Bahá’í-Briefe
Heft 57 18. Jahrgang März 1990
Bahá’í-Briefe Heft 57 März 1990 18. Jahrgang
Die Bahá’í-Briefe wollen eine intensive Auseinandersetzung mit den Inhalten der Bahá’í-Religion fördern und auf der Grundlage zeitgemäßen Denkens zu einem Dialog mit allen beitragen, die sich um die Lösung der Weltprobleme mühen.
- Inhalt
- Die Welt ist mein Garten - Richard St.Barbe Baker . . . . . . . 1
- Bernd Herbon
- Naturwissenschaft und Glaube . . . . . . . 9
- Prof.Dr. Herwig Schopper
- Zum Umgang mit der Natur . . . . . . . 17
- Eine Erklärung der Bahá’í
- Wege zur Erkenntnis . . . . . . . 21
- John Lester
- Das fiktive Interview mit Emanuel Swedenborg . . . . . . . 25
- Bijan Sobhani
- Der Buchtip . . . . . . . 38
Herausgeber: Der Nationale Geistige Rat der Bahá’í in Deutschland e.V., Hofheim-Langenhain. Redaktion: Dr. Klaus Franken, Farideh Motamed, Dr.Bijan Sobhani, Karl Türke jun. Redaktionsanschrift: Bahá’í-Briefe, Redaktion, Eppsteiner Straße 89, D-6238 Hofheim 6. Namentlich gezeichnete Beiträge stellen nicht notwendig die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers dar. Die Bahá’í-Briefe erscheinen halbjährlich. Abonnementpreis für vier Ausgaben 20, — DM. Einzelpreis 6, — DM. Vertrieb und Bestellungen: Bahá’í-Verlag, Eppsteiner Straße 89, D-6238 Hofheim 6.
Titelbild von Farhad Foroutan
© Bahá’í-Verlag GmbH 1990 ISSN 0005-3945
Die Welt ist mein Garten[Bearbeiten]
Richard St. Barbe Baker (1889-1982) - Gründer der »Men of the Trees«
- Der vorliegende Artikel wurde verfaßt von Bernd Herbon nach einem Aufsatz von Dennis G. Hull.
Kenia im Sommer des Jahres 1922: Auf einer Hochebene in der Nähe
Nairobis haben sich dreitausend eingeborene Krieger versammelt. Den
ganzen Tag haben sie auf dem »Muguga«, dem baumlosen Platz, mit
Tänzen die Baumgeister beschworen. Jetzt bilden sie einen Kreis,
dreitausend als starre Masken bemalte Gesichter, farbenprächtig
herausgeputzt, schauen in die kahle Mitte des Zirkels. Dort knien ein weißer
Mann in der Unifom der britischen Kolonialverwaltung und ein schwarzer
Häuptling in Landestracht. Das ungleiche Paar scharrt mit den Händen
im rötlichen Staub, als ob sich im kargen Boden ein Schatz verberge.
Schließlich erheben sich die beiden und inmitten der aufgewühlten Erde
breitet ein winziger Baumsetzling seine Blätterarme in die Abendfarben
des kenianischen Himmels.
Kenia im Sommer des Jahres 1977: Wieder knien ein Schwarzer und ein Weißer nieder, um einen Baum zu pflanzen. Umringt von eingeborenen Frauen in bunten Gewändern und europäisch gekleideten Männern, lockert das altersgebeugte Paar die Erde für einen kleinen Setzling. In den letzten Tagen haben die Anwesenden in einer Konferenz Geist und Gewissen der Welt beschworen, durch Aufforstung das ökologische Gleichgewicht der Erde zu wahren. Jetzt setzen sie den ersten von fünfzehn Millionen Bäumen, die der Nationale Frauenrat Kenias in den nächsten Jahren pflanzen will.
Die beiden Männer aus unterschiedlichen Kulturen und Kontinenten, die ihr Leben den Bäumen gewidmet haben, sind die Begründer der Naturschutzorganisation »Men of the Trees«, Richard St. Barbe Baker und Häuptling Josiah Njonjo. Mit ihrer
- Richard St.Barbe Baker
Organisation pflanzten sie Millionen von Bäumen, bewahrten einzelne,
uralte Baummonumente, kämpften gegen die Ausrottung der Mammutbäume
in Kalifornien, wagten sich an die Sisyphus-Arbeit, die Sahara zu
begrünen, und fochten auf Konferenzen, Tagungen und Vortragsreisen
für den Schutz der »grünen Lunge«
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der Erde.
Die Liebe zu Bäumen lag Richard St. Barbe Baker im Blut. Sein Urgroßvater, ein Pfarrer, ließ auf dem von ihm verwalteten Gemeindeland viele Bäume pflanzen. Sein Großvater, ebenfalls Pfarrer in einer armen südenglischen Gemeinde, stopfte sich immer die Taschen voller Eicheln, bevor er seine Schäfchen besuchte. Kam er an einer Hecke vorbei, säte er die Eichensamen, um mit dieser einfachen Methode vorausschauend für Windschutz zu sorgen.
Auch St. Barbes Vater hatte mit Bäumen zu tun. Er ließ seinen Sohn schon früh in der eigenen Baumschule mithelfen. St. Barbe veredelte Apfelbäume, jätete Unkraut, stützte junge Bäume mit Pfählen und lieferte später mit dem Lastwagen Büsche und Bäume aus. Als kleiner Junge hatte er eine Weide gepflanzt, die er mit viel Liebe zu einem Torbogen zurechtstutzte - dem Eingang zu seinem ersten Garten.
Neben der Beschäftigung mit Bäumen gehörte eine andere Besonderheit zur Familientradition der Bakers. Fernweh und Jagdleidenschaft hatten Mitte des 19. Jahrhunderts Samuel Baker nach Afrika getrieben. Gemeinsam mit John Hanning Speke entdeckte der berühmte Baker das Geheimnis um die Quellen des Nils. Ein Schuß Abenteuerlust bestimmte auch das Leben von Richards Großonkel, der zu Zeiten der Königin Victoria nach Kanada ausgewandert war. Stundenlang schmökerte der kleine St. Barbe in den Briefen, die voll von spannenden Schilderungen aus dem Leben in der Wildnis Ontarios waren. Besonders imponierte ihm der Mut des entfernten Großonkels, der einmal einem angreifenden Bären mit dem Spaten den Garaus gemacht hatte. Schon in der Schule stand für Richard St. Barbe Baker fest - er wollte nach Kanada auswandern.
Mit einundzwanzig Jahren ging St. Barbe ins Land seiner Sehnsucht. In den Fußstapfen seins Großonkels schlug er sich als Zureiter, Holzfäller und Jäger durch. Dann schrieb er sich an der neugegründeten Saskatchewan Universität ein; John Diefenbaker, der spätere kanadische Premierminister, zählte zu seinen Kommilitonen.
Im Jahr 1914 kehrte St. Barbe nach Großbritannien zurück und studierte in Cambridge Theologie. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldete er sich sofort freiwillig und wurde mit der Ausbildung irischer Reservisten betraut. Schließlich nahm St. Barbe auch an den Kampfhandlungen in Frankreich teil. Bei einem schweren Artillerieangriff wurde er verwundet und verschüttet. Nur durch einen glücklichen Zufall kam St. Barbe Baker mit dem Leben davon.
Nach seiner Entlassung aus der Armee wegen Dienstuntauglichkeit
nahm St. Barbe Baker seine Studien in Cambridge wieder auf. Statt Theologie
studierte er nun Forstwirtschaft. Mit einem Diplom in der Tasche bewarb
er sich beim Kolonialministerium um den Posten des stellvertretenden
Landesforstbeamten in Kenia. Voller Enthusiasmus und mit vielen
Plänen, der Versteppung in Afrika Einhalt zu gebieten, kam der
einunddreißigjährige Beamte Seiner Majestät, Richard St. Barbe Baker, 1920 in
Nairobi an. Doch schon bald erkannte er, daß seine wissenschaftlichen
Methoden und ökologischen Erklärungen auf keinen fruchtbaren Boden fielen.
Die nüchterne Sichtweise, aus
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dem Europa des zwanzigsten Jahrhunderts importiert, konnte keine
Wurzeln in den von archaischem, mythischem Denken bestimmten
Strukturen der kenianischen Stämme schlagen.
»Baumkinder können nicht gedeihen, wenn die Elternbäume Gottes gefällt sind«, versuchte Baker in gleichnishafter Sprache zu erklären. In langen Gesprächen mit seinem Dolmetscher, dem jungen Häuptling Josiah Njonjo, überlegte er immer neue Methoden, um sein ökologisches Anliegen zu vermitteln. Schon lange hatte St. Barbe Baker die symbolträchtigen Tänze der Eingeborenen beobachtet. Zu allen möglichen Anlässen kamen jung und alt zusammen, um mit den Füßen Legenden, Geschichten und Mythen in den Staub zu schreiben. Einen Baumtanz gab es nicht. Also stiftete der britische Kolonialbeamte einen Preis für den am besten geschmückten Krieger und das schönste Mädchen. Alles weitere überließ er den Tanzmeistern.
Der 22. Juli 1922, an dem die Uraufführung des Baumtanzes stattfand, war zugleich das Gründungsdatum für die »Watu wa Miti« — die
- Richard St.Barbe Baker erhält einen Fliegenwedel
»Men of the Trees«. Mit diesem Spitznamen wurden die fünfzig jungen Krieger
belegt, die St. Barbe aus fünfhundert Freiwilligen auswählte, um seine
Vorstellungen der Aufforstung zu verwirklichen. Die »Watu wa Miti« mußten
sich vor dem höchsten Gott, N’gai, verpflichten, den einheimischen Wald zu
schützen, mindestens zehn Bäume pro Jahr zu pflanzen und eine gute Tat pro
Tag zu vollbringen. Zudem halfen die jungen Männer in den Baumschulen. Als
Erkennungszeichen diente ihnen eine Plakette mit einem Baum, die mit grünem
und weißem Faden am Handgelenk getragen wurde. Außerdem
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verständigten sie sich auf einen besonderen Händedruck mit drei Fingern, der
an die drei Versprechen gemahnte. Die Parole der »Baummänner« kam
aus der Kikuyu-Sprache: »Twahamwe« - »Alle wie eins«.
Der große Erfolg dieser Aktion ermutigte Richard St. Barbe Baker nach seiner Rückkehr in die Heimat im Jahr 1924, eine internationale Naturschutzorganisation zu gründen. Mit Freunden und einflußreichen Persönlichkeiten arbeitete St. Barbe die Statuten zum Schutz der Bäume aus. Der Name der Organisation hat seine Wurzeln in der großen, farbenprächtigen Versammlung auf dem »Muguga«, dem »baumlosen Ort« in der Hochebene Kenias. »Men of the Trees« heißen ihre Mitglieder, die sich in achtundvierzig Ländern für Aufforstung und Wiederbegrünung der Erde einsetzen.
- Richard St.Barbe Baker
In die Zeit der Gründung der »Men of the Trees« fällt Richard St. Barbe Bakers
Bekanntschaft mit der Bahá’í-Religion, die er später selbst annahm. Beim
»First Congress of Living Religions« referierte er über afrikanische
Glaubensformen und lernte Bahá’í kennen. Bei einem Besuch Israels traf er
den Hüter der Bahá’í-Religion, Shoghi Effendi. Nach einem Gespräch über
die Grundsätze der »Men of the Trees« wurde Shoghi Effendi erstes
lebenslanges Mitglied der Organisation. Bei Tagungen und Kongressen
trat Richard St. Barbe Baker oft als Bahá’í-Sprecher für ökologische
Fragen auf.
In den folgenden knapp sechzig Jahren bereiste Richard St. Barbe Baker
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im Auftrag der »Men of the Trees« den ganzen Erdball. Kreuz und quer
durchmaß er ganze Kontinente, mahnte zu Einsicht in das gefährdete
Gleichgewicht der Natur und hinterließ auf all seinen Reisen eine grüne
Spur gepflanzter Bäume. Mit majestätischer Stimme hielt er Vorträge über
den Raubbau des Menschen, der im Namen des Fortschritts immer neue
Wüsten schafft. Gern zitierte er Gedichte über Bäume, um die Begrünung
der Steppen auch als poetisches Vermächtnis verstanden zu wissen.
In fast zwei Dutzend Büchern beschrieb er seine Aktivitäten zur Rettung
des Grüngürtels und porträtierte Baumarten verschiedener Kontinente.
Seine Liebe galt den Individualisten unter den Bäumen, den
Mammuts in Kalifornien. Viele Preise würdigten seinen Einsatz und sein
schriftstellerisches Können. In der Erfüllung seiner Aufgaben war
St. Barbe selbstlos, doch im Interesse seiner Anliegen war er bewußt
maßlos. Einer Dame, die nach einem Vortrag mit den Worten auf ihn zukam, »Ich
würde gern einen Baum Ihnen zu Ehren pflanzen«, entgegnete er: »Pflanzen
Sie keinen Baum, pflanzen Sie einen Wald«.
Einen Auszug aus der Reiseroute Richard St. Barbe Bakers, die zugleich
auch sein Lebensweg war, vermag den Elan und Enthusiasmus, den Einsatz
und Erfolg dieses Mannes widerzuspiegeln. 1929 half er in Palästina,
eine Gruppe der »Men of the Trees« zu gründen, rief einen Tag des Baumes
aus und ließ viertausend Schulkinder Alleen anlegen. 1931 propagierte
St. Barbe seine Ziele in Neuseeland. 1932 war er in den Vereinigten
Staaten und legte Programme zur Begrünung der Prärie vor. Gemeinsam
mit dem späteren US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, der damals
noch Gouverneur des Staates New York war, regte er die Gründung eines
»Civilian Conservation Corps« an, verschaffte somit zu Zeiten der
Großen Depression sechs Millionen jungen Männern Arbeit und konnte
die Anpflanzung eines 1600 Kilometer langen Grüngürtels von der kanadischen
Grenze bis Texas als Erfolg verbuchen. 1939 leitete St. Barbe ein
Ausbildungszentrum für Forstwesen im englischen Dorset. Während des
Zweiten Weltkriegs organisierte er für das Versorgungsministerium die
Holzbeschaffung unter der Maßgabe, daß für jeden gefällten Baum ein neuer
Setzling gepflanzt wird. 1950 legte er seine Ansichten über Naturschutz
in der »New Earth Charter« dar. 1952 brach er zu einer Sahara-Expedition
auf, mit dem Ziel, die endlose Wüste durch Baumpflanzungen für den
Menschen zurückzugewinnen. Mit 75 Jahren bereiste er erneut die
Sahara-Anrainerstaaten und sprach mit vielen Politikern und Verantwortlichen.
1968 war er in Indien, um in vielen Teilen des Landes Aufforstungsprogramme
ins Leben zu rufen. 1977 besuchte er die UN-Konferenz über Versteppung in
Nairobi und pflanzte unweit des »Muguga« gemeinsam mit
dem »Men of the Trees«-Mitbegründer, Josiah Njonjo, einen Baum.
Übrigens ließ es St. Barbe sich nicht nehmen, jedes Jahr seinen Freund, den
Eingeborenenhäuptling, zu besuchen, der am 2. November 1985 im
Alter von hundert Jahren starb. Im 60. Jubiläumsjahr der »Men of the Trees«
machte sich der unermüdliche Ökologe in seinem 93. Lebensjahr nach
Amerika auf. 1982 sollte in Südamerika der Beginn einer »Dekade der Bäume«
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werden. Auf dem Weg nach Toronto, wo er einen Vortrag halten sollte,
machte er noch einen Abstecher zu seinen geliebten Mammutbäumen in
Kalifornien. Den Beginn der weltweiten Jubiläumsfeiern am 22. Juli, zu
dem jede »Men of the Trees«-Gruppe Bäume pflanzen sollte, erlebte
Richard St. Barbe Baker nicht mehr. Er schlief auf dem Flughafen von
Saskatoon, Saskatchewan, seiner alten Universitätsstadt, ein.
- St.Barbe Baker (links) hilft einen Gummibaum pflanzen
Beispielhaft für seine Art, visionär zu denken und praktisch zu handeln,
war St. Barbe Bakers Kampagne für die Rückgewinnung der Sahara.
Das gigantische Ziel, drei Millionen Quadratkilometer Öde zu bepflanzen,
ließ manchen Expeditionsteilnehmer schlucken. Doch Baker verlor
bei dem Blick auf den fernen grünen Teppich auf Nordafrikas Sandboden
nicht den Blick für die Bedeutung jedes einzelnen Knotens aus dem Auge.
Nicht die Formulierung großer Pläne war seine Sache, sondern die
Beteiligung aller Menschen im Einsatz für ihre nähere und weitere Umwelt. So
ließ er seine britischen Mitbürger für das Sahara-Projekt auch schlucken.
Nicht aus Beklemmung, ob das Roulettespiel um jeden Meter Wüste gelingen könnte,
sondern mit spielerischem Einsatz für eine gute Sache. In
der BBC-Sendung »In Town Tonight« bat er die Hörer um Pfirsichkerne, um
sie auf die Expedition mitzunehmen. Er sei in drei Tagen in der Londoner
Kirche St. Martin-in-the-Fields, da könne er sie einsammeln. An dem besagten
Dienstag wurde Richard St. Barbe Baker von Freunden am Kirchenportal empfangen.
In den Händen trugen sie Tüten voller Pfirsichkerne.
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Postboten lieferten Pakete gleichen Inhalts. Obsthändler hatten ihre
Stände aufgebaut und verkauften an Passanten bevorzugt eine Frucht. Die
Pfirsichkerne wurden in einem Sack deponiert.
Den Staatspräsidenten der Sahara-Anrainerstaaten verordnete St. Barbe andere Aufgaben: Er erläuterte die Methoden der Fruchtbarmachung und Begrünung der Wüste und regte die Gründung einer »Sahara-Universität« an, in der die Voraussetzungen für die Kultivierung des Ödlands gelehrt werden sollten. 1968 wurde mit dem Begrünungsprojekt begonnen. In einer Region trugen die 35 Millionen gepflanzten Olivenbäume zwei Millionen Tonnen Öl pro Jahr ein.
Als Richard St. Barbe Baker am 9. Juni 1982 starb, hatte er die sprichwörtlichen Pflichten des Menschen zur Genüge erfüllt: Statt eines Buches hatte er ein Dutzend geschrieben. Für den Bericht seiner zweiten Wüstenexpedition, »Sahara Conquest«, erhielt er eine Auszeichnung für »den größten Beitrag zur Idee des Humanitarismus«. Statt eines Baumes hatte er tausende gepflanzt und Millionen weitere Bäume pflanzen lassen. Berühmte Persönlichkeiten gewann er für seine Ziele; seit 1979 ist der Prinz von Wales Schirmherr der »Men of the Trees«. In der Sorge um das ökologische Überleben der Erde wurde St. Barbe zum Weltbürger und war in fast allen Kontinenten zuhause. In Afrika hob der Vater der »Men of the Trees« seine Organisation aus der Taufe; in Europa hatten er und seine Vereinigung ihre Wurzeln; mit seiner ersten Frau Doreen und zwei Kindern lebte er in England; mit seiner zweiten Frau Catriona siedelte er in Neuseeland; und in der Heimat der geliebten Redwoods, Amerika, wurde er aus seinen unermüdlichen Aktivitäten gerissen. Seine Freunde setzten ihm ein Denkmal, das auf mannigfaltige Weise Richard St. Barbe Bakers Wesen und stetig wachsendes Werk reflektiert. Sie erwarben 300 Hektar Land in der englischen Grafschaft Leicestershire und pflanzten darauf einen Wald.
»Wir befinden uns in einer Zeit der beispiellosen Zerstörung geistiger und natürlicher Dinge. Wir sind gefangen in persönlicher Habsucht und nationalem Wettbewerb. Der lebendige Körper dieses Planeten wird nun bedroht von der Zerstörung der grünen Hülle der Erde, den Bäumen. Die Vorfahren glaubten, daß die Erde ein lebendiges Wesen sei, das die Taten der auf ihr lebenden Menschen spürte. Ich schlage vor, daß wir, bis zum wissenschaftlichen Beweis des Gegenteils, uns diese Ansicht zu eigen machen und uns danach verhalten. Meine Sicht der Dinge ist so: Wenn ein Mensch ein Drittel seiner Haut verliert, stirbt er; die plastischen Chirurgen verkünden: ›Er ist hinüber.< Wenn ein Baum ein Drittel seiner Rinde verliert, stirbt er ab. Das wurde wissenschaftlich von Botanikern und Dendrologen (Baumkundlern) erwiesen. Wäre es nicht folgerichtig anzunehmen, daß die Erde mit Sicherheit stirbt, wenn sie mehr als ein Drittel ihres grünen Mantels und ihres Baumbestandes verliert? Der Grundwasserspiegel wird unwiederbringlich sinken und das Leben wird unmöglich. Die am weitesten »zivilisierten Länder« haben schon fast das tödliche Drittel erreicht.«
- (Richard St.Barbe Baker)
Wälder der Erde[Bearbeiten]
Ein Bericht der Internationalen Bahá’í- Gemeinde
Von der Internationalen Bahá’í-Gemeinde wurde am 15.Dezember 1989
in London in Zusammenarbeit mit anderen Umweltschutzorganisationen
das 1945 durch Richard St.Barbe Baker begründete jährliche Treffen
über die Wälder der Erde wieder offiziell ins Leben gerufen. Richard
St.Barbe Baker war ein bekannter Baha’i und Gründer der »Men of the
Trees«. Für mehr als zwei Jahrzehnte unterstütze er die jährlichen
Veranstaltungen, an denen Regierungsvertreter und andere einflußreiche
Persönlichkeiten verschiedenster Länder mit der Lage der Waldgebiete auf der
Welt vertraut gemacht wurden. Die Rückkehr zu diesem traditionellen
Treffen erfolgte im Gedenken an den 100.Geburtstag St.Barbe Bakers.
1989 nahmen Vertreter von 15 Nationen teil. Es trafen Grußbotschaften von Premierministerin Margaret Thatcher (Großbritannien) und Premierminister Brian Mulroney (Kanada), von Bertrand Schneider (Sekretär des »Club of Rome«), von Prinz Alfred von Liechtenstein (Mitglied der Wiener Akademie für Zukunftsforschung) und von Michael Deland (Vorsitzender des amerikanischen Rates für Umweltfragen, einer von Präsident Bush ernannten Institution) ein. Der von Richard St.Barbe Baker vor 45 Jahren eingeführten Tradition folgend, wurde zu Programmbeginn die Grußbotschaft der Bahá’í verlesen, die früher von Shoghi Effendi persönlich und jetzt vom Universalen Haus der Gerechtigkeit an die Teilnehmer gerichtet war.
Zu den Organisationen, die das vom Büro für öffentliche Information der Internationalen Bahá’í-Gemeinde organisierte Treffen unterstützt haben, zählen: Living Earth, Men of the Trees, SOS Sahel, das Entwicklungs- sowie das Umweltprogramm der Vereinten Nationen und der World Wide Fund for Nature. Die Teilnehmer, die unter der Schirmherrschaft des Grafen von Bessborough, dem Präsidenten der »Men of the Trees« zusammenkamen, begrüßten die Gründung einer neuen Abteilung der Internationalen Bahá’í-Gemeinde, dem Office of the Environment, das sich in Zusammenarbeit mit anderen Institutionen vornehmlich mit Umweltfragen auf dem Gebiet der Forstwirtschaft beschäftigen wird.
Erfreulich war auch das Interesse, das dieser Veranstaltung von den großen internationalen Medien entgegengebracht wurde. Unter den Journalisten waren Vertreter von Agence France Presse, British Broadcasting Corporation, Canadian Broadcasting Corporation, Chinese News Agency, Die Welt, East African Standard, Le Monde, Life Magazine, The Observer, Nachrichtenagentur Reuter, The Times Literary Supplement.
Naturwissenschaft und Glaube[Bearbeiten]
Dialog oder Konfrontation Prof.Dr. Herwig Schopper
- Prof.Dr.Herwig Schopper ist Generaldirektor des CERN (Centre europeen d’etudes nucleaires / Europäisches Zentrum für Kernforschung). Der Vortrag wurde anläßlich des Engadiner Kollegiums 1988 »Ethik und Technik« gehalten und zuerst veröffentlicht in »Technische Rundschau« 52/88.
Lassen sich ethische Normen aus der Forderung, das Zusammenleben der
Menschen bzw. das Überleben der Menschheit zu ermöglichen, ableiten?
Hat die Ethik also einen rein pragmatischen, sozialen Zweck? Oder
sind wir bei unseren Handlungen letzten Endes nur unserem Gewissen
verantwortlich, sind ethische Werte also eine rein subjektive Setzung,
und wenn ja, wodurch ist die subjektive Entscheidung beeinflußt - durch
die Gesellschaft, die Evolution? Oder läßt sich die Ethik aus absolut
gültigen, transzendenten Maximen, aus Glauben ableiten?
Bei meinen Ausführungen beschränke ich mich auf die westliche Naturwissenschaft. Ihre Entwicklung in Europa seit der Renaissance stellt einen der größten Beiträge zur menschlichen Kultur dar. Ausgehend von Descartes, Galilei und Newton wurde die experimentelle, reduktionistische Naturerforschung etabliert, die, anstatt sich in Spekulationen zu ergehen, im Experiment Fragen an die Natur stellt und der es dadurch gelang, unabhängig von menschlichen Autoritäten objektive, allgemeingültige Naturgesetze aufzudecken. Dies hat dazu geführt, daß diese Naturforschung und die darauf aufbauende Technik in der ganzen Welt, in allen Kulturkreisen akzeptiert wird, eine Tatsache, auf die das gute alte Europa stolz sein sollte.
Das Verhältnis zwischen dieser Naturwissenschaft und dem Glauben war von Anfang an nicht unproblematisch und durchlief verschiedene Phasen:
- die Konfliktphase, in der auf beiden Seiten Fehler begangen wurden und die später zu einem sich gegenseitigen Ignorieren führte;
- die Erkenntnis, daß eine Koexistenz möglich ist, was eine relativ neue Erkenntnis ist;
- den Dialog: Er ist um so dringender notwendig, als die naturwissenschaftlich-technische Entwicklung schneller fortgeschritten ist als die moralische und die soziale. Dieses Außer-Tritt-Geraten verursacht zu einem großen Teil die Schwierigkeiten und die Ratlosigkeit, unter der wir leiden, denn die durch die Technik geschaffenen Lebensbedingungen mit ihren unzweifelhaften Vorzügen, aber auch Übertreibungen und Fehlern verlangen nach ethischen Richtlinien. Aber mit welchem Ziel soll er geführt werden, was kann man voneinander lernen, insbesondere in bezug auf die ethischen Maximen?
Ich möchte diese drei Phasen, die sich zeitlich zum Teil erheblich überlappen,
kurz erörtern, wobei mir die letzte als wichtigste erscheint. Die Erfahrung
zeigt allerdings, daß es sehr schwierig ist, das Gespräch zwischen
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den beiden Bereichen in Gang zu bringen.
Was die Konfliktphase angeht, so hat viele Jahrhunderte lang die Kirche die Naturwissenschaft bekämpft. Dies findet seinen Ausdruck in dem berühmten Ausspruch Augustinus, daß nichts akzeptiert werden dürfe ohne die Autorität der Heiligen Schrift, denn diese Autorität sei grösser als alle Kräfte des menschlichen Geistes. Die experimentelle Methode, die Roger Bacon im 13. Jahrhundert zu praktizieren anfing, wurde für drei Jahrhunderte durch theologische Spekulationen unterdrückt. Im Jahre 1163 verbot Papst Alexander III. das Studium der Physik, und 1317 verdammte Papst Johannes XXI. die Alchemie und verzögerte so ihren Übergang zur Chemie. Die Medizin wurde als Hexerei und Teufelszeug verdammt, und Thomas von Aquin behauptete, daß die Körperkräfte unabhängig von der physischen Organisation des Körpers seien und daher mit Hilfe der Methoden der scholastischen Theologie anstatt durch die Untersuchung des Körpers zu erforschen seien. Galilei, auf den ich noch zurückkomme, war also kein Einzelfall, er war eher atypisch.
Man kann sagen, daß dies ja nun alles Geschichte und lange vorbei sei. Wenn ich aber manchen Diskussionen zuhöre und insbesondere den Darstellungen in den Medien folge, dann erscheint mir die Zeit nicht mehr weit, wo Naturwissenschaftler als moderne Hexen verbrannt werden.
Die Vorwürfe sind natürlich andere, aber auch sie kommen aus dem metaphysischen Bereich. Die Naturwissenschaft sei funktionalistisch, sie verzichte darauf, nach dem Wesen und Sinn ihrer Forschungsobjekte zu fragen, sie konzentriere sich vielmehr darauf, nur das Verhalten der Objekte, ihre Beziehungen untereinander zu erforschen. Sie biete weder eine Deutung des menschlichen Daseins noch Prinzipien für verantwortliches Handeln. Ja, so wird sogar behauptet, sie wurzle in einer wissenschaftlich begründeten Verkennung der Wirklichkeit, sie gehe so vor, als ob es keinen Gott gäbe, und führe zu einem wissenschaftlich begründeten Atheismus.
Ich gebe zu, daß viele Aussprüche, auch von berühmten Wissenschaftlern, solche Ansichten durchaus bestätigen. Insbesondere im 19. Jahrhundert, aber auch bis in unsere Zeit wurde die wissenschaftliche Methode aufgrund ihrer phantastischen Erfolge überschätzt, und manche Wissenschaftler glaubten mit einer erstaunlich anmutenden Arroganz, daß alle Probleme, auch menschliche und soziale, auf rational-wissenschaftliche Weise gelöst werden könnten. Es gab und gibt ja auch genügend physikalische Weltmodelle und Kosmologien, die auf die Hypothese »Gott« verzichten zu können glaubten.
Trotz gewisser Nachwehen in der Konfrontation zwischen Naturwissenschaft und Glaube bin ich jedoch der Ansicht, daß wir in die Koexistenzphase eingetreten sind. Von beiden Seiten wird anerkannt, daß die Konfrontation zu einem guten Teil auf Mißverständnissen, Autoritätskonflikten und Irrtümern beruht.
Von kirchlicher Seite wird die Berechtigung der Naturwissenschaften
inzwischen wohl allgemein anerkannt. Als Papst Johannes Paul II. vor
einigen Jahren CERN besuchte,
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erklärte er mir, daß der Fall Galilei ein Irrtum gewesen sei, bei dem es sich
um die Durchsetzung der Autorität der Kirche gegen einen dickköpfigen
Florentiner und nicht um einen Prinzipienstreit gehandelt habe. Der
Papst erwähnte den Ausspruch Galileis, der in einem Brief an die Großherzogin
der Toskana vom Jahre 1615 festgehalten ist: »Gott hat zwei Bücher geschrieben:
das Buch der Natur und das Heilige Buch. Der gleiche Gott hat beide Bücher geschrieben.«
Es ist daher nicht möglich, daß es einen prinzipiellen Gegensatz zwischen
Gotteswort und der Wissenschaft gibt. Wenn es einen solchen zu
geben scheint, dann muß man sich um eine andere Interpretation bemühen. Als
einige Zeit später der Dalai Lama CERN besuchte, vertrat er die
gleiche Auffassung.
Schon im 2. Vatikanischen Konzil kamen diese Fragen zur Sprache, und in der Enzyklika Gaudium et Spes (1965) heißt es: »In dieser Beziehung sei es uns erlaubt, gewisse Haltungen zu bedauern, die existieren unter Christen, die ungenügend unterrichtet waren über die legitime Autorität der Wissenschaft.«
In einer Diskussion erklärte E. di Rovasenda, Sekretär der päpstlichen wissenschaftlichen Akademie, daß die Heilige Schrift uns zeigt, wie man in den Himmel kommt, aber nicht, wie er gemacht ist. Es sei nicht Aufgabe der Heiligen Schrift, eine Kosmologie auszuarbeiten, dies sei eine Aufgabe der Wissenschaft. Die Kirche hätte jedoch etwas zu sagen über die Kosmogonie, das heißt über den Ursprung der Welt vom metaphysischen Gesichtspunkt aus.
Wenn wir so mit Befriedigung eine Öffnung der Kirche feststellen, so kann man sagen, daß inzwischen auch die Naturwissenschaften die Grenzen ihrer Gültigkeit erkannt haben und eingestehen.
Häufig wird die Quantenmechanik als deus ex machina benutzt, die mit ihren statistischen Gesetzen die strenge Kausalität aufgehoben hat und damit Freiraum für den freien Willen, für Transzendenz, ja Gott geschaffen hat.
Es stimmt wohl, daß die Quantenmechanik, die Relativitätstheorie und unerwartete experimentelle Entdeckungen uns gezwungen haben, unsere Denkstruktur zu ändern. Ich halte es für eine der wichtigsten Erkenntnisse, daß die Erforschung der Natur nicht a priori festgelegte Denkkategorien voraussetzt, sondern daß unsere rationale Denkmethode (einschließlich der Logik) ständig erweitert werden muß.
Die Diskussion über die Interpretation der Quantenmechanik ist kürzlich in eine neue Phase getreten und
- Um die Religion neben der Physik bestehen zu lassen, um die Existenz Gottes zu ermöglichen, bedarf es keines subtilen Prozesses der Quantenmechanik.
bezieht sich sowohl auf Fragen der Kausalität als auch der physikalischen
Realität, wobei neurologische und psychologische Probleme mit hineinspielen.
Aber ich bin der Meinung, daß alle diese sehr interessanten Probleme nur
sekundär unser Thema, nämlich die Beziehung zwischen Naturwissenschaften und
Glaube, betreffen.
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Um die Religion neben der Physik bestehen zu lassen, um die Existenz
Gottes zu ermöglichen, bedarf es keines subtilen Prozesses der
Quantenmechanik.
Die Erfolge, aber auch die Grenzen der Naturwissenschaften liegen in ihrer Methode. Sie basiert auf einer bestimmten Definition für Wahrheit und einer Idealisierung der Naturerscheinungen.
Als richtig, als wahr gilt nur, was quantifizierbar und reproduzierbar ist. Einmalige Ereignisse entziehen sich prinzipiell der naturwissenschaftlichen Methode. Diese Methode hat den Vorteil, daß sie zu objektiven, universell gültigen Naturgesetzen führt, die allgemein nachprüfbar sind, was letzten Endes die Basis für ihre weltweite Akzeptanz abgibt. Diese Vorteile werden dadurch erkauft, daß die Naturwissenschaft sich mit ihrer Methode darauf beschränkt, nur einen Teil der Realität zu erfassen, wobei dieser Bereich aber durch neue Begriffsbildungen und neue empirische Erkenntnisse erweitert werden kann. Jahrhundertelang war die Elektrizität nicht bekannt, und zwei der vier bekannten Naturkräfte, die starke und die schwache Kernkraft, wurden erst in diesem Jahrhundert entdeckt.
Neben der Naturwissenschaft gibt es komplementäre Möglichkeiten, andere Bereiche der Realität zu erfassen. Sie sind nicht quantifizierbar und manchmal nur in Symbolen zu beschreiben. Es handelt sich um Philosophie, Kunst, Religion usw. Wir können uns diese verschiedenen Wege, die Wirklichkeit zu begreifen, als verschiedene Projektionen eines Gegenstandes vorstellen. Die Projektion eines Zylinders längs einer Achse ergibt einen Kreis, senkrecht dazu ein Rechteck. Trotzdem ist dies kein Widerspruch, sondern es handelt sich um Projektionen desselben Gegenstands.
Die bloße Koexistenz von Naturwissenschaft und Glaube genügt aber nicht. Beide Projektionen sind notwendig, um die wahre dreidimensionale Gestalt des Körpers zu erfassen. Ein Dialog ist nötig. Was kann der Inhalt, was können die Ziele eines solchen Dialogs sein?
Zunächst möchte ich feststellen, was meiner Meinung nach nicht geschehen sollte.
Man hört heute öfter die Forderung, daß sich die Wissenschaften zum Transzendenten öffnen sollten. Das »neue Denken« wird zum Teil auch von namhaften Wissenschaftlern propagiert, wobei der Einfluß fernöstlicher Religionen eine gewisse Rolle spielt. Es wird verlangt, daß die analytische Methode des Zerlegens ersetzt wird durch die beseelte, gedankliche Verbindung mit den Dingen, daß anstelle des distanzierten Analysierens eine Gesamtschau tritt.
Eine solche Entwicklung halte ich für äußerst gefährlich. Eine Verwässerung der strengen objektiven Methoden der Naturwissenschaft durch außerwissenschaftliche Normen würde nicht nur die Basis einer der größten Kulturleistungen zerstören, sondern es besteht die Gefahr, daß die Naturwissenschaft für andere Zwecke mißbraucht wird. Wer denkt nicht mit Schrecken an die sogenannte »Deutsche Physik« in den zwanziger und dreißiger Jahren oder an die sowjetische Biologie zurück.
Dies soll nicht bedeuten, daß außerwissenschaftliche Betrachtungsweisen
nicht ihr Recht hätten. Ich
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betone noch einmal, daß die naturwissenschaftliche Methode andere Zugänge
zur Wirklichkeit als Ergänzung benötigt. Der große schweizer
Physiker Walter Heitler hat dies so formuliert: »Die
quantitativ-kausaldeterministische Richtung der
- Eine Teilwahrheit ist aber auch eine Teilunwahrheit, und sie wird zur ganzen Unwahrheit, wenn wir den Teil für das Ganze ansehen.
Wissenschaft schenkt uns eine Teilwahrheit. Eine Teilwahrheit ist aber auch
eine Teilunwahrheit, und sie wird zur ganzen Unwahrheit, wenn wir den
Teil für das Ganze ansehen.«
Aber man kann das Ganze nicht erfassen, wenn wir die verschiedenen Zugangswege verwirren. Die Wissenschaft kann uns aufgrund ihrer Methode nicht Handlungsrichtlinien oder Sinnzuweisungen liefern. Man sollte sie nicht prügeln für etwas, das sie nicht liefern kann. Von einem Koch verlangen wir nicht, daß er uns die Schuhe flickt, und von einem Schuster erwarten wir nicht, daß er eine Autoreparatur vornimmt. Nirgendwo gilt der Satz vom Schuster, der bei seinem Leisten bleiben soll, mehr als hier. Wenn ich wissenschaftlich arbeite, dann muß ich mich an die Spielregeln halten, ohne die Wissenschaft, so wie wir sie verstehen, nicht möglich ist.
Wenn die verschiedenen Zugangsweisen zur Realität jede für sich ihre Projektion vorgenommen hat, dann allerdings ist es Zeit, sich zusammenzusetzen, die verschiedenen Ergebnisse zu vergleichen und damit ein besseres Verständnis von der Wirklichkeit, der Wahrheit zu gewinnen. Dies ist der Dialog, der so notwendig ist und von dem ich nun sprechen möchte.
Die Ethik der Forschungsmethode
Manche Normen der naturwissenschaftlichen Forschungsmethode könnten auch anderen Erkenntnisbereichen helfen und ihre Ergebnisse überzeugender gestalten. Lassen Sie mich nennen: Skeptizismus (laufende kritische Überprüfung der eigenen Arbeiten und der anderer), Objektivismus (Unabhängigkeit des Forschungsprozesses und damit des Produkts von Personen), Offenheit (freie Verfügbarkeit der Informationen und Aufgeschlossenheit für Kritik), Toleranz gegenüber neuen Ideen, aber Unerbittlichkeit gegenüber schlampiger Arbeitsweise, Uneigennützigkeit (Erkenntnismotiv geht vor Erwerbs- und Machtstreben). Natürlich wird gegen diese Normen im Alltag oft
- Die Wissenschaft kann uns aufgrund ihrer Methode nicht Handlungsrichtlinien oder Sinnzuweisungen liefern. Man sollte sie nicht prügeln für etwas, das sie nicht liefern kann.
verstoßen, denn Wissenschaftler sind auch nur Menschen. Aber dies tut der
Tatsache keinen Abbruch, daß diese Normen existieren und anerkannt
werden.
Ergebnisse der Forschung
Wenn auch die naturwissenschaftliche Forschung nicht direkt zur
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Normensetzung beitragen kann, so tragen doch ihre Ergebnisse zu unserem
Weltbild bei. Die kopernikanische Wende, nämlich die Erkenntnis, daß
die Erde und mit ihr die Menschen nicht im Mittelpunkt des Weltalls stehen,
war zwar völlig ohne praktischen Nutzen, hatte aber für das Selbstverständnis
des Menschen eine immense Bedeutung.
Die neuesten Ergebnisse der Elementarteilchenphysik deuten darauf hin, daß wir die alten Paradigmen völlig ändern müssen. Seit Newton glaubte man, das Naturgeschehen mit Hilfe von letzten unzerstörbaren, ewig bleibenden Materialklötzchen beschreiben zu können. Zwischen ihnen wirken Kräfte, die diese undurchdringlichen, unendlich harten Kügelchen in verschiedener Weise zusammensetzen, wodurch der Fluß der Erscheinungen, das ewige Stirb und Werde, hervorgeht. Was sich in den letzten 200 Jahren geändert hat, ist das Wissen um die Art dieser letzten Materiebausteine. Von den Atomen der Chemiker kam man zum Atomkern, den Protonen und Neutronen und heute zu den Quarks. Das Konzept der Materialklötzchen als letzte Elemente der Realität blieb aber.
Die Vorstellung letzter ewiger Materieklötzchen, die eine Reihe von Paradoxien, wie etwa die Frage nach der unendlichen Teilbarkeit der Materie, aufwirft, müssen wir nun aber aufgeben. Was wir heute in der Elementarteilchenphysik als »first principle« der Naturbeschreibung ansehen, sind Symmetrien.
Symmetrien kennen wir von Kristallen oder Schneeflocken. Bei Drehungen um gewisse Winkel oder Spiegelung an bestimmten Ebenen geht der Kristall in sich selbst über. Wir kennen in der Physik aber viele weitere Symmetrien, so etwa zwischen positiver und negativer elektrischer Ladung oder Materie und Antimaterie und ähnliches. Ähnlich wie bei Mineralien die Kristallform meist nicht vollkommen ausgebildet ist, so stellen wir auch in der Physik fest, daß Symmetrien »gebrochen« sein können. Das Ziel der Elementarteilchenphysik besteht heute darin, allgemeinere Symmetrien zu finden und ihre Brechung im einzelnen zu verstehen, um einen immer größeren Erfahrungsbereich auf einige wenige Prinzipien, nämlich Symmetrien, zurückzuführen. Am Ende stünde die allumfassende Supersymmetrie, die »Theory of Everything«. Es gibt theoretische Spekulationen, die glauben, diesem Teil nahe zu sein, aber ich glaube, daß noch viel experimentelle und theoretische Arbeit notwendig ist, bevor man eine geschlossene, experimentell überprüfte Theorie erhalten wird. Dennoch wird die Symmetrie
- Die Physik lehrt uns also, daß die Realitäten nicht materieller, sondern geistiger Natur sind.
als wesentliches Element der Naturbeschreibung von nun an eine
wichtige Rolle spielen. Dies öffnet für den Dialog zwischen Naturwissenschaften
und transzendenten Bereichen neue Wege. Die Tatsache, daß
nicht mehr Materieklötzchen als letzte Realitäten der Naturbeschreibung
anerkannt werden, entzieht dem Materialismus in seinen verschiedenen
Spielarten den wissenschaftlichen Boden. Symmetrien stehen den Platonischen
Ideen viel näher als den Atomen
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Demokrits. Die Physik lehrt uns also, daß die Realitäten nicht materieller,
sondern geistiger Natur sind.
Ein anderes Beispiel betrifft unsere Vorstellungen über die Entstehung und damit Entwicklung des Kosmos und damit auch über das Woher und das Wohin des Menschen. Früher ging man davon aus, daß der Kosmos vor etwa 15 Milliarden Jahren durch den Urknall entstanden ist. Es begann mit einer ungeheuren Konzentration von Energie bei unvorstellbar hohen Temperaturen, wonach das Weltall anfing, sich auszudehnen und abzukühlen.
Beim Zusammenstoß von hochenergetischen Teilchen in unseren Labors können wir die Materiezustände nach dem Urknall im Labor simulieren und studieren. Dazu sind riesige Anlagen nötig. Bei CERN sind wir dabei, einen kreisförmigen Beschleunigungs- und Kollisionsring für Zusammenstöße zwischen Elektronen und Positronen mit einem Umfang von 27 km zu bauen. An ihm arbeiten 1200 Physiker aus aller Welt. Die heute erreichten Energien lassen uns die Verhältnisse, so wie sie eine billionstel Sekunde nach dem Urknall geherrscht haben, untersuchen, und wir glauben, den Ablauf der kosmischen Entwicklung mit der Erzeugung von Materie, der Bildung von Galaxien und Sternen usw. von diesem Zeitpunkt an recht gut zu verstehen.
Neue theoretische Überlegungen sind noch kühner und versuchen Auskunft über den Urknall selbst, der als Schöpfungsakt angesehen werden könnte, zu bekommen. Arbeiten, die unter der Bezeichnung »inflationäres Universum« laufen, behaupten, daß man gar keinen Urknall braucht. Neuere Varianten dieser Theorie erörtern sogar die Möglichkeit, daß an verschiedenen Stellen des Universums Welten gleichzeitig existieren, von denen einige sich in Expansion, andere im Stadium des Schrumpfens befinden (Blasenkosmos). Die Konsequenz ist, daß der Kosmos keinen Anfang und kein Ende zu haben braucht, sondern ewig von Anbeginn in seiner jetzigen Form existiert und sich laufend reproduziert.
Diese Entwicklungen sind noch neu und bisher kaum in den Dialog eingegangen. Sie werden sicher neue Aspekte über die Beziehungen zwischen Naturwissenschaften und Glauben eröffnen. Kommen wir zurück auf die Frage, die von der traditionellen Trennung zwischen Wissenschaft und ethischen Normen handelt. Können die neuen Erkenntnisse und insbesondere das durch die Physik bereitgestellte grandiose Bild des Universums dazu beitragen, diese Trennung zu überwinden, und uns helfen, neue Leitwerte zu finden, und das, obwohl die Ergebnisse der Naturforschungen an sich wertneutral sind?
Ich möchte hier einigen Gedanken von Roger Sperry folgen, der als Hirnforscher die Probleme von einer ganz anderen Seite anging, nämlich der Neurobiologie, dessen Ergebnisse aber genausogut aus der Interpretation des physikalischen Weltbilds abgeleitet werden könnten.
Er schreibt: »...die Naturwissenschaft wird zur größten Hoffnung auf
ein Entkommen aus den Teufelsspiralen der fortschreitenden Zivilisation,
allerdings nicht aus den normalerweise angeführten Gründen... An
wissenschaftlicher Forschung wird nicht mehr deshalb festgehalten, weil
sie technischen Fortschritt erzeugt,
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sondern weil sie die unerreichte Fähigkeit besitzt, die Art von Wahrheit
aufzudecken, die für Glaube, Überzeugung und ethisch-moralische
Grundsätze das beste Fundament bietet. In der Weltsicht und den
Erkenntnissen der exakten Wissenschaften werden wir den besten Schlüssel
zur richtigen moralischen Leitlinie finden.«
Das Hauptproblem liegt dabei natürlich in den Konzepten und Überzeugungen hinsichtlich Lebensziel und Weltbild, die die hierarchische Struktur der Werte bestimmen. Im Idealfall bräuchten wir einen Konsens darüber, wie wir das Universum und darin den Platz und die Rolle des Menschen letztlich verstehen und deuten wollen. Ein solcher Konsens in weltweitem Maße erscheint um so wichtiger, als viele der brennenden Probleme, wie Überbevölkerung, Verschmutzung der Atmosphäre und Meere, Beseitigung des Hungers usw. nur durch globale Maßnahmen zu lösen sein werden. Wegen ihrer Allgemeingültigkeit können die Naturwissenschaften hierbei in der Tat eine verbindende Rolle spielen.
Lassen Sie mich noch einmal Sperry zitieren: »Wenn man als höchsten Wert das akzeptiert, was für die Menschheit allgemein am heiligsten gewesen ist, nämlich die kosmischen Kräfte, die das Universum hervorbrachten, es bewegen und steuern und den Menschen schufen, und diese Übereinstimmung mit dem Weltbild der Naturwissenschaften deutet, dann kommt dabei ein Wertsystem heraus, das große Ehrfurcht vor der Natur mit einbezieht.«
Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß ein erster Erfolg insofern erzielt wurde, als die Koexistenz von Naturwissenschaften und ethischen Werten, wie ich zu zeigen versuchte, kein prinzipielles Problem mehr darstellt. Als nächsten Schritt benötigen wir eine Synthese zwischen dem aus den Naturwissenschaften abgeleiteten Weltbild und den aus dem Glauben stammenden ethischen Werten. Dies ist nicht leicht und erfordert von beiden Seiten ein Aufeinanderzugehen.
Europa ist nicht nur die Heimat der modernen Naturwissenschaft, sondern hier hat auch die jüdisch-christliche Ethik die Höhepunkte ihrer Entwicklung erlebt. Unser guter alter Kontinent bietet daher die beste Voraussetzung für eine Begegnung, und es kommt ihm daher die Verpflichtung zu, besondere Anstrengungen zu unternehmen, um Naturwissenschaften und Glauben einer Synthese zuzuführen.
Zum Umgang mit der Natur[Bearbeiten]
Eine Erklärung der Bahá’í
Im September 1986 rief der World Wide Fund for Nature (WWF) sein Netzwerk »Umweltschutz und Religion« ins Leben. So wurden religiöse Führer der Buddhisten, Christen, Hindus, Juden und Moslems mit hochrangigen Umweltschutzexperten in Assisi (Italien) an einen Tisch gesetzt.Jede der fünf dort vertretenen Religionen veröffentlichte eine Erklärung über ihr Verhältnis zur Natur. Im Oktober 1987 traten die Bahá’í als sechste Weltreligion diesem Zusammenschluß bei und legten folgendes Papier zur Unterstützung der Ziele des Netzwerks vor.
»Die Natur ist in ihrem Wesen die Verkörperung Meines Namens, der
Gestalter, der Schöpfer. Ihre Offenbarungen sind verschiedenartig durch
verschiedene Ursachen und in dieser Verschiedenartigkeit sind Zeichen
für urteilsfähige Menschen. Die Natur ist Gottes Wille, dessen Ausdruck
in der bedingten Welt und durch diese. Sie ist Teil des Waltens der
Vorsehung, verordnet von dem Verordner, dem Allweisen.«1)
Mit diesen Worten umreißt Bahá’u’lláh, der Stifter der Bahá’í-Religion, die grundlegende Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt: Die Erhabenheit und Vielfalt der Natur sind gewollter Ausdruck der Majestät und Gnadengaben Gottes. Für die Bahá’í folgt daraus die bindende Erkenntnis, daß die Natur als gottgegebenes Unterpfand geachtet und geschützt werden muß.
Diese Ansicht vertritt die Bahá’í-Religion nicht allein. Alle Weltreligionen stellen diese grundlegende Verknüpfung zwischen Schöpfer und Schöpfung her. Wie könnte es auch anders sein? Alle großen unabhängigen Religionen gründen sich auf die Offenbarungen einer göttlichen Einheit — eines Gottes, der Seine Boten nacheinander auf die Erde gesandt hat, damit die Menschheit über Seinen Weg und Willen unterrichtet werde. Das ist der Kern der Bahá’í-Glaubenssätze.
Als jüngste der Offenbarungen Gottes nehmen die Bahá’í-Lehren jedoch besonderen Bezug auf die heutige Situation, da die gesamte Natur vom Menschen bedroht wird. Diese Gefahren reichen von der großangelegten Zerstörung der Regenwälder auf diesem Planeten bis zum tödlichen Alptraum atomarer Vernichtung.
Vor einem Jahrhundert verkündete Bahá’u’lláh den Eintritt der
Menschheit in ein neues Zeitalter. Diese neue Epoche, die von allen
Gottesboten der Vergangenheit verheissen wurde, wird der Menschheit
letztendlich Frieden und Erleuchtung bringen. Doch bevor dieses Stadium
erreicht sein wird, müssen die Menschen zunächst ihre grundlegende
Einheit erkennen - ebenso wie die Einheit Gottes und der Religionen. So
werden sich die Probleme der
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Menschheit nur vergrößern, ehe nicht diese Gemeinsamkeit und gegenseitige
Abhängigkeit begriffen werden.
»Die Wohlfahrt der Menschheit, ihr Friede und ihre Sicherheit sind unerreichbar, wenn und ehe nicht ihre Einheit fest begründet ist«, schreibt Bahá’u’lláh. »Die Erde ist nur ein Land, und alle Menschen sind seine Bürger.«2)
Das ist der Angelpunkt all der wichtigen Anliegen, mit denen sich die Umweltschutzbewegung heutzutage auseinandersetzt. Die Problemfelder Meeresverschmutzung, Aussterben von Tierarten, saurer Regen, Abholzen der Wälder, ganz zu schweigen von der Pest des Atomkrieges, machen vor keiner Grenze Halt. All diese Probleme bedürfen eines nationenübergreifenden Ansatzes.
Während alle religiösen Überlieferungen auf die Notwendigkeit harmonischer Zusammenarbeit zur Beseitigung dieser Bedrohungen verweisen, enthalten die Offenbarungsschriften der Bahá’í-Religion auch einen genauen Bauplan der politischen Weltordnung, die langfristige Lösungen dieser Probleme möglich macht.
»Was der Herr als höchstes Mittel und mächtigstes Werkzeug für die Heilung der ganzen Welt verordnet hat, ist die Vereinigung aller ihrer Völker in einer allumfassenden Sache...«, schreibt Bahá’u’lláh.3)
Diese politische Neuordnung muß nach Ansicht der Bahá’í-Lehren auf den Gedanken eines Weltstaatenbundes aufgebaut werden. Sie sieht ein internationales Parlament und eine Weltexekutive vor, um die entsprechenden Verordnungen auszuführen. Dieser Weltstaatenbund wäre gegründet auf die Prinzipien wirtschaftlicher Gerechtigkeit, der Gleichberechtigung aller Rassen, gleicher Rechte für Mann und Frau und der Bildung für alle.
All diese Punkte haben direkt mit den Unternehmungen zum Schutz der Natur in der ganzen Welt zu tun. Die Forderung nach wirtschaftlicher Gerechtigkeit soll als Beispiel dienen. In vielen Gegenden der Erde kommt es zur Vernichtung der Regenwälder und bedrohter Tierarten, weil die Armen in der berechtigten Forderung nach einem Anteil am Wohlstand den Wald roden, um Äcker zu gewinnen. Dabei ist ihnen nicht bewußt, daß sie als Mitglieder einer ihnen wenig bekannten Weltgesellschaft langfristig die Chancen ihrer Kinder für ein besseres Leben unwiederbringlich zerstören, statt sie zu fördern. Jeder Versuch zum Schutz der Natur muß sich daher auch mit der grundlegenden Ungleichheit zwischen Arm und Reich in der Welt befassen.
Ebenso kann der Fortschritt, die Frau auf die gleiche Rechtsgrundlage
wie den Mann zu stellen, der Sache des Umweltschutzes dienen. Denn
der Entscheidungsprozeß um die Nutzung von Bodenschätzen kann so
von dem neuen Geist weiblicher Werte beseelt werden. In den Schriften
der Bahá’í-Religion ist folgendes verzeichnet: »...der Mann herrschte
aufgrund seiner stärkeren und mehr zum Angriff neigenden körperlichen
und verstandesmäßigen Eigenschaften über die Frau. Aber schon neigt
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sich die Waage, Gewalt verliert ihr Gewicht, und geistige Regsamkeit,
Intuition und die geistigen Eigenschaften der Liebe und des Dienens,
in welchen die Frau stark ist, gewinnen an Einfluß. Folglich wird das
neue Zeitalter weniger männlich und mehr von den weiblichen Leitbildern
durchdrungen sein...«4)
Erziehung, insbesondere eine Erziehung, die Bahá’í-Prinzipien der gegenseitigen Abhängigkeit unter den Menschen betont, ist eine weitere Voraussetzung für die Entwicklung weltweiten Umweltschutzbewußtseins. Die Glaubenslehren der Einheit und wechselseitigen Abhängigkeit beziehen sich besonders auf Umweltfragen. Um wiederum die heiligen Schriften der Bahá’í-Religion zu zitieren: »Unter Natur sind die besonderen Eigenheiten und die zwangsläufigen Beziehungen zu verstehen, die aus den Wirklichkeiten der Dinge herrühren. Diese Wirklichkeiten der Dinge sind eng miteinander verknüpft, obwohl sie höchst mannigfaltig sind... Vergleiche die Welt des Daseins mit dem menschlichen Körper. Alle Organe unterstützen einander, daher bleibt er am Leben...Ebenso besteht eine wundervolle Verbindung und ein Austausch der Kräfte bei allen Formen des Daseins. Das ist die Ursache des Lebens auf der Welt und der Fortbestand all dieser unzähligen Erscheinungsformen.«
Allein die Tatsache, daß diese Prinzipien mit der Macht der Religion bekleidet sind und nicht von Menschen ersonnen wurden, ist ein weiterer Schritt zur Lösung unserer Umweltprobleme. Die Triebkraft hinter den Erklärungen von Assisi beweist diese Ansicht.
Es gibt wahrscheinlich keine stärkere Triebfeder für sozialen Wandel als Religion. Bahá’u’lláh sagt: »Religion ist wahrlich das vortrefflichste Mittel zur Errichtung der Ordnung in der Welt und für die Ruhe ihrer Völker.«5) Bei der Entwicklung einer neuen ökologischen Ethik können die Lehren aller religiösen Überlieferungen eine Rolle spielen, indem sie ihre Anhänger beflügeln.
Bahá’u’lláh betont beispielsweise die Notwendigkeit des Tierschutzes. »Schaue auf Gottes Geschöpfe nur mit dem Auge der Güte und des Mitleids, denn Unsere liebende Vorsehung durchdringt alles Erschaffene und Unsere Gnade umfaßt die Erde und die Himmel.«
Er selbst liebte und schätzte die Natur sehr, zudem förderte er in den Bahá’í-Lehren die Beziehung zwischen der äußeren und der geistigen Welt. So sagte Bahá’u’lláh: »Das Land ist die Welt der Seele, die Stadt die Welt des Körpers.«6)
Dieser Gegensatz zwischen Geistigkeit und Materialismus ist ein
Schlüssel zum Verständnis der heutigen menschlichen Nöte. Nach Ansicht
der Bahá’í sind die größten Bedrohungen der Umwelt, wie atomare
Vernichtung, Ausdruck der weltweit verbreiteten Krankheit des menschlichen
Geistes, einer Krankheit, die durch Überbewertung materieller
Güter und Ichbezogenheit gekennzeichnet ist. Sie lähmt unsere Fähigkeit
als Weltgemeinschaft zusammenzuarbeiten. Die Bahá’í-Religion
versucht vor allem, den Geist der
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Menschen wiederzubeleben und die Schranken niederzureißen, die hinderlich
sind für eine fruchtbare und harmonische Zusammenarbeit zwischen Männern
und Frauen, ungeachtet ihrer Staatszugehörigkeit, Rasse oder Religion.
Der Daseinszweck der Bahá’í besteht darin, eine fortschreitende Kultur voranzutragen. Diese Kultur kann nur auf einer selbstgenügsamen Erde errichtet werden. Die Verpflichtung der Bahá’í gegenüber der Umwelt ist ein Grundpfeiler unseres Glaubens.
- 1) Bahá’u’lláh, Botschaften aus ’Akká, 9:14
- 2) Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs, 131 und 118
- 3) Bahá’u’lláh, Sendschreiben an Queen Victoria
- 4) ’Abdu’l-Bahá in: Bahá’u’lláh und das neue Zeitalter, Seite 173
- 5) Bahá’u’lláh, Botschaften aus ‘Akká, 6:19
- 6) Bahá’u’lláh und das neue Zeitalter, Seite 51
Wege zur Erkenntnis[Bearbeiten]
Gefahren des Expertentums
- John Lester
In den Medien werden ständig »Experten« zitiert, aber den Aussagen dieser »Experten« soll man nicht immer Glauben schenken. John Lester untersucht, wie die Experten manchmal den menschlichen Fortschritt aufhalten.
- Zuerst veröffentlicht in Herald of the South, Oktober 1988, S. 19/20 unter dem Titel “Roadblocks on the Path of Knowledge”. Die Übersetzung aus dem Englischen besorgte Petra Zapp.
Experten! Es hat sie in jedem Zeitalter gegeben; unseres bildet da keine
Ausnahme. In allen Bereichen, in denen der Mensch nach Weiterentwicklung
strebt, gibt es Leute, die aufgrund ihrer Fachkenntnis und ihres Wissens
unser Vertrauen auf sich ziehen oder es manchmal sogar einfordern. Meistens
verdienen sie es, aber trotzdem ist Skepsis geboten. Experten sind
wichtig, aber ihr Nutzen für die Gesellschaft wird beeinträchtigt, wenn
sie vom Gefühl ihrer eigenen Wichtigkeit überwältigt sind. Welche Arbeit
wir auch verrichten, sie geschieht, weil sie für die Gemeinschaft notwendig
ist und wir alle Diener unserer Mitmenschen sind, unabhängig davon, wie
erhaben oder niedrig unser Wirkungskreis auch in ihren Augen sein mag.
Einfach ausgedrückt, die Kompromißlosigkeit der Experten hat in der Vergangenheit oft den Wissensfortschritt des Menschen verzögert. Ein besonders bekannter Fall ist der des Galilei im frühen 17. Jahrhundert. Seit fast zweitausend Jahren hatten die Wissenschaftler die Theorie des Ptolemäus akzeptiert, daß die Erde der Mittelpunkt des Universums sei und daß sich die Sonne um die Erde dreht. Die Kirche hatte sich dieser Doktrin nur zu gern verschrieben, um die Wichtigkeit des Menschen in der göttlichen Schöpfung zu belegen, aber im späten 15. Jahrhundert stellte Kopernikus diese These auf den Kopf. Galilei trug seine eigenen Entdeckungen auf der Grundlage von Experimenten mit seinem berühmten Teleskop dazu bei. Dies erregte die Aufmerksamkeit der Heiligen Inquisition als Vertreter des Klerus und als selbsternannte Bewahrer des Wissens. Unter der Folter widerrief Galilei, was allerdings nichts an der Tatsache änderte, daß seine Theorien richtig waren und seine Verfolger sich irrten.
Generationen hindurch beklagen die Wissenschaftler Galileis Verfolgung als Hauptbeispiel für religiösen Aberglauben, für die Ablehnung neu entdeckter Wahrheiten. Als sie aber anfangs dieses Jahrhunderts mit neuen Konzepten konfrontiert wurden, verhielten sie sich auch nicht besser.
Zu einer Herausforderung kam es zum Beispiel, als Alfred Wegener, ein
Meteorologe mit Interesse für die Geologie, seine Theorie der
Kontinentalverschiebung vortrug und von den Experten ausgelacht wurde.
In seinem Buch Continents in Collision, 1983 von Time-Life
herausgegeben, kommentiert Russel Miller: »Einige
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Mitglieder sprachen offen ihre Empörung darüber aus, daß solch ein
lächerlicher Gedanke in ihrer Gegenwart an die Öffentlichkeit gebracht
wurde.« Ein Geologe behauptete, niemand, der »Wert lege auf seinen Ruf
als ernstzunehmender Wissenschaftler«, würde es wagen, eine derart aus
dem Rahmen fallende Theorie, wie die Kontinentalverschiebung, zu vertreten,
während ein anderer sagte, »wenn wir Wegeners Hypothese
Glauben schenkten, müßten wir alles vergessen, was wir in den letzten
siebzig Jahren gelernt haben, und von neuem beginnen.«
Miller faßt zusammen: »Er war weder Geologe, Paleontologe noch Biologe, trotzdem drang er mit seiner Hypothese in diese Bereiche ein und räumte dort mit althergebrachten, liebgewordenen Vorstellungen auf«.
Vor zwanzig Jahren schließlich gewann die Theorie von der Kontinentalverschiebung allgemeine Anerkennung. Wegener, 1930 verstorben, wurde in der wissenschaftlichen Wertschätzung vom verschrobenen Kauz zum Genie erhoben. Antony Hallam, ein zeitgenössischer Geologe, bemerkt im Buch von Miller: »Das Problem muß darin bestanden haben, daß er kein eingetragenes Mitglied des Geologenverbandes war.« Heute erkennen wir natürlich einen großen Vorteil darin, daß Wegener als Student nicht der Gehirnwäsche konventionellen geologischen Wissens unterlag. Er war in der besseren Position, weil er an der Aufrechterhaltung des herkömmlichen Standpunktes nicht beteiligt war. Er war kein Amateur, sondern ein interdisziplinärer Forscher mit Talent und Vorstellungskraft, der sicher einen Platz im Ruhmestempel großer Wissenschaftler verdient hat.
Die wahrscheinlichen Gründe für den damaligen Widerstand sind heute klar: Wir sind, wie es scheint, viel eher bereit, die mögliche Kritik der Nachwelt zu akzeptieren als den wahrscheinlichen Spott der Zeitgenossen, wie irregeleitet sie auch sein mögen. Verwurzelt in unseren Traditionen, tun wir uns schwer, neue Ideen aufzunehmen, die gegen das derzeitige Wissen verstoßen und die Notwendigkeit eines Umdenkens anzeigen. Trotzdem treten solche Konzepte in jedem Zeitalter auf, und in
- „die Kompromißlosigkeit der Experten hat in der Vergangenheit oft den Wissensfortschritt des Menschen verzögert...
später Einsicht, einer allgemeinmenschlichen Gabe, erkennen wir die
neuen Ideen als gültig an.
Derartiges Verhalten ist nicht auf die materielle Welt der Wissenschaft
beschränkt. Christus wurde gekreuzigt, weil er nicht in die Auslegung
der messianischen Prophezeiungen durch die Gelehrten paßte. Heute
verdammen wir ihren Mangel an Einsicht; wir sind sicher, daß wir, wenn
wir damals in Palästina gelebt hätten, diesen Fehler nicht gemacht hätten.
Christus selbst sprach unheilverkündende Warnungen über eine solche
Einstellung aus: »Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler,
die ihr den Propheten Grabmäler baut und schmücket der Gerechten
Gräber und sprecht: Wären wir zu unserer Väter Zeiten gewesen, so wären
wir nicht mit ihnen schuldig geworden an der Propheten Blut! So
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gebt ihr über euch selbst Zeugnis, daß ihr Kinder seid derer, die die
Propheten getötet haben« (Matthäus 23:29-31). So steht es schon in der Bibel
geschrieben, daß nachfolgende Generationen Böcke schießen, wenn es darum
geht, religiöse Wahrheiten zu erkennen.
In der Wissenschaft wie in der Religion sind wir somit davor gewarnt, uns zu sehr auf unsere traditionellen Anschauungen zu verlassen. Die Fragen, zu denen uns diese späte Einsicht führt, lauten: Wie gültig sind unsere
- Verwurzelt in unseren Traditionen, tun wir uns schwer, neue Ideen aufzunehmen, die gegen das derzeitige Wissen verstoßen und die Notwendigkeit eines Umdenkens anzeigen.
heutigen Einstellungen? Folgen auch wir den Fußspuren unserer Väter und
verfolgen einen anderen Galilei, belächeln einen zweiten Wegener, kreuzigen
einen neuen Messias? Wenn unser Zeitalter nicht außergewöhnlich
erleuchtet ist - was eine höchst zweifelhafte Hypothese wäre -, ist die
plausible Antwort »Ja«.
Sind wir in der Lage, mögliche Anwärter zu erkennen? Rufen wir uns ins Gedächtnis zurück, daß die, welche zunächst am stärksten angegriffen wurden (und heute am meisten verehrt werden), diejenigen waren, deren Einsichten die Denkweisen in ihren Fachgebieten völlig umkehrten und die bestehenden Autoritäten herausforderten. Wir halten deshalb nicht Ausschau nach geringfügigen Abweichungen, sondern nach der radikalen Abkehr von liebgewordenen Überzeugungen und Bräuchen. Sind unsere Mediziner im Recht, wenn sie alternative Heilverfahren ablehnen, oder verdunkelt die berufsmäßige Eifersucht ihr Urteilsvermögen?
Die Nachwelt wird es erfahren. Sie wird auch in der Lage sein, unsere Annahme neuer religiöser Strömungen, die oft als Kulte, Sekten oder sogar als Teufelswerk (wiederholte Bemerkungen über Christus in Lukas 11:15) abgestempelt wurden, zu beurteilen, so wie es auch geschah bei der Annahme des Christentums durch frühe römische Schriftsteller, z.B. Plinius, den Jüngeren. Im Iran wird der Anspruch der Bahá’í-Religion, die Erfüllung des Islams zu sein, mit Verfolgung seitens derjenigen geahndet, die prahlerisch die frühen moslemischen Märtyrer verehren. Die Vorstellung, daß der Religionsstifter Bahá’u’lláh das Versprechen der Wiederkunft Christi erfüllt, suchen viele Christen sofort durch traditionelle Auslegungen der Schriften zu widerlegen - genau das gleiche Verhalten wie bei den Pharisäern vor zweitausend Jahren.
Dies beweist natürlich nichts über die Bahá’í-Religion, außer daß man ihre Ansprüche wahrscheinlich nicht angemessen bewertet, wenn man die gleichen Auffassungen wiederholt, die in der Vergangenheit bereits als falsch erkannt wurden.
Wie sollen wir also vorgehen, wenn wir mit Denkweisen konfrontiert werden,
die unser derzeitiges Verständnis grundlegend verändern? Erinnern wir uns
an den Witz von Jimmy Durante: »Sie sagten, Galilei sei verrückt; sie sagten,
Einstein sei verrückt; sie sagten, Louie sei verrückt... Wer ist Louie?
Louie ist mein Onkel. Er ist verrückt.« - Wie unterscheiden wir unsere
Galileis von
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unseren Louies, unsere Propheten von unseren Scharlatanen?
Es ist klar, daß wir bereit sein müssen, die Glaubensvorstellungen und Ausgangspunkte, nach denen wir unser Urteil fällen, immer wieder
- In der Wissenschaft wie in der Religion sind wir somit davor gewarnt, uns zu sehr auf unsere traditionellen Anschauungen zu verlassen.
neu zu prüfen. Sind sie vernünftig, so halten sie dieser Behandlung stand
und werden sogar noch bekräftigt; sind sie es nicht, dann müssen wir sie
ändern. Gerechtigkeit ist nur dann gewährleistet, wenn wir mit eigenen
Augen sehen und nicht durch die Augen anderer, auf unserem eigenen
Fachgebiet wie auch im sehr persönlichen Bereich religiösen Glaubens,
wo der Einfluß der Familie und der Gleichgesinnten kein entscheidender
Faktor sein darf, falls er überhaupt als Faktor in Betracht kommt.
Schließlich müssen wir aufgeschlossen sein, weniger übereilt und automatisch in unseren Urteilen. Am wichtigsten ist es, uns in der unschätzbaren Gabe der Bescheidenheit zu üben, um die Fehler derjenigen zu vermeiden, die sich stärker um Ruf und Stellung kümmern als um die Suche nach Wahrheit. Dann erreichen wir vielleicht ein Zeitalter, in dem die Experten ihren Namen wirklich verdienen.
- Der wahre Sucher
- Er muß sein Herz so
- läutern,daß kein Rest
- von Liebe oder Haß
- darin zurückbleibt,
- damit weder Liebe ihn
- blind zum Irrtum leite
- noch Haß ihn von der
- Wahrheit scheuche.
- - Bahá’u’lláh -
Das fiktive Interview[Bearbeiten]
mit Emanuel Swedenborg
Emanuel Swedenborg wurde 1688 in Stockholm geboren, beschäftigte sich bis zu seinem 56. Lebensjahr intensiv mit verschiedensten Wissenschaften, darunter Mathematik, Chemie, Physik, Astronomie, Geologie; Biologie, Physiologie, Psychologie, in welchen er zum Teil Erkenntnisse des 19. und 20.Jahrhunderts vorwegnahm. Er sprach die europäischen und antiken sowie mehrere orientalische Sprachen. Im Jahre 1745 wurde er durch eine Vision vom Herrn zum Seher berufen und mit der Aufgabe betraut, den Menschen den geistigen Inhalt der Heiligen Schrift auszulegen. Nach diesem Erlebnis gab er seine wissenschaftliche Tätigkeit völlig auf. Er selbst sagt in diesem Zusammenhang:
»Ich kann heilig beteuern, daß mir der Herr selbst erschienen ist und daß Er mich gesandt hat zu tun, was ich tue. Daher hat es dem Herrn gefallen, mir das Gesicht meines Geistes zu öffnen und mich zu lehren. Ich entsagte aller weltlichen Gelehrsamkeit und Ruhmsucht und arbeitete in geistigen Dingen, wie mir der Herr befahl zu schreiben. Diese Dinge sind: die Öffnung der geistigen Welt und die Erklärung des inneren Sinnes der Bibel.«
Shoghi Effendi beschreibt Swedenborg als einen geistig erleuchteten Menschen, dessen Lehren ihre Schatten auf die Offenbarungen des Báb und Bahá’u’lláhs vorauswerfen.1)
- Das fiktive Interview mit E. Swedenborg wurde verfaßt und für diese Ausgabe gekürzt von Bijan Sobhani.
I: Wir freuen uns , daß Sie bereit sind, uns einige Fragen zum Inhalt Ihrer Lehre, die heutzutage kaum jemandem bekannt ist, zu beantworten. Ich möchte Sie bitten, uns zu Beginn mit dem Gedanken vertraut zu machen, den Sie für besonders wichtig halten.
S: Die himmlische, die geistige und die natürliche Welt entsprechen einander. Ohne die Wissenschaft der Entsprechungen, den goldenen Schlüssel, der die Pforte zu den geistigen Dingen öffnet, kann man weder die Erscheinungen in der geistigen Welt, noch den Zustand der Seelen nach dem Tode, noch die Heilige Schrift verstehen. Es gibt nichts im erschaffenen Weltall, das nicht im Entsprechungsverhältnis mit irgend etwas im Menschen steht, nicht nur mit seinen Gefühlen und Gedanken, sondern auch mit den Organen und Eingeweiden seines Körpers. Die geistige Welt ist der natürlichen ganz ähnlich.
I: Das hört sich äußerst interessant an. Bitte geben Sie einige Beispiele
[Seite 26]
für derartige Entsprechungen.
S: Die beseelten Wesen, die Tiere auf Erden, entsprechen im allgemeinen den Neigungen. Die Bäume je nach ihren Arten entsprechen den Wahrnehmungen und Erkenntnissen des Guten und Wahren, aus welchen Einsicht und Weisheit kommt. Das Wort2) ist in lauter Entsprechungen geschrieben, und von daher ist auch sein innerer und geistiger Sinn; und ohne die Kenntnis der Entsprechungen kann man weder wissen, daß er existiert, noch wie das Wort beschaffen ist.
I: Die Sonne spielt in Ihrer Lehre von den Entsprechungen offenbar eine zentrale Rolle. Ich fand sie in Ihren Büchern als Symbol für den Urquell allen Seins. Würden Sie uns diesen Symbolismus etwas näher erläutern?
S: Die Sonne der geistigen Welt ist reine, lautere Liebe, ausgehend von Gott, der in ihrer Mitte ist. Aus dieser Sonne gehen hervor Wärme und Licht; sie sind ihrem Grundwesen nach Liebe und Weisheit. Beide fliessen in den Menschen ein: die Wärme in sein Wollen, hervorbringend das Gute der Liebe, das Licht in sein Denken, hervorbringend das Wahre der
- Die himmlische, die geistige und die natürliche Welt entsprechen einander.
Weisheit. Sie selbst, jene Sonne, ist nicht Gott, sondern sie ist von Gott,
die nächste, erste Sphäre von Ihm um Ihn. Mittels dieser Sonne hat Er das
Weltall geschaffen, nämlich alle Weltkörper, unsere Erde und alle Gestirne,
die am Firmamente prangen. Es ist demnach richtig, daß die natürliche
Sonne ihr Dasein aus der geistigen Sonne hat.
I: Aus dem, was Sie zuletzt erwähnen, entnehme ich, daß nicht Gott selbst das Weltall erschuf, sondern daß er die schöpferische Kraft einem Mittler übertragen hat. Doch worin liegt der Sinn der Schöpfung? Wozu wurde die Welt erschaffen?
- Eine ewige Verbindung des Schöpfers mit dem erschaffenen Weltall ist der universelle Endzweck aller Teile der Schöpfung.
S: Gott hat das Weltall zu keinem anderen Zwecke erschaffen, als daß
ein Menschengeschlecht und aus diesem ein Himmel entstehe. Denn das
Menschengeschlecht ist die Pflanzschule des Himmels. Und alles Erschaffene
ist am Ende um des Menschen willen da. Eine ewige Verbindung des Schöpfers mit
dem erschaffenen Weltall ist der universelle Endzweck aller Teile der Schöpfung.
I: Wenn ich Sie richtig verstehe, bedeutet das, daß alle Wesen im Jenseits früher als Mensch auf Erden gelebt haben müssen?
S: Es gibt keinen Engel oder Geist, und kann keinen geben, der nicht als
Mensch auf der Welt geboren wäre. Der Mensch wiederum ist geschaffen,
daß er sich selbst und die Welt liebe, daß er den Nächsten und den Himmel
liebe und daß er den Herrn liebe. Die Folge hiervon ist, daß der
Mensch, wenn er auf die Welt kommt, erst sich selbst und die Welt liebt;
dann nach dem Maße zunehmender Weisheit, den Nächsten und den
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Himmel, und dann, wenn seine Weisheit noch höher steigt, den Herrn.
I: Sie beschreiben das Neugeborene als ein Wesen, das allein seinen natürlichen Trieben folgt. Wie aber erlangt der Mensch die Fähigkeit, die Sie als Weisheit bezeichnen, und durch die der Mensch letztlich veranlaßt wird zu lieben?
S: Richtig! Der Mensch liebt von Geburt her bloß sich und die Welt. Doch dieser Trieb könnte nicht von seiner Unreinlichkeit gesäubert werden, wenn der Mensch nicht das Vermögen hätte, seinen Verstand in das Licht des Himmels zu erheben, und zu sehen, wie er leben muß, auf daß sein Trieb zugleich mit seinem Verstand in die Weisheit erhoben werden könne. Jeder Mensch wird in die Fähigkeit geboren, die Wahrheit einzusehen.
I: Demnach sehen Sie eine enge Verbindung zwischen Liebe und Verstand. Viele Menschen halten Liebe und Verstand für einander widersprechende Prinzipien. Würden Sie diese besondere Beziehung bitte näher erklären?
S: Gerne! Am besten, ich erkläre zuvor jeden dieser beiden Begriffe getrennt.
- Jeder Mensch wird in die Fähigkeit geboren, die Wahrheit einzusehen.
So wird es leichter sein, die Abhängigkeit zwischen beiden zu verstehen.
Die Liebe ist eine geistige Verbindung. Das Wesen der Liebe besteht darin, andere außer sich zu lieben, eins mit ihnen zu sein und sie aus sich zu beglücken. Die Liebe geht von der geistigen Sonne als geistige Wärme aus und fließt vermöge der Entsprechung in das Herz. Dazu ein anschauliches Beispiel: Die Wärme steigt von der Erde nach oben. So empfinden auch wir unsere Lebenswärme als unsere eigene, die nach oben strebt. Aber wie die irdische Wärme ihren Ursprung aus der Sonne hat und ständig wieder hinaufstrebt, um
- Alles Freie gehört der Liebe an, denn was der Mensch liebt, das tut er mit Freiheit.
sich von dort zu erneuern, so stammt auch unsere Liebeswärme vom Herrn und will zurück zu ihrer Quelle, sich neue Kraft holen.3)
I: Entschuldigen Sie, daß ich unterbreche. Mir scheint ein Aspekt der Liebe außerordentlich wichtig, und zwar denke ich dabei an die Freiheit. Wie lassen sich Ihrer Meinung nach Liebe und Freiheit vereinbaren?
S: Alles Freie gehört der Liebe an, denn was der Mensch liebt, das tut er mit Freiheit; daher ist auch alles Freie Sache des Willens, denn was der Mensch liebt, das will er auch. Aus dem Freien heraus Böses zu tun, erscheint als Freiheit, ist aber Sklaverei, weil dieses Freie aus der Liebe zu sich und aus der Liebe zur Welt stammt.
I: Ein wirklich interessanter Gesichtspunkt! Man könnte jetzt, sofern man Ihre Lehren nicht näher kennt, meinen, daß Sie die Liebe zu sich selbst und zur Welt verurteilen. Darum scheint es mir angebracht, Sie um eine Einordnung und Bewertung dieser Arten von Liebe zu bitten.
S: Auch die Selbstliebe und die Weltliebe sind von Gott geschaffen,
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da sie die Grundtriebe des natürlichen Menschen sind, welche den geistigen
Trieben dienen, wie die Fundamente den Häusern. Der Mensch will
vermöge der Selbst- und Weltliebe seinem Körper wohl, er will ernährt,
bekleidet werden, eine Wohnung haben, für sein Haus sorgen, sich um
Ämter bewerben des Nutzens wegen, ja geehrt werden je nach der Würde
des Amtes, das er verwaltet, um des Gehorsams willen. Er will auch an
den Freuden der Welt sich ergötzen und erholen. Doch dies alles um des
Endzweckes willen, der Brauchbarkeit sein soll, denn durch diese
Dinge erhält er sich imstande, dem Herrn zu dienen und dem Nächsten
zu dienen. Ist hingegen keine Liebe da, dem Herrn zu dienen und dem
Nächsten zu dienen, sondern nur die Liebe, sich und der Welt zu dienen,
dann wird jene Liebe aus einer himmlischen zu einer höllischen. Diese
bewirkt, daß der Mensch seinen Geist und sein Gemüt in sein Eigenes
versenkt, das wenn es nicht die Richtung zum Herrn hat, durchaus böse ist.
Viele glauben, das geistige Leben oder das Leben, das zum Himmel
führt, bestehe in der Frömmigkeit, in äußerer Heiligkeit und in der
Weltentsagung. Allein Frömmigkeit ohne Liebtätigkeit und äußere Heiligkeit
ohne innere Heiligkeit und Weltentsagung ohne ein Leben in der Welt
machen nicht das geistige Leben aus, sondern Frömmigkeit aus Nächstenliebe,
äußere Heiligkeit aus innerer Heiligkeit und Weltentsagung mit
dem Leben in der Welt. Kurzgesagt: Der Mensch kann nicht anders zum
Himmel gebildet werden, als durch die Welt.
I: Lassen Sie uns nun zurückkommen zur Beziehung zwischen Liebe und Vernunft. Bis jetzt erläuterten Sie die Liebe. Wozu aber dient Ihrer Meinung nach dem Menschen seine Vernunft?
S: Das geistige Licht des Menschen besteht im Licht seines Verstandes, und dessen Objekte sind Wahrheiten, die er in diesem Licht zergliedert und ordnet, in das Verhältnis von Grund und Folge zueinander setzt und aus denen er der Reihe nach Schlüsse zieht. Für den Verstand ist Erleuchtung das Licht aus dem Himmel, so wie für das Gesicht das Licht aus der Welt.
I: Es ist eine sehr schöne Definition. An dieser Stelle, wie auch an manch anderer, sieht man besonders deutlich, daß Sie ein begeisterter Wissenschaftler waren. Wozu aber benötigt der religiöse Mensch seinen Verstand?
S: Der Mensch muß ausgestattet werden mit Kenntnissen und Erkenntnissen, weil er durch sie lernt zu denken, und dann einzusehen, was wahr und gut ist, und endlich weise zu sein - das ist, diesem gemäß zu leben. Denn der Mensch ist Mensch,
- Der Mensch ist Mensch, weil sein Verstand über seinen Willen und dessen Neigungen erhoben werden kann.
weil sein Verstand über seinen Willen und dessen Neigungen erhoben werden kann,
weil sein Wille unter dem Gebote des Verstandes sein kann. Das Tier hingegen ist
Tier, weil sein Verstand unter dem Gebote seines Willens ist, weil seine Begierden
es antreiben, zu tun, was es tut.
I: Die Wissenschaft wurde von
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der Geistlichkeit zu Ihrer Zeit nicht sehr geschätzt. Wie ich weiß, weisen
Sie ihr jedoch einen festen Platz im menschlichen Leben zu.
S: Das ist ganz richtig! Aber von den Wahrheiten der Lehre, welche aus dem Worte sind, muß der Ausgangspunkt genommen, und diese müssen erst anerkannt werden; und dann ist es erlaubt, die Wissenschaften zu Rate zu ziehen, um jene zu begründen; und so erstarken sie. Etwas glauben ohne einen Begriff von der Sache und ohne Vernunftanschauung, heißt bloß ein alles Lebens der Wahrnehmung und Neigung
- Es ist erlaubt, mit der Vernunft in die Geheimnisse des Glaubens einzudringen.
beraubtes Wort gedächtnismäßig behalten, und das heißt nicht glauben. Es
ist erlaubt, mit der Vernunft in die Geheimnisse des Glaubens einzudringen.
Trotz der engen Beziehung zwischen Verstand und Wissenschaft sind
die Wissenschaft, die Einsicht und die Weisheit Kinder der Liebe zum Herrn
und der Liebe gegen den Nächsten.
I: Ihr letzter Satz bringt uns wieder zu unserem Ausgangspunkt, und ich bin jetzt sehr gespannt auf Ihre Darstellung, die uns zeigen soll, wie die Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen Liebe, Verstand und Wissen im einzelnen aussehen.
S: Der Mensch kann Vieles wissen, denken und verstehen. Was aber nicht mit seiner Liebe übereinstimmt, das wirft er von sich, wenn er sich selbst überlassen denkt; (Was der Mensch über alles liebt, das ist fortwährend gegenwärtig in seinem Denken, und auch in seinem Wollen und macht sein eigenstes Leben aus.) darum verwirft er es auch nach dem Leben des Körpers, wenn er im Geist ist; denn bloß das bleibt im Geiste des Menschen, was in seine Liebe eingedrungen ist; das Übrige wird nach dem Tode als Fremdes angesehen, das er, weil es nicht Sache seiner Liebe ist, zum Hause hinauswirft.
Wie ich schon sagte, wird jeder Mensch in die Fähigkeit geboren, die Wahrheit einzusehen. Wird aber die Liebe, welche dem Willen zu eigen ist, nicht zugleich erhoben, so fällt die Weisheit, welche dem Verstand eigen ist, wieder zurück zu ihrer Liebe, wie hoch der Mensch mit seinem Verstand auch gestiegen sein mag.
Der Verstand ist das Licht, aus dem die Liebe sieht, und ohne das Licht des Verstandes wären auch die Sinne des Körpers, Gesicht und Gehör wie alle übrigen blind und stumpf. Aber die Abhängigkeit gilt genauso auch umgekehrt. Erleuchtet wird der Verstand derjenigen, die das Wort lesen aus Liebe zum Wahren und aus Liebe zur nützlichen Anwendung im Leben, nicht aber bei denen, welche es aus Liebe zum Ruhme, zur Ehre und zum Gewinn lesen.
In der eben beschriebenen Wechselbeziehung spielt auch der Wille eine gewichtige
- Der Verstand ist das Licht, aus dem die Liebe sieht.
Rolle. Der Wille ist das eigentliche Haus, in dem der Mensch wohnt, der
Verstand ist der Vorhof, durch den er ein- und ausgeht. Es gibt keinen
vereinsamten Willen, und darum bringt dieser auch nichts hervor, noch
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gibt es einen vereinsamten Verstand, und dieser bringt auch nichts hervor,
sondern jede Hervorbringung, jede Handlung, geschieht von beiden zugleich.
I: So bedeutungsvoll auch die Fähigkeiten der Liebe und des Verstandes sein mögen; das Leben in dieser Welt erfordert vor allem anderen Taten. Wie stehen Sie dazu?
S: In den Taten oder Werken stellt sich der Mensch heraus. Sein Wollen und Denken, das heißt sein Inwendiges, haben ihre Vollständigkeit erst im Auswendigen, in Taten oder Werken. Allerdings werden unter Taten und Werken diese nicht verstanden, wie sie äußerlich, sondern wie sie
- Das Lieben, das Wollen ist die Seele der Tat.
innerlich sind, je nach der Absicht, aus der es hervorgeht. Das Lieben, das
Wollen ist die Seele der Tat.
I: Ihre Überzeugung ist unmißverständlich! Lassen Sie uns jetzt übergehen zu einigen zentralen Themen jeder Religion. Womit möchten Sie beginnen?
S: Das Erste und Wichtigste in jeder Religion ist die Anerkennung des Göttlichen. Eine Religion, die das Göttliche nicht anerkennt, ist keine Religion.
I: Das ist wohl selbstverständlich. Das Göttliche anzuerkennen ist die Grundlage; sollte aber auf die Erkenntnis nicht auch die Liebe zu Gott folgen? Ein Kenner Ihrer Lehren sagte: ”Der Sinn des Menschen ist, daß ein Wesen da sei, das von Gott geliebt wird, seine Aufgabe ist, Gott zu lieben.”
S: Völlig richtig! Aber der Mensch kann ohne Offenbarung aus dem Göttlichen nichts wissen von dem ewigen Leben, nicht einmal etwas von Gott, und noch weniger von der Liebe zu Ihm und dem Glauben an Ihn. Die zum neuen Leben oder zum geistigen Leben gehörenden Dinge sind die Wahrheiten, die man glauben, und das Gute, das man tun soll. Diese Dinge kann niemand aus sich wissen, er muß sie aus der Offenbarung lernen.
I: Hätte Gott den Menschen nicht besser so erschaffen sollen, daß er die Liebe zu seinem Schöpfer von Beginn seines Lebens an schon in sich trägt?
S: Sie können sicher sein; so wie es ist, ist es richtig. Zu Anfang sagte ich, daß der Mensch alles, was er aus Liebe tue, als frei empfinde. Diese Abhängigkeit gilt jedoch auch im umgekehrten Sinne: Liebe setzt Freiheit voraus. Die Menschen müssen Gottes Liebe und Weisheit in freier Entscheidung aufnehmen können. Sie müssen wie von selber sich zum Schöpfer erheben und sich mit Ihm verbinden können. Gott läßt den Menschen so empfinden, damit eine Verbindung erfolgen könne. Eine solche wäre nicht möglich, wenn sie nicht wechselseitig wäre, und
- Die Menschen müssen Gottes Liebe und Weisheit in freier Entscheidung aufnehmen können.
wechselseitig wird sie, sobald der Mensch aus der Freiheit ganz wie aus sich
selber tätig ist.
I: Sie nannten als unverzichtbare Voraussetzung für Erkenntnis und Liebe die Offenbarung des Göttlichen.
S: Genau! Darum gab es auch zu
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jeder Zeit eine Offenbarung. Was das Göttliche geoffenbart hat, ist bei uns
das Wort. Das Wort ist zu allen Zeiten auf der Erde gewesen, aber nicht das
Wort, das wir heute haben. Zu allen Zeiten ist das Wort gewesen, weil
durch das Wort Verbindung des Himmels mit der Erde besteht. Das
Wort heißt darum ein Bund. Obwohl das, was aus dem Göttlichen
ist, auf Erden der Fassungskraft der Menschen, die auf ihr sind,
angepaßt ist, enthält das Wort im innern Sinn Unzähliges, was die
menschliche Fassungskraft übersteigt. Der Herr lehrt den Menschen
die Wahrheiten also nicht unmittelbar, sondern mittelbar
durch das Wort (die Bibel) und durch Nachdenken darüber. Alsdann
wird der Mensch erleuchtet je nach seiner Neigung zum Wahren
und zum nützlichen Wirken. Dies folgt aus den Gesetzen
der Göttlichen Vorsehung, daß der Mensch freie Entscheidung haben und nicht
durch Wunder und durch Visionen genötigt werden soll,
etwas zu glauben oder zu tun. Denn was nicht mit freiem
Willen vom Menschen aufgenommen wird, das haftet nicht.
I: Lassen Sie uns jetzt über ein Thema sprechen, das heutzutage leider Anlaß für viele Streitigkeiten ist. Ich meine die Existenz verschiedener religiöser Lehren und Bekenntnisse. Sehen Sie zwischen ihnen einen Zusammenhang, und wie stehen Sie zu den Anhängern anderer Religionen?
S: Alle Wechselgänge der Kirchen (der Menschheitszeitalter, die durch die Art ihrer Verbindung mit Gott geprägt sind und mehrere Kulturkreise umfassen) sind einander abwechselnde Vollendungen, welche natürlich und temporär sind, dennoch aber periodisch wiederkehren. Wenn das Eine von seinem Ursprung
- Emanuel Swedenborg (1688-1772)
aus zu seinem Ende gelangt ist, entsteht ein ähnliches Anderes, und so
entsteht und vergeht Jegliches und entsteht abermals und dies zu dem
Ende, daß die Schöpfung sich fortsetze.
Oder, wie es ein Kenner meiner Lehre ausdrückte: »Die verschiedenartigen
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Religionen sind verschiedenartige Interpretationen der gleichen Wahrheit.«4)
I: Das ist ein Gedanke, der mir im Christentum in dieser klaren Form noch nie begegnet ist. Ich meine, er hat vor allem für die Toleranz gegenüber Andersgläubigen eine sehr große Bedeutung.
S: So ist es! Würde anerkannt, daß es die Liebe zum Herrn und zum Nächsten ist, wovon die Propheten reden, und daß dies das Wesentliche aller Lehre und Gottesverehrung sei, dann würden alle wie ein Mensch vom Herrn regiert, denn sie wären wie Glieder und Organe eines Leibes.
I: Leider hört man aber immer wieder von der »allein seligmachenden christlichen Kirche«, die sich nicht in der Lage sieht, die Wahrheit in anderen Religionen zu entdecken und demzufolge Nichtchristen von der Möglichkeit, ›errettet‹ zu werden, ausschließt. Sie sehen diesen Punkt
- Der Mensch ist so geschaffen, daß er zugleich in der geistigen Welt und in der natürlichen Welt ist.
offenbar anders.
S: Die, welche außerhalb der Kirche sind, und Einen Gott anerkennen, und ihrer Religionsart gemäß in einiger Liebtätigkeit gegen den Nächsten leben, sind in Gemeinschaft mit den Angehörigen der Kirche, weil niemand, der an Gott glaubt und rechtschaffen lebt, verdammt wird. Die Kirche des Herrn ist bei allen, welche auf dem ganzen Erdkreis im Guten leben je nach ihrer Religion. Wer weiß, was den Himmel beim Menschen ausmacht, kann auch erkennen, daß die Heiden ebenso gerettet werden können wie die Christen, und daß der Himmel ebensowohl aus Heiden als aus Christen gebildet wird.
I: Eine sehr vernünftige Vorstellung, die Sie hier vortragen. Lassen Sie uns jetzt noch zu einem weiteren wichtigen, ja vielleicht sogar zu dem wichtigsten Thema kommen, nämlich zum Wesen des Menschen. Was ist der Mensch nach Ihrem Verständnis?
S: Der Mensch ist nicht Mensch durch seine Gestalt, sondern durch das Gute und Wahre, welche seinem Willen und seinem Verstande angehören. Der Mensch ist Mensch, weil er Geist ist, nur ist der Geist des Menschen auf der Erde mit einem Leib umkleidet wegen seiner Tätigkeit in der Welt. Durch den Menschen wird die natürliche Welt mit der geistigen verbunden, er ist das Mittel der Verbindung, in ihm ist die natürliche Welt und gleichzeitig auch die geistige Welt.
I: Könnte man den Menschen also als Bewohner zweier Welten ansehen?
S: Richtig! Der Mensch ist so geschaffen, daß er zugleich in der geistigen Welt und in der natürlichen Welt ist. Der innere Mensch befindet sich immer in der geistigen Welt. Diese ist durchaus nicht entfernt von ihm. Jeder Mensch ist als Geistwesen in jener Welt. Er denkt aus dem Licht jener Welt. Der Geistige Mensch ist es, der im Worte der Lebendige heißt, der Natürliche Mensch hingegen, welcher der Tote heißt.
I: Bleiben wir bei dem für jeden Menschen unausweichlichen Ereignis,
das wir den Tod nennen. Was
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bedeutet der Tod für einen Menschen, so wie Sie ihn beschreiben?
S: Der Mensch stirbt nicht, sondern wird bloß vom Körperlichen getrennt, das ihm in der Welt zum Gebrauch gedient hatte. Der Mensch geht, wenn er stirbt, nur von der einen Welt in die andere über. Der Mensch ist so beschaffen, daß er seinem Innern nach nicht sterben kann, denn er kann an Gott glauben und auch Gott lieben, und so mit Gott verbunden werden durch Glauben und Liebe. Und mit Gott verbunden werden, heißt ewiges Leben.
I: Ist die Rede vom Menschen, so erwarten gewiß viele, daß auch über
- ...muß eine unendliche Entwicklung auch im Jenseits stattfinden.
seine Seele gesprochen wird. Was hat es mit der Seele des Menschen auf
sich?
S: Die Seele ist die Form des menschlichen Geistes. Sie ist unsterblich nach allem, was ihm angehört, und sie ist es auch, die im Körper denkt, denn sie ist geistig und nimmt das Geistige in sich auf. Nichts vom Leben, das im Körper erscheint, gehört dem Körper an. Der Körper ist materiell und das Materielle ist dem Geiste beigefügt, auf daß der Geist des Menschen dadurch in der natürlichen Welt sein Leben führen und Nutzen schaffen könne. Mehr kann ich über die Seele nicht sagen, denn was die Seele ist und wie sie beschaffen ist, hat sich noch keinem offenbart. Es ist ein Geheimnis Gottes allein.
I: Sie haben sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, daß der Mensch nach dem körperlichen Tod ein ewiges Leben vor sich hat. Doch wie sieht ein solches Leben in der geistigen Welt aus?
S: Wie ich schon zu Anfang erklärte, gibt es keinen Engel oder Geist, und kann keinen geben, der nicht als Mensch auf der Erde geboren wäre. Da der wiedergeborene Mensch in Ewigkeit fort weiter vervollkommnet wird, muß eine unendliche Entwicklung auch im Jenseits stattfinden. Der Geist des Menschen erscheint nach dem Tode des Leibes in der geistigen Welt in menschlicher Gestalt, ganz wie in der Welt. Er erfreut sich auch des Vermögens zu sehen, zu hören, zu sprechen, zu fühlen, wie in der Welt, und hat alles Vermögen zu denken, zu wollen und zu tun, wie in der Welt. Mit einem Wort, er ist Mensch nach allem und jedem, nur daß er nicht mit dem schwerfälligen Leib umgeben ist. Diesen läßt er zurück, wenn er stirbt, und nimmt ihn nie wieder an. Der eines Leibes entkleidete Mensch ist eines viel helleren Denkens mächtig. Solange er im Leib ist, nehmen leiblich-irdische Dinge seine Gedanken ein, die Dunkelheit des Geistes bedingen. Der Mensch geht, wenn er stirbt, vergleichsweise wie vom Schatten ins Licht. Der
- Der Mensch geht, wenn er stirbt, vergleichsweise wie vom Schatten ins Licht.
Mensch bleibt auch nach dem Tode so, wie sein Wille und der Verstand
aus diesem ist. Und was Sache des Verstandes und nicht zugleich des
Willens ist, das verschwindet alsdann, weil es nicht im Geiste des
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Menschen ist. Die Wissenschaften bringen nach dem Tode keinen Nutzen,
sondern das, was der Mensch durch die Wissenschaften in den Verstand und
in das Leben aufgenommen hat. Nicht Kenntnisse machen den Engel,
sondern nur das wirkliche Leben, zu dem die Kenntnisse helfen können.
I: Diese Antwort ist unmißverständlich. Nun habe ich noch ein sehr wichtiges Thema auf dem Herzen, ein Thema, das oftmals Anlaß zu langen Diskussionen gibt. Es handelt sich um die jenseitigen Orte ›Himmel‹ und ›Hölle‹. Würden Sie mit einigen Worten hierzu Stellung nehmen.
S: Gerne. Die Vorstellung
- Der Mensch bringt sich selbst in die Hölle, nicht der Herr.
gewöhnlicher Menschen von Himmel und Hölle ist die von etwas gleichsam
in dünner Luft oder im Äther Fliegendem und Fließendem oder auch die
von einem Hauch. Viele wußten gar nicht, was Himmel und himmlische
Freuden sind. Ihnen wurde gesagt, daß der Himmel vom Herrn niemandem
verwehrt werde, und daß sie hineingelassen werden und dort verweilen
können. Als sie aber auf der ersten Schwelle waren, wurden sie
beim Anwehen der himmlischen Wärme und dem Schein des himmlischen
Lichtes von solcher Herzenspein ergriffen, daß sie statt himmlischer
Freude höllische Pein empfanden.
I: Wenn es die Hölle wirklich gibt, wie kann dann Gott, der reine Liebe ist, Menschen in die Hölle werfen?
S: Der Herr will das Heil aller und keines einzigen Verdammnis. Aber es ist nicht ein unvermitteltes Erbarmen, das darin bestünde, daß alle nach Willkür selig gemacht würden, wie auch immer sie gelebt haben. Kurz: Der Mensch ist Urheber seines Bösen, nicht, in keiner Weise, der Herr. Das Böse bei dem Menschen ist die Hölle bei ihm. Der Mensch bringt sich selbst in die Hölle, nicht der Herr. Es ist zweifellos richtig, daß Gott niemals sein Antlitz vom Menschen abwendet oder ihn von sich stößt, daß er niemanden in die Hölle wirft und niemandem zürnt. Wer nur aus einer einigermaßen erleuchteten Vernunft heraus denkt, kann erkennen, daß kein Mensch für die Hölle geboren wird; denn der Herr ist die Liebe selbst, und seine Liebe besteht darin, alle erretten zu wollen.
Jedoch wer in der Welt das Böse will und liebt, der will und liebt es auch im anderen Leben und läßt sich dann nicht mehr davon abbringen. Daher ist der Mensch, der sich dem Bösen ergeben hat, an die Hölle gekettet. Was seinen Geist betrifft, so ist er auch tatsächlich schon dort, und nach dem Tode wünscht er sich nichts sehnlicher, als dorthin zu kommen, wo er sein Böses wiederfindet. Deshalb stürzt sich der Mensch nach dem Tode selbst in die Hölle und wird nicht vom Herrn dorthin verbannt. Keiner wurde für die Hölle geboren, sondern alle wurden für den Himmel geboren. Weil aber derjenige, der ein böses Leben geführt hatte, in seinem Verlangen bleibt, so kann er nicht lange bei den Engeln und guten Geistern verweilen.
I: Lieber Herr Swedenborg! Ihre hier vorgetragenen Einsichten und
Erkenntnisse, die Ihnen - wie Sie selbst betonten - vom Herrn geschenkt
wurden, zeigen immer wieder
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die enge Beziehung auf, die zwischen der natürlichen und der geistigen
Welt besteht. Sie sprachen von der Lehre der Entsprechungen, die
uns das Verständnis der geistigen Symbolik ermöglicht. Sie messen dieser
Lehre einen großen Wert bei. Wie aber läßt sich diese innige Beziehung
erklären? Wodurch ist sie begründet?
S: Man muß wissen, daß die natürliche Welt aus der geistigen Welt entsteht und besteht, ganz wie die Wirkung aus ihrer wirkenden Ursache.
I: Ich möchte diese klare Aussage, die wiederum zahlreiche interessante Fragen aufwirft, jetzt nicht weiter hinterfragen, habe aber abschließend noch eine ganz praktische Frage, mit der ich dieses für mich hochinteressante Interview, für das ich Ihnen ganz herzlich danke, beenden möchte: Wie können wir die geistigen Wahrheiten, die in den Heiligen Schriften enthalten sind, verstehen und begreifen?
S: Es gibt keinen anderen Rat, als daß der Mensch sich an den Herrn Gott Heiland wende und unter Seiner Leitung das Wort lese, denn Er ist der Gott des Wortes. Jeder, der nicht unter Seiner Leitung das Wort liest, der liest es unter der Leitung der eigenen Einsicht, und diese ist wie eine Nachteule für Dinge, die im geistigen Licht sind.
Anmerkung zum fiktiven Interview
Die von Swedenborg gegebenen Antworten stammen ausnahmslos aus seinen Schriften und sind wörtlich zitiert. Jedoch setzt sich eine Antwort oftmals aus mehreren Textpassagen verschiedener Bücher zusammen. Die in einer Antwort kursiv gedruckten Wörter oder Sätze wurden, soweit ihre Quellen nicht im Fußnotentext angegeben sind, vom Autor um des Zusammenhangs willen eingefügt.
Die Texte sind den folgenden Schriften entnommen: Emanuel Swedenborg, »Über die religiösen Grundlagen des Neuen Zeitalters« ; Emanuel Swedenborg, »Himmel und Hölle« ; Emanuel Swedenborg, »Von Seele, Geist und Leib« ; G.Gollwitzer, »Die durchsichtige Welt«
- 1) »The teachings of such spiritually enlightened souls as Swedenborg, Emerson, and others should be considered as the advanced stirrings in the minds of great souls foreshadowing that Revelation which was to break upon the world through the Báb and Bahá’u’lláh. Anything they say which is not substantiated by the Teachings, however, we cannot regard as absolute truth, but merely as the reflections of their own thoughts.« Aus einem Brief im Auftrage Shoghi Effendis geschrieben an einen einzelnen Gläubigen vom 6.5.1943
- 2) Die Bibel
- 3) Das Beispiel stammt von G.Gollwitzer
- 4) Zitat von G.Gollwitzer
- Die Natur ist älter
- als der Mensch,
- und der Mensch ist älter
- als die Naturwissenschaft.
- C.F.V. WEIZSÄCKER
- Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen,
- unvermögend aus ihr herauszutreten, und unvermögend
- tiefer in sie hineinzukommen.
- Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den
- Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns
- fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arme entfallen.
- J.W.GOETHE
- Mensch und Tier,
- sie haben
- das gleiche Geschick.
- PREDIGER SALOMO
- Das Schöpferische ist dadurch
- bestimmt, daß in der Natur
- der Geist von sich aus da ist,
- er gestaltet dieses Neue
- aus dem Alten in einer
- zielstrebigen, absolut
- vernunftgemäßen,
- zweckdienlichen Weise,
- ohne daß wir es verstehen.
- A.SCHWEITZER
- Mensch und Natur
- Im Leben selbst
- ist uns aber der
- Zusammenhang des
- Ganzen unmittelbar
- gegeben; die Welt
- ist ein vernetztes
- System, und weil
- wir das lange genug
- vergessen, nein
- verdrängt haben,
- paukt uns die Natur
- jetzt drastische,
- leidvolle
- Nachhilfestunden.
- T.BASTIAN
- Es hätte mehr Aussicht
- gehabt, in einem hochmütigen
- Aristokraten aus der Zeit
- Ludwigs des Fünfzehnten
- ein Gefühl für das Volk, ...
- zu wecken, als in einem
- Bewohner der Neuzeit die
- Vorstellung, daß die Dinge
- dieser Welt zu etwas anderem
- da seien, als von ihm
- ausgeforscht, verformt und
- ausgebeutet zu werden.
- E.KÄSTNER
- "...daß wir keineswegs die Natur beherrschen, wie
- ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie
- jemand, der außer der Natur steht - sondern, daß
- wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören
- und mitten in ihr stehen, und daß unsere ganze
- Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug zu
- allen anderen Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und
- richtig anwenden zu können."
- F. ENGELS
- Wenn ich sehe die Himmel,
- deiner Finger Werk,
- den Mond und die Sterne,
- die du bereitet hast:
- was ist der Mensch,
- daß du seiner gedenkst,
- und des Menschen Kind,
- daß du dich seiner annimmst?
- Du hast ihn wenig niedriger gemacht
- als Gott, und mit Ehre und Herrlichkeit
- hast du ihn gekrönt.
- Du hast ihn zum Herrn gemacht
- über deiner Hände Werk;
- alles hast du unter seine Füße getan:
- Schafe und Rinder allzumal,
- dazu auch die wilden Tiere, die Vögel
- unter dem Himmel und die Fische im Meer
- und alles, was die Meere durchzieht.
- DIE BIEBEL 8.PSALM
- Die Regeln, welche die Natur befolgt,
- sind ihr angemessen,
- die, welche der Mensch befolgt,
- dem Menschen;
- beide aber sind darauf berechnet,
- denselben großen Zweck zu befördern,
- die Ordnung der Welt und die
- Vollkommenheit und Glückseligkeit
- der Menschheit.
- A.SMITH
- Im Frieden mit der Natur
- haben wir die natürliche
- Mitwelt nicht nur zu unserem
- Nutzen, sondern in ihrem
- Eigenwert oder um ihrer
- selbst willen
- zu respektieren.
- K.M.MEYER-ABICH
- Denn wir Menschen sind nicht das Maß aller Dinge.
- Die Menschheit ist mit den Tieren und Pflanzen,
- mit Erde, Wasser, Luft und Feuer aus der Naturgeschichte
- hervorgegangen als eine unter Millionen Gattungen am Baum
- des Lebens insgesamt.
- Sie alle und die Elemente der Natur gehören zu der Welt um
- uns und so auch zu unserer Umwelt, aber eigentlich sind sie
- nicht um uns, sondern mit uns. Unsere natürliche
- Mitwelt ist alles, was von Natur aus mit uns Menschen in
- der Welt ist. Um dies zu betonen, spreche ich von unserer
- Mitwelt statt von unserer Umwelt.
- K.M.MEYER-ABICH
- Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes
- wirkt, wenn er sich in der Welt als in einem großen,
- schönen, würdigen und werten Ganzen fühlt, wenn
- das harmonische Behagen ihm ein reines, freies
- Entzücken gewährt - dann würde das Weltall, wenn
- es sich selbst empfinden könnte, als an sein Ziel
- gelangt aufjauchzen und den Gipfel des eigenen
- Werdens und Wesens bewundern.
- J.W.GOETHE
Der Buchtip[Bearbeiten]
Frieden mit dem Partner — Erfüllung durch Einheit und individuelle Freiheit
Erik Blumenthal, Horizonte Verlag Rosenheim 1986
Die neue Partnerschaft — Austausch in der Nähe
Antonia und Theo Schoenaker, Horizonte Verlag 1988
Wer sehnt sich nicht nach einer friedvollen, bereichernden Partnerschaft?
Wiese ist die Diskrepanz zur erlebten Wirklichkeit oft so groß, wo uns
schmerzliche Erfahrungen, Entmutigung, Flucht und Ratlosigkeit begegnen?
Eine steigende Scheidungsrate, die abnehmende Bereitschaft, eine feste
Beziehung einzugehen und Kinder zu haben, sind Kennzeichen unserer
Gesellschaft. Ist der Mensch überfordert?
Die Autoren stellen übereinstimmend dar, daß der Weg zur Harmonie zwischen Mann und Frau, zu persönlichem Glück und Freiheit nicht in der Abschaffung der vermeintlich überkommenen Institution Ehe besteht, sondern darin, die partnerschaftlichen Beziehungen neu zu beleben, ihnen einen anderen Geist und neue Kraft zu geben. Beide Bücher zeigen, warum Ehe heute schwieriger geworden ist, daß irreführende Vorstellungen verbreitet sind und daß die überkommenen Verhaltensmuster nicht mehr ausreichen. Sie schätzen aber die menschliche Fähigkeit zu lernen, sich zielgerichtet zu verändern so hoch ein, daß jedem Menschen die Möglichkeit gegeben ist, dieser Lebensaufgabe gerecht zu werden.
Die drei Autoren gehen von den gleichen psychologischen und religiösen Grundlagen aus, der Individualpsychologie und der Bahá’í-Religion. Der Mensch ist ein soziales, von Gott erschaffenes Wesen. Zur Gleichwertigkeit aller Menschen, einem Prinzip unserer Zeit, gibt es keine Alternative. Einheit und Harmonie zwischen Mann und Frau kann es heute nur geben, wenn beide sich um mehr Gleichwertigkeit in ihrer Beziehung bemühen. Es bleiben unterschiedliche Aufgaben, Rechte und Funktionen, deren Bedeutung wird aber neu gewertet. Da uns in diesem Bereich Vorbilder und Traditionen fehlen, ist es für jedes Paar eine Herausforderung, seinen eigenen Weg zu finden.
Blumenthal nennt als Ursachen der heute eingetretenen Verwirrung folgende Faktoren: die Überzeugung, daß der Mensch sich nicht ändern kann, den Mangel an echtem religiösen Glauben, den Mangel an wahrer Erziehung und das Fehlen klarer Vorstellungen.
Durch Erläuterung der Zielgerichtetheit in allem Verhalten und der
typisch menschlichen Funktionen, insbesondere die der Kraft des Glaubens,
stellt er die Möglichkeiten und Grenzen einer Verhaltensänderung
dar. Aufgabe ist es, diese Kräfte bewußter einzusetzen, geistiger zu
werden, zu mehr Selbstbestimmung zu gelangen, zu agieren anstatt zu
reagieren. Die größte Hilfe dazu finden wir im richtig verstandenen Wort
Gottes. Die Ursachen von Disharmonie in der Zweierbeziehung sind
[Seite 39]
hauptsächlich vier Faktoren (Entzweiungssyndrom): die Frage des
Rechts, unsere Vorstellungen, die Emotionen, die Ichhaftigkeit. Durch
wirkliches Gespräch und Beratung vermindern sich Rechthaben-wollen,
Angriff und Rechtfertigung. Wahres, vorurteilfreies Kennenlernen des
Partners, größere Bewußtheit über eigene Einbildungen und Erwartungen
lassen die falschen Vorstellungen weniger werden. Emotionen als impulsive,
unbewußte Reaktionen können durch Erkennen ihrer Zielrichtung
immer mehr zu positiven, friedlichen Impulsen gewandelt werden. Echte
Liebe kann erlernt werden, positive Augen kann man schulen. Der
ichhafte, entmutigte Mensch kann lernen, bewußter, geistiger, mutiger
zu werden und die Kraft seines Glaubens positiv einzusetzen. So entsteht das
Einheitssyndrom, bestehend aus Gerechtigkeit, Erkenntnis, Liebe und
Glaube.
Da Kampf und Streit in einer gleichwertigen Partnerschaft keinen Platz haben, ist ein Kapitel dem besseren Umgang mit Konflikten gewidmet. Weitere Themen sind die Bewußtwerdung bei der Partnerwahl und die grundlegenden Prinzipien der Kindererziehung.
Blumenthal fügt in seinen Text viele Zitate aus den Bahá’í-Schriften ein, das Buch gibt damit auch einen guten Einblick in wesentliche Grundsätze der Bahá’í-Religion.
Er formuliert, gliedert und analysiert klar, eher zu knapp. Da ist kein Wort zuviel. Der Leser ist gefordert exakt zu studieren, gründlich nachzudenken und selbst Stellung zu beziehen. Er wird nicht verwöhnt. Die Kapitel, in denen es speziell um die Partnerbeziehung geht, könnten ausführlicher sein und noch mehr praktische Hinweise enthalten.
Für einen nicht religiös orientierten Leser, dem Erfahrung in diesem Bereich fehlt, sind die Aussagen, in denen z.B. das Wort Gottes als stärkste Kraft im Dasein oder das Gebet als Weg zur Ermutigung dargestellt werden, sicher eine Herausforderung. Auch bei manchen der knapp formulierten psychologischen Aussagen läuft Blumenthal Gefahr, nur von denen in der ganzen Tiefe verstanden zu werden, die gewohnt sind, in dieser individualpsychologischen Terminologie zu denken. Blumenthal erweitert das Verständnis menschlichen Verhaltens, er vermittelt eine klare, positive Haltung zur Ehe. Selbstbestimmung, Mut, Optimismus und Tat sind die prägenden Begriffe. Eindeutig zeigt er auch die Vorstellungen und Tendenzen unserer Zeit auf, die es uns erleichtern, in den alten Verhaltensweisen hängen zu bleiben. Er rückt mißverständlich oder altmodisch gewordene Begriffe wie Glaube, Gottesfurcht, Liebe und Sexualität in ein neues Licht. Er läßt keinen Raum für Entschuldigungen und Ausflüchte, der Mensch ist verantwortlich für sein Tun.
Schoenaker: Aus der Erkenntnis heraus, daß es zwar genügend theoretisches
Wissen über Partnerschaft gibt, es aber an Hilfe zur praktischen
Umsetzung fehlt, entstand dieses Buch. Es enthält deshalb in seinem
zweiten Teil ein Übungsprogramm für Paare, die Anleitung zu konkreten
Schritten suchen. Zwei Voraussetzungen werden zuvor geklärt: die
Prinzipien einer gleichwertigen Beziehung, in welcher Ermutigung,
Offenheit und Glaube an den Partner den Umgang bestimmen und der
[Seite 40]
Arbeit an der Beziehung Zeit und Energie gewidmet wird. Zweitens wird
Verständnis für die wesentlichen Probleme in einer Zweierbeziehung
geweckt: das Anders-Sein des Partners und seine Gewohnheiten, die eigenen
unbewußten Erwartungen, Vorstellungen und Ängste, die Prägung aus
der Kindheit, der Umgang mit Konflikten, das Fehlen echter Kommunikation.
Zentral ist die Bemühung, den Partner in der Ganzheit seines Wesens
kennenzulernen und anzunehmen, erreichbar durch das echte Gespräch, in dem
wirklich Wichtiges mitgeteilt und empfangen wird.
Gute Vorsätze reichen meist nicht aus. Nur durch bewußtes, planvolles Bemühen wird die Beziehung wachsen. Dazu gehören der Entschluß zu einem Neuanfang, klare Zielvorstellungen, Zeit, ein realistischer Blick auf die jetzige Beziehung, Mut zur Veränderung, die Verpflichtung zusammen zu bleiben, die Bereitschaft, den eigenen Anteil am Unfrieden zu sehen.
Die Partnerübungen zeigen, was Arbeit an der Beziehung heißen kann. Verhaltensweisen und Einstellungen wie Offenheit, zuhören können, ermutigen, sich in den Partner einfühlen, Vertrauen haben, sich gegenseitig tiefer kennenzulernen, werden trainiert. Regeln zur Planung konkreter, machbarer Schritte werden gegeben.
Das Ehepaar Schoenaker gibt auch Einblicke in die eigene Beziehung und ihre persönliche Entwicklung, sie duzen den Leser, sie schildern Eheprobleme realistisch, einfühlsam, ohne zu belehren. Ein Stil im Sinn der Gleichwertigkeit, der eine Atmosphäre des Vertrauens und der Ermutigung schafft. Gekonnt werden abstrakte Begriffe und Theorien durch Beispiele so veranschaulicht, daß es leichtfällt, die angesprochenen Probleme auch auf sich selbst zu beziehen. Freundschaftlich wird der Leser begleitet, von der Information zur Kenntnis, zum Entschluß und zur Tat. l Im Bereich von Liebe und Ehe mit Plänen und Übungen nach festen Regein zu arbeiten, mag ungewohnt sein; für den, der es praktiziert, zeigt sich, daß es ein wirksames Mittel ist, um dauerhaft aus alten Verhaltensweisen auszusteigen. Die Übungen erfordern die volle Bereitschaft beider Partner und das exakte Einhalten der Anweisungen, sonst können sie leicht zum Gegenteil mißbraucht werden, als Waffe im gewohnten Kampf. Nicht jedem wird es leichtfallen, die erforderliche Disziplin und Ausdauer längerfristig beizubehalten.
Beide Bücher vermitteln die Zuversicht, daß sich jede Partnerschaft verbessern läßt. Sie spornen an aktiv zu werden. Blumenthal wendet sich mehr an den einzelnen, seinen Beitrag zur Ehe. Schoenakers sprechen das Paar an, das gemeinsam etwas verändern will. Ihr Übungsprogramm hilft darüber hinaus, die Schwelle von den guten Gedanken und Vorsätzen hin zur Umsetzung ins tägliche Leben leichter zu überwinden. Wer den Weg in Richtung gleichwertige Beziehung gehen will, der sollte beide Bücher lesen. Nicht nur einmal, sondern immer wieder, damit Arbeit an der Partnerschaft etwas alltägliches wird.
- Elke Pollak