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BAHÁ'Í-BRIEFE
HEFT 56 17. JAHRGANG DEZEMBER 1988
SCHWERPUNKTTHEMA:
KONFLIKTLÖSUNG
Die Bahá’í-Briefe wollen eine intensive Auseinandersetzung mit den Lehren und der Geschichte der Bahá’í-Religion fördern und zu einem Dialog mit allen beitragen, die sich auf der Grundlage zeitgemäßen religiösen Denkens aufrichtig um die Lösung der Weltprobleme mühen.
BAHÁ'Í-BRIEFE
Heft 56, Dezember 1988
17. Jahrgang
- Inhalt
- Adolf Kärcher
- Konfliktlösung durch Beratung . . . . . . .1
- Hossain Danesh
- Konfliktfreie Konfliktlösung — Konzepte und Methoden . . . . . . .9
- Völkerverständigungsfest Bad Mergentheim:
- »Weltfrieden im Kleinen« . . . . . . .20
- Peter Khan
- Frauen — Gleichwertigkeit und Frieden . . . . . . .24
- Buchbesprechung . . . . . . .38
- Inhaltsübersicht
- zu Band 2 der Neuen Folge . . . . . . .40
Herausgeber: Der Nationale Geistige Rat der Bahá’í in Deutschland eV., Hofheim-Langenhain.
Redaktion: Dr. Klaus Franken, Bernd Herbon, Farideh Motamed, Uwe Still, Karl Türke jun.
Redaktionsanschrift: Bahá’í-Briefe, Redaktion, Eppsteiner Straße 89, D-6238 Hofheim 6.
Namentlich gezeichnete Beiträge stellen nicht notwendig die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers dar.
Die Bahá’í-Briefe erscheinen halbjährlich.
Abonnementpreis für vier Ausgaben 20, — DM. Einzelpreis 6, — DM.
Vertrieb und Bestellungen: Bahá’í-Verlag, Eppsteiner Straße 89, D-6238 Hofheim-6.
© Bahá’í-Verlag GmbH. ISSN 0005-3945
Adolf Kärcher
KONFLIKTLÖSUNG DURCH BERATUNG[Bearbeiten]
Dieser Vortrag wurde gehalten am 23. April 1988 in Stuttgart während der Jahresmitgliederversammlung der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen, Landesverband Baden-Württemberg.
Vereinte Nationen — hilflos oder hilfreich bei Konflikten?
Die Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen sind schon immer kritische und auf Erfolg drängende Begleiter der UN-Arbeit gewesen. Immer wieder stellen sie die Frage, ob die Vereinten Nationen bei der Lösung der Weltkonflikte alles tun, was sie können — und ob das, was sie können, mehr Erfolg oder eher ein Mißerfolg darstellt.
Die bilateralen Verhandlungen der Supermächte über die Abrüstung oder über andere friedenssichernde Maßnahmen verwischen oft die Tatsache, daß die Vereinten Nationen trotz aller Rückschläge ihre Wirksamkeit in den letzten Jahrzehnten fortlaufend verstärken konnten. Selbst im Vorfeld der Verhandlungen der Supermächte geschieht erstaunlich viel, was Organe der Vereinten Nationen vorbereitet oder erleichtert haben, sei es in New York, in Genf oder in Wien.
Wir alle wünschen, daß die Hauptorgane der Vereinten Nationen (Sicherheitsrat, Generalsekretär und Generalversammlung) unabhängiger vom egoistisch-nationalen Denken der UN-Mitglieder wirken könnten und daß diese Organe mehr Durchsetzungsbefugnisse erhalten. Noch gibt es ein Vetorecht einiger bevorzugter Gründungsmitglieder der Vereinten Nationen, noch sind die Delegierten der Staaten ausschließlich den delegierenden Staaten und nicht der Gesamtheit der Nationen verantwortlich. Noch ist der Schiedsspruch des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag nicht mehr als eine moralische Verurteilung oder eine kraftlose Empfehlung. Aber ist das alles? Allzu leicht lassen wir uns verführen, die Leistungen der Vereinten Nationen nur nach ihren negativen Merkmalen zu beurteilen.
Den meisten Bürgern entgeht, daß die Vereinten Nationen mit ihren Sonderorganisationen und Sonderprogrammen recht bedeutende Erfolge aufzuweisen haben, auch wenn sie selten die Schlagzeilen der Presse oder die Bildschirme des Fernsehens erreichen.
Wer weiß schon, daß die Vereinten Nationen eine halbe Milliarde Menschen
durch Impfaktionen und Hilfsmaßnahmen gegen Hunger und Katastrophen vor
Invalidität und Tod gerettet haben? Ein Frühwarnsystem der FAO
hat geholfen, die großen Lücken bei Getreide und anderen Nahrungsmitteln
rechtzeitig zu erkennen und ihnen zu begegnen. Was wäre ohne die
Flüchtlingshilfe der Vereinten Nationen für die Millionen Flüchtlinge von
Palästina, Afghanistan bis Thailand? Was wäre mit den ägyptischen und
griechischen Kulturdenkmälern ohne die Hilfe der viel geschmähten UNESCO?
Was wäre ohne das weltweite Wetterüberwachungssystem der Weltorganisation für
Meteorologie, das die Vorhersage und Überwachung von Naturkatastrophen
wie zum Beispiel von Orkanen, Zyklonen und Erdbeben ermöglicht? Was wäre
ohne die Arbeit der Internationalen Arbeitsorganisation, welche Normen
für Arbeitsbedingungen geschaffen
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hat, die Millionen von arbeitenden Menschen auf der ganzen Welt größere
Sicherheit am Arbeitsplatz und bessere Lebensbedingungen ermöglichen? Was
wäre ohne die Menschenrechtspakte? — Warum berichten die Medien nur selten
über die Erfolge der UN-Organe beim Abschluß von Abkommen über Umweltschutz,
Meeresausbeutung, Fischereirechte, Weltraumnutzung, dem Post- und
Fernmeldewesen und der Entwicklungshilfe? Wer kennt schon die Rolle
der Vereinten Nationen bei den Zoll- und Handelsabkommen, der Weltbank,
dem Internationalen Währungsfonds und der Internationalen
Atomenergiebehörde? Ist es schon vergessen, daß die UdSSR die ersten
genaueren Informationen über die Kernreaktorkatastrophe
von Tschernobyl nicht etwa den Regierungen einzelner Staaten, sondern der
Internationalen Atomenergiebehörde in Wien gemacht hat?
Wir kennen die Probleme der Vereinten Nationen und ihrer Organe. Und wir wissen, daß viele Änderungen und Verbesserungen nur sehr mühselig und zähflüssig vorankommen. — Doch es wäre falsch, nicht darauf hinzuweisen, daß sich auf leisen Sohlen ein Bewußtseinswandel vollzieht, den man vor Jahrzehnten einfach für unmöglich gehalten hätte, genauso unmöglich wie die Wandlung im Abrüstungsprozeß der Großmächte oder wie Gorbatschows Perestroika in der Sowjetunion.
Wer regelmäßig die Protokolle der Vereinten Nationen und der Sonderorganisationen liest, hat diesen Wandel schon längst bemerkt. Waren zum Beispiel einst »Menschenrechtsverletzungen« von den verletzenden Regierungen bei öffentlichen Vorhaltungen sofort und entrüstet als »Einmischung in die inneren Angelegenheiten« abgetan worden, so ist das heute anders. Es entwickelt sich langsam eine Art »Weltgewissen«, das sich bei Vorgängen mit Verletzung der Menschenrechte auch dann regt, wenn es Staaten mit besonderer Größe oder besonderem UN-Status betrifft.
Es kann vor dem Forum der Vereinten Nationen nicht mehr so ungehemmt und leichtfertig gelogen werden. Entschuldigungen und Rechtfertigungen von Verhaltensweisen, die der Charta der Vereinten Nationen oder den Menschenrechtspakten widersprechen, werden nicht mehr so leicht »blockweise« abgenommen.
Der Bewußtseinswandel ist eine Überlebensfrage
Jeder Bewußtseinswandel in weltweitem Ausmaß ist ein schwieriger und zuweilen schmerzlicher Vorgang. Der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker hat den Titel seines neuesten Buches nicht umsonst so gewählt: »Bewußtseinswandel«. Entscheidend ist dabei, daß, wie der Autor berichtet, dieser Wandel schon im Gange ist und daß ohne diesen Bewußtseinswandel die Menschheit nicht überleben könnte.
Ein Hindernis: Das Menschenbild vom angeborenen Bösewicht
Leider finden viele Menschen noch immer nichts dabei, wenn täglich die
unheilvolle Quadriga von maßloser Übertreibung bei Zweifel, Kritik,
Protest und Konflikt die Zeilen und Bildschirme füllt. Manche finden nicht
einmal etwas dabei, wenn von den Medien diese negativen Erscheinungen aus
Sensationsgier zusätzlich geschürt und angeheizt werden. — Wir müssen
ernsthaft die Frage stellen: Ist Friedfertigkeit und Harmonie kein Thema
mehr? Unsere Gesellschaft wird immer noch im Glauben bestärkt, daß Konflikte,
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Mißtrauen und Brutalität unvermeidliche Züge des menschlichen Charakters
seien und daß es nur darum gehe, diese Konflikte zu bejahen und eben
einzukalkulieren. Streit, Kampf, Konflikt sind unvermeidlich. Im
Gemeinschaftskundeunterricht der Schulen wird das Austragen der
»unvermeidlichen Konflikte« geradezu als Trainingsgegenstand betrachtet.
Das Merkwürdige ist dabei, daß vorausgesetzt wird, daß jeder Bürger und
jede Gruppe ungehemmt mit den Muskeln spielt und unter allen Umständen
gewinnen will. Nur bestimmte Konflikt-Austragungs-Strategien können
Auswüchse und gesellschaftliche Entgleisungen halbwegs eindämmen.
Bei dem fälligen Kompromiß müssen dann die Streithähne selbstverständlich
das Gesicht wahren können. Sonst wäre es ja kein Kompromiß.
Faule Kompromisse und wuchernde Vorurteile
Die bisher trainierten Konflikt-Strategien führen tatsächlich zu Kompromissen. Doch wer diese Kompromisse einmal unvoreingenommen prüft, kommt leicht zu der Erkenntnis, daß in den meisten Fällen die wirklichen Probleme nur übertüncht, verschoben oder wohlgefällig verschwiegen werden. Das heißt, man kann sie häufig nur als »faule Kompromisse« bezeichnen.
Dabei ist es gleichgültig, ob die Streithähne Nationen, rassische oder religiöse Gruppen, Sozialpartner, Regierungskoalitionen, Regierung und Opposition, Gemeinderäte, sonstige gesellschaftliche Gruppen oder Familien sind.
Manchmal hat man das Gefühl, als wäre das Verhandlungsmotiv die Feststellung: »Alle denken nur an sich. Nur ich denke an mich!«
Nichts ist unbequemer als der Abschied von Vorurteilen. Mangelndes Denkvermögen, überschwappende Gefühle und Stimmungen hindern uns daran, die Wahrheit zu erkennen. Gerade schwache Persönlichkeiten neigen besonders zu Vorurteilen, weil sie ihnen kostenlos Sündenböcke liefern. Damit können sie sich selbst gesellschaftlich aufwerten.
Albert Einstein hat schon richtig erkannt, wenn er sagte, daß es schwieriger sei, Vorurteile zu zertrümmern als Atome.
Wer am falschen Lack kratzt, ist selten willkommen. Lichtenberg hat es so ausgedrückt: »Es ist unmöglich, die Fackeln der Wahrheit durch die Menge zu tragen, ohne jemand den Bart zu versengen.«1)
Abschied von Vorurteilen — Bewußtseinswandel auf leisen Sohlen
Auf leisen Sohlen und manchmal sogar gegen den Wunsch von Sensationsdramatikern unserer Medien vollzieht sich ein Bewußtseins- und Verhaltenswandel. Er besteht zunächst darin, daß liebgewordene Vorurteile und Denkschablonen aufgegeben werden.
Bis vor kurzem konnte man zum Beispiel unbekümmert behaupten, daß der
Mensch von Natur aus aggressiv, streitsüchtig, egoistisch und böse sei. Alle
anderen Meinungen wurden als Utopie abgetan. Es wurde gesagt: »Zeigt uns doch
einmal nur eine einzige Volksgruppe oder einen einzigen Volksstamm, bei
dem über wenige Jahre Mord oder Krieg nicht vorgekommen sind. Dann würden
wir gerne annehmen, daß die Gattung Mensch in ihrer Grundanlage gut und
tatsächlich zum Frieden erziehbar ist.« — Seitdem aber tatsächlich einige
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Volksgruppen gefunden wurden, die nach unseren Maßstäben fast pazifistisch
sind und Aggressionen weithin kontrolliert bewältigen können, sind die
»Erbsündeideologen« in eine gewisse Beweisnot geraten. Tötungshemmungen
und Gewissensbisse bei zwischenmenschlichen Vergehen waren ursprünglich
wohl als biologische Bremsen vorhanden, nicht nur erzogen.
Carl Friedrich von Weizsäcker drückt in seinen Schriften immer wieder aus, daß der Mensch zum Frieden erziehbar sei und daß die Friedlosigkeit eine seelische Krankheit sei, die wir überwinden könnten.
Richtig ist, daß es natürliche Spannungen und Polaritäten gibt. Das sind — wie in jeder Zelle — lebensnotwendige Erscheinungen, ohne die es keine Entwicklung und keinen Fortschritt geben könnte. Doch Spannung ist nicht Kampf und Streit und Zerstörungsabsicht, sowenig wie die natürlichen Spannungsverhältnisse in der Zelle mit dem zerstörerischen Krebs gleichgesetzt werden können.
Der Anfang des Bewußtseinswandels zeigt sich schon darin, daß wir Kampf, Krieg, Streit und Egoismus nicht mehr als Naturkonstanten des menschlichen Daseins betrachten.
Normal ist die Gesundheit und nicht die Krankheit. Normal ist die Spannung und nicht die Verkrampfung.
Normal ist es auch, alle Methoden des Denkens global, vernetzt, fachübergreifend und umweltbewußt zu nutzen: die Logik, das Analogiedenken und alle Formen der schöpferischen Ideenfindung, und zwar jenseits von Vorurteilen und ideologischen Mauern. Das Denken in Modellen und Planspielen (Analogiedenken) ist noch wenig entwickelt, obwohl wir es in den meisten Lebensbereichen brauchen. Der Wirtschaftsminister kann keine Probeinflation, der Verteidigungsminister keinen Probekrieg und der Umweltminister keinen Probe-Gau veranstalten. Auch Außenbeziehungen zu anderen Staaten lassen sich nicht experimentell testen. Aber wir können in Modellen und Planspielen vieles durchdenken und bessere Entscheidungen treffen.
Normal ist es auch, die Menschheit als organische Einheit zu betrachten und nicht als ein wirrer Haufen auseinanderstrebender egoistischer Gesellschaften.
Ich denke da an die wunderbaren Worte von Bahá’u’lláh: »Betrachtet einander nicht als Fremde. Ihr seid die Früchte eines Baumes, die Blätter eines Zweiges.«2) »Es rühme sich nicht, wer sein Vaterland liebt, sondern wer die ganze Welt liebt. Die Erde ist nur ein Land, und alle Menschen sind seine Bürger.«3)
Erinnern wir uns auch der Aussage Carl Friedrich von Weizsäckers in seinem Buch »Der bedrohte Friede«: »Friedlosigkeit ist eine seelische Krankheit. Es ist ein sinnvolles Ziel, die Friedlosigkeit zu überwinden. Wir haben uns nicht mit ihr abzufinden. Der Weltfriede ist die Lebensbedingung des technischen Zeitalters.«4)
Neue Strategien zur Problemlösung: die vorurteilslose Beratung
Mit unserem herkömmlichen Denken — auch mit den ausgefeiltesten Denkmethoden — allein können wir die Probleme unserer Welt nicht lösen. Wir brauchen neue Strategien zur Problemlösung. Wir brauchen die Strategie der vorurteilslosen Beratung.
Dieses Prinzip der vorurteilslosen
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Beratung ist es, das die verwirrten Geister in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft,
Wissenschaft und Kultur wieder vereinen kann. Dieses Prinzip ist es, das
gleichberechtigte und verantwortliche Partner anstelle von streitenden
Parteien und anstelle von Siegern und Besiegten entstehen läßt.
Die Anwendung dieses Prinzips ist die Voraussetzung für wirklich erfolgreiche Abrüstungs- und Friedensverhandlungen und für rechtzeitige und sachgerechte Entscheidungen in Politik, Unternehmungen und Verwaltung.
In kleinen Ansätzen konnte man schon beobachten, wie dieses Prinzip der Beratung auch in UN-Ausschüssen gelegentlich genutzt wurde In Management-Seminaren stelle ich es seit einigen Jahren mit Erfolg vor. Vielleicht haben auch die Schweizer Sozialpartner, die ja seit vielen Jahren keine scharfen Tarifstreitigkeiten und Streiks kennen, oder neuerdings die österreichischen Sozialpartner einige Grundgedanken des Beratungsprinzips übernommen.
Nun werden Sie mit Recht neugierig sein, die Funktionsweise der vorurteilslosen Beratung kennenzulernen.
Abschied vom Kampf- und Streitprinzip
In den Medien und den Schulbüchern über Geschichte und Gemeinschaftskunde werden negative Vorkommnisse bevorzugt behandelt. Durch die Massierung dieser Negativerfahrungen ergibt sich eine Wirkung wie bei einem Zerrspiegel. Wer immer nur sein Gesicht in einem Zerrspiegel sieht, kann nicht mehr annehmen, daß es so etwas wie gesunde und normale Gesichtszüge geben kann.
Erfolgreiche Problemlösungen sind für die Medien Eintagsfliegen. Mißerfolge, Katastrophen und menschliches Versagen sind die gewünschten Dauerbrenner. Warum sollten positive Vorgänge nicht genauso interessant sein? Wollen die Medien zu Sadismus und Schadenfreude erziehen?
Es gibt genug Probleme, die man nicht beschönigen kann: die Arbeitslosigkeit, die Renten- und Sozialreform, die Reform des Steuersystems, die Schwierigkeit einer Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich, die EG-Überproduktion (die Kohle-, Stahl-, Butter-, Käse- und Zuckerberge, die Milch- und Weinseen), die Menschenrechtsverletzungen, der Terrorismus, die Umweltprobleme, die Frage der weiteren Verwendung oder des Ausstiegs bei der Kernenergie, die Müll-Lawine und die Atommüllbeseitigung; ferner die Probleme mit Drogen, Alkohol und AIDS.
Wie wurden diese Probleme bisher angegangen? — Nehmen wir einmal eines dieser heißen Themen heraus: die friedliche Nutzung der Kernenergie und die umweltverträgliche Beseitigung des Atommülls. Alle Diskussionen verliefen bisher nach dem Kampf- und Streitprinzip. Befürworter und Neinsager stehen sich mit wechselnden Mehrheiten unversöhnlich gegenüber.
Bei der großen Expertenanhörung vor einigen Jahren in Hannover mußte
der Leiter der Gesprächsrunde, Professor Carl Friedrich von Weizsäcker, am
Schluß feststellen, daß keiner vom anderen wirklich etwas gelernt hatte oder
auch nur die Spur eines sinnvollen Kompromisses in Sicht gewesen wäre. Als
positiv wurde bereits betrachtet, daß man einander angehört hatte. Und die
Teilnehmer waren Wissenschaftler und Fachleute. Was ist geschehen? — Jeder
der Sprecher ließ seine vorgefertigte Platte ablaufen, unbeeindruckt von den
Argumenten der anderen. Daß es fachkundige Politiker auch nicht besser
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können, verwundert dann wohl kaum.
Aber schließlich ist das vorliegende Problem doch absolut lösungsbedürftig, und zwar nicht erst am Sankt Nimmerleinstag. Es gab keine Lösungshinweise, weil überhaupt nicht im Sinne des Prinzips der vorurteilslosen Beratung, sondern nach dem geläufigen Kampfprinzip verhandelt wurde. Häufig wurden nicht nur die gegnerischen Argumente, sondern auch der Gegner mißachtet. Jeder wollte nur seine eigene Meinung bestätigt wissen, als ginge es um eine höchstpersönliche Prestigefrage. Wenn es um ein Pferderennen, ein Fußballspiel oder um einen Boxkampf gegangen wäre, könnte man diesen Vorgang einfach vergessen. Aber es ging um ein Überlebensproblem unserer Gesellschaft.
Die Menschen in unserem Land wollen endlich wissen, ob die weitere Nutzung der Kernenergie oder das Abschalten der Kernkraftwerke die angemessene Lösung ist.
Die überzeugende Antwort fehlt heute noch. Und es besteht die Gefahr, daß die bevorstehende politische Entscheidung eine reine Entscheidung aufgrund der Machtverhältnisse im Bundestag und nicht eine Entscheidung der Vernunft werden könnte. Ich bin sicher, daß diese Entscheidung längst richtig gefallen wäre, wenn man den Verhandlungen das Beratungsprinzip zugrunde gelegt hätte.
Wir müssen unter allen Umständen weg von den streitigen Verhandlungen und hin zu einer echten Beratung.
Welches sind die Beratungsregeln?
Beim System der vorurteilslosen Beratung müssen sieben wichtige Regeln beachtet werden, um es wirksam werden zu lassen.
Ich will diese Beratungsregeln Ihnen nun zum kritischen Durchdenken vorlegen.
1. Regel
Kein Teilnehmer legt sich für ein bestimmtes Beratungsergebnis im voraus fest. Die Beratung muß also bezüglich des Ergebnisses völlig offen sein. Die Beratung darf auch nicht ein Mittel zur Selbstdarstellung eines Teilnehmers werden.
Sie sehen bereits hier den großen Unterschied zu den üblichen Verhandlungsstrategien. Die Sozialpartner (Arbeitgeberverband und Gewerkschaften) gehen zum Beispiel bei uns stets mit Maximalforderungen seitens der Gewerkschaften und öffentlichen Minimalzugeständnissen seitens des Arbeitgeberverbandes in die Verhandlungen. Jeder der beiden Sozialpartner weiß, daß er sich selbst belügt und daß das Verhandlungsergebnis in keinem Fall so aussehen kann, wie er es fordert. Es wird auch stillschweigend in Kauf genommen, daß die Mitglieder der Sozialpartner — zumindest aber die Gewerkschaftsmitglieder — vom tatsächlichen Verhandlungsergebnis immer enttäuscht sein müssen. Die Gewerkschaftsmitglieder müssen das Ergebnis, das oft nicht einmal die Hälfte der Forderung beträgt, als einen üblen Betrug der Arbeitgeberseite betrachten. Und die gewerkschaftlichen Verhandlungsführer müssen schließlich mit schmerzendem Bedauern die Niederlage in einen Sieg ummünzen. Warum geht es in der Schweiz und neuerdings auch in Österreich doch anders? — Abgesehen von einer raffinierten Schlichtungstaktik wird dort das Verhandlungsergebnis selten so im voraus propagandistisch festgenagelt, wie es bei uns normalerweise immer geschieht. Immerhin gibt es dort keine Streiks und Aussperrungen mehr, wo man auf die herkömmliche Kampftechnik verzichtet.
2. Regel
Jeder, der an der Beratung teilnimmt, ist verpflichtet, alle Informationen zum Thema vorurteilslos, ehrlich und glasklar auf den Tisch zu legen. Niemand darf sich hinter einer Parteimeinung verstecken.
Das Gegenteil ist uns sattsam bekannt. Man spricht für die Fraktion, für den Verein, für die Gruppe. Wird die Aussage widerlegt, so hat man ja nicht für sich selbst, sondern nur für die Gruppe gesprochen. Auch für perfekten Unsinn braucht man sich da nicht zu entschuldigen.
3. Regel
Jeder Teilnehmer muß die Argumente der anderen genauso ernstnehmen wie
seine eigenen. Das Ernstgenommenwerden muß auch unabhängig von einer
eventuell bekannten Fachkompetenz bestimmter Teilnehmer sein. Nicht selten
haben weniger kompetente Leute sogar bessere Ideen.
4. Regel
Jeder Teilnehmer muß sich, um ehrlich urteilen zu können, von seiner selbst vorgetragenen Argumentation innerlich lösen. Dieser Akt ist nur denkbar, wenn man sich vom Prestigedenken und von dem Zwang, siegen zu müssen, freimachen kann. Für manche hört sich das fast utopisch an. Aber überall, wo bisher dieses Beratungssystem ernsthaft getestet worden ist, hatte es auch Erfolg.
5. Regel
Alle Argumente (Pro und Contra) werden vorurteilslos geprüft und messerscharf verglichen. Die zu beurteilenden Argumente werden in keinem Fall bestimmten Teilnehmern zugeordnet, sondern allein für sich gesehen. Auch die Redekunst des Vortragenden darf für den Argumentationswert keine Rolle spielen. Bei diesem Vergleichen werden alle zweckmäßigen Denkmethoden benutzt: die Logik, das Analogiedenken, das morphologische Denken, die Verfremdungstechnik (Synektik genannt), das Brainstorming usw.
6. Regel
Ziel ist die Einstimmigkeit bei der demokratischen Abstimmung. Doch im Zweifelsfalle entscheidet die Mehrheit verbindlich.
7. Regel
Das Ergebnis der Abstimmung wird nun von allen Beteiligten ohne jeden offenen oder versteckten Vorbehalt akzeptiert. Alle tragen die gemeinsame Lösung als ihre Lösung mit.
Keiner kann sagen: Das war ja mein Vorschlag, und deshalb ist das Ergebnis gut. Keiner kann sagen: Ich lehne das Ergebnis ab, weil es nicht meiner bisherigen Auffassung entspricht. Das wäre ja genau das, was heute leider selbst bei Bundesverfassungsgerichtsurteilen, Untersuchungsberichten usw. mit den sogenannten »Minderheitsvoten« passiert. Für ein besonderes Demokratieverständnis sprechen solche »Minderheitsvoten« jedenfalls nicht. Sie dokumentieren schon eher die Ansicht: »Ändert die Besetzung des Gerichtssenates oder des Ausschusses und schon wird alles wieder über den Haufen geworfen, was mehrheitlich beschlossen worden ist.«
Durch die 7. Regel wird verhindert, daß die nach sorgfältiger Beratung zustande gekommenen Beschlüsse aufgeweicht oder in der zeitgerechten Ausführung behindert werden. Eine spätere Überprüfung eines Beschlusses ist selbstverständlich immer möglich.
Das Ergebnis der vorurteilslosen Beratung löst bei den Beteiligten eine echte
Zufriedenheit aus; denn jeder sieht seinen Beitrag irgendwie integriert. [Seite 8]
Meistens wird dabei eine sachgerechte Lösung gefunden, die für alle
akzeptabel ist und nicht die übliche Minimallösung oder nur einen
faulen Kompromiß bietet.
Die Menschheit wird in zunehmendem Maße erkennen, daß sie in vieler Hinsicht in einem gemeinsamen Boot sitzt. Unterschiedliche Wertauffassungen, religiöse Hintergründe und Lebensinteressen, auch unterschiedliche Ideologien können letztlich diese Erkenntnis der Einheit der Menschheit nicht aufhalten.
Jedenfalls ist schon heute ein großes Feld denkbar, auf dem die vorurteilslose Beratung die streitige Verhandlung ersetzen kann.
Nicht nach Ausflüchten suchen, sondern handeln
Stellen Sie sich nun einmal vor, dieses Prinzip der vorurteilslosen Beratung
würde im Gemeinderat, bei Betriebsräten, bei Tarifverhandlungen, in den
Parlamentsausschüssen und Regierungen, bei der Europäischen Gemeinschaft und
bei den Vereinten Nationen zunehmend als Verhandlungsprinzip zugrunde gelegt.
Wir würden einen geistigen Sprung machen, um den uns frühere Generationen beneiden könnten. Der Bewußtseinswandel, wie ihn Carl Friedrich von Weizsäcker unablässig für unser Überleben fordert, hätte damit einen ersten bemerkenswerten Fortschritt erzielt.
Der Ursprung des Beratungsprinzips
Doch — zum Schluß — vergessen wir nicht: Das System der vorurteilslosen
Beratung ist nicht in unseren Tagen entstanden. Ein Mann, der in diesen
Apriltagen im Jahre 1913, also vor genau 75 Jahren, in Stuttgart und in
Esslingen weilte und der auch im königlichen Besucherbuch des Jagdschlosses
Bebenhausen eingetragen steht, war es, der uns Europäer mit diesem Gedankengut
vertraut gemacht hat. Es war 'Abdu'l-Bahá, der Sohn des Begründers der
Bahá’í-Religion. Er hatte Kontakt mit Bertha von Suttner und mit Auguste
Forel. Er kannte die Probleme der Zeit und sagte das Schicksal der
europäischen Staaten voraus. 1919 schrieb er an die Zentralorganisation für
einen dauerhaften Frieden im Haag und warnte davor, die Chance für einen
wirklichen Frieden ungenutzt verstreichen zu lassen. Wir wissen, daß diese
Chance damals nicht genutzt wurde.
Heute können wir aber vieles besser machen. Wir können die Wirksamkeit aller Institutionen, die sich um Frieden und Wohlstand der Völker bemühen, durch die vorurteilslose Beratung unvergleichlich verbessern.
- 1) in Gerhard Fiegurth, Deutsche Aphorismen, S. 14, Reclam jun., Stuttgart 1978/83
- 2) Ährenlese 112:1, Bahá’í-Verlag, Hofheim-Langenhain 1980
- 3) a.a.O. 117
- 4) Der bedrohte Friede, S. 170, 157, 154, Carl Hauser-Verlag, München 1981
Hossain Danesh
KONFLIKTFREIE KONFLIKTLÖSUNG — KONZEPTE UND METHODEN[Bearbeiten]
Dieser Aufsatz wurde im Frühjahr 1987 der Canadian Nuclear Association überreicht und im Sommer 1987 während einer internationalen Friedenskonferenz in Venezuela vorgetragen. Der Autor, Dr. Hossain Danesh, ist seit 25 Jahren in Kanada als Psychiater in Praxis und Lehre tätig. Zu seinen Spezialgebieten zählen Ehe und Familie, menschliche Aggression und Gewalt. Dr. Danesh ist Gründungs- und Vorstandsmitglied der Association for Bahá’í-Studies und der Bahá’í International Health Agency. Die Übersetzung des Aufsatzes besorgte Gitta Schumann.
Eine der größten Herausforderungen ist die Möglichkeit konfliktfreier, wirksamer, vernünftiger, gerechter und sinnvoller Kommunikation unter den Völkern und Parteien. Dies gilt sowohl für den einzelnen als auch für Ehepartner, Familienmitglieder, Organisationen und Regierungen. Nicht selten wird menschliche Kommunikation durch Konflikte, Uneinigkeit, Verletzung der Gefühle und Ungerechtigkeit erschwert. Vielfach stellen Menschen mit Bestürzung in ihren Beziehungen zueinander eine Verschlechterung der Kommunikation fest, trotz ihres Verlangens und ihrer Anstrengungen, den Kommunikationsprozeß zu erleichtern und zu verbessern. Es gibt viele Gründe für diesen Zustand und man könnte eine Reihe von Erklärungen dafür anführen. Letztendlich spiegeln Art und Qualität menschlicher Beziehungen und Kommunikation den Reifegrad und die grundlegenden Ziele der Beteiligten wider.
Vier Beispiele für menschliche Beziehungen sind: Man kann spielerisch aufeinander zugehen; man kann gemeinsam arbeiten, um definierte Ziele zu erreichen; man kann miteinander konkurrieren bis hin zum Machtkampf; oder man kann kreativ miteinander umgehen durch Kooperation, Einheit und Fortschritt. Eine Überprüfung der gegenwärtigen menschlichen Kommunikationsformen zeigt, daß diese verschiedenen Typen auf zwischenmenschlicher wie auch internationaler Ebene vorkommen. Jedoch ist die Kommunikation meist geprägt von Dominanz und Manipulation. Das ist charakteristisch für spätkindliche und pubertäre Kommunikationsformen. Sie verursachen von Natur aus beträchtliche Konflikte zwischen beteiligten Parteien.
Dominanz bedeutet Kontrolle über Kommunikation und Entscheidungsprozesse durch das Individuum, das die größte Macht besitzt, sei sie nun körperlich, wirtschaftlich, intellektuell oder andersgeartet. Unter diesen Umständen zwingt die mächtigere Person ohne Rücksicht auf die Folgen ihre Wünsche der anderen Person auf. Im Grunde genommen macht die von Dominanz geprägte Kommunikationsform einen Teil der Teilnehmer zu Opfern, ignoriert ihre Menschenrechte und ist allgemein ungerecht. Unter solchen Bedingungen werden in hohem Maße Ärger, Frustration, Demütigung und Groll erzeugt. Diese Gefühle beherrschen viele Beziehungen und Kommunikationsformen und tragen zu verbreitetem Mißtrauen und Uneinigkeit bei, die unsere Welt heute belasten.
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Die zweithäufigste Form von Kommunikation und Entscheidungsfindung
ist Manipulation. Hier kontrolliert ein einzelner oder eine Gruppe
andere meist auf hintertriebene und unfaire Weise zum Zweck der
persönlichen oder gemeinsamen Bereicherung, zur Wahrung
des eigenen Vorteils oder mit anderen Hintergedanken. Manche Personen
oder Gruppen benützen ihre körperlichen Kräfte, um andere zu beherrschen.
Andere setzen emotionale oder intellektuelle Manipulation ein, während
wiederum andere ihren finanziellen und politischen Einfluß nutzen, um ihr
Ziel zu erreichen. Primäres Ziel ist es, Kontrolle über eine andere Person
oder Gruppe auszuüben, dabei jedoch den gegenteiligen Eindruck zu vermitteln.
Während offene Dominanz einen schändlichen Machtmißbrauch darstellt, steht Manipulation meist für betrügerischen Gebrauch der Macht. Bei der Dominanz herrschen aggressive und zeitweise auch gewalttätige Verhaltensformen vor, während bei der Manipulation passives und indirektes Verhalten genutzt wird. In beiden Fällen fühlen sich einzelne und Gruppen, die dieser Behandlung ausgesetzt werden, mißbraucht, gedemütigt und vergewaltigt. Unter diesen Umständen wird die Beziehung so problematisch, daß im Entscheidungsprozeß nie die beste und kreativste Entscheidung oder Lösung gefunden wird, die für alle Beteiligten gleichermaßen gerecht und nützlich wäre.
Das Hauptanliegen der konfliktfreien Konfliktlösung besteht darin, in menschliche Beziehungen eine Dynamik einzuführen, die vom Ausdruck und Austausch der Ideen, Informationen und Gefühle zu Entscheidungen führt, die angemessen, gerecht und aufgeklärt sind und die Einigkeit der Beratenden fördern und sichern.
Bahá’í-Beratung: Eine Zusammenfassung
In der Umgangssprache beziehen sich die Worte »Beratung« und »beraten« auf einen Vorgang der Überlegung, der Ratsuche und der Informationssammlung bei verschiedenen Quellen, besonders bei professionellen Experten wie zum Beispiel Ärzten, Ingenieuren und Rechtsanwälten. Das Bahá’í-Beratungskonzept ist einzigartig und bildet die Grundlage für den Versuch, einige oder viele Menschen als Repräsentanten für persönliche Belange, Institutionen oder Nationen miteinander in einer Atmosphäre vollkommener Einheit und Offenheit kommunizieren zu lassen. Ihr Ziel ist, die Wahrheit über den Beratungsgegenstand herauszufinden. Es gilt, jene Wege und Mittel zu finden, durch die individuelle und soziale Bedürfnisse wie Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Freiheit und Fortschritt befriedigt werden können. Beratungsgegenstand sind auch Möglichkeiten zur Lösung menschlicher Konflikte ohne Machtmißbrauch oder Manipulation, Aberkennung oder Verletzung der Rechte irgendeines Menschen, sei er an diesem Beratungsprozeß direkt beteiligt oder nicht.
Diese Art der Beratung erfordert von den Beteiligten einen hohen Grad an
emotionaler und intellektueller Reife und hohe geistige, moralische und
ethische Maßstäbe. Deshalb ist die Bahá’í-Beratung am wirkungsvollsten
innerhalb eines Rahmens, der sich an Wachstum, Einheit in Mannigfaltigkeit,
Kreativität und Zusammenarbeit orientiert. Dies sind Merkmale einer
integrativen und umfassenden Sicht menschlicher Bestrebungen. Sie sind
gänzlich unvereinbar sowohl mit autoritären als auch zu nachsichtigen
Formen menschlicher Beziehungen. Das Hauptziel der Bahá’í-Beratung
ist daher, Bedingungen zu
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schaffen, in denen sich die scheinbar widersprechenden Prinzipien von Gnade
und Gerechtigkeit, Freiheit und Unterwerfung, Unverletzlichkeit der Rechte
des einzelnen und Selbstverzicht, Wachsamkeit, Vertrauenswürdigkeit und
Klugheit einerseits sowie Kameradschaft, Offenheit und Mut andererseits
versöhnen lassen. Menschliche Konflikte lassen sich so auf kreative Art
lösen, mit dem ständigen Ziel vor Augen, nach der Wahrheit zu suchen
und nicht Opfer von Vorurteilen, Unwissenheit, Eigennutz und Mißtrauen
zu werden.
Die grundlegende Voraussetzung für das Erlangen dieser Ziele ist Einheit. So bestätigt ‘Abdu’l-Bahá: »Die erste Bedingung ist vollkommene Liebe und Harmonie unter den Mitgliedern des Rates. Sie müssen völlig frei von Entfremdung sein... Sollten Harmonie im Denken und vollkommene Einheit nicht vorhanden sein, wird diese Zusammenkunft zersplittern, und die Sitzung ist umsonst gewesen.«1)
Die Beratungsteilnehmer sollten ständig bestrebt sein, einen Zustand der Reife und Geistigkeit zu erreichen. Aus Bahá’í-Sicht sind Reife und Geistigkeit eins. Beide ermessen die Fähigkeit des einzelnen, hingebungsvoll, demütig, geduldig, höflich, würdevoll, fürsorglich und maßvoll zu sein. Mit den Worten 'Abdu'l-Bahás: »Sie müssen in jeder Angelegenheit nach der Wahrheit forschen und nicht auf ihrer eigenen Meinung beharren; denn Starrsinn und hartnäckiges Festhalten an der eigenen Meinung wird schließlich zu Uneinigkeit und Streit führen, und die Wahrheit wird verborgen bleiben.«2)
Das Geheimnis von Einigkeit und Reife, die in der Bahá’í-Beratung gefordert sind, liegt in der Möglichkeit der Teilnehmer, in »absoluter Freiheit« ihre Meinung auszusprechen und ihre Argumente darzulegen. Sollte jemand gegensätzlicher Meinung sein, so darf er sich »...auf keinen Fall verletzt fühlen, denn erst wenn eine Angelegenheit vollständig erörtert ist, kann sich der richtige Weg zeigen. Der strahlende Funke der Wahrheit erscheint nur nach dem Zusammenprall verschiedener Meinungen. Wenn nach der Beratung ein Beschluß einstimmig gefaßt wird, ist dies schön und gut; wenn aber ... sich Meinungsverschiedenheiten ergeben sollten, muß die Stimmenmehrheit maßgebend sein.«3)
In diesem Rahmen konzentriert sich Bahá’í-Beratung auf Themenschwerpunkte, die grundlegend in ihrer Zielsetzung sind. Das erste dieser Ziele ist das Erstellen höherer Maßstäbe und Ausbildung, Gesundheitsfürsorge und gutes materielles Auskommen für jeden. Das zweite Ziel ist die Auflösung der Extreme von Reichtum und Armut. Das dritte Ziel ist die Ermutigung zu innigerer Liebe, Fürsorge und Güte unter den Menschen. Das letztendliche Ziel ist die Schaffung eines Klimas der Gleichwertigkeit, Gerechtigkeit, Freiheit und des friedvollen, gesitteten und harmonischen Zusammenlebens der Menschen.
Diese Art der Beratung ist ein hervorragendes Mittel, um die Voraussetzungen für eine neue Weltordnung zu schaffen. Innerhalb dieser Ordnung ist die konfliktfreie Lösung von Schwierigkeiten und Meinungsverschiedenheiten in der Verwaltung menschlicher Angelegenheiten unabdingbar. Die Prinzipien der konfliktfreien Konfliktlösung entstanden aus der Vereinigung von Grundsätzen der Bahá’í-Beratung und der Auswertung charakteristischer gruppendynamischer Prozesse.
Grundsätze der konfliktfreien Konfliktlösung
a) Vorrangiges Ziel der konfliktfreien Konfliktlösung ist es, das Maß an Einheit, Harmonie und Verständnis unter den Beteiligten zu erhöhen.
b) Das Grundprinzip der konfliktfreien Konfliktlösung vereint in sich zwei Dinge: aktive und entschiedene Zusicherung der Rechte aller am Entscheidungsprozeß Beteiligten und bewußte, unbeirrbare Anwendung von Gerechtigkeitsmaßstäben für alle, mit besonderem Augenmerk auf die Armen, Schwachen und Unterdrückten.
c) Die wichtigsten Mittel für die konfliktfreie Konfliktlösung sind einerseits Offenheit und Ehrlichkeit, andererseits gegenseitige Achtung und Vertrauen.
d) Alle beim Versuch konfliktfreier Konfliktlösung geäußerten Gedanken werden zum »Eigentum« der kommunizierenden Gruppe und »gehören« nicht mehr den einzelnen, die sie ursprünglich in die Gruppe eingebracht haben.
e) Bei der konfliktfreien Konfliktlösung ist es besser, sich zu irren und dabei einig zu sein, als Recht zu haben und uneins zu sein.
Nachfolgend werden die obengenannten Grundsätze ausführlich erläutert.
a) Vorrangiges Ziel der konfliktfreien Konfliktlösung ist es, das Maß an Einheit, Harmonie und Verständnis unter den Beteiligten zu erhöhen.
Eine Untersuchung der grundlegenden Ziele verschiedenartiger Beziehungen ergibt, daß Menschen generell bemüht sind, Informationen weiterzugeben oder zu empfangen, Gedanken und Ideen zu vermitteln, zu lehren und zu lernen, relative Positionen der Stärke oder Schwäche gegenüber anderen Menschen auszuloten, um Hilfe zu bitten und Unterstützung anzubieten und Gefühle der Freude, Zufriedenheit und Anerkennung oder umgekehrt von Traurigkeit, Unzufriedenheit und Ärger zu erkennen. In ihren Beziehungen und in ihrer Kommunikation erreichen die Menschen jedoch selten all diese Ziele. Sie sind zufrieden, wenn sie Gelegenheit haben sich auszusprechen, ihre Wünsche zu umreißen und Verständnis oder Zustimmung auf ihre Bitten zu erhalten. Doch ist selbst das Gelingen dieses Unterfangens in unseren Beziehungen nicht einfach. Wenn wir mit unseren Ehepartnern, Mitarbeitern, Vorgesetzten oder anderen kommunizieren, fühlen wir uns oft unverstanden, nicht ernstgenommen oder abgefertigt. Meistens sind wir unzufrieden mit dem Ergebnis unserer Kommunikationsbemühungen.
Es gibt viele Erklärungen für das Versagen unserer Kommunikation. Einige Ursachen hängen mit der Rolle mehr oder weniger versteckter Gefühle wie Ärger, Furcht und Ablehnung, Konkurrenz und Machtkampf, Ichbezogenheit und Habgier zusammen. All das hat beachtlichen Einfluß auf das Ergebnis menschlicher Kommunikation. Andere Gründe für schlechte Kommunikation liegen darin, daß nur sehr wenige Menschen Wissen oder Fähigkeit besitzen, wirksam zu kommunizieren, und deshalb Techniken und Regeln für zwischenmenschliche Beziehungen erlernen müssen. Angesichts dieser beiden Erläuterungen ist es verständlich, daß die meisten allgemeinen Ansätze zur Verbesserung zwischenmenschlicher Beziehungen, der Kommunikation und Problemlösungen auf einem zweigleisigen Prozeß beruhen: der Auseinandersetzung mit unbewußten Gefühlen und dem Erlernen wirksamer Kommunikation. Ein dritter wichtiger Faktor ist die Anwendung bestimmter kognitiver Verfahren beim Versuch der Problemlösung.
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Während diese methodischen Ansätze durchaus von Wert sind und nützliche
Elemente enthalten, klafft dennoch eine beachtliche Lücke zwischen
ihrem Wirksamkeitsanspruch und den tatsächlichen Ergebnissen. Eine deutliche
Verbesserung menschlicher Beziehungen tritt weder allein durch das Aufdecken
und Verständnis der zugrundeliegenden Gefühle ein, noch durch die
Nutzung anspruchsvoller Kommunikationstechniken, genauer Benennung der
Kognitionen und rationaler Erfassung der sachlichen Gegebenheiten.
Tatsache ist, daß wir in unserer Kommunikation heute eine weltweite Krise vorfinden, die das Ausmaß einer Epidemie annimmt. In der ehelichen Kommunikation erleben die Partner den Schmerz gegenseitigen Mißverstehens und Nichtbeachtens. Familien leiden unter der nahezu fehlenden oder ausgesprochen oberflächlichen Art der Kommunikation zwischen Eltern und Kindern. Ebenso weist die Kommunikation zwischen Regierungen und ihren Völkern einen Zustand gegenseitigen Mißtrauens, von Beschimpfung, Betrug und Feindseligkeit auf. Schließlich gibt es eine beispiellose Kommunikationskrise zwischen den Supermächten — ein Zustand, der leicht mit der Zerstörung allen Lebens auf diesem Planeten enden könnte. Diese Tatsachen machen deutlich, daß unsere Bemühungen um die Analyse der Gründe für unzureichende Kommunikation ebensowenig genügen wie unser Bestreben, neue Verfahren der Problemlösung oder der Ermittlung der Sachlage zu entwickeln.
Die Kommunikation hängt in erster Linie von ihren Zielen ab. Es reicht nicht aus, etwas über die Dynamik und Technik guter Kommunikation zu erfahren und die Sachverhalte der zugrundeliegenden Problematik festzustellen. Darüberhinaus ist es notwendig, den grundlegenden Zweck der Kommunikation festzulegen. Aus der Sicht der konfliktfreien Konfliktlösung ist vorrangiges Ziel aller menschlichen Kommunikation die Zunahme von Einheit, Harmonie und Verständnis unter den Beteiligten. Ohne Einheit sind alle anderen menschlichen Bemühungen ohne Bedeutung. Dies liegt darin begründet, daß menschliche Kommunikation von Leben, Wachstum und Kreativität abhängt. Fehlt es an Einheit und Harmonie, wird die Kreativität gehemmt, das Wachstum verzögert und Leben gefährdet. Betontes Ziel der konfliktfreien Konfliktlösung ist es, die Einheit unter den Betroffenen zu nähren und aufrechtzuerhalten.
b) Das wichtigste Prinzip der konfliktfreien Konfliktlösung ist der aktive und entschiedene Versuch aller Beteiligten, die Rechte jeder vom Entscheidungsprozeß betroffenen Person zu schützen — ein Prozeß, der die Anwendung des Prinzips der Gerechtigkeit für alle fordert.
Auf den ersten Blick haben die Themen »Menschenrechte« und »Kommunikation«
keinen unmittelbaren Bezug. Dieser Eindruck ist der begrenzten Sichtweise
zuzuschreiben, mit der man »Menschenrechte« und »menschliche Kommunikation«
definiert. Der hier benutzte Begriff der Menschenrechte bezieht sich auf
die Tatsache, daß alle Menschen edel erschaffen wurden und daher die
Möglichkeit erhalten müssen, ihr edles Wesen zu entfalten, ihre
verborgenen Eigenschaften sichtbar zu machen, ihre kreativen Fähigkeiten
zu entwickeln und ihre Integrität zu bewahren. Diese Rechte können im Umfeld
menschlicher Beziehungen, in der Kommunikation und Entscheidungsbildung
respektiert oder verweigert werden — in der Ehe, der Familie oder der
Gesellschaft. In vielen Ehen besteht beispielsweise
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eine Diskrepanz zwischen Ehepartnern im Hinblick auf das Recht auf
Selbstverwirklichung, der Entwicklung eigener Fähigkeiten und der Wahrung
der Integrität. Dies betrifft besonders die Rechte der Frauen. In der
Vergangenheit wurden die Rechte der Frauen in der Ehe und auch in
anderen gesellschaftlichen Institutionen vernachlässigt, versagt
oder mißbraucht. Diese Form von Geringschätzung und Verweigerung der
Menschenrechte, wie sie in allen Lebensbereichen der Menschheit
vorherrschten, zeigt die Notwendigkeit der Anerkennung und des
Schutzes der Menschenrechte als dem wichtigsten Prinzip in der
zwischenmenschlichen Kommunikation.
Konfliktfreie Konfliktlösung erfüllt diese Forderung, indem sie die Kommunikationspartner dazu verpflichtet, bewußt und beständig die Menschenrechte sowohl der direkt als auch indirekt von der Entscheidung Betroffenen zu achten. Dieser Grundsatz ist in Ehe, Familie, bei der Arbeit, innerhalb des sozialen Gefüges sowie in der internationalen Kommunikation und den Entscheidungsgremien anzuwenden. Die Bedeutung dieses Prinzips wird zunehmend deutlich, wenn wir die Tatsache berücksichtigen, daß die Mißachtung der Menschenrechte zur Entstehung eines tiefen Gefühls der Ungleichwertigkeit, Ungerechtigkeit, Verletzung, Trauer und Wut führt. Dieser Zustand verursacht Streit und Uneinigkeit unter den Menschen, und — auf Dauer — eine zunehmende Distanz zwischen allen Betroffenen, so daß ihre Kommunikationsbemühungen und Versuche der Konfliktlösung fast gänzlich unwirksam werden.
c) Die wichtigsten Mittel für die konfliktfreie Konfliktlösung sind einerseits Offenheit und Ehrlichkeit, andererseits gegenseitige Achtung und Vertrauen.
In den letzten Jahren wurde zunehmend darauf geachtet, daß die Art der Kommunikation, die Gefühle und intellektuelle Fähigkeiten unterdrückt, nicht nur unproduktiv sondern in mancher Hinsicht ziemlich zerstörerisch im Hinblick auf die psychosomatische Wirkung unterdrückter Gefühle ist. Besonders Ärger und Kränkung neigen dazu, sich negativ auf das allgemeine Befinden des Menschen auszuwirken, werden sie nicht zum Ausdruck gebracht, verstanden und verarbeitet.
Lange Zeit galt die Ansicht, man müsse bei konträrer Meinung seine Gefühle und eigenen Gedanken zurückhalten, um die Kommunikation vor Konflikten zu bewahren. Als wir begannen, menschliches Verhalten und die Dynamik menschlicher Beziehungen verstärkt auf eine integrative und ganzheitliche Art zu studieren, wurden wir uns jedoch deutlich der grundlegenden Wirkung bewußt, die Kommunikation auf Gesundheit und Wohlbefinden hat. Es zeigte sich, daß gestauter Ärger oder Wut eine Reihe psychosomatischer und sozialer Störungen verursachen kann. Daraufhin veränderte sich die Einstellung zu solchen Fragen entscheidend. Gesundheitsexperten forderten eine neue Sichtweise zum Ausdruck von Gefühlen im allgemeinen und Ärger und Wut im besonderen. Man wurde nun ermutigt, Wutgefühle und Antipathien offen und unter allen Umständen zu äußern. Gefühle sollten nicht zurückgehalten werden und man sollte mehr aus sich herausgehen. Viele Gruppen und Workshops wurden gebildet, um Gefühle, besonders Wut, Furcht und Angst, spontan und kraftvoll zum Ausdruck bringen zu können.
Allmählich kam beträchtliches klinisches Beweismaterial zusammen. Es
zeigte, daß die Fragen im Zusammenhang mit der Vermittlung von Gefühlen
und Gedanken nicht so einfach zu
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behandeln waren, wie ursprünglich angenommen. So ist es beispielsweise
weder gesundheitsfördernd noch ausreichend, Ärger zu äußern oder
zurückzuhalten. Es sind verschiedene Aspekte im Zusammenhang mit Ärger zu
bedenken. Einer der wichtigsten Aspekte ist, daß menschliche Gefühle nicht nur
geäußert werden müssen, sondern auch verstanden und kanalisiert werden
sollten. Darüberhinaus treten Gefühle nicht unabhängig vom Denken auf und das
Denken ist nicht frei von Gefühlen. Daraus folgt, daß die geschaffene
Zweiteilung von Denken und Fühlen aufgehoben werden muß.
Ein dritter wichtiger Punkt ist, daß Art und Folgen der Gefühle nicht unbedingt im Widerstreit oder Widerspruch zueinander stehen müssen. Mit anderen Worten, Wut und Liebe, Angst und Glück, Selbstsicherheit und Furcht, Trauer und Hoffnung lassen sich zugleich erleben. Es geht darum, einen Ansatz zu entwickeln, der die Integration dieser verschiedenen menschlichen Gefühle ermöglicht, damit sie zum Ausdruck gebracht, verstanden und verarbeitet werden können.
Im Rahmen der konfliktfreien Konfliktlösung werden deshalb die Beteiligten ermutigt, die anstehenden Themen freimütig, offen und ehrlich zu benennen und gleichzeitig den Kommunikationspartnern mit Respekt und Vertrauen zu begegnen. Ansichten, Ideen und Gedanken sollten von der Person getrennt betrachtet und Gefühlsäußerungen ohne Werturteil angenommen werden. Durch frei geäußerte Ansichten und Gefühle können die Beteiligten die besten Antworten zu den anstehenden Fragen ermitteln, die geeigneten Lösungen vorgebrachter Probleme finden sowie die wirksamste Linderung für Schmerz suchen.
d) Alle im Verlauf der konfliktfreien Konfliktlösung dargelegten Ideen werden zum »Eigentum« der kommunizierenden Gruppe und »gehören« nicht mehr den einzelnen, die sie ursprünglich einbrachten.
Wir Menschen nehmen die Welt durch unsere Sinne und Erfahrungen wahr und nutzen unsere geistigen und intellektuellen Fähigkeiten, um das Wahrgenommene und Erlebte mit Sinn zu erfüllen. Zu jeder Zeit verknüpfen wir deshalb eine geistige Vorstellung mit der gegenwärtigen Wahrnehmung, die in Wahrheit nicht von unserer Vorstellung vom eigenen Selbst zu trennen ist. Zudem haben wir eine Idee von der absoluten Wahrheit wie auch von letztgültigen Prinzipien, die unsere Vernunft begreift. Unsere Vorstellungen entwickeln wir entweder, indem wir uns aktiv durch geordnetes und systematisches Studium um ein Verständnis der allgemeingültigen Wahrheiten und Grundsätze bemühen. Oder wir gewinnen durch passive Aufnahme der vorherrschenden gesellschaftlichen Vorstellungen eine Idee von Wahrheit und Wirklichkeit. Bewußt unternehmen wir keine Anstrengung, um diese Vorstellungen durch unsere Fähigkeit logischen und vernünftigen Denkens zu belegen. Folglich entwickeln sich die meisten unserer Vorstellungen ohne bewußte Anstrengung und sind daher gewöhnlich zufällig und wenig durchdacht. Viele unserer Vorstellungen entstammen dem Glauben unserer Väter und Vorväter, andere gründen sich auf allgemein verbreitete Vorurteile und Fehlannahmen. Wieder andere sind geprägt von unseren Trieben, Gefühlen und persönlichen Neigungen.
Nur selten versuchen wir, unsere Vorstellungen im Geiste einer
unabhängigen Suche nach der Wahrheit unter Anwendung streng
wissenschaftlicher Methoden zu formulieren und so zu
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Schlüssen zu gelangen, die auf unserem besten Bemühen beruhen, auf objektive
und leidenschaftslose Weise ein Phänomen zu verstehen — sei es uns selbst,
andere, oder die Welt als Ganzes. Deshalb hängt die am weitesten verbreitete
Ursache von Konflikten in der menschlichen Kommunikation damit zusammen, wie
wir unsere Vorstellungen im zwischenmenschlichen Verhalten einbringen. In
einer typischen Kommunikationssituation, ob zwischen Mann und Frau, Eltern
und Kindern, in einer Arbeitsgruppe oder unter den Vertretern der
Nationen dieser Welt, kommen die Beteiligten gewöhnlich mit vorformulierten
Ideen und festgelegten Ansichten zusammen. In erster Linie geht es den
Beteiligten darum, ihre Vorstellungen darzulegen, die Zuhörerschaft zu
beeindrucken, sie von der Brillanz, Relevanz und Richtigkeit ihrer Ideen zu
überzeugen und, sollte alles andere versagen, entweder die Zustimmung durch
Einsatz und Mißbrauch von Macht, Einfluß, Versprechungen und Verpflichtung
durchzusetzen oder aber die Tagung mit dem Gefühl der Ablehnung,
Niedergeschlagenheit oder Erniedrigung zu verlassen.
Kommunikation spielt sich jedoch nicht immer auf diese Weise ab. Bei vielen Gelegenheiten sind die Beteiligten willens, Pro und Contra der verschiedenen Meinungen und den Wert der umrissenen Ideen zu diskutieren und schließlich dem besten Kompromiß zuzustimmen. Auch diese Form der Kommunikation ist jedoch — wenn auch der vorherigen vorzuziehen — immer noch unbefriedigend, da sie nicht unbedingt eine Entscheidung für die beste Lösung innerhalb der Gruppe bringt. Als Kompromiß ist sie teilweise befriedigend und teilweise enttäuschend für die am Entscheidungsprozeß Beteiligten. Der Kompromiß führt auch nicht unbedingt zur bestmöglichen Lösung.
Das Modell der konfliktfreien Konfliktlösung erfordert, daß die Beteiligten ihre Gedanken so klar und vollständig wie möglich formulieren. Dies in einer Atmosphäre, die durch Meinungsfreiheit, Respekt vor den Ansichten und Gedanken jedes Beteiligten und aufrichtiges Bemühen von allen Seiten gekennzeichnet ist, die unterschiedlichen Ideen ohne Vorurteile, Überlegenheitsgefühle, Arroganz oder Mißtrauen zu bedenken. Sobald die Idee zum Ausdruck gebracht wurde und Aufnahme unter den Zuhörern fand, wird sie zum Eigentum der Gruppe. Es steht sodann allen Gruppenmitgliedern wie auch dem Initiator des Vorschlags frei, die Idee von allen erdenklichen Seiten zu betrachten, die als konstruktiv, klärend und förderlich erachtet werden, um unter den spezifischen Bedingungen der Gruppe die bestmögliche Entscheidung zu treffen. Die Beratenden mögen dem Vorschlag nur teilweise oder ganz zustimmen, ihn ablehnen oder diese Überlegung in die endgültige Entscheidung miteinbeziehen. Alle Beteiligten — einschließlich der Person, von der die Idee stammt — werden ohne Rücksicht auf das Ergebnis mit der Entscheidung einverstanden sein, ohne Konflikte oder Ablehnung zu verspüren.
Dieses Modell entspricht der wissenschaftlichen Vorgehensweise. Bei wahrhaft
wissenschaftlicher Zusammenarbeit werden Ideen mit Überzeugungskraft,
Nachdruck und stichhaltiger Argumentation vorgebracht. Die verschiedenen
Aspekte des vorgelegten Konzepts werden sorgfältig und kritisch
begutachtet, und gewöhnlich äußern die Beteiligten Zustimmung oder
Ablehnung. Ist jedoch eine bestimmte Tatsache wissenschaftlich erwiesen
und eine entsprechende allgemeingültige Gesetzmäßigkeit formuliert worden,
akzeptiert die Gesamtheit der Wissenschaftler glücklich und zufrieden die neuen
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Gesetze, ohne daß eine Spur feindseligen Dünkels zurückbleibt. Denn das höchste
Ziel wahrer Wissenschaft ist die Entschlüsselung der Wirklichkeit. In der
menschlichen Kommunikation muß die Entdeckung der Wirklichkeit ebenfalls
vorrangiges Ziel sein. Die Wirklichkeit ist in diesem Zusammenhang nicht die
Wirklichkeit der Natur, physikalischer Gesetze oder wissenschaftlicher
Grundaussagen. In zwischenmenschlichen Beziehungen ist die Wirklichkeit
gleichbedeutend mit der Einheit.
Menschen fühlen sich von Natur aus zueinander hingezogen. Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte immer neuer Dimensionen der Einheit unter den Menschen. Am Anfang war es die Familie, dann bildete sich der Familienverband, der Stamm, die Stadt und der Staat. In unserer heutigen Welt sind wir uns vollkommen bewußt, daß die Menschheit eine weitergehende Einheit schaffen muß, in der alle unterschiedlichen nationalen, rassischen, religiösen und ideologischen Gruppierungen der Welt zusammengeführt werden, um eine menschenwürdige Welt voll Zusammenarbeit, Frieden, Kreativität, Gerechtigkeit und Freude zu schaffen. Dieser Schritt zur Einheit ist nicht nur Gedankenspiel, Hoffnung und Sehnsucht, er ist Wirklichkeit. Einheit ist die Wirklichkeit des Menschen als vollkommenster Ausdruck unserer Bestimmung zum »edel« erschaffenen Wesen und als unser wahrer Wesenskern. Die Einheit der Menschheit ist auch Wirklichkeit, da die charakteristischen menschlichen Eigenschaften — Wissen, Liebe und Willenskraft — ohne Einheit keine Möglichkeit haben, sich zu entwickeln und zur vollen Entfaltung zu gelangen.
Fehlt es an Einheit, so verfällt zwischenmenschliche Kommunikation und
die schöpferischen Kräfte werden durch Wettstreit, Rivalität, Streit und
schließlich in Kriegen verschlissen. Ohne Einheit bewegt sich jede Gruppe auf
einem potentiellen Schlachtfeld, in einer Arena der Konkurrenzkämpfe. Unter
diesen Umständen ist gewöhnlich das Ziel der Kommunikation zu gewinnen,
Kontrolle auszuüben und notfalls zu zerstören. Ohne das Bewußtsein oder
die Annahme der Einheit als wichtigster Realität im zwischenmenschlichen
Umgang wird der Kommunikationsprozeß sehr problematisch und konfliktträchtig.
Ideen werden verteidigt, als seien sie identisch mit der Person, die sie
vorgetragen hat, und jeglicher Widerspruch gegen diese Ideen wird als Angriff
gewertet. In der typischen Kommunikation unterscheiden die Beteiligten nicht
zwischen ihrer Person, ihren Ideen und den Quellen ihrer Ideen. So rührt
gelegentlich der Gedanke zu einem vorliegenden Problem von unseren
moralischen, ethischen oder religiösen Vorstellungen her, während ein andermal
unsere Gedanken das Ergebnis unseres Verständnisses wissenschaftlicher
Prinzipien widerspiegeln. Unter anderen Umständen haben wir Vorstellungen,
die vorwiegend unserem Eindruck von gegenwärtigen oder vergangenen
Vorkommnissen entsprechen und keinen Bezug zu moralischen oder
wissenschaftlichen Quellen haben. Gewöhnlich sind unsere Überlegungen jedoch
ein Nebenprodukt aller möglichen Weltanschauungen, zu dem man meist
mit einer mäßig fundierten oder fehlenden methodischen Auswertung der
zugrundeliegenden Quellen gelangt. Aus diesem Grund sind unsere
Vorstellungen eher Ausdruck unserer Gefühle, Hoffnungen, Ziele, Zweifel,
Unsicherheit und Wut denn Ausdruck von Erfahrung und Wissen um die Wirklichkeit.
Daraus folgt, daß unsere Vorstellungen nicht von unserer Persönlichkeit
getrennt werden können, so daß wir Kritik an unseren Ideen als Kritik an
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unserer eigenen Person verstehen. Dies führt zu Uneinigkeit und fördert die
Entstehung von Konflikten in der Kommunikation. Im Kontext der konfliktfreien
Konfliktlösung müssen unsere Ideen von unserem Selbstwertgefühl getrennt
und auf objektive Weise zum Ausdruck gebracht werden. Der Sprecher sollte
sich also bewußt sein und als Tatsache annehmen, daß seine Ansicht zum
Eigentum der Gruppe wird, nachdem sie von ihm geäußert wurde. Kommt man
nach genauem Abwägen des Gedankens zu dem Schluß, daß er keine Vorzüge
bietet, so sollte sogar der Initiator des Vorschlags davon Abstand nehmen
und ihrer Ablehnung zustimmen.
e) Bei konfliktfreier Konfliktlösung ist es besser, sich zu irren und einig zu sein, als Recht zu haben und uneins zu sein.
Es wurde bereits festgestellt, daß im Bereich der menschlichen Kommunikation »Wirklichkeit« und »Einigkeit« gleichbedeutend sind. Weiterhin wurde festgestellt, daß konstruktive Kommunikationsformen einfach unterschiedlichen Arten und Graden entsprechen, worin Einigkeit ihren Ausdruck findet. So sind Familien, Stämme und Nationen Beispiele der Einigkeit in verschiedenen menschlichen Gruppierungen. Vollkommenster Ausdruck menschlicher Wirklichkeit und Kommunikation ist die Einheit der Menschheit. Sie ist zum absoluten Imperativ am Scheideweg unseres kollektiven Wachstums geworden. Es kann nicht genug betont werden, daß ohne Einheit alle menschliche Kommunikation vollkommen nutzlos ist. Damit drängt sich die Frage auf: »Was ist der wichtigste Zweck menschlicher Kommunikation?« Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst danach fragen, welche Merkmale uns Menschen vom Tier unterscheiden. Die Antwort lautet, daß es im wesentlichen drei grundlegende und eindeutig menschliche Merkmale und Fähigkeiten gibt: Erkenntnis, Liebe und Willenskraft.
Die Fähigkeiten zu erkennen, bewußt wahrzunehmen und Bewußtsein zu erlangen, uns selbst und unsere Welt zu verstehen und abstrakte sowie konkrete Wirklichkeiten entdecken zu können, sind einzigartige, menschliche Eigenschaften. Darüberhinaus kennt des Menschen Wissensdurst keine Grenzen, und der Wunsch nach Mitteilung dieses Wissens ist unerschöpflich. Deshalb kommunizieren Menschen miteinander, um ihr Wissen zu teilen und voneinander zu lernen. Sie kommunizieren in der Hoffnung, etwas über sich selbst, den anderen und die Welt als Ganzes zu erfahren. Dies ist eine der wichtigsten Funktionen menschlicher Kommunikation.
Der zweite wichtige Zweck der Kommunikation ist, Liebe zum Ausdruck zu bringen. Menschen sind von Natur aus Liebende und sind bestrebt, diese Liebe mit anderen Menschen zu teilen. Im Lauf des Lebens erscheint der erhabenste, mächtigste und erfüllendste Ausdruck menschlicher Liebe in der Beziehung zu anderen Menschen. Wir kommunizieren, um zu lieben und geliebt zu werden.
Die dritte wichtige Funktion menschlicher Kommunikation ist der Ausdruck
unserer menschlichen Willenskraft — zu entscheiden, schöpferisch zu sein
und unser Wissen wie auch unsere Liebe umzusetzen. Gäbe es keinen Willen,
so würden menschliches Wissen und menschliche Liebe sich bestenfalls
auf eine kontrollierte, vorherbestimmte, einfallslose und mechanische
Art ausdrücken, wie es bei den tierischen Ausdrucksmöglichkeiten von
Liebe und Wissen der Fall ist. Wissen und Liebe der Tiere sind primär
instinktiv und vorbestimmt, während menschliche
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Liebe und menschliches Wissen von unserer Willenskraft unterstützt
werden, die uns Freiheit gibt. Unsere Freiheit, Wissen zu erwerben oder
unwissend zu bleiben, liebevoll zu handeln oder abweisend, ist eine
weitere, einzigartige Eigenschaft des Menschen und seiner
Kommunikationsmöglichkeiten. Die Frage nach dem wichtigsten Zweck
menschlicher Kommunikation läßt sich dahingehend beantworten, daß wir
durch Kommunikation den Mitmenschen unsere Erkenntnis, Liebe und
unseren Willen mitteilen.
Das höchste Ziel des Wissens ist die Erforschung der Wirklichkeit und Wahrheit, das vollkommenste Ziel der Liebe ist die Vereinigung und das vollkommenste Ziel des Willens ist die Verwirklichung unserer Erkenntnis und Liebe. Höchstes Ziel und Ergebnis menschlicher Kommunikation ist der Eintritt in einen Zustand erleuchteter Einheit.
Einheit ist jedoch — genau wie die Wirklichkeit — relativ und nicht absolut. Wir sind nie im Besitz aller Aspekte der Wirklichkeit zu jedem gegebenen Zeitpunkt und wir verstehen nur jeweils einen Teil, niemals die gesamte Wirklichkeit. So verhält es sich auch mit menschlicher Kommunikation. Zu einer bestimmten Zeit haben wir jeweils nur eine gewisse Stufe der Einheit erreicht. Es handelt sich hier um einen fortschreitenden Prozeß.
Überträgt man diese Prinzipien auf die Praxis der konfliktfreien Konfliktlösung, gelangt man zu ihrer letzten und wichtigsten Bedingung. Damit Kommunikation konfliktfrei, fruchtbar und dauerhaft ist, muß die Einheit der kommunizierenden Gruppe als vorrangiges Ziel gewährleistet sein. Die Gruppe wird keinen Bestand haben, wenn sie uneinig ist, und Wirklichkeit und Wahrheit werden nicht erfaßt, solange Wissen und Liebe unter den Beteiligten nicht frei und ohne Zögern geteilt werden.
Weiterhin muß ihr Wille zu Gemeinsamkeit und Eigenständigkeit genutzt werden, um weitere Aspekte der Wahrheit zu entdecken und die Kraft der Liebe im Licht wachsenden Verständnisses voneinander in die Tat umzusetzen.
Von der Theorie zur Praxis
Die Durchführung jedes Konzepts erfordert Kenntnis und die Bereitschaft, mit den neu vorgebrachten Verfahrensweisen zu experimentieren. Bis jetzt war die Anwendung der konfliktfreien Konfliktlösung auf die Bahá’í-Gemeinde beschränkt, doch ist sie deshalb noch keineswegs auf bestimmte Gruppen begrenzt. Die Bahá’í-Beratung, auf der die konfliktfreie Konfliktlösung basiert, war und ist seit mehreren Jahrzehnten das wichtigste Mittel der Problembewältigung, Konfliktlösung und Entscheidungsfindung in Bahá’í-Gemeinden auf der ganzen Welt. In einigen Bahá’í-Körperschaften wird diese Methode auf hohem Niveau mit beachtlichem Erfolg eingesetzt, während die Bahá’í-Konzepte und Methoden der Beratung in anderen Bahá’í-Gremien auf elementarer Ebene praktiziert werden. Diese Unterschiede in der Verfeinerung des Beratungskonzepts resultieren aus dem verschiedenen Erfahrungsstand der jeweiligen Gruppe. In allen Fällen jedoch werden die wesentlichen Merkmale der Bahá’í-Beratung mit beträchtlichem Respekt beachtet und überall ist man ständig bemüht, sie von der Theorie in die Praxis umzusetzen. Ein ausführlicher Bericht über diese Bemühungen würde nach einer systematischen, umfassenden Untersuchung und Methodik verlangen. Hauptanliegen dieser Ausführungen ist es jedoch, das Konzept der konfliktfreien Konfliktlösung darzulegen und darauf hinzuweisen, daß diese Methode unter den verschiedensten Umständen mit großem Erfolg angewendet wird.
- 1) ‘Abdu’l-Bahá, zitiert in Beratung, Hofheim-Langenhain 1979, S. 8
- 2) a.a.O. S. 8f
- 3) a.a.O. S. 8
Völkerverständigungsfest Bad Mergentheim:
»WELTFRIEDEN IM KLEINEN«[Bearbeiten]
- Zum zweiten Mal war der »Johanniterhof« in Bad Mergentheim (rechts) Schauplatz eines Völkerverständigungsfestes der Bahá’í-Gemeinde. Tausende kamen und lernten unter anderem Folklore aus vielen Ländern kennen (im Bild unten: jugoslawische Tanzgruppe).
»Warst du schon bei den Polen?« — »Nein, aber ich habe schon bei den Chinesen und bei den Türken etwas gegessen...« Ein typisches Gespräch hier im Johanniterhof in Bad Mergentheim. Das »2. Internationale Völkerverständigungsfest« bringt die verschiedensten Kulturen und Nationalitäten einander näher, auch rein räumlich gesehen. Die 18 verschiedenen Stände und die Bühne lassen in diesem hübschen Innenhof gerade noch genug Platz für die Besucher, die nur drei Meter zu gehen brauchen, um von den Polen zu den Türken zu kommen. Weitere zehn Meter, und schon ist man in der »chinesischen Ecke«.
»Weltfrieden im Kleinen« lautet das Motto, das die Bad Mergentheimer Bahá’í-Gemeinde ihrem 2. Völkerverständigungsfest gegeben hat. Und offensichtlich kann auch Frieden durch den Magen gehen: Die verschiedenen Spezialitäten und Leckereien aus den einzelnen Ländern erfreuen sich großer Beliebtheit, Berührungsängste verschwinden, auch Unbekanntes wird gerne probiert. Deutsche, Türken, Jugoslawen sitzen gemeinsam an Tischen und essen — durchaus keine Selbstverständlichkeit in einer Kleinstadt mit eher konservativer, wenig offener Sozialstruktur.
Auf der Bühne sollte es eigentlich 13 Programmpunkte geben, ebenfalls aus
ganz verschiedenen Teilen der Welt: Von Amerika über Europa und den Orient
bis nach Indien. Doch es werden nur 12. Denn die türkische Musikgruppe, die
aus Mannheim eigens zum Völkerverständigungsfest
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nach Bad Mergentheim kommen wollte, hat auf dem Weg einen Unfall.
Ausgerechnet! Denn die Türken wollten nicht einmal ihre Fahrtkosten in
Rechnung stellen, sie, die sonst hauptsächlich auf türkischen Hochzeiten
spielen, waren — wie viele andere — von der Idee des
Völkerverständigungsfestes angetan und bereit, die Veranstaltung aktiv
zu unterstützen.
Überhaupt die »Mitmacher«, wie die Aktiven von den Organisatoren genannt werden: Nicht nur, daß sie gekocht, gebacken, dekoriert, geprobt, einstudiert und vorbereitet haben, ohne etwas für sich selbst zu verlangen; mit ihrer Begeisterung tragen sie auch erheblich zu der verbindenden Atmosphäre bei, die das Völkerverständigungsfest von anderen Veranstaltungen deutlich unterscheidet: Man fühlt sich einfach wohl an diesem Tag im Johanniterhof. Das gilt auch für die Kinder, denen mit einem Zauberer und einem wirklich »bezaubernden« Kindertheater zwei eigene Programmpunkte gewidmet sind. Der Funke springt später auch auf die erwachsenen Besucher über, als die jugoslawische Tanzgruppe die Bühne mit dem Pflaster des Johanniterhofs tauscht und das Publikum mit Erfolg zum Mitmachen motiviert.
Daß alle Reinerlöse an die Aktion Sorgenkind gehen, macht das Fest für viele noch interessanter: Insgesamt 500 Preise, darunter sehr schöne Gegenstände, wurden für eine Tombola gestiftet, ein Großteil davon übrigens von den Schülern. Auch das ZDF ist aus diesem Grund da. Es filmt für eine »Dankeschön«-Sendung der Aktion Sorgenkind.
Inhaltlich wird das Thema »Völkerverständigung« an einigen Ständen auf
- Nicht nur weit entfernte, sondern auch sehr alte Kulturen wurden lebendig: Chinesische Kalligraphie (oben) und traditioneller indischer Tempeltanz (rechts) beim Völkerverständigungsfest.
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sehr unterschiedliche Weise aufgegriffen: Die Esperanto-Jugend stellt ihre
verbindende internationale Sprache vor, die »Gesellschaft für bedrohte Völker«
weist auf Unterdrückung von Volksgruppen in der Welt hin, die
Bahá’í-Gemeinde geht auf das Motto »Weltfrieden im Kleinen« ein und zeigt,
daß allein in Bad Mergentheim 38 Nationalitäten vertreten sind, was allgemein
großes Erstaunen auslöst. Außerdem wird auf den Besuch ‘Abdu’l-Bahás
vor 75 Jahren in Bad Mergentheim und Sein Engagement für den Frieden
hingewiesen. »Amnesty international« gedenkt des 40. Jahrestags der
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.
»Schon jetzt ist das Völkerverständigungsfest ein voller Erfolg«, sagt der Vertreter des Landrats Georg Denzer, der die Schirmherrschaft über die Veranstaltung hat. »Allein das Zusammensein der verschiedenen Gruppen und Nationalitäten hier auf diesem Platz ist eine Bestätigung dieser Idee. Der Landrat möchte auch finanziell zum Ergebnis des Völkerverständigungsfestes beitragen...«
Höhepunkt des 1. Oktober im Bad Mergentheimer Johanniterhof ist jedoch der Auftritt einer Frau: Mit prächtigen Originalgewändern und kunstvoll geschminkt zeigt eine Halbinderin »Bharata Natyam«, klassischen indischen Tanz, wie er früher in den Tempeln getanzt wurde. Untermalt mit fernöstlichen Klängen wechseln sich stampfende, temperamentvolle Szenen mit grazilen, nur von Handbewegungen und Gestik bestimmten Darstellungen ab. Nicht nur das Publikum ist fasziniert. Auch die Presse-Reporter, das ZDF-Team und Amateur-Video-Filmer scharen sich mit ihren Kameras um die Bühne. Doch eines wird ihnen nicht gelingen: Die Atmosphäre einzufangen, die hier herrscht. Es ist tatsächlich so etwas wie »Weltfrieden im Kleinen«, und zwar im positivsten Sinne. »Wenn ich gewußt hätte, wie das hier ist«, so der Vater einer chinesischen Familie, die einen Spezialitäten-Stand aufgebaut hat, »hätten wir alles noch viel schöner machen können. Im nächsten Jahr werden wir noch chinesische Lampions aufhängen und alles dekorieren und...«.
- Uwe Still
Peter Khan
FRAUEN — GLEICHWERTIGKEIT UND FRIEDEN[Bearbeiten]
- Dieser Vortrag wurde während einer Bahá’í-Konferenz in Irland im Jahre 1987 gehalten. Eine deutsche Übersetzung erschien erstmals 1988 im Schweizer Bahá’í Magazin.
Es freut mich sehr, daß ich heute abend die Gelegenheit habe, über das Thema
»Frau und Frieden« zu sprechen. Ich beginne mit der Frage: Welcher Zusammenhang
besteht zwischen »Frau« und »Frieden«? Ich denke, daß die Verbindung in einigen
außergewöhnlichen und treffenden Aussagen des Weltzentrums des Glaubens zu
finden ist. Zum Beispiel hat 'Abdu'l-Bahá geschrieben: »Wenn... die
Gleichberechtigung von Mann und Frau verwirklicht ist, wird der Krieg an
der Wurzel ausgerottet. Ohne Gleichberechtigung ist dies unmöglich...«1)
Kürzlich hat das Universale Haus der Gerechtigkeit in der Botschaft »Die
Verheißung des Weltfriedens« geschrieben, daß »die Emanzipation der Frau, die
volle Gleichberechtigung der Geschlechter, eine der wichtigsten, wenngleich
kaum anerkannten Voraussetzungen des Friedens«2) ist. Aus diesen
zwei Aussagen lese ich, daß es in der Welt zwei grundsätzliche Fragen
gibt — zum einen das Erreichen der Gleichwertigkeit zwischen Mann und Frau und
zum anderen die Errichtung des Weltfriedens. Diese zwei Aussagen heben
hervor, daß das eine Voraussetzung des anderen ist. Daraus folgt, daß wir in
unserem Bestreben, den Weltfrieden zu errichten, notwendigerweise unsere
Aufmerksamkeit auf die Frage der Gleichwertigkeit der Menschen richten
müssen. Dies wird dank der Kraft und dem Einfluß der Bahá’í-Lehren
Wirklichkeit werden.
Drei Grundfragen
Heute abend will ich drei grundsätzliche Fragen in Betracht ziehen. Erstens die Frage der Gleichwertigkeit von Mann und Frau, zweitens die Verbindung zwischen der Rolle der Frau und der Verwirklichung des Weltfriedens und drittens kurz die Möglichkeiten, die sich der Bahá’í-Gemeinde bieten, um die Errichtung dieser Gleichwertigkeit zu fördern und zu pflegen.
Wir tun dies im Kontext des Zeitgeschehens, wo unsere Umwelt ein breites
Spektrum von Meinungen aufweist. Das eine Extrem kommt im aufsteigenden
und wachsenden Einfluß des konservativen Fundamentalismus in Religion und
Philosophie zum Ausdruck, der sich dagegen wendet, der Frau größere Rechte
zuzugestehen, das andere Extrem im Fanatismus gegen den Mann, der extremen
Richtung der Frauenbewegung. Wir müssen diese Frage im Zusammenhang mit
der Tatsache berücksichtigen, daß das Universale Haus der Gerechtigkeit
in seiner Aussage die Bahá’í-Weltgemeinde als ein Modell zur
Errichtung der Welteinheit angeboten hat und uns auch davor gewarnt hat,
daß durch unser Hervortreten aus der Verborgenheit mehr und mehr kluge,
skeptische und sogar mißtrauische
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Menschen die Bahá’í-Gemeinde genau prüfen und unsere Erfolgsnachweise
wie unser Handeln untersuchen werden in der Hoffnung, Diskrepanzen
zwischen unseren Lehren und unserer derzeitigen Vorgehensweise zu finden. In
diesem Zusammenhang befassen wir uns mit der Frage der Gleichwertigkeit
zwischen Mann und Frau und den Anstrengungen der weltweiten Bahá’í-Gemeinde,
diese in die Tat umzusetzen.
Status und Behandlung der Frau in früheren Zeiten
Ich möchte mit einem kurzen Rückblick auf den Status und die Behandlung der Frau zu früheren Zeiten beginnen. Man könnte fragen, weshalb wir nicht einfach die Bahá’í-Lehren studieren und sehen, was diese uns sagen. Meine Antwort ist, daß ich es für nützlich halte zu sehen, wie die Frauen in der Geschichte behandelt wurden, denn dies vermittelt uns einen Hintergrund, um die Bahá’í-Prinzipien angemessen zu beurteilen und wertzuschätzen, mit ihrer Neuartigkeit, Bedeutung und ihren weitreichenden Folgerungen. Es ermöglicht uns auch, die Herausforderung besser zu erfassen, der wir als Bahá’í gegenüberstehen, wenn wir unsere Prinzipien in eine Nicht-Bahá’í-Umgebung einbringen, die weitgehend gemäß anderen Ansätzen funktioniert.
Ich möchte mit einem Blick in die Vergangenheit beginnen, auf die Art und Weise, wie die Frau aus der historischen Perspektive gesehen wurde. Dies ist natürlich ein kontroverses Thema. Einige finden, daß Frauen in der Vergangenheit ziemlich schlecht behandelt wurden. Andere wieder behaupten, dies sei eine Übertreibung und in Wirklichkeit nicht ganz so schlimm gewesen. Es bestehen Meinungsverschiedenheiten, sogar Streitgespräche in der breiten Gesellschaft, eventuell sogar in der Bahá’í-Gemeinde, bezüglich der Frage, wie Frauen in der Geschichte behandelt wurden. Aber diese Frage ist sehr leicht beantwortet. Wir müssen uns nur an die autorisierten Aussagen von 'Abdu'l-Bahá halten. Sehen wir, was Er sagt. Ich lese zwei Abschnitte von ‘Abdu’l-Bahá diesbezüglich vor. Erstens sagt Er: »In vergangenen Zeiten meinte man, Frau und Mann seien nicht gleichwertig — das heißt, die Frau galt als dem Manne unterlegen, sogar im Hinblick auf ihre Anatomie und Erschaffung. Man hielt sie vor allem für weniger intelligent, meinte weltweit, ihr sei nicht erlaubt, in entscheidenden Fragen mitzusprechen. In einigen Ländern ging der Mann soweit zu glauben und zu lehren, die Frau gehöre einer niedrigeren Stufe an als der des Menschen.«3) Noch eine der vielen Aussagen dazu von 'Abdu'l-Bahá: »In Indien, Persien und im ganzen Orient galt sie früher nicht als menschliches Wesen. Einige arabische Stämme zählten ihre Frauen zum Viehbestand. In ihrer Sprache bedeutet das Wort für Frau auch Esel, das heißt, für beide wurde derselbe Name gebraucht, und der Reichtum eines Mannes wurde nach seinem Besitz an Lasttieren bemessen. »Du Weib: war die schlimmste Beleidigung für einen Mann... Früher hielt man es für weiser, wenn die Frau weder lesen noch schreiben konnte; sie sollte sich nur mit mühseliger Arbeit quälen.«4) So können wir sehen, daß uns 'Abdu'l-Bahá sehr deutlich und bündig erklärte, wie die Frauen früher allgemein behandelt wurden. Warum hat ‘Abdu’l-Bahá dies geschrieben? Was meinte Er mit diesen sehr kraftvollen Aussagen, die ich soeben vorgelesen habe?
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Die Ungleichwertigkeit der Frau in der Geschichte
Ich denke, wir können beim Betrachten der Geschichte die Art und Weise, wie sich die Ungleichwertigkeit der Frauen ausdrückt, in bestimmte Kategorien von Vorstellungen oder historischen Ansichten einteilen. Zum Beispiel war eine frühere Vorstellung von der Minderwertigkeit der Frau verbunden mit der »Mutter Natur«. Frauen waren eine Quelle der Fruchtbarkeit mit Zugang zu einer mysteriösen, unkontrollierbaren Kraft. Frauen opferten den Naturkräften. Dies ist bei den bedeutenderen Göttinnen der Antike und den Analogien im Lied des Königs Salomo aus dem Alten Testament ersichtlich. Der Frau wurden mysteriöse Kräfte zugeschrieben, die mit Tabus und reinigenden Riten kontrolliert werden mußten. Eine andere historische Ansicht, in der die Frau nicht gleichwertig behandelt wurde, war die Frau als Zauberin, als Werkzeug des Bösen, was durch den Einsatz der Sexualität als Ursache des Niedergangs des Mannes durch seine Verführung hinweg von den hehren Zielen seines Lebens zum Ausdruck kam. Also wurden die Frauen wegen ihrer sexuellen Promiskuität verschleiert und eingeschlossen. Wir können dies heute abgeschwächt bei der Behandlung von Vergewaltigungsopfern sehen, wo sehr oft die Rechtfertigung gebraucht wird, daß die Frau die Vergewaltigung durch ihre Art, sich zu geben oder zu kleiden, herausgefordert habe.
Eine andere Sicht der Minderwertigkeit der Frau war, ihr Anderssein als irrational, launisch, emotional und nicht bildungsfähig zu werten. Noch eine weitere, sehr oft in orthodoxen Religionen vorkommende Ansicht war, die Frau als Vorbild der Tugend, fromm, jungfräulich, gehorsam und dem Mann ergeben, mit hausfraulichen Pflichten vollauf beschäftigt, ohne gesetzliche oder politische Macht zu sehen, die alles Intellektuelle dem Mann überläßt, sei dies ihr Vater, Ehemann oder Bruder. Diese Betrachtungsweise konnte sich über lange Strecken der Geschichte halten und sogar in einigen Gesetzen festsetzen. Das napoleonische Gesetzbuch von Frankreich im Jahr 1804 sagte: »Jene Personen ohne Rechte sind: Minderjährige, Ehefrauen, Kriminelle und geistig Behinderte.« Frauen hatten unter dem napoleonischen Gesetz keine Rechte. Schopenhauer schrieb, daß Frauen eingeschränkt werden sollten und wegen ihrer besonderen Natur einen Vormund brauchten sowie zum Gehorchen daseien. So drücken all diese verschiedenen Ansichten die Nichtgleichwertigkeit der Frau aus.
Die Rolle der Frau in der Religion
Was hat die Religion dagegen unternommen? Wieder finden wir Kontroversen vor.
Die Rolle der Religion bei der Behandlung der Frau weist wieder
ein breites Spektrum von Ansichten auf und wir orientieren uns nochmals an
den heiligen und maßgebenden Schriften unserer Religion. In den Bahá’í-Schriften
finde ich drei Prinzipien vor, die mir helfen, die Art und Weise zu verstehen,
wie die Frau von der Religion behandelt wurde. Das erste Prinzip
kommt in einer Aussage Bahá’u’lláhs zum Ausdruck, welche besagt:
»Im Angesicht Gottes waren Frauen und Männer von jeher gleich und werden es
immer sein«.5) Also ein Prinzip heißt Gleichheit im Angesicht Gottes.
Das zweite Prinzip lautet, daß die Frau größeren moralischen Mut besitzt.
'Abdu'l-Bahá sagte: »Die Frau hat einen stärkeren Charakter als der Mann; sie hat
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auch besondere Gaben, die sie in Gefahr und Krisenzeiten befähigen, den
Überblick zu bewahren.«6) Das dritte Prinzip besagt, daß
Religionen in der Vergangenheit den Mann über die Frau gestellt
haben. ‘Abdu’l-Bahá sagte: »Er«, d.h. Bahá’u’lláh, »verfügte die
Ebenbürtigkeit von Mann und Frau. Dies ist einzig in den Lehren
Bahá’u’lláhs, denn alle anderen Religionen haben den Mann der
Frau übergeordnet.«7)
Also drei Grundsätze: Gleichheit vor Gott, Frauen im Besitz größeren moralischen Mutes als Männer sowie die untergeordnete Stellung der Frau in allen Religionen. Diese drei Grundsätze sind meiner Meinung nach die Grundlage, nach der die Religionen hinsichtlich der Behandlung der Frau durchleuchtet werden müssen. Beispielsweise finden wir zur Frage der Gleichheit vor Gott in den entsprechenden Texten der großen Religionen der Welt wunderbare Aussagen, die diese geistige Einheit in den Worten der Offenbarer ausdrücken. Dort liegen diese Worte authentisch vor. Diese Gleichheit wird im Qur’án, im Neuen Testament, den Briefen an die Galater sowie in anderen heiligen Schriften gefunden.
Das zweite Prinzip ist das des moralischen Mutes. 'Abdu'l-Bahá sagte, daß die Frau größeren moralischen Mut als der Mann besitzt. Wenn wir die historische Religionsgeschichte betrachten, sehen wir, daß Frauen in den Frühzeiten jeder Religion eine außergewöhnliche Rolle gespielt haben und ihr dadurch Stärke, Überzeugungs- und Führungskraft gaben. Betrachten Sie beispielsweise die Rolle der Maria Magdalena im Christentum, die Rolle der Khadíjih durch ihre Unterstützung Muḥammads in den frühen Tagen Seiner Offenbarung, und Fátimihs Mut und Beistand während der Verfolgung Muḥammads. Ṭáhirih, Navváb und Bahíyyih Khánum in der Zeit 'Abdu'l-Bahás und des Hüters, Bahíyyih Khánums mutige Unterstützung ‘Abdu’l-Bahás und des Hüters, ihre Führungsübernahme während einer Übergangsphase in den frühen Tagen des Hütertums. Dies und andere Beispiele in der Religionsgeschichte zeigen uns jenen moralischen Mut, von dem ‘Abdu’l-Bahá spricht.
Nun zum dritten Prinzip mit der Aussage, daß die Religion den Mann über die Frau stellt. Ich glaube, hier müssen wir unterscheiden zwischen sozialen Prinzipien und geistigen Werten. Sicherlich sehen wir beim Betrachten der verschiedenen Religionen dieser Welt, daß es einen sozialen Unterschied zwischen Mann und Frau wegen der bestehenden sozialen Umstände und Sitten der Umgebung gab. Die Männer waren die Beschützer der Frauen.
Geistiger Wert des Mannes in Beziehung zur Frau
Wie auch immer, die Hauptaussage liegt nicht in den sozialen Prinzipien der verschiedenen religiösen Lehren, sondern eher im geistigen Wert des Mannes in Beziehung zur Frau. Hier, so glaube ich, liegt der Grund für die Unterjochung der Frauen im Zusammenhang mit dem Aufstieg des männlichen Priestertums und einer Theologie, welche in jeder Religion von den Männern bestimmt wurde. Dies ist die entscheidende Aussage zur Behandlung der Frau in der Religion. Im Laufe der Zeit, mit der Zunahme einer männlichen Priesterschaft und der Entwicklung der Theologie, tendierten die Religionen dazu, dem Mann größeren Wert zuzuschreiben als der Frau.
Im Talmud finden wir zum Beispiel: »Gesegnet seiest Du, mein Herr, daß Du
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mich nicht als Heide, als Idiot oder als Frau erschaffen hast.« In den Briefen an
die Korinther des Neuen Testaments: »Frauen sollten sich in der Kirche ruhig
verhalten, es ist ihnen nicht erlaubt zu sprechen, doch sollen sie untergeordnet
sein, da sogar das Gesetz besagt: ›Sollten sie wissen wollen, so sollen sie ihren
Ehemann zu Hause fragen. Es ist eine Schande für eine Frau, in der Kirche zu
sprechen.‹« Die christlichen Theologen verdammten die Frauen. Totilian verurteilte
im 2. Jahrhundert die Frauen für die Kreuzigung Jesu, weil die Frauen mit
ihrer Natur von Eva abstammen. Eva verführte Adam und brachte ihn vom
hehren Sinn des Lebens ab. Daraus entstand die Erbsünde. Als Folge der
Erbsünde mußte Christus gekreuzigt werden und für drei Tage in die Hölle
hinabsteigen. Deswegen beschuldigte Totilian die Gesamtheit der Frauen der
Kreuzigung Christi. Totilian sagte: »Der Fluch Gottes auf eurem Geschlechte
lebt in diesem Zeitalter, somit lebt auch die Schuld. Ihr seid des Teufels Tor.
Ihr seid die, welche den überredet haben, für dessen Angriff der Teufel selbst
nicht stark genug war.« usw. Einer der Kirchenräte im Jahre 585 sagte: »Sollte
die Frau eine Seele haben, muß sie minderwertiger sein als die des Mannes — so
wie die der Tiere.«
Folgen des religiösen Fundamentalismus
Was wir im Islam vorfinden, als er mit seiner Struktur und Theologie von den ursprünglichen Lehren abwich, steht nicht über dem Christentum. Im allgemeinen haben zeitgenössische muslimische Theologen eine Ansicht von Frauen formuliert, die auf drei Prinzipien basiert.
Erstens führen die biologischen Unterschiede, zum Beispiel die Menstruation, zur Ungleichheit der Frau gegenüber dem Mann. Zweitens sei der männliche Sexualtrieb unkontrollierbar, weshalb Frauen im täglichen Leben abgesondert werden müssen. Drittens habe der Mann die Autorität im Heim inne.
So sehen wir beim Wiederaufleben des islamischen Fundamentalismus, daß das heutige islamische Gesetz die Frauen zunehmend diskriminiert — nicht nur durch Absonderung, Schleierzwang, Einschränkung der Rechte auf Bildung, sondern auch in der rechtlichen Struktur. Wenn zum Beispiel in einem islamischen Land heute eine Frau einen Mann der Vergewaltigung beschuldigt und sie dies nicht beweisen kann, wird sie selbst des Ehebruchs bezichtigt. Ich las kürzlich eine Geschichte von einer blinden, schwangeren Jugendlichen in einem islamischen Land, die zu 15 Schlägen und drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weil sie nicht fähig war, den Beweis für ihre Vergewaltigung zu erbringen. Aufgrund ihrer Blindheit war sie nicht beweisfähig.
Die traditionelle Unterdrückung der Frau, die Verweigerung ihrer Rechte lebt bis zu einem gewissen Grad in der heutigen Welt mit dem Aufstieg des Fundamentalismus im Christentum, Islam, Hinduismus und in anderen Religionen wieder auf.
Betrachten wir einmal die heutige Lage. Die letzten 100 Jahre sind aus einer zweifachen Perspektive zu betrachten. Einerseits bemerkenswerte Entwicklungen in Richtung Gleichwertigkeit, andererseits noch immer Mängel, die der Bahá’í-Gemeinde und den Bahá’í-Lehren Gelegenheit geben, eine wichtige Rolle zu spielen. Es gab Bewegungen in Richtung Gleichwertigkeit, zum Beispiel in der Bildung, der Entwicklung höherer Schulen für Frauen im 19. und 20. Jahrhundert. Diese haben der Gleichwertigkeit einen starken Impuls verliehen.
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Das Stimmrecht für Frauen
Als Bahá’u’lláh 1892 verschied, gab es noch in keinem Land der Welt gleiches Stimmrecht für Mann und Frau. In den folgenden Jahren jedoch erhielten Frauen eine Art Stimmrecht, anfangs in Neuseeland im Jahre 1893, in Australien 1902, gefolgt von weiteren Ländern und schließlich schrittweise in allen Ländern, in denen das Volk stimmberechtigt ist. Interessanterweise wurde in den USA bereits 1848 auf einer Frauenrechtstagung eine Erklärung abgegeben, die nach dem heiligen Recht — dem Wahlrecht für Frauen — verlangte. Das geschah bereits 80 Jahre, bevor es dann in Kraft trat.
Im Arbeitsbereich wurden offensichtlich große Schritte nach vorne gemacht, Frauen den Zugang zu Berufen zu ermöglichen, die ihnen jetzt offenstehen. Doch besteht immer noch ein Widerstand in den traditionellen Berufen wie zum Beispiel der Medizin, Jura und den Naturwissenschaften.
Der Status quo
Damit wir nicht zu selbstzufrieden mit dem Fortschritt in der Befreiung der Frau in den letzten 100 Jahren werden, sollten wir die Mängel, die heute noch bestehen, berücksichtigen. Zum Beispiel erkannte die UNO 1980, daß die Frauen — die Hälfte der Weltbevölkerung — zwei Drittel der Arbeit in dieser Welt verrichten. Dafür beziehen sie ein Zehntel des Welteinkommens und besitzen wiederum ein Hundertstel des Weltvermögens. Gleichzeitig sind zwei Drittel der Analphabeten Frauen. Also bestehen offensichtlich noch große Mängel. Kindermord an Mädchen gibt es noch heute in China und Indien. Die schändliche Verstümmelung weiblicher Geschlechtsteile wird noch in vielen Gegenden dieser Welt praktiziert. Die Verbrennungen von Ehefrauen ist in Indien nichts ungewöhnliches, wenn die Ehefrau zu wenig Mitgift mitbringt, und so fort.
Das Aufkommen des Fundamentalismus habe ich bereits erwähnt. Es gibt viele solcher Entwicklungen. Die Internationale Bahá’í-Gemeinde in New York führte 1984 eine Befragung von 70 Nationalen Geistigen Räten durch. Sie wurden nach ihrer Ansicht über den Status der Frau in ihrem Land befragt. Die Antworten dieser 70 Nationalen Geistigen Räte bezeugen, daß die traditionelle Minderwertigkeit der Frau in fast allen Ländern existiert. Die männliche Dominanz beim Treffen von Entscheidungen, Einschränkungen der Freiheit bezüglich des Reisens der Frauen, die Machtüberlegenheitsstellung, das Mißachten der Meinung der Frau in Diskussionen. Es gibt noch immer maßgebende Barrieren bei der Beförderung am Arbeitsplatz. Frauen besetzen in den meisten Organisationen öfters die schlechter bezahlten und weniger einflußreichen Positionen. Mit der Zunahme der Lasterhaftigkeit in den zerfallenden Gesellschaften rund um den Erdball wurde die Stellung der Frau weit schwieriger. Die Zunahme der Pornographie, die Verbindung von Pornographie und Gewalttätigkeit, der Gebrauch von Sex-Inseraten, der Umstand, daß Frauen Opfer von Kriminellen und Psychopathen werden, die Angst vor Vergewaltigung, der Zwang zur Prostitution wegen Arbeitslosigkeit, die Frau als Sündenbock für Arbeitslosigkeit, Ehescheidung und Jugendkriminalität. All dies sind Beispiele für die Mängel, die heute noch bei der Behandlung der Frauen existieren.
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Die Rolle der Frau in der Familie
Bevor wir zu den Bahá’í-Lehren kommen, wollen wir noch kurz die geschichtliche Rolle der Frau in der Familie betrachten. Bis jetzt haben fast alle menschlichen Gesellschaften den Mann als Hausherrn definiert. Dies wurde wie folgt praktiziert: die Frau muß dem Mann gehorchen, der Mann trifft die Entscheidungen und die Frau ist hauptsächlich auf das Heim beschränkt. Im Christentum finden wir zum Beispiel im Brief an die Epheser: »Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter wie dem Herrn, denn der Mann ist das Haupt der Frau, wie auch Christus das Haupt der Kirche ist; Er hat sie gerettet, denn sie ist Sein Leib. Wie aber die Kirche sich Christus unterordnet, sollen sich die Frauen in allem den Männern unterordnen.«8)
Wir finden ähnliche Ansätze in anderen Gesellschaften der Welt. Die weibliche Reaktion auf diese männliche Dominanz im Heim war von zweierlei Art. Eine ist die unterwürfige Einordnung bis zum Mitmachen, das sogenannte »weibliche Hilflosigkeits-Syndrom«, von dem man von Zeit zu Zeit liest. Die zweite Art zeigt sich in der unterdrückten Reaktion durch Widerstreit, durch den Versuch, das Ansehen des Vaters bei den Kindern zu zerstören, durch Verleumdung usw. All dies sind Reaktionen auf die männliche Dominanz im Heim. Eine der tragischen Erscheinungen in der menschlichen Gesellschaft war die Erzwingung männlicher Dominanz im Heim mit Hilfe der körperlichen Kraft und, im Extremfall, durch das Schlagen der Frau. Die meisten menschlichen Gesellschaften scheinen mit dem Stigma dieser Praktik befleckt zu sein, in der Vergangenheit wie in der heutigen Zeit. Das britische Gesetz des 19. Jahrhunderts berechtigte den Ehemann »seine Ehefrau mit jedwedem vernünftigen Gegenstand zu züchtigen.« Später wurden die Gerichte beauftragt zu definieren, was sie unter einem »vernünftigen Gegenstand« verstanden. Und sie definierten ihn als eine Rute, die nicht dicker als ein Männerdaumen sein sollte. Mit anderen Worten, ein Mann durfte seine Frau züchtigen, vorausgesetzt, er benutzte eine Rute, nicht dicker als sein Daumen.
1871 entschieden Gerichte in den USA, daß es an der Zeit sei, ein altes Privileg aufzuheben; dieses alte Privileg war das Recht des Mannes, seine Frau mit einem Stock zu schlagen, sie an den Haaren zu ziehen, sie zu würgen, ihr ins Gesicht zu spucken, sie zu treten oder mit Beleidigungen zu strafen. Dies sind Auszüge aus der Regelung des US-Gesetzes im Jahre 1871. Sie besagten, daß die Zeit für uns gekommen sei, diese Art von Praktiken aufzuheben. Und wie vielen von Ihnen bekannt sein wird, ist das Schlagen von Frauen auch heutzutage nichts unbekanntes. Letzthin habe ich einen Bericht über einen Gerichtsfall im Staate New York gelesen, in dem eine Frau des Mordes an ihrem Ehemann überführt wurde. In der Verhandlung wurde bekannt, daß er sie die Treppe hinuntergestoßen, unter der Dusche verbrüht und sie mit Zigaretten verbrannt hatte. Nach jahrelangem Erdulden tötete sie ihn und verbüßt nun eine 15jährige bis lebenslängliche Haftstrafe. Frauenmißhandlung ist also noch heute ein Problem, genauso wie in der Vergangenheit. Eine kürzlich erstellte soziologische Studie über das Schlagen von Frauen kam zu folgendem Schluß: »Volle geschlechtliche Gleichwertigkeit ist unumgänglich, um das Schlagen von Frauen zu verhüten.«
Wenden wir uns nun nach diesem Überblick dem Studium der Bahá’í-Lehren
zu diesem so wichtigen und ziemlich komplexen Thema zu.
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Hüter sagt uns, daß die Stellung der Frauen in den Bahá’í-Lehren nicht allein
rechtlich festgelegt ist, sondern auch geistig und erzieherisch wirkt. Wir
können diese Lehren unter verschiedenen Kategorien betrachten. Erstens das
ihnen innewohnende Prinzip der Gleichwertigkeit. Ich werde einige Abschnitte
zitieren, wobei die meisten aus einer Textzusammenstellung über
Frauen stammen, die kürzlich vom Universalen Haus der Gerechtigkeit
herausgegeben und von der Forschungsabteilung des Bahá’í-Weltzentrums
zusammengestellt wurde.
Erstens nun zum Prinzip der Gleichwertigkeit: Es gibt Aussagen von Bahá’u’lláh, wo Er sagt: »An diesem Tag hat die Hand göttlicher Gnade alle Unterschiede getilgt. Gottes Diener und Seine Dienerinnen stehen auf derselben Stufe.«9) ‘Abdu’l-Bahá bezieht sich auf Mann und Frau und sagt, »daß es vom geistigen Standpunkt aus keinen Unterschied zwischen ihnen gibt.«10) Somit sind die Aussagen in unseren religiösen Schriften sehr klar und bringen deutlich zum Ausdruck, daß aus geistiger Sicht kein Unterschied zwischen Mann und Frau besteht.
Andernorts bezieht sich 'Abdu'l-Bahá auf die Menschenwelt, bestehend aus zwei Hälften, der männlichen und der weiblichen, und erklärt: »Eine ergänzt die andere.«11) An manchen Stellen rufen die Schriften Mann und Frau dazu auf, sich nicht einer über den anderen zu erheben. Andere Passagen enthalten die Aussage, daß die Gesetze für Mann und Frau gleichermaßen anzuwenden sind.
Zweitens nun zu den Bahá’í-Lehren über Ehe und Familie. Hier finden wir einen wichtigen und bedeutenden Unterschied zwischen den Bahá’í-Lehren und der Praxis in menschlichen Gesellschaften weltweit, die Jahrhunderte und vielleicht Jahrtausende währte. In unserer Religion basiert die Beziehung in der Ehe und innerhalb der Familie auf Gleichwertigkeit und Beratung ohne Herrschaft des einen über den anderen. Hierzu einige Passagen.
Das Universale Haus der Gerechtigkeit schreibt: »Die Atmosphäre in einer
Bahá’í-Familie sollte ebenso wie in der gesamten Gemeinde »den Grundton der
Sache Gottes: ausdrücken, der, wie der Hüter erklärt hat, ›nicht diktatorische
Gewalt, sondern demütige Freundschaft ist, nicht despotische Machtausübung,
sondern der Geist freier, liebevoller Beratung.‹«12) An einer anderen
Stelle bezieht sich das Universale Haus der Gerechtigkeit auf das Treffen von
Entscheidungen zwischen Eheleuten. Es heißt: »Beratung in der Familie, bei der
offen und frei gesprochen wird und die beseelt ist von der Erkenntnis, daß
Mäßigung und Ausgewogenheit notwendig sind, kann das Allheilmittel für häusliche
Konflikte sein. Weder sollten Frauen ihre Ehemänner beherrschen wollen, noch
Ehemänner ihre Frauen.«13) Bemerkenswert ist der Gegensatz dieser
Situation zur männlichen Dominanz beim Treffen von Entscheidungen, welche ein
Charakteristikum der Ehe in der Vergangenheit war. Was geschieht in einer Ehe,
wo Beratung zwischen den Eheleuten stattfindet? Wie sollen Entscheidungen
getroffen werden? Das Universale Haus der Gerechtigkeit bemerkt hierzu:
»...sollte manchmal eine Frau ihrem Mann und manchmal ein Mann seiner Frau
nachgeben, aber keiner sollte jemals den anderen beherrschen.«14)
An einer anderen Stelle erklärt das Universale Haus der Gerechtigkeit
genauer: »Unter welchen
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Umständen man nachgeben sollte, muß jedes Ehepaar selbst entscheiden.«15)
Zu wenigstens einer Gelegenheit sah das Universale Haus der Gerechtigkeit die Notwendigkeit gegeben, sich zu Gewalt in der Familie und Gewalttätigkeit gegenüber der Ehefrau zu äußern: »Gewalt in der Familie steht im Gegensatz zum Geist des Glaubens und ist verabscheuungswürdig. Soll die Grundstruktur unserer Gesellschaft bestehen bleiben, so müssen durchgreifende Anstrengungen unternommen werden, falls nötig sogar medizinische, um Aggression in der Familie, besonders extreme Auswüchse wie das Schlagen der Ehefrau und Kindesmißhandlung durch die Eltern, Einhalt zu gebieten.« In einem Abschnitt bezieht sich Bahá’u’lláh auf die Wichtigkeit, Tyrannei über die Frau durch den Mann zu verhindern: »Die Freunde Gottes müssen sich mit der Zier der Gerechtigkeit, Unparteilichkeit, Güte und Liebe schmücken. Wie sie sich selbst gegen Grausamkeit und Übergriffe verwahren, so ist es ihre Pflicht, derartige Tyrannei von den Mägden Gottes fernzuhalten.«16)
Frauen tragen als erste Erzieherin des Kindes die Hauptverantwortung, so wie
Männer erstverantwortlich für den Unterhalt der Familie sind. Falls das alles
wäre, was uns die Bahá’í-Lehren geben, hätten wir eine sehr traditionelle
Position inne; Frauen zu Hause und Männer als »Brotverdiener«. Aber das ist nicht
alles. In den Bahá’í-Schriften ist für Flexibilität gesorgt, und es bestehen klare
Aussagen, daß der Platz der Frau nicht auf das Heim beschränkt ist. Lassen Sie
mich einen Abschnitt des Universalen Hauses der Gerechtigkeit lesen: »Dieses
Konzept (das Bahá’í-Familienkonzept) beruht auf dem Grundsatz, daß der
Mann die Hauptverantwortung für den Familienunterhalt trägt, die Frau aber
die wichtigste und erste Erzieherin der Kinder ist. Das heißt aber keinesfalls,
daß diese Aufgaben starr festgelegt sind und nicht abgewandelt und den
besonderen Familienverhältnissen angepaßt werden könnten. Es heißt auch nicht,
daß der Wirkungskreis der Frau auf das Haus beschränkt ist. Vielmehr sind
damit zwar Hauptverantwortlichkeiten zugewiesen, aber es ist vorgesehen, daß
Väter eine maßgebliche Rolle bei der Kindererziehung spielen und Frauen
auch den Familienunterhalt verdienen können.«17) Somit erlauben
unsere Lehren einen beträchtlichen Grad an Flexibilität der Rollen — weit
mehr als es in der traditionellen Gesellschaft der Fall ist. In den
Bahá’í-Lehren entspringt die gesellschaftliche Rolle der Frau der Tatsache,
daß unsere Lehren für Jungen wie Mädchen einen gleichen Lehrplan fordern.
In den meisten westlichen Gesellschaften ist es Tradition, daß Jungen
sich in Naturwissenschaften bilden und Mädchen im hauswirtschaftlichen oder
künstlerischen Bereich. Identische Lehrpläne bedeuten, daß Mädchen ebenfalls
Naturwissenschaften studieren und Jungen ebenfalls eine hauswirtschaftliche
Ausbildung erhalten, was zu einer besseren Befähigung und Vorbereitung
für die zukünftige Welt führen würde. Die Schriften benennen spezielle
Gebiete, wo Frauen eine bedeutende Rolle spielen können. 'Abdu'l-Bahá zum
Beispiel spricht davon, daß die Frauen zuversichtlich und fähig die weite
Arena des Rechts und der Politik betreten.18) Er sagt, daß dies
wichtig für die Beendigung der Kriege sei. An einer anderen Stelle sagt
'Abdu'l-Bahá: »Die Frau muß ihre Kräfte und Fähigkeiten vor allem
den Wirtschafts- und Agrarwissenschaften widmen, um der Menschheit
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dort zu helfen, wo es am nötigsten ist.«19)
Diese und andere Abschnitte gewähren uns eine weitere Sicht der Rolle der Frau außerhalb des Heims, in der Industrie, der Landwirtschaft, Rechtsprechung, Politik und anderen Gebieten. Und das Universale Haus der Gerechtigkeit bemerkt: »Im ›Sendschreiben über die Welt‹ hat Bahá’u’lláh selbst in Betracht gezogen, daß sowohl Frauen als auch Männer die Ernährer sein können...«20)
Es gibt noch weitere Abschnitte, die in den Bahá’í-Lehren die rechtmäßige Rolle der Frau als Verdienerin anerkennen und Frauen dazu auffordern zu entscheiden, wie sie diese neben der Verantwortung als Mutter am besten erfüllen können. Das Universale Haus der Gerechtigkeit sagt: »Jede Frau muß nun, wenn sie Mutter wird, entscheiden, wie sie einerseits am besten ihrer Hauptverantwortung als Mutter nachkommen und andererseits so weit wie irgend möglich an anderen Aufgaben der Gesellschaft, der sie angehört, teilnehmen kann.«21)
So viel zu einigen Bahá’í-Lehren über die Gleichwertigkeit von Mann und Frau. Es gibt zwei weitere Lehren, die ich erwähnen möchte. Unsere Lehren zur sexuellen Moral liefern einen wunderbaren Schutz für Frauen wie für Männer, frei an den alltäglichen gesellschaftlichen Aktivitäten außerhalb ihres Heims teilnehmen zu können, sei es allgemein gesellschaftlich, geschäftlich, beruflich, in der Schule oder anderswo, ohne Probleme wie zum Beispiel sexuelle Belästigung, was ein beträchtliches Problem für viele Frauen in ihrer gesellschaftlichen Aktivität geworden ist. Unsere Lehren über Sexualmoral befreien Männer wie Frauen zugunsten einer breiteren Zusammenarbeit in größeren gesellschaftlichen Dimensionen. Und wir sollten die Wichtigkeit des Bündnisses nicht vergessen, denn das Bündnis ist in vielerlei Beziehungen ein Schutz für Frauen. Durch die Unfehlbarkeit des Universalen Hauses der Gerechtigkeit wird der Glaube vor Korruption geschützt und die Gesetzgebung des Universalen Hauses der Gerechtigkeit wird den Geist der Gleichwertigkeit in unseren Lehren authentisch zum Ausdruck bringen. Eine weitere Dimension des Bündnisses ist, daß es das Entstehen eines Priestertums unmöglich macht. Wir haben in der Vergangenheit gesehen, wie nachteilig sich das Priestertum auf die Rechte der Frauen auswirkte. Mehr noch, das Bündnis verhindert die Entstehung von Glaubensinstitutionen, die priesterliches Gebaren verfestigen und dogmatische Stellungnahmen herausgeben, die einer fehlbaren Sichtweise entstammen und Vorurteile gegen Frauen beinhalten könnten.
Engagement für den Frieden
Ich will jetzt konkreter auf die Frage »Frau und Frieden« eingehen. Die Geschichte
des 19. und 20. Jahrhunderts zeigt, daß es eine bedeutende Verbindung zwischen
den Emanzipationsbemühungen der Frauen, dem Bestreben, das Wahlrecht zu erhalten,
an gesellschaftlichen Belangen teilzuhaben und ihre Sorge um den Frieden gab. Ein
Beispiel: Vor über hundert Jahren fand in Großstädten Europas und den Vereinigten
Staaten am 2. Juni 1873 das »Friedensfestival der Frauen« statt. Es entstand durch
eine Frauenorganisation, die betroffen war über das hohe Maß an Leiden im
Französisch-Preußischen Krieg. Sie bildeten eine Frauenorganisation für das
»Friedensfestival der
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Frauen« zur Förderung des Friedens. Dieses Festival forderte zu folgenden
Maßnahmen auf: 1. Die Abschaffung des Krieges durch Abrüstung; 2. Die
Gründung eines Kongresses der Nationen mit bindender internationaler
Rechtsprechung; 3. Die Abschaffung des Verkaufs von Alkohol als Störfaktor
des Friedens; 4. Das Verbot des Waffenhandels und Tragens tödlicher Waffen;
5. Die Abschaffung von Ungleichwertigkeit aufgrund des Geschlechts, der
Hautfarbe oder Rasse und die Legitimation der Rolle der Frau in ihrem Protest
gegen den Krieg, ihrem Angebot zur Schlichtung sowie Vermittlung bei
Meinungsverschiedenheiten.
Vor mehr als hundert Jahren verlangten Frauen und Frauenorganisationen in Nordamerika und Europa von den internationalen Regierungen die allgemeine Abrüstung aller Nationen der Welt und eine verbindliche Rechtsprechung zur Bereinigung internationaler Streitigkeiten. Dieses »Friedensfestival der Frauen« zerfiel schnell in Gruppen wegen der Uneinigkeit über die Militärpolitik gegenüber den amerikanischen Indianern des 19. Jahrhunderts. Jedoch führte dies zu einer Anzahl von Organisationen, die heute noch bestehen wie zum Beispiel die „Women's Peace Party« mit Jane Adams, die „Women's International League for Peace and Freedom« und die »Women' Peace Session« von 1921. Gegen Ende des 2. Weltkriegs unterbreitete die »Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit« der 1919 abgehaltenen Friedenskonferenz Vorschläge. Sie reichten eine Reihe von Anträgen für einen dauerhaften Frieden ein. Diese wurden 1919 von der Friedenskonferenz abgelehnt. Ein Teilnehmer dieser Konferenz war ein Mann namens Gunner Jan. 27 Jahre später, im Jahre 1946, gehörte er dem Nobel-Komitee in Skandinavien an, das Emily Balk für ihre Arbeit in der »Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit« den Friedensnobelpreis verlieh. Zu eben dieser Zeit bemerkte er folgendes: »So viel möchte ich sagen: Es wäre höchst weise gewesen, wenn die Konferenz 1919 die Vorschläge der ›Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit‹ angenommen hätte. Doch nur wenige Männer hörten dem zu, was die Frauen zu sagen hatten. Die Atmosphäre war zu verbittert und voller Rache. Dazu kam vor allem, daß die Vorschläge von Frauen gemacht wurden. In einer patriarchalischen Welt werden Vorschläge von Frauen selten ernstgenommen.« Hiermit möchte ich betonen, daß Frauen im 19. und 20. Jahrhundert mit dem Streben nach Frieden auf beachtliche Weise verbunden waren. Nun, was können wir sagen über die Auffassungsweise der Bahá’í zum Frieden und zur Allianz zwischen der Gleichwertigkeit von Mann und Frau und der Verwirklichung des Friedens? Ich glaube, sie basiert auf drei Hauptprinzipien.
Die Gesellschaft als organische Einheit
Das erste ist unser Prinzip der organischen Einheit, und diese ist ein den meisten
Bahá’í bekanntes Konzept. Wir glauben, daß die Form von Gesellschaft, die wir
durch die Bahá’í-Verwaltungsordnung bilden wollen, eine organische Einheit ist. Sie
gleicht einem Lebewesen, welches das Wohlergehen der einzelnen Elemente in sich
verbindet und wiederum deren wechselseitige Beziehung zum Wohle des Ganzen. Dies
spielt eine bedeutende Rolle bei der Frage der Gleichwertigkeit von
Mann und Frau. Da unsere Lehren zuerst darauf hinweisen, daß Frieden die
Einheit fordert, müssen wir Einheit erlangen, um den Frieden zu erreichen.
Diese Einheit beinhaltet die Einheit der
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Menschheit. Ohne die Einheit der Menschheit haben wir keine grundlegende
Einheit und somit keinen Frieden. Die Gleichwertigkeit von Mann und
Frau hat grundlegende Bedeutung für die Einheit der Menschheit. Es ist nicht
nur eine Frage der Beziehungen zwischen Rassen oder gesellschaftlichen
Schichten, es ist ebenfalls eine Frage der Beziehung zwischen Mann und Frau. In
diesem Sinne also ist die Gleichwertigkeit der Geschlechter ein Grundelement
zur Bildung einer organischen Einheit der menschlichen Gesellschaft mit all
den geistigen Kräften, die unsere Lehren der organischen Einheit zusprechen.
In der Friedenserklärung sagt das Universale Haus der Gerechtigkeit, daß Ungleichwertigkeit im Menschen gefährliche Haltungen hervorruft, die sich auf die weitere Gesellschaft übertragen. Dies wurde auch von 'Abdu'l-Bahá an verschiedenen Stellen bemerkt, zum Beispiel: »Solange den Frauen die höchsten Möglichkeiten verschlossen bleiben, werden die Männer außerstande sein, die Größe zu erlangen, zu der sie fähig wären.«22) Und bezüglich Männern und Frauen (als zwei Hälften der Menschheit) sagt Er: »...Ist eine davon unterentwickelt, so hat zwangsläufig auch die andere Mängel. Vollkommenheit kann so nicht erreicht werden... Erweist sich die eine als behindert, so wird sich dieser Mangel natürlich auch auf die andere auswirken...«23)
Wie ich diese Aussagen verstehe, werden, sofern den Frauen die Gleichwertigkeit verweigert wird, auch die Männer daran gehindert, ihre bestmögliche Entwicklung zu erreichen. ‘Abdu’l-Bahá sagt, daß die Männer daran gehindert werden, die Größe zu erreichen, die ihnen zustände. So sind die Männer in dem Sinne abhängig von den Frauen, daß sie sich selbst an der Verwirklichung ihrer Möglichkeiten hindern, falls der männliche Teil unserer Bevölkerung den Frauen die Gleichwertigkeit verwehrt. ‘Abdu’l-Bahá beschreibt dieses Potential als »die Größe..., zu der sie fähig wären.«24)
An vielen Stellen bezieht sich 'Abdu'l-Bahá auf die wichtige Rolle der Mütter bei der Verwirklichung des Friedens. Er bezieht sich auf die Tatsache, daß Mütter ihre Söhne nicht freiwillig in den Krieg schicken, um niedergeschossen und gnadenlos für irgendeine Sache getötet zu werden, weder für Gebietsansprüche noch für anderes, nachdem sie für ihre Söhne 20 oder mehr Jahre gesorgt haben. Ich glaube, es gibt noch weiterreichende Unterschiede, welche über das Problem, die Söhne in den Krieg zu schicken, hinausgehen. Mit der Mutterschaft ist uneigennütziges Handeln bei der Pflege und Sorge um andere verbunden. Es verlangt das Opfern der eigenen Person für den heranwachsenden Embryo, das Nähren dieses neuen Geschöpfes mit der eigenen Milch, dem Erzeugnis des eigenen Körpers. So bewirkt der eigentliche Vorgang des »Mutterseins« Gefühle der Selbstlosigkeit, stundenlangen Umsorgens und Nährens, anstatt Gefühle der Dominanz und Kontrolle. Um Frieden zu erlangen braucht die Welt diesen ausgeprägteren Sinn des Umsorgens, weniger den der Dominanz. Dies mag ein weiteres Element der Rolle sein, die Frauen beim Erreichen und Bewahren des Friedens spielen werden.
Das Prinzip der Gleichwertigkeit
Ich möchte schließen, indem ich kurz einige Aspekte erwähne, die ich in den
Bahá’í-Schriften als Anleitung zur Umsetzung des Bahá’í-Prinzips der
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Gleichwertigkeit der Geschlechter vorfinde. Welche Richtlinien sollen wir
anwenden, wovor sollen wir uns in acht nehmen, was sollen wir vermeiden, was
sollen wir tun, um die Gleichwertigkeit von Mann und Frau zu verwirklichen?
Ich glaube, daß es hier fünf Grundsätze gibt.
Erstens werden wir in unseren Schriften dazu aufgefordert, Gewalt und Demonstrationen zu meiden. 'Abdu'l-Bahá sagt: »Demonstrationen von Macht, wie derzeit in England, sind der Sache der Frau und der Gleichheit weder angemessen noch zuträglich.«25) Unser Zugang geht nicht über die Gewalt.
Das zweite Prinzip ist nach meiner Auffassung die Einsicht, daß alle Veränderungen Bestandteil eines Entwicklungsprozesses sind. Wir wünschten, es geschähe sofort, sozusagen über Nacht. Doch Menschen funktionieren nicht auf diese Weise. In einer Stellungnahme im Auftrag des Universalen Hauses der Gerechtigkeit heißt es: »Der Grundsatz der Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann kann wie die anderen Lehren des Glaubens tatsächlich und allgemein unter den Freunden verwirklicht werden, wenn er in Verbindung mit all den anderen Aspekten des Bahá’í-Lebens verfolgt wird. Wandel ist ein Entwicklungsprozeß, er erfordert Geduld mit sich und anderen, liebevolle Erziehung und das Vergehen von Zeit, während die Gläubigen ihr Wissen über die Glaubensgrundsätze vertiefen, nach und nach ihre eingewurzelten herkömmlichen Haltungen aufgeben und schrittweise ihr Leben nach den Einheit stiftenden Lehren der Sache ausrichten.»26) Also: Geduld, allmähliche Entwicklung, liebevolle Erziehung, Zeit, Geduld mit sich selbst und anderen.
Ein drittes Prinzip ist die Vermeidung von Streit zwischen Männern und Frauen. 'Abdu'l-Bahá bezog sich auf eine Frauenvereinigung, die iranische Bahá’í-Frauen zur Förderung des Wissens gründeten. Dieser Vereinigung gab Er den Rat: »Sie sollte so arbeiten, daß Meinungsverschiedenheiten nach und nach gänzlich verschwinden und sie nicht — was Gott verhüte — zu einem Streitgespräch zwischen Männern und Frauen führen... Kurz, beschäftigt euch jetzt nur mit rein geistigen Themen und streitet nicht mit den Männern.«27) Ich glaube, wir haben in der gesamten Gesellschaft die Nutzlosigkeit und Fruchtlosigkeit der Polarisierung des Wiederstreits zwischen Mann und Frau gesehen, und wir werden in unseren Lehren angewiesen, dies zu vermeiden.
Unsere Schriften sagen uns, daß eine große Verantwortung auf den Männern lastet, nämlich die Frauen zu ermutigen und die männliche Anmaßung der Überlegenheit auszurotten. 'Abdu'l-Bahá sagt: »...die angemaßte Überlegenheit des Mannes wird den Ehrgeiz der Frau weiter dämpfen, als sei es für sie von Natur her unmöglich, Gleichberechtigung zu erlangen. Das Streben der Frau nach Fortschritt wird dadurch aufgehalten und allmählich wird sie die Hoffnung verlieren. Wir müssen dagegen erklären, daß ihr Vermögen dem Manne ebenbürtig, ja überlegen ist. Dies wird ihre Hoffnung und ihren Ehrgeiz beflügeln...«28) Ich verstehe diese Aussage so: Die Männer tragen eine große Verantwortung, die Frauen auf allen Gebieten der Entwicklung und des Fortschritts aufrichtig, wahrhaftig und konstruktiv zu ermutigen und das zu beseitigen, was 'Abdu'l-Bahá als anmaßende Überlegenheit der Männer beschreibt.
Das letzte Prinzip betont, wie wichtig es ist, daß Frauen selbst sich bemühen,
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ihre persönliche Entwicklung und Vervollkommnung anzustreben. 'Abdu’l-Bahá
sagt: »Die Frau muß sich daher um größere Vervollkommnung bemühen,
um dem Mann in jeder Beziehung ebenbürtig zu werden und in allem, worin
sie zurückgeblieben war, voranzuschreiten, so daß der Mann gezwungen
wird, ihre gleichen Fähigkeiten und Leistungen anzuerkennen.«29)
Ich glaube, daß diesen fünf Prinzipien eine den Bahá’í eigene konstruktive Vorgehensweise zugrunde liegt, um diesen Grundsatz der Gleichwertigkeit von Mann und Frau in die Tat umzusetzen, was wiederum der Bahá’í-Gemeinde zu großem Ansehen in der Welt verhelfen kann...
- 1) Frauen, S. 63, Bahá’í-Verlag 1986
- 2) Die Verheißung des Weltfriedens, S. 35, Bahá’í-Verlag 19862
- 3) Frauen, S. 19
- 4) a.a.O., S. 26
- 5) a.a.O., S. 46
- 6) a.a.O., S. 66
- 7) a.a.O., S. 22
- 8) Eph. 5,22-24
- 9) Frauen, S. 9
- 10) a.a.O., S. 16
- 11) a.a.O., S. 16
- 12) Einheit der Familie, S. 47, Bahá’í-Verlag 1983
- 13) Frauen, S. 53
- 14) a.a.O., S. 55
- 15) a.a.O., S. 56
- 16) a.a.O., S. 46
- 17) a.a.O., S. 57
- 18) vgl. Frauen, S. 69
- 19) Frauen, S. 82
- 20) Einheit der Familie, S. 51
- 21) Frauen, S. 69
- 22) a.a.O., S. 22
- 23) a.a.O., S. 20
- 24) a.a.O., S. 22
- 25) a.a.O., S. 82
- 26) a.a.O., S. 90
- 27) a.a.O., S. 14f
- 28) a.a.O., S. 80
- 29) a.a.O., S. 83
BESPRECHUNG[Bearbeiten]
Ervin Laszlo: Die inneren Grenzen der Menschheit — Ketzerische Überlegungen zur gegenwärtigen Ethik, Kultur und Politik, mit einem Essay von Aurelio Peccei, Horizonte-Verlag, Rosenheim 1988.
Als vor fast 16 Jahren der Club of Rome, dessen Mitbegründer Ervin Laszlo ist, das aufrüttelnde Buch über »Die Grenzen des Wachstums« herausbrachte, wurde dadurch der blinde Fortschritts- und Wachstumswahn der Menschheit zerstört. Viele glaubten an eine baldige Wende der Verhaltensweisen der Menschen, nachdem die äußeren Grenzen der Belastbarkeit unseres Planeten aufgezeigt worden waren. Es wuchs die Hoffnung, daß nun Wissenschaftler, Wirtschaftler, Technologen, Ökologen und Politiker unverzüglich nach Wegen suchen würden, um die Bevölkerungs-, Rohstoff-, Energie-, Wirtschafts-, Armuts-, Abrüstungs- und Umweltprobleme menschheitsbewußt zu lösen.
Professor Ervin Laszlo, Autor und Herausgeber von mehr als 40 Werken, Direktor des Institute for Training and Research, der »Denkfabrik« der UNO, zeigt in seinem neuen Buch, warum diese Hoffnung so bitter enttäuscht wurde. Seit der ersten Veröffentlichung des Club of Rome über »Die Grenzen des Wachstums« hat die Menschheit um mehr als eine Milliarde Menschen zugenommen. Heute haben wir das Wissen und die Macht, die immer noch zunehmenden Probleme zu lösen. Viele Menschen haben inzwischen auch begriffen, daß etwas Umwälzendes geschehen muß. Doch fast alle Staaten zeigten sich festgenagelt in einem hoffnungslos veralteten Weltbild und Denken. Sie starrten auf punktuelle, nationale Technologiekonzepte, mit denen die Krisen allenfalls gemildert, aber niemals wirklich überwunden werden können. Die nationalen Regierungen haben weltpolitisch durchweg versagt. Ein globales, vernetztes und umweltbewußtes Denken beherrschen sie nicht.
Es ist das Verdienst des globalen Denkers Ervin Laszlo, schonungslos aufgezeigt zu haben, warum es nicht genügt, schadenbegrenzende Umwelt-, Entwicklungs-, Wirtschaftsförderungs- und Abrüstungsprogramme mit Hilfe auch letzter Errungenschaften der Wissenschaft und Technik durchzuführen.
Er zeigt in seinem Buch, daß weder die Zielsetzungen, Gesellschafts- und
Wirtschaftssysteme der entwickelten liberalen westlichen Industrienationen
noch die der fortgeschrittenen sozialistischen Staaten des Ostblocks in ihrer
gegenwärtigen Praxis sinnvolle Zukunftsmodelle anbieten können. Ihre geistigen
Grundlagen haben ihre Wurzeln in der Welt vor 100 Jahren. Mit einer einfachen
Reformation dieser Ideologien werden sie noch lange nicht funktionstüchtig.
Sie haben sogar im Gegensatz zu den verkündeten guten Absichten die
inneren Grenzen verhärtet und eine weltumfassende Partnerschaft der Völker
blockiert. Auch bei der UNO ist die tiefe Spaltung zwischen globaler
Theorie und der nationalistischen Praxis der Mitgliedsstaaten eine solche
innere Grenze. Die einzelnen Regierungen halten sich für souverän, und die
Nationen werden gelenkt wie große Betriebe, in denen der eigene Vorteil das
höchste Ziel ist. Sie treiben immer noch Nullsummenspiele, bei denen einer
nur gewinnen kann, wenn der andere gleichzeitig verliert. Selbst die
politischen Blöcke — USA, EG und RGW — treiben dieses
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Spiel gegeneinander und gegenüber anderen. Wo es nicht ausufert, nennt man
es schmeichelhaft Koexistenz. Doch dieser Zustand muß durch die Interexistenz
einer weltweit zusammenarbeitenden Gesellschaft abgelöst werden, wo es nur
noch Positiv-Summen-Spiele geben darf. Die beteiligten Nationen haben
sich dabei so zu verhalten wie die charakterlich guten Mitglieder einer
gesunden Familie: Es können nur alle gewinnen.
Die »geistige Umweltverschmutzung« ist erheblich schlimmer als die materielle. Sie ist nämlich die Ursache der Ökokatastrophen und der wirtschaftlichen und politischen Fehlentscheidungen. In der Politik, bei den Medien und im Alltag herrschen heute die Negativdenker. Für positive lebenswichtige Visionen muß man sich fast entschuldigen. Überall herrschen die psychischen, kulturellen und politischen Denkgrenzen. Dadurch wird der notwendige Schritt zu einer integrativen Weltgesellschaft verhindert. Die Einstellungen, Lebensziele und Verhaltensweisen der Einzelmenschen und der Gesellschaft haben mit der technologischen Entwicklung nicht Schritt gehalten. Sie klaffen weit auseinander. Es ist deshalb ein großer Entwicklungsschritt nötig zu einer positiven neuen Lebenseinstellung, zu neuen zeitgemäßen Wert- und Glaubensvorstellungen und zu einem Bewußtsein von der Einheit der Menschheit (»Weltidentität«) in Mannigfaltigkeit.
Das mit Ideen und Lösungsvorschlägen vollgepackte Buch läßt sich kaum inhaltlich zusammenfassen. Es ist, so hat es Aurelio Peccei, der Initiator des Club of Rome, in seinem Essay ausgedrückt, »ein hilfreiches Buch zur rechten Zeit«. Wer auch immer es liest und wem es mit dem Bekenntnis zu einem Weltfrieden in einer einigen Menschheit und einer gesunden Umwelt ernst ist, wird dieses Urteil bestätigen. Ervin Laszlo hat zum Thema Frieden überhaupt Entscheidendes zu sagen. Er ist Herausgeber der ersten »World Encyclopedia of Peace«, d.h. der ersten »Welt-Enzyklopädie des Friedens«. Die Essenz seines jahrzehntelangen Forschens steckt in dem hier vorgestellten kleinen Buch über »Die inneren Grenzen der Menschheit«. Man sollte dieses wegweisende Buch als Pflichtlektüre in allen Schulen einführen.
Jeder Bahá’í erkennt bei der Lektüre des Buches sofort, daß in dem Buch viele Gedanken des Weltmodells von Bahá’u’lláh zu finden sind. Ervin Laszlo scheute sich nicht, zu der im gleichen Verlag erschienenen Fassung der Friedensbotschaft des Universalen Hauses der Gerechtigkeit eine äußerst respektvolle Einleitung zu schreiben. Seine Mahnung sollte auch von anderen führenden Wissenschaftlern aufgenommen werden: »Alle Menschen guten Willens sollten dem Ruf dieser Botschaft nach Weltfrieden Beachtung schenken und im Licht ihrer eigenen Beobachtungen, Traditionen und den aufkommenden Theorien der empirischen Wissenschaften über ihre tiefere Bedeutung nachdenken«.
Der 55jährige Ervin Laszlo lebt auch persönlich vor, was er unter »Weltidentität« versteht. Der gebürtige Ungar ist heute US-Staatsbürger, heiratete in Paris eine Finnin schwedischer Abstammung und wohnt in der Nähe von Pisa in Italien.
Wie wichtig Ervin Laszlo Forschen und Denken ist, zeigt sich auch in der Tatsache, daß sein philosophisches Werk »Neue Vorlesungen über Systemphilosophie« in China mit einer Auflage von einer Million erschienen ist. Die Systemtheorie wird dort nun neben dem Marxismus-Leninismus als zweite offizielle Forschungsrichtung zugelassen.
- Adolf Kärcher
Inhaltsübersicht[Bearbeiten]
Bahá’í-Briefe 53 —56, Band 2 der Neuen Folge 16. Jahrgang 1987 bis 17. Jahrgang 1988 |
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Heft | Seite | ||
Karl Türke jun., Die Lotosblüte von Bahapur | 53/54 | 2 | |
Peter Gerlitz, Die Religionen und der Friede | 6 | ||
Foad Kazemzadeh, Der Wille zum Frieden | 11 | ||
Uta von Both, Entwicklungsprojekte der Bahá’í-Weltgemeinde | 18 | ||
Ervin Laszlo, Die Menschheit wird mündig | 34 | ||
Helen Grigor, Die Anis-Zunuzi-Schule in Haiti — eine Tür zur Welt | 41 | ||
Massoud Berdjis, 'Abdu'l-Bahá — ein Leben für den Weltfrieden | 55 | 3 | |
Aus Mahmúds Tagebuch, 'Abdu'l-Bahá in Deutschland | 7 | ||
Aus den Erinnerungen von Alice Schwarz, »Dies ist ein gesegneter Tag« | 27 | ||
Adolf Kärcher, Konfliktlösung durch Beratung | 56 | 1 | |
Hossain Danesh, Konfliktfreie Konfliktlösung —- Konzepte und Methoden | 9 | ||
Völkerverständigungsfest Bad Mergentheim: »Weltfrieden im Kleinen« | 20 | ||
Peter Khan, Frauen — Gleichwertigkeit und Frieden | 24 | ||
Besprechungen | |||
Muhammad Labib: The Seven Martyrs of Hurmuzak (Stephan Pernau) | 53/54 | 48 | |
Ervin Laszlo: Die inneren Grenzen der Menschheit (Adolf Kärcher) | 56 | 38 |