich waren und zu den ersten modernen Bildungseinrichtungen des Landes zählten. Ein Sonderprogramm legte den Schwerpunkt auf Bildung für Frauen und Landbevölkerung. Die Frucht dieser Arbeit war, daß die iranische Bahá’í-Gemeinde Anfang 1950 eine nahezu 100%ige Alphabetisierung erreichte. Heute sind weltweit über 18.000 [Seite 34] Bahá’í-Gemeinden in über 150 Ländern und Territorien für die gleichen Ziele tätig. Ihre am Ort gewählten Räte bemühen sich um die Anpassung an die steigenden Bedürfnisse ihrer Gemeinden und arbeiten dabei mit Bahá’í-Gremien auf nationaler und globaler Ebene eng zusammen.










Im Faizi Vocational Institute in Indore, Indien erlernen Landfrauen handwerkliche Fähigkeiten, Gesundheitsvorsorge sowie Kindererziehung und entwickeln ein neues Bewußtsein für Einheit und Gemeinschaft.


□ Das bildungsfördernde Umfeld

Für den Bahá’í gilt als persönliche Pflicht, durch tägliches Lesen der Bahá’í-Schriften und allgemein geistig anregender Lektüre seinen Horizont zu erweitern. Neben der Anwendung im eigenen Leben ist er in der Gemeinschaftsordnung der Bahá’í auf eine Weise eingebunden, daß er sein Wissen und Können bei Beratungen und Aktionen zum Wohle aller einsetzen und dabei neue Erkenntnisse erwerben kann. Für Lese- und Schreibunkundige gibt es derzeit etwa 10.000 örtliche Lerngruppen, die eingebrachte Lücken füllen helfen.


□ Früh übt sich

Zur Bahá’í Erziehung gehört in erster Linie Unterricht in Ethik. Ein guter Charakter ist das Fundament sozialen Fortschritts. Die Kinder werden in Tugenden wie Ehrlichkeit, Höflichkeit, Gerechtigkeit und Achtung sowie dem Prinzip der Einheit der [Seite 35] Menschheit und der Kunst der Beratung unterwiesen. 1986 gab es weltweit 4.295 Kinderklassen, für die Lehrmaterial in 36 Sprachen herausgegeben wurde. Auch vom Aussterben bedrohte oder von staatlichen Behörden vernachlässigte Sprachen wie z.B. Maori gehören zum Unterrichtskatalog. Zwischen 1979 und 1986 wurden in 77 Ländern 525 Fortbildungskurse und in 47 Staaten 209 Seminare für Kinderklassenlehrer durchgeführt.


□ Gemeinde - Bildungszentren

Eine Anzahl Bahá’í-Gemeinden hat begonnen, aus eigener Kraft Bildungszentren einzurichten, besonders dort, wo staatliche Schulen fehlen. Sie konzentrieren sich, oft in einem Raum und mit nur einem Lehrer, auf den Vorschul-, Grundschul- oder Nachhilfeunterricht. Etwa jedes vierte der 1988 in 573 Bahá’í-Gemeinden arbeitenden Lernzentren hatte auch ein Programm zur Erwachsenenbildung. Uber 20.000 Menschen besuchen in Afrika, Amerika, Asien und im pazifischen Raum diese Klassen. Die meisten Gemeinde-Bildungszentren finanzieren sich selbst, manche bekommen ein wenig Hilfe an Personal und Mitteln. Was diese Einrichtungen aber wirklich trägt, ist das Vertrauen der Gemeindemitglieder in ihr eigenes Leistungsvermögen, verbunden mit der Zielvorstellung eines Beitrags zur Verbesserung der Gesellschaft. Ihre Fähigkeit zu beraten, gemeinsam Entscheidungen zu treffen und durchzuführen, spielt eine entscheidende Rolle.











Colegio Núr, eine Bahá’í-Schule in Santiago de Chile, errichtet von einer örtlichen Bahá’í-Gemeinde und unterstützt durch internationale Zusammenarbeit.


[Seite 36]

□ Bahá’í-Schulen

Inzwischen gibt es immer mehr staatlich anerkannte Bahá’í-Schulen rund um den Globus. 1988 führten Bahá’í-Gemeinden in Afrika, Amerika, Asien und im pazifischen Raum 29 solcher Grund- und weiterführender Schulen. Sie befinden sich zum Teil in stark benachteiligten Gebieten ohne modernes Schulangebot und werden von insgesamt etwa 5000 Schülern besucht. Da diese Bahá’í-Einrichtungen allen Gesellschaftsschichten die gleiche qualifizierte Bildung ermöglichen wollen, verwundert es nicht, daß 80% der Schüler nicht Bahá’í sind. Die positiven Aspekte der örtlichen Kultur werden in die Lehrpläne integriert, und die Schüler dennoch auf die Herausforderungen einer vernetzten Welt, von der sie wenig Ahnung hatten, vorbereitet. Es wird aber nicht nur Wissen vermittelt, sondern auf ein Gleichgewicht an Bildung und der Entwicklung eines hohen moralischen Anspruches im Verhalten geachtet. Diese anspruchsvolle Schulform wird, obwohl als Frucht lokaler oder nationaler Gemeindearbeit entstanden, durch ein wachsendes System internationaler Zusammenarbeit unter den Bahá’í-Gemeinden der Welt unterstützt, sei es durch Stipendien, technische Hilfe oder Freiwillige am Ort.

Die bekanntesten Bahá’í-Schulen mit staatlich anerkannten Abschlüssen befinden sich in Indien, Haiti, Chile, Brasilien, Kanada, Pakistan, Tansania und Thailand.


□ Für jeden etwas

Auf regionaler und nationaler Ebene gibt es weitere Bahá’í-Einrichtungen, die den lebenslangen Lernprozeß fördern.

Bahá’í-Sommerschulen, erstmals 1932 in Deutschland durchgeführt, sind Treffen, bei denen die Bahá’í ganze Kursfolgen über ihren Glauben besuchen können. Einst nur im Sommer gibt es sie heute weltweit zu allen Jahreszeiten, so z.B. im Laufe der Jahre 1979 bis 1986 rund 1.880 mal.

Konferenzen zur Motivierung bestimmter Zielgruppen befaßten sich im gleichen Zeitraum mit Themen wie »Eltern und Familie«, »Jugend« und dem »Status der Frau«. Ebenso gab es Seminare über Gesundheit und Aufforstung, um die Gemeinden zum Engagement für besondere Problemkreise zu bewegen.

Festivals und kulturelle Veranstaltungen dienten dem Überwinden von Klassen- , Rassen- und Kastenschranken.

Rundfunkstationen, Schulen und Institute als Knotenpunkte im Bildungsnetzwerk erwiesen sich als nützliche Ausgangspunkte für Grundausbildung und Gemeindeentwicklung. Die folgenden Beispiele mögen dies zeigen:


□ Schulische Hilfsdienste

Haiti:

Der Anis-Zunuzi-Entwicklungsdienst ist ein Zweig der Anis-Zunuzi-Bahá’í-Schule in Haiti. Er hat landwirtschaftliche Kooperativen und 52 Gemeindebildungszentren geschaffen sowie eine Lesefibel in haitisch-kreolisch, das erste Schulbuch in dieser Sprache in Haiti.


[Seite 37] Indien:

Zur Rabbani-Schule in Gwalior, Indien, gehört das Rabbani-Gemeindeentwicklungsprojekt, das sich mit Gemeindeentwicklung, Unterstützung von 15 - 20 Gemeinde-Lernzentren, Aufforstungen, Gesundheitsprojekten und einem landwirtschaftlichen Musterbetrieb befaßt.

Das New-Era-Entwicklungsinstitut arbeitet mit der New-Era-Bahá’í-Schule in Panchgani, ebenfalls Indien, eng zusammen. Es bietet eine ganze Anzahl Kurse über Gemeindeentwicklung, Bahá’í-Studien, landwirtschaftliche Entwicklung, Gesundheit und Frauenbildung an. Über 60 Alphabetisierungskurse für Erwachsene, teilweise staatlich unterstützt, stellt das Institut den Dörfern dieses Gebietes zur Verfügung.


□ Bahá’í-Radiosender

Das Netzwerk der Bahá’í-Rundfunkstationen baut seine Mitarbeit bei der Gemeindeentwicklung ebenfalls aus.


Ekuador:

Radio Bahá’í Otavalo, Ekuador, die älteste Bahá’í-Rundfunkstation, bietet ein gut ausgearbeitetes Hilfsdienstprogramm für Landwirtschaft, Gesundheitswesen und Kultur. Die Station bemüht sich besonders darum, die Einheimischen in ihrer Quetchua-Kultur zu bestätigen, und sendet mindestens 50% ihres Programms in Quetchua, den Rest in Spanisch. Jedes Jahr wird ein Festival »Von Kindern für Kinder« veranstaltet, bei dem z.B. 1987 17 Schulen und 3.000 Kinder mitwirkten. Ebenso gibt es ein jährliches Musikfestival mit Wettbewerben in traditioneller Andenmusik. Rund 2.000 Mitteilungen über Verlorenes und Gefundenes, Impfungen oder Veranstaltungen, die dem Sender von einzelnen oder offiziellen Stellen gebracht werden, strahlt dieser pro Jahr aus. Dies zeigt, wie sehr er bereits zum Leben der dortigen Bevölkerung gehört.


Bolivien:

Radio Bahá’í Caracollo in Bolivien führte gemeinsam mit UNICEF ein ausgedehntes Gesundheitsprojekt durch.


Die Bahá’í-Rundfunkstationen am Titicaca-See, Peru, in South Carolina, USA, in Temuco, Chile, in Boca del Monte, Panama und in Monrovia, Liberia, arbeiten in gleicher Weise. Sie versuchen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Kommunikationsmöglichkeiten ihre Hörer zur eigenen Entfaltung zu ermutigen und zu vereintem Handeln zu motivieren.


□ Bildungsinstitute

Kolumbien:

Das Ruhi-Institut in Puerta Tejada, Kolumbien, steht unter der Leitung des Nationalen Bahá’í-Rates von Kolumbien. Es hat ein Bildungsprogramm für soziale Umgestaltung, Entwicklung und Bildung, das bereits von Bahá’í-Gemeinden in verschiedenen Ländern Lateinamerikas übernommen wurde. Es versteht den raschen Wandel in der heutigen Welt als Folge zweier paralleler Prozesse: der Desintegration und der Integration. Kreativer und konstruktiver Wandel muß sich gleichzeitig mit der Entfaltung des Menschen und der Umgestaltung der Gesellschaft befassen. Der einzelne kann über den [Seite 38] sozialen Konflikten stehen, wenn er sich an geistige Grundsätze hält, und damit zu haltbaren Fortschritten in der Gesellschaft beitragen. Auf dieser Einstellung beruht das Programm des Ruhi-Instituts, welches Lernen durch Zusammenarbeit und Dienst in der Gemeinde eng verbindet. Jeder Teilnehmer ist Schüler und zugleich Tutor für jüngere Jahrgänge. Der Lehrplan umfaßt Kurse zur persönlichen Entfaltung sowie Lehrgänge in der Gemeindeentwicklung. Die Schüler praktizieren das Gelernte z.B. in Kindergärten oder anderen Projekten in Dörfern der Umgebung.










Eine Schulklasse der Anís-Zunúzi-Schule in Lilavois, Haiti. In dieser Schule werden über 200 Schüler unterrichtet


Indien:

Das Faizi-Berufsbildungsinstitut für Landfrauen in Südindien unterrichtet Frauen in praktischen Dingen wie z.B. das Herstellen von Seife, den Bau nicht qualmender Herde, Weben, Hygiene, Kindererziehung, aber auch in Selbstvertrauen und Ethik. Als Teilnehmer werden Frauen ausgesucht, die unterhalb der örtlichen Armutsgrenze leben. Die Kurse dauern zwei Wochen bis zu vier Monaten. Durch tägliche Gesprächsrunden wird kritisches Denken und die Fähigkeit, seine Meinung zu formulieren, geübt. Das Institut bemüht sich, durch Zusammenarbeit Vorurteile des Stammes- und Kastenwesens zu überwinden und einen Geist menschenwürdiger Solidarität zu schaffen.


Zaire:

CREDESE, das Regionalkomitee für soziale und wirtschaftliche Entwicklung in Zaire, befaßt sich neben [Seite 39]











Indios aus Ecuador produzieren ihr eigenes Radioprogramm bei Radio Bahá’í Ecuador. Neben einheimischer Musik werden regionale Nachrichten verbreitet, über örtliche Feste berichtet und Hinweise zur Landwirtschaft, Gesundheitsvorsorge und Ernährung ausgestrahlt.


Bildungsprogrammen, wie sie im Ruhi- und Faizi-Institut laufen, besonders mit der Dorfgemeinschaft, die sich in Einigkeit und Verantwortungsgefühl üben soll. CREDESE arbeitet mit den örtlichen Bahá’í-Gremien und fördert das Lernen durch gemeinsame Beratung. Im Oktober 1987 besaß CREDESE 102 Bildungszentren, die 2.500 Teilnehmer betreuten; davon waren 73% Frauen und Mädchen und 27% nicht Bahá’í. Die Lerninstitute sind mobil. Zweiwöchige Kurse in bestimmten Abständen erwiesen sich als erfolgreich. Inzwischen wurden z.B. in Kaniola im Kivugebiet verbesserte Getreidesorten gezüchtet und an 57 andere örtliche Räte verteilt. Manche Ortsgemeinden haben neue Latrinen für Regionalmärkte gebaut, andere die Wasserversorgung durch Sammelbecken verbessert. Einige Gemeinden bauten Versammlungsräume für ihre Klassen.


Panama:

Das Guaymi-Kulturzentrum in Panama wurde 1982 gegründet. Es befaßt sich neben den Zielen der Institute vor allem mit der Guaymi-Kultur. Es möchte die Einheimischen dazu motivieren, durch Bildung, gezielte Ausbildung und die Aufnahme neuer Elemente wie Schulen, Kommunikationsmittel und Technologien ihre Zukunft selbst zu gestalten und ihre alte Kultur neu zu beleben. In regelmäßigen Abständen werden Eingeborenen-Ratsversammlungen abgehalten. Folklorefeste bringen die Menschen zusammen und stärken kulturelle Traditionen. Besondere Feste für Kinder übermitteln einer neuen Generation Wissen und Können [Seite 40] ihrer alten Kultur.


□ Unsere Erfahrungen — unsere Methoden

Obwohl die Projekte geographisch verstreut sind, bemühen sich die Bahá’í, das Netz solcher Bahá’í-Initiativen immer enger werden zu lassen.

Bei allen Programmen arbeiten die Bahá’í-Gemeinden nach bestimmten, allgemein gültigen Prinzipien und sammeln wertvolle Erfahrungen. Dabei werden die Bahá’í-Methoden, Erziehung und Entwicklung zu vermitteln, immer deutlicher.

Die folgenden von der Internationalen Bahá’í-Gemeinde zusammengestellten neun Punkte beschreiben die wichtigsten Merkmale unserer Arbeitsweise:

1. Die Ortsgemeinden beginnen und unterstützen Bildungsprogramme, die ihrem Bedarf und ihren Möglichkeiten entsprechen.

2. Der finanzielle Aufwand wird durch unentgeltliche Mitarbeit minimal gehalten. Hohe Unkosten werden vermieden.

3. Die Projektleitung unter Beteiligung aller und die ständige gemeinsame Beratung stellen sicher, daß die Bestrebungen der Gemeinde angesprochen und die Fähigkeiten der Menschen am Ort eingesetzt werden.

4. Ist eine Rundfunkstation vorhanden, richten die Einheimischen die Programme auf ihren Bedarf an Gemeindeentwicklung und auf ihre Bildungsprioritäten aus.

5. Konkrete Dienstleistungen in der Gemeinde setzen allgemeingültige Prinzipien in die Praxis um und sind deshalb ein unverzichtbarer Bestandteil aller Bildungsprogramme.

6. Formelle und informelle Erziehung und Bildung sollen sich soweit wie möglich ergänzen.

7. Hochachtung vor den religiösen Traditionen der Menschen wird mit besonderem Gewicht auf den Unterricht in Ethik verbunden.

8. Das Prinzip der Einheit der Menschheit bildet den Kern aller Bahá’í-Bemühungen um Erziehung und Bildung.

9. Das Streben nach Vortrefflichkeit in allen Lebensbereichen und der Wunsch, geistig zu wachsen, sind für alle Bildungsprogramme der Bahá’í Antrieb und Führung.

Die Internationale Bahá’í-Gemeinde rechnet mit einem steten Anstieg der Anzahl und Vielfalt bildungsfördernder Programme im globalen Netzwerk der Bahá’í-Gemeinden. Diese Arbeit ist für die Bahá’í nicht nur der in ihrem Glauben verwurzelte Auftrag, sondern gleichzeitig ihr Beitrag zur kulturellen Entwicklung der Menschheit.


1) Vereinte Nationen, 37. Jahrgang, Heft 1/89, S.21
2) Bahá’í International Community, Survey of Bahá’í Education Programmes, 1988 und 1990
3) Bahá’u’lláh, Ährenlese S.188, Bahá’í-Verlag 1980


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Mark Tobey[Bearbeiten]


Zum 100. Geburtstag

Hermine Mayer-Berdjis
Die Übersetzung und Zusammenstellung der Zitate über Mark Tobey besorgte Mario Lobmeyr.


»Mark Tobey nimmt in der Kunstgeschichte eine einmalige Stellung ein: ein genialer Maler, der im Laufe seines schaffensreichen Lebens auch von der Dynamik eines neuen Religionsimpulses, der Erneuerung des Wortes Gottes durch Bahá’u’lláh, tiefgreifend inspiriert wurde. Das Ergebnis war ein umfangreiches Werk, das Kontroversen entfachte, außerordentlich gelobt und gründlich mißverstanden wurde; ein Werk, das großen, noch nicht voll erfaßten Einfluß auf Kunstrichtungen ausübte und eine beachtliche Anzahl Menschen Sinn und Bedeutung des Bahá’í-Glaubens erkennen ließ.1)










Mark Tobey 1963


Geboren am 11. Dezember 1890 in Wisconsin, USA, wuchs Mark Tobey auf dem Land auf, ein rastloser Junge, den nur die Natur interessierte. Seine Eltern erkannten schon früh sein künstlerisches Talent und ermöglichten ihm, zwei Jahre lang die Samstagsklassen des Art Institute of Chicago zu besuchen - der einzige Kunstunterricht, den er je genoß. Dann wurde sein Vater krank und Mark mußte selbst verdienen. Er arbeitete als Kopierer, technischer Zeichner, Modezeichner und schließlich als Portraitmaler, letzteres vor allem in New York, wo er sich einen Namen machte. In New York lernte er 1913 die Portraitmalerin Juliet Thompson kennen. Sie war Bahá’í und führte ihn in ihren Freundeskreis ein. So wurde Tobey mit den Bahá’í-Lehren bekannt und nahm 1918 nach ernsthaftem Studium den Bahá’í-Glauben an, der seine geistige und künstlerische Entwicklung nachhaltig beeinflußte. Eine kurze unglückliche Ehe veranlaßte ihn 1922, New York zu verlassen. Mit einem Freund fuhr er nach Seattle und begann dort an der Cornish School zu unterrichten. Seine Lehrmethode konzentrierte sich auf Ermutigung, Liebe zur Kunst und das Entwickeln der Phantasie seiner [Seite 42] Schüler. Er selbst wollte am liebsten jede Form zerschlagen und sie auf bewegendere, dynamischere Weise wieder zusammenfügen. Eines nachts, als er in einem kleinen Raum mit zentraler Beleuchtung malte, zog eine Fliege seine Aufmerksamkeit auf sich. Sie flog im Raum hin und her und durchkreuzte immer wieder ihre eigene Bahn. Ihr Weg schuf einen Linienkomplex, in dem die Form - wohl des Raumes - gänzlich zum Produkt der Bewegung wurde. Diese Beobachtung, daß eine Form durch Bewegung darstellbar ist, prägte sich Tobey tief ein. Seine Suche nach einer neuen Ausdrucksweise wurde durch seine Freundschaft mit Teng Kuei, einem jungen Chinesen, der ihn in die Technik und Philosophie chinesischer Kalligraphie einführte, und durch das Studium der Indianerkunst des Nordwestens und Alaskas wesentlich bereichert.



In seiner die starren Grenzen sprengenden stillen Kraft, in der Überwindung der materialistischen Enge, in seinem Bekenntnis zur Bewegung im unendlichen Raum ist Tobey einer der großen Erneuerer unserer Tage.

Eduard Trier


1925 reiste Mark Tobey zum erstenmal durch Europa und besuchte die Heiligen Stätten der Bahá’í im Heiligen Land. Da sein Lehrauftrag in Seattle durch die Weltwirtschaftskrise auf dem Spiel stand, ergriff er 1930 dankbar das Angebot, in Dartington Hall, einer progressiven Kunstschule in England, zu unterrichten. Tobey blieb acht Jahre lang und verkehrte mit bedeutenden Persönlichkeiten wie Aldous Huxley, Rabindranath Tagore, Pearl S. Buck und dem Tänzer Shankar. Auch entstammt jenen Jahren seine enge Freundschaft mit dem berühmten Töpfer Bernard Leach, dem vor kurzem eine Sonderbriefmarke Großbritanniens gewidmet wurde, und dem Maler Reginald Turvey aus Südafrika. Leach und Turvey2) fanden durch Tobey zum Bahá’í-Glauben, und sie gaben sich 1938 das Versprechen, sich beim Bahá’í-Weltkongreß 1963 wieder zu treffen. Tatsächlich traf sich das Künstlertrio 1963 in London. Reginald Turvey, der nach Südafrika zurückkehrte, wurde von Shoghi Effendi liebevoll der »Vater der Bahá’í von Südafrika« genannt und kam dort gegen Ende seines Lebens noch zu verdientem Ansehen. Bernhard Leach, in Hong Kong geboren, reiste 1934 nach Japan, und Tobey konnte ihn begleiten. Tobey besuchte dabei in Shanghai seinen alten Freund Teng und nahm aus dieser kosmopolitischen Stadt viele neue Eindrücke von Leben, Kultur und Kunst Chinas mit. In Kyoto, Japan, verbrachte Tobey dann einen Monat in einem Zen-Kloster mit dem Studium von Kalligraphie und Malerei, mit Dichten und Meditieren, ehe er nach England zurückkehrte. Alle diese Begegnungen und Erlebnisse schienen die über die Jahre gesammelten Erkenntnisse zu einem kristallinen Ergebnis zu bringen. Eines Nachts, 1935 oder 1936, begann er, ein kleines Bild zu zeichnen, ein Geflecht [Seite 43]









'Movement Round a Martyr', ein Gemälde von Mark Tobey


aus weißlichen Linien auf dunklem Hintergrund - wie die Flugbahn einer imaginären Fliege. Plötzlich erkannte Tobey, daß er chinesische Kalligraphieimpulse zur Darstellung der Kraftströme einer Stadt benutzte. Orient und Okzident waren verschmolzen in einem Bild des New Yorker Broadways (»Broadway Norm«). Weitere zwei Werke dieser Art (»Broadway«, »Welcome Hero«) folgten, und damit war seine neue Kunstsprache, sein ausgereifter Stil geboren. Er selbst war 44 Jahre alt. 1938 ging er, den Kriegsausbruch ahnend, zurück nach Seattle. Er lehrte und malte, und sein Bekanntheitsgrad begann zu wachsen. Bekannte Galerien präsentierten seine Werke auf Ausstellungen. 1948 war er in der amerikanischen Sektion der Biennale in Venedig vertreten und erhielt dort 1958 als erster Amerikaner seit Whistler 1895 den internationalen Preis für Malerei. 1960 kaufte er in Basel ein etwa 500 Jahre altes Haus und siedelte nach Europa über.

1961 brachte einen besonderen Höhepunkt in seiner Künstlerlaufbahn: Das Musée des Arts Décoratifs, der moderne Flügel des Louvre in Paris, veranstaltete eine Einzelausstellung mit 286 seiner Werke, eine Ehre, die Mark Tobey als erstem lebenden Künstler, der nicht Franzose war, zuteil wurde.3) Nach zahlreichen weiteren Ausstellungen, unter anderem in Amsterdam, Mannheim, Düsseldorf, [Seite 44] Hannover, Bern, Dallas, Seattle und Washington, war das krönende Ereignis 1974 eine Ausstellung der Smithsonian Institution, Washington DC, in der National Collection of Fine Arts, unter dem Titel »Tribute to Mark Tobey«4)

Sein wachsender Ruhm als Künstler hielt Mark Tobey nie davon ab, seinem Glauben zu dienen. Seit 1955 erwähnten fast alle Artikel über ihn, daß er Bahá’í sei, und mit diesem Mut zum öffentlichen Aufzeigen seiner religiösen Heimat hat er der Proklamation der Bahá’í-Religion wertvolle Dienste erwiesen. Niemand kennt die Zahl der persönlichen Gespräche, in denen er seinen Schülern, Freunden und Bekannten die Lehren Bahá’u’lláhs nahebrachte. In England diente er außerdem im Nationalen Geistigen Rat, in Seattle und Basel im örtlichen Geistigen Rat, und auf Treffen und Bahá’í-Schulen war er stets ein willkommener Redner.



Es mag verwundern, wieso Werke kleinen Formats von Klee oder Tobey uns weit mehr überzeugen als die ausladenden Kompositionen anderer berühmter Zeitgenossen. Es wird daran liegen, daß eine übersteigerte Sprache über ihr Ziel hinausschießt und uns den wahren Genuß vorenthält. Die Selbstbeschränkung eines Tobey oder Klee berührt uns stärker, weil ehrliche Beredsamkeit eine Gabe des Herzens ist.

Michel Seuphor


Mark Tobey wehrte sich immer dagegen, irgend einer Kunstrichtung zugeordnet zu werden. Er glaubte an die Qualität seiner Werke, denn das Wort ’Abdu’l-Bahás, daß das Tun des Menschen so vollkommen wie nur möglich sein solle, damit es die Stufe des Gebets erreiche, war ihm oberstes Gebot. Auch die Bezeichnung »Bahá’í-Künstler« lehnte er ab. Er zog es vor, sich einen Künstler zu nennen, der Bahá’í und vom Geist dieser Religion und ihrer Lehre tief beeinflußt sei. 1963 schrieb er in einem Brief, Shoghi Effendi habe gesagt, es gäbe keine offizielle »Bahá’í-Kunst«, so wie die Bahá’í-Religion keine neue Religion, sondern die erneuerte Religion an sich sei. Damit habe Shoghi Effendi die Kunst befreit.

Das Werk Mark Tobeys zeigt, mit welcher Rastlosigkeit er versucht hat, Geist und Materie in Einklang zu bringen und so eine innere Harmonie herzustellen. Er meinte, wir hätten uns seit langem viel zu viel mit dem Äußeren, Gegenständlichen beschäftigt, auf Kosten der inneren Welt, die das eigentlich Vollendete bewahrt. Für ihn spiegelte sich die Natur im Menschen, dessen wahres Sein aber im ihn beseelenden Geist - eine von 'Abdu'l-Bahá oft erläuterte Lehre. Die Linien seiner Spätwerke deuten mehr auf Energie als auf Materie, sind mehr Bahn als Grenze. Sein persönlicher Lebensweg endete am 24. April 1976, an dem er aus einem tiefen Schlaf [Seite 45] nach einer schwächenden Krankheit nicht mehr aufwachte. Seine letzte Ruhestätte ist in Basel - sein Werk aber lebt weiter und wird noch viele Menschen inspirieren.


1) A.L.Dahl, Mark Tobey - Art and Belief, George Ronald Oxford 1986
2) Lowell Johnsen, Reginald Turvey - Life and Art, George Ronald, Oxford 1986
3) Mark Tobey, Musée des Arts Décoratifs, Palais de Louvre, Paris 1961
4) Tribute to Mark Tobey, Smithsonian Institution, National Collection of Fine Arts, Washington 1974



In Tobeys Bildern haben wir die Genesis der Schrift.

Paul Klee



Tobey baut seine Traumwelten aus ungewöhnlicher Tiefe auf. Der Religion, den Philosophen und Weisen innig zugeneigt, kennt er die Wahrheit in Meister Eckharts Worten: »Die Schale muß zerbrechen, soll herauskommen, was darinnen ist.« Wie die Dichtung und die Musik enthalten seine Bilder das Element der Zeit; sie entfalten ihr Innerstes nur nach und nach. Man muß sich ihnen mit wacher Vorstellungskraft nähern, muß sie lesen, muß ihre Symbole zu deuten suchen. Dem, der ihnen mit dem inneren Ohr zu lauschen weiß, offenbaren sie ihr eigentliches Wesen.

Lyonel Feininger


[Seite 46]



Der Buchtip[Bearbeiten]


Die Nachfolge Christi

Thomas a Kempis, Diogenes Verlag 1986


Weder hoch philosophisch noch tief mystisch, weder streng theologisch noch nüchtern wissenschaftlich, sondern für jedermann verständlich hat der 1380 in Kempen geborene Priester Thomas Hemerken seine Erkenntnisse zu Papier gebracht. Wahrheiten über das menschliche Wesen in einfacher und treffender Art auszudrücken, ist ihm meisterhaft gelungen. Und jeder, der sie liest, wird an der einen oder anderen Stelle die Worte ’Ganz genau so ist es’ ausrufen wollen. Interesse an dem Buch zu wecken, vermag besser als viel ’Besprechen’ die hier folgende Leseprobe.


»Je mehr du weißt und je mehr du es einsiehst, desto größer wird deine Verantwortlichkeit sein.«

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»Wer hat einen härteren Kampf als derjenige, welcher sich selbst zu besiegen sucht? Sich selbst zu besiegen und täglich immer mehr Herr über sich selbst zu werden und in der Ausübung des Guten fortzuschreiten, sollte unsere Hauptaufgabe sein.«

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»Die Wissenschaft oder irgendwelche Kenntnis von einer Sache ist nicht zu verwerfen; denn sie ist an sich gut und gehört in Gottes große Haushaltung herein, aber höher steht immer ein gutes Gewissen und ein tugendhafter Lebenswandel.«

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»Es schadet dir nichts, wenn du dich in allem unterordnest, dagegen sehr schädlich kann es für dich werden, wenn du dich auch nur über einen einzigen erhebst.«

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»Es ist für uns gut, wenn wir zuweilen in große Schwierigkeiten geraten; denn dadurch wird der Mensch wieder daran erinnert, daß er in der Fremde ist und seine Hoffnung auf nichts in dieser Welt setzen soll.«

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[Seite 47] »Strebe danach, geduldig in der Ertragung der Fehler und Schwächen anderer zu sein, weil auch du viele hast, die von anderen ertragen werden müssen.«

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»Jeden Tag müssen wir unseren Vorsatz erneuern und unseren Eifer so anspornen, als hätten wir uns heute erst bekehrt.«

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»Wenn du dich innerlich nicht beständig sammeln kannst, so tue es doch von Zeit zu Zeit, und mindestens zweimal am Tage. Am Morgen fasse gute Entschlüsse, abends prüfe dein Leben, wie du am Tage gewesen bist in Gedanken, Worten und Werken.«

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»Doch wenn dich die Liebe zu Gott noch nicht vom Bösen abzuhalten vermag, so ist es immerhin gut für dich, wenn dich wenigstens die Furcht vor der Strafe von einem sündhaften Leben abhält.«

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»Wie das Eisen im Feuer den Rost verliert und ganz glühend wird, so wird der Mensch, der sich aufrichtig zu Gott wendet, von den Schlacken der Sinnlichkeit befreit und in einen neuen Menschen umgewandelt.«

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»Es zeugt von großer Weisheit, zur Zeit der Widerwärtigkeit zu schweigen, sich innerlich MIR zuzuwenden und durch das Urteil der Menschen sich nicht beunruhigen zu lassen.«

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»Dein Friede hängt nicht von dem Gerede der Menschen ab; denn mögen sie gut oder schlecht über dich urteilen, du bist deshalb doch kein anderer Mensch.«

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»Der Glaube an sich ist noch keine Erkenntnis, aber er ist die Kraft, aus der die Erkenntnis erwächst.«



[Seite 48]



Gewiß ist materieller Fortschritt gut und lobenswert, doch sollen wir darüber nicht den wichtigeren geistigen Fortschritt außer acht lassen und nicht die Augen für das göttliche Licht verschließen, das unter uns leuchtet. Nur dadurch, daß wir im Geistigen sowohl als auch im Materiellen wachsen, können wir wirklich vorwärts kommen und vollkommene Wesen werden.

’Abdu'l-Bahá