Bahai Briefe/Heft 55/Text

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‘ABDU’L-BAHÁ IN DEUTSCHLAND


Sonderausgabe der Bahá’í-Briefe zur


75-Jahrfeier Seines Besuches



[Seite 0] Die Bahá’í-Briefe wollen eine intensive Auseinandersetzung mit den Lehren und der Geschichte der Bahá’í-Religion fördern und zu einem Dialog mit allen beitragen, die sich auf der Grundlage zeitgemäßen religiösen Denkens aufrichtig um die Lösung der Weltprobleme mühen.


BAHÁ'Í-BRIEFE

Heft 55, April 1988

17. Jahrgang


Inhalt



Massoud Berdjis
'Abdu’l-Bahá — ein Leben für den Weltfrieden . . . . . . .3


Aus Maḥmúds Tagebuch
'Abdu'l-Bahá in Deutschland . . . . . . .7


Zeittafel zum Besuch ‘Abdu’l-Bahás in Deutschland . . . . . . .9


Ansprachen ‘Abdu’l-Bahás . . . . . . .18


Aus den Erinnerungen von Alice Schwarz
»Dies ist ein gesegneter Tag!«  . . . . . . .27


Abschiedsworte 'Abdu'l-Bahás . . . . . . .37


'Abdu'l-Bahás letztes Sendschreiben . . . . . . .38


Gebet 'Abdu’l-Bahás . . . . . . .40



Herausgeber: Der Nationale Geistige Rat der Bahá’í in Deutschland eV., Hofheim-Langenhain. Redaktion: Dr. Klaus Franken, Bernd Herbon, Farideh Motamed, Hans Günther Randau, Karl Türke jun. Redaktionsanschrift: Bahá’í-Briefe, Redaktion, Eppsteiner Straße 89, D-6238 Hofheim 6. Namentlich gezeichnete Beiträge stellen nicht notwendig die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers dar. Die Bahá’í-Briefe erscheinen halbjährlich. Abonnementpreis für vier Ausgaben 20, — DM. Einzelpreis 6, — DM. Vertrieb und Bestellungen: Bahá’í-Verlag, Eppsteiner Straße 89, D-6238 Hofheim-6.

© Bahá’í-Verlag GmbH. ISSN 0005-3945


Titelbild: Duplikat der Plakette des Gedenksteins in Bad Mergentheim, das den Sitzungsraum des Nationalen Geistigen Rates schmückt. Der Gedenkstein wurde im Dritten Reich entfernt und ist seither verschollen.


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Der Besuch ‘Abdu’l-Bahás in Deutschland ist in mancher Hinsicht historisch und von tiefgehender Bedeutung. Historisch vor allem deshalb, weil noch nie der testamentarisch bestimmte Nachfolger (hier der älteste Sohn) eines Religionsstifters nach Deutschland gekommen war, um die Gemeinden des neuen Glaubens persönlich zu besuchen. Diese Begegnung war jedoch, wie 'Abdu'l-Bahá selbst sagte, nicht nur äußerlich, sondern vielmehr geistig. 'Abdu'l-Bahá lobte den geistigen Adel der Deutschen, deren Land im Herzen Europas so oft von Lawinen des Leides überrollt worden ist. Mit Seiner unendlichen Liebe und Weisheit beeindruckte, lehrte und führte Er die Seelen Seiner Freunde und verlieh der Entwicklung des Bahá’í-Glaubens in Deutschland einen kraftvollen Impuls. So nimmt es nicht wunder, daß hier 1923 der erste Nationale Geistige Rat der Bahá’í auf dem europäischen Kontinent gebildet wurde.

Am 1. Mai 1913, beim Abschied von Seinen Freunden, unter denen Er enge Bande zwischen Ost und West geknüpft hatte, sprach 'Abdu'l-Bahá über heftige Trübsale, die durch Standhaftigkeit und Ausdauer überwunden werden können. In den Jahren zweier Weltkriege, des Verbots des Bahá’í-Glaubens und der Verfolgungen im Dritten Reich erinnerten sich die Bahá’í oft der Worte 'Abdu'l-Bahás.

Nun sind es 75 Jahre her, daß 'Abdu'l-Bahá in den Westen kam und Deutschland besuchte, um auch bei uns am Fundament für die Einheit der Menschheit mitzuarbeiten. In tiefer Dankbarkeit blickt die deutsche Bahá’í-Gemeinde heute auf das, was in diesem Dreivierteljahrhundert gewachsen ist: eine geistig starke Gemeinde, die sich mit Hingabe für das einsetzt, wozu 'Abdu'l-Bahá die Menschen überall aufgerufen hat — für die Einheit der Menschheit und den Weltfrieden.

Der Nationale Geistige Rat der Bahá’í in Deutschland



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'Abdu'l-Bahá


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'Abdu’l-Bahá — ein Leben für den Weltfrieden[Bearbeiten]

von Massoud Berdjis

Die Geburt 'Abdu'l-Bahás fiel in einen Zeitabschnitt der Weltgeschichte, der wie kaum ein anderer ein Wendepunkt war für die ganze Menschheit. Der britische Gelehrte Sir Lawrence Bragg zeigte einmal bei einem Vortrag in der Carnegie Hall in New York eine graphische Darstellung der wissenschaftlichen Errungenschaften der Menschheit. Darauf verlief die Entwicklung bis ca. 1844 fast horizontal, stieg dann aber steil an. Diese Erkenntnis bezog sich auf die Zivilisation. Weit geschichtsträchtiger für die Weltkultur aber ist, daß 'Abdu'l-Bahá am 23. Mai 1844 geboren wurde — am selben Tag, an dem ‘Alí-Muḥammad, heute bekannt als der Báb, in Shíráz, Irán, verkündete, Er sei berufen, eine neue religiöse Offenbarung einzuleiten und den Weg für eine weltumfassende Religion, die Bahá’í-Religion, zu bereiten.

'Abdu'l-Bahá war der älteste Sohn Bahá’u’lláhs, des Begründers der Bahá’í-Religion, auf die der Báb hingewiesen hatte. Sein eigentlicher Name ist ‘Abbás. 'Abdu'l-Bahá ist Sein Titel und bedeutet »Diener Bahás«, womit zum Ausdruck kommt, daß Er Sein ganzes Dasein dem Dienst an Bahá’u’lláh und dessen Religion der Einheit gewidmet hat. Seine Familie entstammte dem persischen Hochadel; sie besaß hohe Ämter und große Ländereien. Seine frühe Kindheit verbrachte Er in Luxus und Reichtum. Als Sein Vater sich aber dem Báb zuwandte und dafür in den schlimmsten Kerker von Ṭihrán geworfen wurde, verlor die Familie alles. Sie wurde so arm, daß oft das Abendessen der Kinder aus etwas Mehl in der hohlen Hand bestand. 'Abdu'l-Bahá war erst sechs Jahre alt, als der Báb in Tabriz den Märtyrertod erlitt, und nur acht Jahre, als Bahá’u’lláh verbannt wurde. Im tiefsten Winter begleitete Er Seinen Vater und die Familie über die schneebedeckten Berge Westpersiens ins Exil nach Baghdád. Damit begann für 'Abdu'l-Bahá eine Gefangenschaft, in die Er als Kind geriet und aus der Er erst als alter Mann wieder freikam. Aus Baghdád wurden Bahá’u’lláh, Seine Familie und einige der Ihn begleitenden Anhänger nach Konstantinopel, kurze Zeit später nach Adrianopel und schließlich nach etwa fünf Jahren in das Gefängnis der Festung ‘Akká im Heiligen Land verbracht, wo Bahá’u’lláh im Jahre 1892 verschied.

'Abdu'l-Bahá hatte nie die Gelegenheit, eine Schule zu besuchen. Sein Lehrer war Sein Vater, dessen Lehren Er voll in sich aufnahm. Er entfaltete eine von Leid gestählte Geistigkeit und jene Eigenschaften, die dem von Bahá’u’lláh verkündeten Glaubensziel, einer Weltgemeinschaft, zugrundeliegen müssen. Bahá’u’lláh nennt 'Abdu'l-Bahá in Seinem Testament das Vorbild religiösen Lebens, den einzigen Erklärer Seines Wortes, den Mittelpunkt Seines Bündnisses.

Zwischen 1892 und 1908 erduldete 'Abdu'l-Bahá eine besonders harte Zeit der Unterdrückung, bis Ihm wie allen anderen vom Sulṭán verfolgten religiösen und politischen Gefangenen die Jungtürkische Revolution die Freiheit gab.

1911 bis 1913 reiste 'Abdu'l-Bahá durch einige Länder Europas und durch Nordamerika. Er besuchte die jungen Bahá’í-Gemeinden und schenkte jedem der vielen, aus allen Schichten herbeiströmenden Besucher Seine liebevolle Aufmerksamkeit. Obwohl Er noch immer unter den Nachwirkungen der Entbehrungen Seiner über fünfzigjährigen [Seite 4] Gefangenschaft litt, sprach Er bei vielen öffentlichen Versammlungen und verkündete in beredten Worten die Einheit Gottes, die gemeinsame Grundlage aller Religionen und daß nun die Zeit zur Vereinigung aller Rassen, Klassen und Religionen gekommen sei. In England sprach Er auf die Bitte des Archidiakons Wilberforce in Westminster über die unfaßbare Größe Gottes. Er besuchte die Moschee in Woking und sprach dort vor Christen, Juden und Moslems beiderlei Geschlechts über die Einheit auf Erden. Er sprach zu Arbeiterinnen, die in der Nähe von London ihren Urlaub verbrachten, zu Geistlichen aller Bekenntnisse, zu Parlamentariern, Schriftstellern und Journalisten, zu Studenten, Professoren und Frauenrechtlerinnen. In Paris sprach Er vor Esperantisten, Theosophen und Theologiestudenten und zu Menschen aller Bekenntnisse und Nationalitäten.

1913 weilte 'Abdu'l-Bahá auch in Deutschland und besuchte Stuttgart mit der ältesten deutschen Bahá’í-Gemeinde, Esslingen am Neckar und Bad Mergentheim. Auf Einladung von Professor Christaller, dem Präsidenten der Esperantisten Europas, sprach ‘Abdu’l-Bahá zu einer großen Esperantistenversammlung in Stuttgart.

In Wien sprach Er zu den Theosophen und empfing die Baronin Bertha von Suttner. In Budapest traf Er mehrmals mit dem berühmten Orientalisten Arminius Vambery zusammen. Unter Seinen Besuchern waren Prälat Alexander Giesswein, Professor Ignatius Goldziher und der bekannte Budapester Maler Professor Robert A. Nadler.

In den Vereinigten Staaten legte 'Abdu'l-Bahá den Grundstein für das erste Bahá’í-Haus der Andacht im Westen in Wilmette bei Chicago und sprach allein in New York an fünfundfünfzig verschiedenen Orten. Er traf Persönlichkeiten wie Alexander Graham Bell, Andrew Carnegie, Hon. Franklin MacVeagh, den Finanzminister der Vereinigten Staaten, und Rabindranath Tagore — um nur einige zu nennen. Denkwürdig war Sein Besuch bei der Bowery-Mission in den Elendsvierteln von New York, und der glänzende Empfang Ihm zu Ehren in Washington, wobei Ihm viele hervorragende Persönlichkeiten der Hauptstadt vorgestellt wurden. Am 26. Oktober 1912 sprach 'Abdu'l-Bahá im überfüllten Festsaal des Sacramento-Hotels in Sacramento, Kalifornien, über die Dringlichkeit des internationalen Friedens. Er sagte: »Der Weltfriede ist das dringendste Erfordernis unserer heutigen Zeit. Die Zeit ist reif dafür... Möge das erste Banner des internationalen Friedens in diesem Staat gehißt werden.« Fast auf den Tag genau trat nach dreiunddreißig Jahren am 24. Oktober 1945 die Charta der Vereinten Nationen in Kraft, in eben jenem Staat, in dem 'Abdu'l-Bahá Seinen innigen Wunsch geäußert hatte.

'Abdu’l-Bahás Aufrufe an den Westen sind am besten festgehalten in Seinen Reden im City Temple von London, in der Stanford University in Kalifornien vor achtzehnhundert Studenten und hundertachtzig Lehrern und Professoren, im Tempel Emmanuel, einer Synagoge in San Francisco, vor zweitausend Menschen, ferner in Seinem Sendschreiben an die Zentralorganisation für einen dauernden Frieden im Haag und Seinem Brief an Professor Auguste-Henri Forel, den berühmten Schweizer Wissenschaftler. Seine allmorgendlichen kurzen Ansprachen in Paris im Herbst 1911 wurden ebenfalls gesammelt und in zahlreichen Auflagen veröffentlicht. Überall stellte Er die wesentlichen Wahrheiten der Bahá’í-Religion als den »Geist des Zeitalters« heraus und warnte außerdem eindringlich vor einem drohenden Weltbrand, der, wenn die Staatsmänner ihn nicht abwendeten, den [Seite 5] ganzen europäischen Kontinent in Flammen setzen werde. Auch Seine Gespräche im Heiligen Land mit Pilgern aus dem Westen sind Lektionen, die das Denken und Handeln der Menschen auf die Einheit der Menschheit und den Weltfrieden ausrichten. ‘Abdu’l-Bahás Antworten auf Fragen über die Propheten, die Bestimmung des Menschen, seine Eigenschaften und Kräfte, die Unsterblichkeit der Seele und das Leben nach dem Tode hielt Laura Clifford-Barney für die Nachwelt fest.1)

Während des Ersten Weltkrieges geriet 'Abdu'l-Bahá nochmals in große Gefahr. Die Türken hatten damit gedroht, Ihn und Seine ganze Familie auf dem Berg Karmel zu kreuzigen. Doch als Haifa schließlich von britischen Truppen eingenommen wurde, war die Gefahr für ‘Abdu’l-Baháa endgültig vorüber.

Der Versailler Friedensvertrag machte 'Abdu'l-Bahá große Sorgen. An einen Freund schrieb Er über die Pariser Friedenskonferenz: »... Obgleich sich die Vertreter verschiedener Regierungen in Paris versammelt haben, um die Grundlage für den Weltfrieden zu legen und der Menschheit dadurch Ruhe und Trost zu schenken, herrscht zwischen einigen Persönlichkeiten noch Uneinigkeit, und das Eigeninteresse steht im Vordergrund. In einer solchen Atmosphäre wird der Weltfriede nicht zu verwirklichen sein, im Gegenteil, es werden neue Konflikte auftreten; denn die Interessen stehen gegeneinander und die Ziele stimmen nicht überein...«2)

'Abdu'l-Bahá bemühte sich schon seit der Jahrhundertwende, die ersten Schritte zum Aufbau des Friedensmodells Bahá'u’lláhs einzuleiten. Er förderte die Gründung der ersten »Geistigen Räte«, der in geheimer Wahl ohne Kandidatur gebildeten Verwaltungsorgane der Bahá’í-Gemeinden. In diesen Gremien wurden die von Bahá’u’lláh genannten Prinzipien Seiner Weltordnung geübt, vor allem die Bahá’í-Beratung und die Bahá’í-Zielsetzung, den globalen Nutzen vor den nationalen oder lokalen zu stellen und die Probleme nach geistigen, nicht nach materiellen oder ideologischen Prinzipien zu lösen. Auch soziale Projekte wie Schulen für Jungen und Mädchen wurden von 'Abdu'l-Bahá unterstützt. So entstanden im Iran 1899 die erste Bahá’í-Schule für Jungen, und bereits 1911 die erste Bahá’í-Schule für Mädchen, die erste Mädchenschule des Landes überhaupt. ‘Abdu’l-Bahá hatte von einigen Bahá’í Musterfarmen anlegen und Getreide speichern lassen. Während der Krisenjahre des Ersten Weltkrieges ließ Er diese Vorräte in Haifa verteilen und rettete so die Stadt vor einer Hungersnot.

Kaum abzuschätzen ist die umfangreiche Korrespondenz ’Abdu’l-Bahás, die um die Welt ging. Jeder Fragesteller bekam eine Antwort, eine geistige Hilfe zur Lösung seiner Probleme oder zur Klärung seiner Fragen. Die Thematik umfaßt alle Bereiche des persönlichen Lebens sowie der Entfaltung der menschlichen Gesellschaft. Erst künftige Generationen werden diesen geistigen Reichtum erfassen können, wenn diese Briefe einmal vollständig übersetzt und veröffentlicht sind. Doch schon jetzt liegt ein Quellenreichtum vor, der für viele Fragen neue Gesichtspunkte aufzeigt, ein neues Geschichtsverständnis vermittelt und uns die Einsicht nahebringt, daß die Menschheit tatsächlich eine große Familie sein kann, wenn sie den Lehren Bahá’u’lláhs folgt.

’Abdu’l-Bahás größtes Vermächtnis an die Nachwelt ist Sein Wille und [Seite 6] Testament, die »hellste Ausgießung Seines Geistes«3). Dieses Dokument ist das »unzerstörbare Bindeglied«4) zwischen Bahá’u’lláhs Offenbarung und der Weltordnung, die ihr Zweck und ihr Ziel ist. Auch aus diesem Schriftstück spricht Seine Liebe zu dem von Seinem Vater Bahá’u’lláh verkündeten Glauben und Seine innige Liebe zur ganzen Menschheit. Sein ganzes von Entbehrung und Mühsal gekennzeichnetes Leben hatte Er dafür eingesetzt, die sich streitenden Elemente auf dieser Erde zu versöhnen; nun rief Er in diesem letzten Appell die Menschen auf, Seinem Beispiel zu folgen.

Am 28. November 1921 starb 'Abdu'l-Bahá in Haifa. Der Kummer kannte keine Grenzen. Die Beisetzungsfeierlichkeiten waren in der Tat einmalig in der Geschichte des Heiligen Landes. Einem Bericht entnehmen wir, daß der Hochkommissar von Palästina, der Gouverneur von Phönizien, die höchsten Staatsbeamten der Regierung, die Konsuln der verschiedenen Länder mit Sitz in Haifa, die Oberhäupter der verschiedenen religiösen Gemeinschaften, die Würdenträger Palästinas, Juden, Christen, Muslime, Drusen, Ägypter, Griechen, Türken, Kurden, Scharen Seiner amerikanischen, europäischen und einheimischen Freunde, Männer, Frauen und Kinder von hohem und niederem Stand, alle, etwa zehntausend an der Zahl, den Verlust 'Abdu'l-Bahás beweinten. Wie erstaunlich war die ungeheuere Volksmasse dieses großen Trauerzuges! Menschen aller Religionen, Rassen und Hautfarben waren im Herzen geeint durch das Beispiel des Dienens im langen Lebenswerk 'Abdu'l-Bahás. Viele Zeitungen in Ost und West berichteten darüber. Die Times of India schrieb in einem Leitartikel vom Januar 1922:

»...wir aber wollen das Gedächtnis eines Mannes ehren, der einen großen Einfluß auf die Verwirklichung des Guten hatte und der, obgleich er im Weltkrieg viele seiner Ideen augenscheinlich zerstört sehen mußte, seiner Überzeugung doch treu blieb und seinen Glauben an ein Reich der Liebe und des Friedens aufrecht erhielt, der weit wirksamer als Tolstoi im Westen zeigte, daß die Religion eine Lebenskraft ist, die nie unterschätzt werden darf.«5)


1) 'Abdu'l-Bahá, Beantwortete Fragen, Hofheim-Langenhain 31977
2) Hasan M. Balyuzi, 'Abdu'l-Bahá, Hofheim-Langenhain 1984, S. 609 f
3) Shoghi Effendi, Gott geht vorüber, Hofheim-Langenhain 21974, S. 371
4) Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá’u’lláhs, Hofheim-Langenhain 1977, S. 205
5) Hasan M. Balyuzi, ‘Abdu’l-Bahá, Hofheim-Langenhain 1984, S. 683 f


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'Abdu'l-Bahá in Deutschland[Bearbeiten]

Aus Maḥmúds Tagebuch

Aus dem Persischen übertragen und zusammengefaßt von Massoud Berdjis


Mírzá Maḥmúd Zarqáni begleitete 'Abdu'l-Bahá auf Seinen Reisen in den Westen. Er hat einen genauen Reisebericht aufgezeichnet, der in zwei Bänden 1921 in Indien erschien. Erstaunlich ist die hierin neben vielen Einzelheiten festgehaltene Vielfalt der Themen, die 'Abdu'l-Bahá bei Seinen zahlreichen Begegnungen auf diesen Reisen zur Sprache brachte. Wir entnahmen Maḥmúds Tagebuch einige Schilderungen über den Aufenthalt 'Abdu'l-Bahás in Deutschland.


Abends traf 'Abdu'l-Bahá in Stuttgart ein. Er kam mit dem Zug aus Paris und hatte sich während der Fahrt am vielen Grün der Landschaft erfreut. Schon am Bahnhof erkundigten sich die Menschen neugierig, wer diese ungewöhnliche Erscheinung wohl sei.

Am nächsten Tag, bei der ersten Begegnung mit den Bahá’í, sprach 'Abdu'l-Bahá über das Band der Liebe und Freundschaft, das die Herzen von Ost und West verbunden hat: »Solch eine Liebe kann durch keine irdische Macht erwirkt werden. Wie oft sind Menschen aus demselben Volk oder der gleichen Familie gegeneinander... Wir kannten Stuttgart nicht, und Sie hatten von Núr nichts gehört. Aber das Wort Gottes hat die Schleier beseitigt und uns vereint... und Fremde in Freunde verwandelt... Noch ist die Wandlung der Herzen durch die Macht Bahá’u’lláhs nicht erkennbar,... später wird sie deutlich werden...«

Jeden Vormittag strömten Bahá’í- und Nicht-Bahá’í-Besucher zu 'Abdu'l-Bahá. Stets waren sie von Seinen Worten und Darlegungen begeistert und stellten viele Fragen zu geistigen Themen oder baten um die Erläuterung der Bahá’í-Prinzipien. Viele von ihnen saßen zum Erstaunen der Hotelgäste und des Personals anschließend noch in der Hotelhalle beisammen und tauschten Eindrücke und das Gehörte aus. Auf den Bericht eines Freundes, daß er nach der ehrwürdigen Persönlichkeit gefragt werde, erwiderte ‘Abdu’l-Bahá: »Sag ihnen, Er ruft zum Reiche Gottes auf, verbreitet den Glauben Bahá’u’lláhs, verkündet den Frieden und das Heil und fordert die Einheit der Menschheit.«

'Abdu'l-Bahá besuchte die wöchentliche öffentliche Veranstaltung der Stuttgarter Bahá’í und sprach darüber, daß blinde Nachahmung zu vermeiden sei, die grundsätzliche Einheit der Religionen Gottes und die Erneuerung der ihnen zugehörigen sozialen Gesetze bekanntgemacht und eine göttliche Kultur errichtet werden sollte. Er endete mit einem Gebet um den Beistand Gottes... Und obwohl Seine Worte stets aus dem Persischen ins Englische und dann ins Deutsche übersetzt werden mußten, fanden sie in den Herzen der Zuhörer begeisterten Widerhall.

Auch Theosophen und Esperantisten besuchten 'Abdu'l-Bahá. Zu einem Theosophen, der seine große Freude über diese Begegnung kundtat, sagte Er: »Ich hoffe, daß unsere Freude ewig dauert und wir in allen Welten Gottes zusammensein werden... Dort gibt es eine Verbindung, der keine Trennung folgt, einen Tag ohne Einbruch der Nacht, eine Freude ohne Leid, ein Leben, das der Tod nie auslöschen kann.«

Ein historisches Bild zeigt 'Abdu'l-Bahá beim großen Kinderfest in Esslingen [Seite 8] am 4. April 1913. Zu Seinem Empfang hatten die Kinder ein Spalier gebildet und begrüßten Ihn mit Blumen. Nachdem Er sie alle liebkost und mit Süßigkeiten beschenkt hatte, sagte Er: »Welch liebliche Kinder! Ich flehe zu Gott, Er möge diese Kinder segnen und mit himmlischen Gaben beschenken, auf daß sie wie Blumen im Reiche Gottes gedeihen und aufblühen mögen und jedes durch das Licht der Liebe Gottes und durch die Sonne aus Gottes Reich einer strahlenden Lampe gleich erleuchtet werde. Sie sind Früchte am Baum göttlicher Liebe, Sprößlinge des Gottesreiches. Ihre Herzen sind so rein und ihre Seelen so zart und frisch. Ich hoffe, daß sie in der Muschel der Liebe Gottes wie Perlen heranwachsen werden.«

Am Abend des 5. April besuchte Er ein Treffen der Esperantisten und führte in Seiner Ansprache über die Einheit der Menschheit hin zum Prinzip Bahá’u’lláhs, daß ein Mittel zu Einheit und Liebe unter den Menschen eine gemeinsame Sprache sei. ‘Abdu’l-Bahá sprach bei vielen Gelegenheiten über den Weltfrieden, die Einheit der Menschheit, die Liebe Gottes,... über geistige Freude,... die Stufen des Glaubens und der Erkenntnis, die Tugenden der Menschen und das ewige Leben.

Bei einem ausführlichen Gespräch erklärte 'Abdu'l-Bahá, daß sich die Heiligen Offenbarer zu Beginn jeder Religion so ausdrückten, wie es dem Verstand und Wissen des Volkes, zu dem Sie kamen, entsprach. Am Ende der Offenbarungszeit jedoch konnten die Menschen die Bedeutung der Worte der Propheten nicht mehr verstehen, da Ausdrucksweise und Verhältnisse der Anfangszeit sich geändert hatten. Obwohl Christus im Evangelium eindeutig erklärte, Er sei vom Himmel herabgekommen, und obwohl Sein Körper stofflich von Maria geboren wurde, erwarteten die Christen dennoch, daß bei Seiner zweiten Offenbarung Sein Körper vom sichtbaren Himmel herabkäme.

Ein Pfarrer aus Stuttgart, den die Lektüre des Buches Beantwortete Fragen hell begeistert hatte, bot an, dieses Buch vom Englischen ins Deutsche zu übersetzen. Zu ihm sagte 'Abdu'l-Bahá: »Die Wolken blinder Nachahmung haben die Sonne der Wahrheit und das Licht der göttlichen Lehren am Leuchten gehindert. Dank sei Gott, daß die Prinzipien und Grundlagen der göttlichen Religionen gleich sind. Wir sind geeint im Denken und müssen uns deshalb die Hände reichen, diese blinde Nachahmung beseitigen und die Einheit der Religionen fördern... Die entstandenen Traditionen verursachten Kampf und Tod unter den Menschen. Ich hoffe, es möge dir gelingen, die schlafenden Seelen aufzuwecken und Deutschland zu erleuchten.« 'Abdu'l-Bahá beendete Seine Ausführungen mit Gedanken über die Beseitigung der Finsternis der materiellen Welt und der Entdeckung der Geheimnisse wahren Seins. Der Geistliche war von den Worten ‘Abdu’l-Bahás so tief ergriffen, daß er Ihn um Erlaubnis bat, diese wundervollen Lehren dem deutschen Kaiser mitteilen zu dürfen. 'Abdu'l-Bahá riet ihm davon ab, weil der deutsche Kaiser sehr stolz, abgelenkt und derzeit nicht zum Zuhören bereit sei.

Die Bahá’í baten ‘Abdu’l-Bahá, Er möge ein paar Tage ohne Besucher in Bad Mergentheim verbringen, um sich von den Strapazen Seiner Reise zu erholen. Aber 'Abdu'l-Bahá erwiderte: »Unser Reisezweck ist nicht Vergnügen, Spazierenfahren, Wandern und Erholung, sondern der Dienst an der Schwelle Gottes...« Auch den Vorschlag, auf dem Rückweg von Stuttgart nach Paris eine Erholungspause in Baden-Baden einzulegen, lehnte Er ab. So fuhr Er nur am 7. April mit den


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Zeittafel zum Besuch 'Abdu'l-Bahás in Deutschland[Bearbeiten]

1. April 1913 Ankunft in Stuttgart mit dem Zug aus Paris; Unterkunft im Hotel Marquardt
2. April 1913 Rundfahrt in Stuttgart und Umgebung; Ansprache im Hause Herrigel
3. April 1913 Autofahrt zur Solitude, einem Barockschloß in der Nähe Stuttgarts; Besuch bei Familie Schwarz; Ansprache im Stuttgarter Bürgermuseum
4. April 1913 Kinderfest in Esslingen; Besichtigung des Museums in Esslingen
5. April 1913 Besuch der Wilhelma, einem Schloß in orientalischem Stil in Stuttgart-Bad Cannstatt; Ansprache vor einer Esperantistenversammlung; Besuch bei Herrn Eckstein
6. April 1913 Besuch der Villa Wagenburg in Stuttgart; Besuch bei Familie Schweizer in Zuffenhausen; Vortrag im Oberen Saal des Stuttgarter Bürgermuseums; Besuch bei Fräulein Knobloch und Fräulein Döring
7. April 1913 Besuch in Bad Mergentheim; Besichtigung der Kuranlagen und Übernachtung im Kurhaus
8. April 1913 Abfahrt von Stuttgart nach Budapest
19. April 1913 Reise von Budapest nach Wien
25. April 1913 Ankunft aus Wien in Stuttgart; Unterkunft im Hotel Marquardt; Vortrag im Bürgermuseum
26. April 1913 Empfang zahlreicher Besucher im Hotel Marquardt bei verschlechtertem Gesundheitszustand 'Abdu'l-Bahás
27. April 1913 Besuch bei Dr. Edwin Fischer, dem ersten Bahá’í in Deutschland; Besuch bei Familie Schwarz; Einigkeitsfest im Frauenklub in Stuttgart
28. April 1913 Anwesenheit 'Abdu'l-Bahás bei der Eheschließung Wieland/Diebold
29. April 1913 Empfang weniger Besucher im Hotel wegen 'Abdu'l-Bahás starker Erkältung
30. April 1913 Besuch im Jagdschloß Bebenhausen bei Tübingen
1. Mai 1913 Abschied von den Stuttgarter Bahá’í; Abfahrt mit dem Zug von Stuttgart nach Paris


[Seite 10]Freunden nach Bad Mergentheim, blieb eine Nacht und reiste am 8. April über Stuttgart weiter nach Wien. In Esslingen standen die Bahá’í auf dem Bahnsteig, um 'Abdu'l-Bahá wenigstens kurz zu sehen und Ihm zuzuwinken. Aber die Trennung dauerte nicht lange, denn schon am 25. April kehrte 'Abdu'l-Bahá nach Stuttgart zurück.

Das Stuttgarter Neue Tagblatt brachte bereits am 24. April eine Ankündigung der großen Veranstaltung am 25. April im Bürgermuseum und einen ausführlichen Artikel (s.S. 11).

Leider kam 'Abdu'l-Bahá so erkältet in Stuttgart an, daß die Ärzte Ihm nicht erlaubten, das Zimmer zu verlassen. Als die Bahá’í die riesige Versammlung im Bürgermuseum sahen, die sehnsüchtig auf 'Abdu'l-Bahá wartete, berieten sie und beschlossen, einen Wagen zu besorgen und Ihn nur um Seine Anwesenheit zu bitten. 'Abdu'l-Bahá stand sofort auf, fuhr hin und wurde begeistert empfangen. Er hielt eine eindrucksvolle Ansprache über den Weltfrieden, in der Er sagte, dieser Friede sei eine Notwendigkeit dieses Zeitalters... Früher sei die Welt dazu nicht fähig gewesen... Deshalb sei in allen göttlichen Religionen von der Endzeit die Rede, in der... die Religion Gottes zum Retter der Erdenvölker würde... Und obwohl es jetzt viele Friedensorganisationen gäbe, die von den Problemen und Nöten der Zeit sprächen, könne nur eine Macht den Größten Frieden errichten, die die Herzen der Völker durchdränge, alle Leiden heile... und Balsam für jede Wunde sei...

Als 'Abdu'l-Bahá am 26. April ein Zeitungsbericht über den Balkankrieg übersetzt wurde, meinte Er, wir sollten lieber über unseren persönlichen Krieg sprechen, in dem wir mit Gottes Beistand den dunklen Mächten der materiellen Welt Widerstand leisten und mit den Waffen des Wissens und der Weisheit die Armee der Unwissenheit und eitlen Einbildung in die Flucht schlagen müßten. Ein solcher Krieg sei die Ursache des Lebens, jener die des Todes... Christus habe am Kreuz gekämpft und Sein Leben geopfert und dabei über Könige und Völker gesiegt.

Auf die Frage der Bahá’í, was sie tun sollten, um den Glauben zu verbreiten, antwortete ‘Abdu’l-Bahá: »Lebt nach den Lehren Bahá’u’lláhs. Viele lesen die Lehren Gottes; aber wenn es um Taten geht, sind sie vergeßlich. Ein wirklicher Bahá’í ist, wer die göttlichen Lehren in die Tat umsetzt.«

Während der letzten Tage Seines Aufenthaltes wollte ein junges Mädchen aus reichem Hause 'Abdu’l-Bahá seinen ganzen Schmuck schenken, damit Er immer an sie denke. 'Abdu'l-Bahá versicherte ihr, daß Er sie auch ohne solche Dinge nie vergessen werde und nahm nichts an.

Er sprach des öfteren über den geistigen Adel der Deutschen, und daß sie nicht so sehr im Materialismus versunken seien wie manche andere Länder.

Zu einem jungen Paar, das heiraten wollte, sagte Er, die Heirat sei ein unabtrennbarer Teil des Gesetzes Gottes. In jungen Jahren seien Frucht und Segen der Ehe noch nicht erkennbar, aber später werde der Mensch einsehen, welches Glück die Gründung einer Familie bringe. Außerdem sei die Ehe für den Menschen wie eine Festung, die ihn vor Leidenschaften schütze und Sittsamkeit und Tugend bewirke, denn vor Gott sei nichts erhabener als diese beiden Eigenschaften... Sie gehörten zu den höchsten Stufen der Menschen und seien besondere Merkmale der Schöpfung des Barmherzigen. Alles andere entspräche der tierischen Welt. Darum sei die Ehe ein Segen und gottgefällig.

Einige Freunde brachten ihre Kinder zu 'Abdu'l-Bahá. Er umarmte sie und sagte: »Ich habe die Kinder sehr gern, da sie dem Reiche Gottes nahe sind...«


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Donnerstag Stuttgarter Neues Tagblatt 24. Apr 1913

Ansprache

Abdul Baha’s aus Akka

in Syrien

für die Bahaibewegung.


Abdul Baha, das Haupt einer großen, über die ganze Welt verbreiteten Universal-Friedens- und Religionsbewegung, hält am

Freitag den 25. April, abends 8 Uhr im Großen Saale des Bürgermuseums

eine Ansprache über die Mission der Bahais, deren Endziel dahin gerichtet ist, alle Völker in einer Religion zu vereinigen, alles was bisher zu Trennung führte, zu beseitigen, Einigkeit unter die Völker und Religionsbekenntnisse zu bringen und damit den Weltfrieden zu verwirklichen.

Jederman ist herzlich willkommen. Eintritt frei.


* Bahaibewegung. Man schreibt uns: Der Leiter und das Haupt einer großen ethischen Bewegung im Orient, welche von dort aus in der ganzen Welt schon Eingang gefunden hat und Tausende von Anhängern unter den Christen, Juden, Mohammedanern, zählt, der Bahaibewegung, wird Freitag den 25. April abends 8 Uhr im großen Saal des Bürgermuseums eine Ansprache halten. Abdul Baba aus Persien, einem alten fürstlichen Geschlecht entstammend, widmet sich ganz der Bahaibewegung. Es ist dies keine neue Religion. Menschenliebe, Einigkeit unter den Konfessionen und Völkern sollen von den Bahais verwirklicht werden. Die Bewegung stammt nicht von Abdul Baba selbst. Sein unmittelbarer Vorgänger war sein Vater Baha u’llah, welcher die Misston vom sog. „Bab“, dem Führer der Babis übernahm. Dieser hat seine Sendung im Mai 1844 dem persischen Volke proklamiert. Unabwendbar folgte das Martyrium Tausender von Babis und darauf die Erstarkung der Bewegung, die sich unter der Führung von Baha u’llahs auch auf das türkische Reich ausbreitete. Die Folge war abermals Verfolgung und Gefangenschaft, zuerst in Adrianopel und später in Akka. Im Jahre 1892 starb Baha u’llah und übergab die Führung seinem Sohne, der erst mit Abdul Hamids Sturz Freiheit der Bewegung und der Lehre erlangte. Hier beginnt die Ausbreitung der Bahaibewegung auf den Westen. Der 70jährige, unermüdliche Mann ist gegen das Ende einer langen, beinahe 1 Jahr andauernden Reise auf Wunsch seiner hiesigen Freunde und Anhänger zum zweitenmale nach Stuttgart gekommen, nachdem er am Anfang des Monats April einige Tage hier verweilt hatte. Er wird begleitet von seinem Sekretär und Dolmetsch Mirza Ahmad Sohrab und zwei weiteren Dolmetschern.



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'Abdu'l-Bahá im Kreise Seiner Freunde im Garten der Villa Wagenburg in Stuttgart


[Seite 13] »Schaut, wie rein die Liebe der Kinder ist, wie makellos ihre Herzen sind... So muß die Liebe der Herzen sein, besonders der Herzen der Freunde Gottes. Wenn die göttliche Liebe sich zeigt, werden die Herzen unendlich rein wie die der Kinder... Von Kindheit an muß die Liebe Gottes in ihre Herzen gepflanzt werden. Dann werden sie gut erzogen. Sie werden strahlende Wesen und bekommen einen guten Charakter.« Zu den Begleitern einer anderen Gruppe Kinder sagte Er, daß die Kinder eine geistige Erziehung bräuchten. Mittel und Wege müßten gefunden werden, damit ihr Intellekt und ihr Denkvermögen wüchsen. Schon vor der Einschulung sollten sie anhand von Spielzeug mit Freude und Begeisterung einiges lernen. Die Kinder sollten im Spiel reden und diskutieren, sich gegenseitig Fragen stellen, voneinander lernen und regelrecht antworten, wenn sie gefragt würden. Wer die beste Antwort gäbe, solle einen Preis erhalten, damit die Kinder sich Mut zum Sprechen aneignen. Auch geistige Themen sollten ihnen auf diese Weise vermittelt werden.

Am 30. April sagte 'Abdu'l-Bahá zu einigen Freunden, Er danke Gott, daß Er sie alle hier kennengelernt habe. Er sprach von Seinem Bemühen um enge Bande zwischen Ost und West, die Sein Kommen zu knüpfen begänne... Die Menschen seien wie Tropfen, vereint bildeten sie ein großes Meer. »Ich hoffe«, sagte Er, »daß sie alle einig werden, damit der Ozean der Einheit der Menschheit Wellen schlägt und die verstreute Herde sich im Schutz der Erziehung des göttlichen Hirten sammelt... Die Menschen sind wie die Kinder. Gott ist der wirkliche Vater. Wie schön wäre es, wenn diese Kinder sich um die Tafel göttlicher Güte im Schutze des himmlischen Vaters scharten!« Einer der Besucher berichtete, er habe einem ehrwürdigen Herrn die Bahá’í-Lehren vorgetragen, der dann meinte, diese Gedanken würden ohne Zweifel zum Allgemeinwohl führen und manche menschlichen Vollkommenheiten hervorbringen, seien jedoch unmöglich durchführbar. Er habe dann geantwortet, daß vor der Erfindung des Telegraphen, des Fernsprechers und des elektrischen Lichtes sich niemand diese Erfindungen habe vorstellen können. ‘Abdu’l-Bahá stimmte dem zu und erläuterte, daß die früheren Wissenschaftler die Errungenschaften dieses Jahrhunderts nicht für möglich gehalten hätten. Auch hätte niemand geglaubt, daß die Frauen einmal die Gleichberechtigung verlangen und erreichen würden... Welcher vernünftige Mensch hätte gedacht, daß dem Menschen einmal das Fliegen und Reisen durch die Luft möglich würde... und daß durch Luftschwingungen Nachrichten übermittelt werden könnten. Dennoch werde behauptet, Krieg und Streit seien natürlich und die Verschiedenheit der Charaktere wesenhaft und angeboren, deshalb seien Friede und Einheit unerreichbar und unmöglich... 'Abdu'l-Bahá erklärte dann, daß erstens Zersetzung und Raubgier Erfordernisse im Reich der Natur, Friede und Rechtschaffenheit jedoch Erfordernisse im Reich des Menschen seien. Wenn die Erfordernisse der Natur genügten, bräuchten die Menschen keine Erziehung... und ein Dornenfeld würde nicht zum Garten voll Blumen. Zum zweiten seien Charakterunterschiede nicht ein Grund zur Unmöglichkeit der Einheit, sondern gerade zu deren Möglichkeit, da in der Schöpfung jedes Wesen aus der Verbindung gegensätzlicher Elemente durch eine beherrschende Kraft ins Dasein käme. Also werde diese Verschiedenheit der Einzelwesen und Urelemente durch Verbindung und Vereinigung zur Ursache der Manifestation von Kraft, vollkommenem Dasein und makellosen Seelen. Wäre aufgrund der [Seite 14]










'Abdu'l-Bahá in Stuttgart


[Seite 15] wesenhaften Unterschiede der Elemente eine Verbindung und Vereinigung unmöglich, so wäre in der Welt des Seins kein Geschöpf entstanden. Betrachte man die Schöpfung, so basiere sie auf dem Zusammentreffen von Gegensätzen, und die Verschiedenheit des Charakters bei den Menschen ließe deren Würde, Schönheit und Vollkommenheit noch heller erstrahlen... Es sei wie in einem Land, das durch Menschen vielerlei Schichten und Zünfte eine Kultur entwickele... So seien auch nach den Gesetzen der Natur und den Regeln der Vernunft der Weltfriede und die Einheit der Menschheit nicht unmöglich, sondern unumgänglich und möglich und ein Ergebnis der Reife der Menschheit... Es werde auch behauptet, Krieg und Kampf seien die Ursache der Ehre und des Muts sowie des Fortschritts der Nationen. Wir aber sagten, wenn mit Ehre und Mut äußerlicher Stolz und Kühnheit und das Sichauszeichnen durch tierische Kräfte gemeint sei, dann wäre ein Mensch umso glücklicher, je raubgieriger er sei. Warum sollten dann Krieg und Kampf auf die Nationen beschränkt sein? Sie wären unter einzelnen angebrachter... Wenn jedoch Ehre und Mut den Schutz der Grundlagen von Würde und Wohl und die Wahrung der Menschenrechte zum Ziele hätten, dann zerstörten Krieg und Kampf diese Grundlagen und zerträten die Rechte der Erdenbewohner. Wie könne die Ehre einer gerechten Person und der Mut eines vernünftigen Menschen es zulassen, für ein Stück Erde oder um des Berühmtseins willen, Mitmenschen sich in Blut und Staub wälzen zu sehen, das herzzerbrechende Weinen der Gattinnen und Kinder der Gefallenen zu hören und blühende Städte zerstört vorzufinden. Reichtum und Besitz, die Frucht jahrelanger Arbeit von Landwirtschaft, Handel und Handwerk eines Volkes und Staates, würden an einem Tag auf dem Schlachtfeld zum Töten und Schänden von Menschen verschwendet. Heute sollten Ehre und Mut der Menschen diese Katastrophen und schweren Lasten beseitigen. Das Wetteifern der Nationen um den Fortschritt erfordere weder Kampf noch Krieg. Es gäbe tausend lobenswerte und angebrachte Mittel ohne Blutvergießen und Zerstörung, wie zum Beispiel den Aufbau von Städten, mehr Bildung für alle, die Förderung von Wissenschaft und Kunst, das Erweitern von Handel und Landwirtschaft, das Schaffen von Sicherheit, Gerechtigkeit... und dergleichen mehr. Wenn die hohen Summen, die für Krieg und Blutvergießen verwendet werden, für solche wichtigen Vorhaben zum Einsatz kämen, würde jedes Land ein Wahrzeichen des höchsten Paradieses. In den vergangenen Jahrhunderten, als die heutigen Mittel und Bildungseinrichtungen nicht vorhanden gewesen seien,... konnte man vielleicht nationale und politische Vorurteile als Ausrede und Vorwand für einen Krieg benutzen und sagen, daß durch die Macht des Krieges eine eingebildete, unwissende Nation erzogen und ein unkultiviertes Land geordnet werden müsse. Aber in solch einem großartigen Zeitalter den Fortschritt der Völker durch Blutvergießen und Krieg unter zivilisierten Nationen und Staaten erringen zu wollen, sei niederträchtig, und dies leuchte jedem gerechten, vernünftigen Menschen ein. In diesem Zusammenhang, so fand 'Abdu'l-Bahá, sei es sehr merkwürdig, daß in einem Zeitalter wie diesem die Nationen und Mächte Europas, die selbst rassische und politische Vorurteile, Krieg und Blutvergießen als Mittel zum Fortschritt und Vorsprung benützten, religiöse Vorurteile sofort anprangerten, wenn die Sprache auf die Religionen der Vergangenheit käme. Ihr Hauptargument, weshalb sie Religion für unnötig und schädlich hielten, seien die Kriege und Kämpfe [Seite 16]















'Abdu'l-Bahá im Kreise Seiner Freunde im Garten der Villa Wagenburg in Stuttgart


[Seite 17] der Religionsführer von einst. Christus habe sehr treffend gesagt: »Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders und siehst nicht den Balken in deinem eigenen Auge?«

Zu einem jungen Militärmusiklehrer sagte 'Abdu'l-Bahá: »Die Musik ist ein Zeichen Gottes. So wie jene Musik den Körper in Bewegung und Aufruhr versetzt, bringt geistige Musik und der himmlische Ruf die Herzen und Seelen in Schwingung. Die Gottesoffenbarer lehren diese geistige Musik. Daher hoffe ich, du mögest diese himmlischen Melodien hören und so, wie du durch die menschliche Musik die Armee und das Land bewegst, den Herzen und Seelen durch die göttliche Musik ewige Heiterkeit und Freude schenken.«

Am 1. Mai 1913, dem Abschiedstag, eilten vom frühen Morgen an die Besucher scharenweise zu 'Abdu'l-Bahá. »Welche Liebe«, sagte er zu einigen, »ist durch die Macht Bahá’u’lláhs zwischen uns entstanden! Der Schah von Persien war zweimal in Stuttgart. Obwohl er ein Schah war, wurde er nur offiziell empfangen und betreut. Er hatte jedoch nicht einmal zwei aufrichtige Freunde hier. Wir waren dagegen Vertriebene und Gefangene, und als wir hierher kamen, fanden wir so viele innige Freunde. Es entstand eine beispiellose Liebe und Verbindung zwischen unseren Herzen, weil eine solche Liebe und Zusammengehörigkeit durch eine außergewöhnliche Macht zustandekam, die nur dem Wort Gottes entstammen kann. Wäre diese Macht nicht am Wirken, wie könnten so viele Herzen gewandelt und die Seelen in diesem Maße zu uns hingezogen werden. Daraus wird klar, daß die heiligen Offenbarer, durch die eine solch mächtige Kraft zur Wirkung kommt, das Wesen des Seins und mächtiger als die Herrscher der sichtbaren Welt sind...«

Zu einer anderen Gruppe sagte Er: »Heute verabschiede ich mich von euch. Es gibt jedoch zwei Arten von Abschied. Bei der einen vergessen sich die Menschen im Laufe der Zeit — so ist es in der stofflichen Welt. Ein Abschied, der kein Vergessen kennt, ziemt dem Volke des Gottesreiches und den Freunden Bahá’u’lláhs, deren Herzen, je mehr sich ihre Augen entfernen, umso näher zusammenrücken. Sie haben eine Verbindung, die nicht abreißt.« Und zu anderen sprach Er: »Bei einem Treffen genießt der Geist und nicht der Körper. Die Seele empfindet die geistigen Ebenen, nicht der Körper. Daher sind geistige Eindrücke von Dauer...« Er ermahnte Seine Freunde zu größter Liebe und Freundschaft, sich in keiner Weise voneinander zurückzuziehen oder beleidigt zu sein, da die kleinen Ereignisse nicht von Dauer seien und verschwänden. Wenn einer einen Fehler mache, sollten die anderen ihm verzeihen und ihm nichts vorhalten, dann werde auch Gott mit ihren Fehlern nachsichtig sein. Der Mensch müsse stark und standhaft sein, und nicht wie ein Strohhalm durch jeden Windhauch hin- und herwanken... »Wir sind alle Tropfen eines Meeres«, sagte Er zu einer weiteren Gruppe. »Die Tropfen sind nicht vom Meer getrennt... Wir stehen alle unter der schützenden Güte Bahá’u’lláhs. Das Licht Seiner Gnade scheint auf alle. Wir genießen alle den Segen dieser Sonne der Wahrheit... Darum werden wir immer zusammengehören...«

Viele Freunde ‘Abdu’l-Bahás kamen zum Bahnhof mit Blumen in der Hand und Tränen in den Augen. Er tröstete sie mit gütigen Worten, bis der Zug um 9 Uhr in Richtung Paris abfuhr.


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»Dies ist das Jahrhundert des Lichts«[Bearbeiten]

Aus einer öffentlichen Ansprache 'Abdu'l-Bahás vom 3. April 1913 im Bürgermuseum in Stuttgart


Aus fernen Landen komme ich zu euch. 20 000 Meilen bin ich gereist, bis ich bei euch war. 40 Jahre war ich eingekerkert. Ich war noch ein junger Mann, als man mich in Ketten legte, und meine Haare sind weiß geworden, ehe sich die Gefängnistüren mir öffneten.

Nach all diesen harten Leiden des Gefängnisses nahm ich willig alle Mühseligkeiten einer langen Reise auf mich und bin nun hier, um mich mit euch zu vereinigen und euch zu begegnen. Meine Absicht ist, die Menschheit zu erleuchten und alle Menschen in vollkommener Liebe und Freundschaft zu vereinigen. Religiöse und nationale Vorurteile sowie die Rassenunterschiede müssen beseitigt werden; die Menschheit muß unabhängig werden, denn die Grundlage der Religion Gottes ist die Liebe, sie ist das gemeinsame Gefühl unter allen, die Solidarität, die sie verbindet. Aber heute ist die Grundlage der Religion verlassen; alle Religionen bestehen in Dogmen. Weil nun diese Dogmen voneinander abweichen, so ist dadurch Uneinigkeit und Haß entstanden. Die Religion muß die Grundlage alles guten Einvernehmens sein. Betrachtet die Wirren auf dem Balkan. Wieviel Blut wird da vergossen! Wie viele tausend Mütter haben ihre Söhne verloren und wie viele Kinder sind Waisen geworden! Wie viele Häuser sind zugrunde gegangen, wie viele Dörfer sind zerstört und wie viele Städte verwüstet! Aus dem Balkan ist ein Vulkan geworden. Alle diese Ruinen — woher rühren sie? Teilweise von dem Vorurteil der Religionen untereinander! Sie werden hervorgerufen durch Aberglauben und Rassenvorurteile. Das Wesen der Religion Gottes ist die Liebe und die Erleuchtung der Menschheit; alle heiligen Bücher legen Zeugnis davon ab. Aber die Menschen haben heute vergessen, was das wahre Wesen der Religion ist.

Jede Nation und jedes Volk hält zu einem bestimmten Dogma. Jedes Ding in der Welt der Existenz unterliegt aber einer Veränderung. Dieser Wechsel und diese Veränderung sind Erfordernisse des Lebens. Sehet zum Beispiel diese Blumen vor uns. Sie kommen aus dem Samenkorn hervor. Nachdem sie zu dieser Entwicklung gelangt sind, haben sie den Zustand der Vollkommenheit erreicht; nun gehen sie wieder zurück. Das ist das unveränderliche Gesetz der Schöpfung. In gleicher Weise entwickelt sich der Mensch von seiner Jugend bis zu seiner Reife; und sobald dieser Zustand der Reife erlangt ist, beginnt er wieder abwärts zu steigen. Demselben Gesetz sind auch alle Religionen und Kirchen unterworfen. Sie sind gegründet, damit sie aufblühen und sich entwickeln sollen, um nach Erfüllung ihrer Mission wieder zurückzugehen...

Die wahren Lehren Gottes gleichen dem Kern in der Schale. Wir müssen das Innere, den Kern, von der Schale loslösen. Die Menschheit ist in der Dunkelheit. Unser Ziel ist, die Menschheit zu erleuchten. Es ist natürlich, daß [Seite 19] nach jeder dunklen Nacht ein heller Tag kommt. Es ist unsere Hoffnung, daß diese Dunkelheit zerstreut wird und daß die Strahlen der Sonne der Wirklichkeit wieder leuchten. Wir haben das Vertrauen, daß auf die Dunkelheit ein heller Tag kommt, wie es unsere Hoffnung ist, daß nach dem kalten Winter wieder ein neuer Frühling erscheint, der die Natur erfrischt und belebt, so daß die Bäume sprossen, grünen und Blätter, Blüten und Früchte hervorbringen.

Preis sei Gott, daß das erleuchtete Jahrhundert herabkommt. Preis sei Gott, denn dieser Frühling ist angebrochen. Preis sei Gott, daß die Wirklichkeit aller Dinge enthüllt worden ist. Dieses Jahrhundert ist das Jahrhundert des Lichts. Diese Periode ist die Periode der Wissenschaft. Dieser Zyklus ist der Zyklus der Wirklichkeit. Dieses Zeitalter ist das Zeitalter des Fortschritts und der Gedankenfreiheit. Dieser Tag ist der größte Tag des Wehens des Heiligen Geistes. Dieses Zeitalter ist das Zeitalter, welches zu neuem Leben erweckt. Deshalb hoffe ich, daß alles in Harmonie geeinigt wird. Strebet und wirket, damit die Fahne der Menschlichkeit und Einigkeit aufgerichtet werde, daß das Licht des universalen Friedens scheine, daß der Westen und Osten sich umarme und so die materielle Welt der Spiegel des Reiches Gottes werde. Ewiges Licht möge hervorleuchten, und jener Tag möge kommen, auf den keine Nacht mehr folgt.

In diesem Zeitalter muß jeder sein Angesicht Gott zuwenden, so daß die himmlische Erneuerung mit der natürlichen Zivilisation Hand in Hand geht. Materielle, äußere Zivilisation allein vermag die Welt nicht glücklich zu machen. Göttliche, innere Erneuerung muß die materielle Zivilisation stützen. Die Männer der Wissenschaft und der Philosophie sind die Begründer der materiellen Zivilisation und geistigen Kultur, aber Seine Heiligkeit Christus war der Gründer der göttlichen Zivilisation. Die materielle Zivilisation dient dem äußeren Leben des Menschen, aber die geistliche Zivilisation begründet die Welt des Sittlichen. Diese zwei Zivilisationen müssen Hand in Hand gehen. Materielle Zivilisation gleicht einer Lampe, aber die göttliche Zivilisation gleicht dem Licht innerhalb der Lampe. Die Lampe ohne Licht ist nutzlos. Wir leben jetzt an dem Tag, an dem unsere Wissenschaft mit der geistlichen Zivilisation Hand in Hand gehen muß. Innere Zivilisation gleicht dem Geist, der den Körper belebt. Solange der Geist im Körper weilt, haben wir ein lebendiges Wesen vor uns, aber ein Körper ohne Geist ist tot. Es ist meine Hoffnung und mein Wunsch, daß alle den Grad geistiger Veredlung erreichen mögen. Gleichwie ihr große Fortschritte in materiellen Wissenschaften gemacht habt, so möget ihr auch voranschreiten in der geistigen Welt; dann werden die Lichter des Königreichs Gottes durch alle Welt scheinen. Möge die Sonne der Wirklichkeit den Osten und den Westen erleuchten!

(aus Sonne der Wahrheit, 1. Jahrgang 1921/22, S. 108ff)


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‘Abdu’l-Bahá in Stuttgart


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»Das Fundament der Religion Gottes ist ein und dasselbe«[Bearbeiten]

Aus einer Ansprache 'Abdu'l-Bahás vom 3. April 1913 zu Bahá’í-Freunden in Stuttgart


Dies ist ein sehr gesegneter Tag, weil ich mich in Stuttgart, viele tausend Meilen von meiner Heimat entfernt, in einer solch geachteten Versammlung befinde.

So wie eure Herzen erleuchtet sind, so zeigen eure Gesichter dieselbe Wahrheit. Ich hoffe, daß jeder von euch, die ihr die Botschaft der Einheit der Menschheit vernehmt, diese verkündigt, so daß die Religion Gottes überall verbreitet werde, daß das Hauptprinzip der Lehren Christi überall respektiert werde. Denn das Fundament der Religion Gottes ist ein und dasselbe. Das Wesen des Gottesglaubens ist einheitlich. Von Anbeginn der Schöpfung war das Objekt aller Religion und ihr Ziel ein und dasselbe. Alle Religionsträger Gottes haben die Einheit der Menschen verkündet, sie laden alle Menschen zum Frieden, zur Erlösung ein, sie haben allen Menschen befohlen, Liebe und Freundschaft zu pflegen, sie haben die Tugenden der Menschheit in die Herzen der Menschen eingegraben. Sie haben alle Menschen gerufen, in das Königreich Gottes einzutreten. Sie haben die Menschen zum ewigen Leben gerufen.

Jede Offenbarung der Religion Gottes ist in zwei Teile geteilt; der erste Teil, welcher das Fundament der Religion Gottes ist, behandelt die Moral, er lehrt Vergeistigung; dieses ist das Wissen von Gott, es ist die Liebe Gottes, es ist Mitleid gegen alle Menschen der Welt, es ist die Einigkeit der Menschheit, es ist universaler Friede. Dieser erste Teil der Religion Gottes behandelt die göttliche Tugend, er ist Geistigkeit, kurz, er gehört dem Reiche der Ethik an. Dies ist gleichbleibend durch alle Religionen hindurch seit Adam bis zur gegenwärtigen Zeit, dieser Teil unterlag keiner Veränderung und keiner Umgestaltung. Dieser ist das Fundament der Religion Gottes.

Der zweite Teil ist nicht so wesentlich, er gehört den äußeren Zeremonien an, er unterliegt der Veränderung des Zeitalters und ist der Entwicklungsstufe der Menschheit angepaßt, wie zum Beispiel der des Mosaischen Zeitalters. Der zweite Teil der Religion gehört zu den veränderlichen, äußerlichen Verrichtungen. Er unterlag der Veränderung in der Zeit Christi. Zum Beispiel wurde Ehescheidung während der Mosaischen Periode ausgeübt. Aber Christus veränderte dieses Gesetz, weil die Menschen von diesem Gesetz bis zum Übermaß Gebrauch machten...

Kurz, das Fundament aller Religion, das Wesen aller Religion ist eines und einzig dastehend in seiner Art. Die Wirklichkeit, das ewige Wesen, ist eines, es kann nicht vervielfältigt und niemals verändert werden.

Das Ziel aller Religion Gottes ist Liebe, Zuneigung, Freundlichkeit und Güte. Die Religion muß notwendigerweise die Herzen der Menschen zusammenbinden. Aber in diesen Tagen und in diesem Zeitalter wurde tausendmal die Religion zur Ursache des Hasses und des Streits. Christus nahm viele [Seite 22] Trübsale und Leiden auf sich, um Liebe und Einigkeit unter den Menschen zu schaffen. Viele Tage und Nächte wanderte Er in der Wüste, Er nahm willig jede Trübsal auf sich. Er ertrug alle Verleumdungen und zuletzt erduldete Er den Tod am Kreuz. Warum tat Er all dies? Sein Ziel war, die Menschheit zu erleuchten, so daß Einigkeit und Harmonie in ihren Herzen Platz greifen möchten. Friede und Vergebung sollten in allen Ländern herrschen.

Alle Propheten Gottes haben sich gleichfalls bemüht, daß die Menschen Frieden halten und Liebe und Einigkeit ausüben sollen. Aber wie bedauernswert ist es, daß sogar heute noch die Konfessionen einander feind sind. Sie vergießen Blut untereinander, sie berauben einander, sie zerstören ihre Heimat, ihre Häuser. Alle diese Dinge werden im Namen der Religion ausgeübt...

Der Anfang aller Religion war Friede und Erlösung, die den Menschen zum Weltfrieden rufen sollten; sie befahl ihnen, liebend und mitleidig zu sein. Aber heutzutage ist das Fundament der Religion vergessen. Gewisse Dogmen und Aberglaube kommen durch die Menschen hinzu. Doch diese Dogmen haben nichts zu tun mit dem Fundament der göttlichen Religion. Diese verschiedenen Konfessionen und Sekten unterscheiden sich voneinander und ergehen sich daher in Verfolgung und Heftigkeit. Deshalb müssen wir uns immer bemühen, daß diese Dogmen beiseite gelassen werden und daß dieser Aberglaube aufgegeben und das Fundament der göttlichen Religion sichtbar errichtet werden. Diese Dogmen sind wie schwarze Wolken, und das Fundament der Religion Gottes ist wie die welterleuchtende ideale Sonne. Wir müssen den Odem Gottes einwirken lassen, so daß diese finsteren Wolken verjagt werden, daß die ideale Sonne der Wahrheit die Menschen erleuchte. Dann wird die ganze Menschheit erleuchtet werden.

Zu einer Zeit, als die Finsternis den Orient umgab, bedeckten die Wolken der Dogmen den Horizont des Ostens. Es gab viele Kriege unter verschiedenen Glaubensanhängern, und viel Blut wurde vergossen, denn sie betrachteten sich untereinander als unrein. Es gab Krieg zwischen Stämmen und Rassen, es gab Konflikte zwischen den verschiedenen Nationen, kurz, der geistige Horizont des Ostens war äußerst verfinstert. Zu einer solchen Zeit erschien Seine Heiligkeit Bahá’u’lláh! Wie eine durchdringende Sonne leuchtete Er von dem Horizont des Ostens, und Er verkündigte die Lehre der Einheit der Menschen: Alle Menschen sind wie Lämmer Gottes, und Gott ist der wahre Hirte. Dieser universale Hirte ist sehr gütig. Er liebt alle Seine Schafe. Wenn Er sie nicht liebte, hätte Er sie nie geschaffen. Wenn Er sie nicht geliebt hätte, hätte Er ihre Existenz nicht vorgesehen. Wenn Er sie nicht geliebt hätte, hätte Er sie nicht beschützt. Wir sehen, daß dieser universale Hirte so gütig ist wie unser leiblicher Vater. Wenn Gott gütig ist gegen alle, warum sollen wir einander schlecht behandeln? Wenn Er im Frieden ist mit allen, warum sollten wir dann einander bekriegen und töten?

Ein anderes Prinzip, welches Bahá’u’lláh proklamierte, ist, daß die Religion die Ursache der Kameradschaft, der Liebe und Güte sein muß. Wenn die Religion nicht die Ursache der Kameradschaft, der Liebe und Freundschaft ist, so [Seite 23] ist es keine Religion. Wenn die Religion nicht das Mittel der Erleuchtung der Menschheit ist, dann ist es keine Religion. Wenn die Religion nicht die Ursache ist, daß der Friede erhalten werde, dann ist es keine Religion. Dann ist sie nur eine Bürde von Aberglauben, und dann ist es besser, gar keine Religion zu besitzen, als eine solche Religion.

Ein weiteres Prinzip, welches Bahá’u’lláh proklamierte, ist, daß die Religion in Übereinstimmung mit der Wissenschaft und der Vernunft sein muß. Wenn die Religion nicht übereinstimmt mit der Wissenschaft und der Vernunft, dann ist sie ein Trugbild. Das Fundament aller Religionen war immer übereinstimmend mit der Wissenschaft und der Vernunft, und das, was nicht übereinstimmt mit der Wissenschaft und Vernunft, gehört in das Reich der Dogmen. Dies ist der Grund, warum diese Dogmen die Ursache von Haß und Krieg, von Überfällen und ähnlichen Dingen sind. Deshalb müssen wir diese Dogmen ablegen, damit die Glaubensbekenntnisse sich miteinander in Liebe und Freundschaft vereinigen.

Wir müssen den Zweck der Religion Gottes untersuchen. Die Menschen, welche Bahá’u’lláhs Lehre angenommen haben, begannen miteinander übereinzustimmen und sich miteinander zu verbinden. Heutzutage werden viele herrliche Versammlungen im Orient gehalten, worin Christen, Juden und Buddhisten sich miteinander in vollkommener Liebe vereinigen. Sie behandeln einander, als ob sie Mitglieder einer Familie wären, sie sind immer bereit, selbst ihr Leben füreinander zu opfern. Alle diese künstlichen Schranken, diese Klüfte, sind von ihnen genommen, sie sind alle wie Schwestern und Brüder. Sie glauben an alle Propheten Gottes, sie glauben an Seine Heiligkeit Christus, und heute wächst diese Liebe und Einigkeit Tag für Tag, denn die Lehre Bahá’u’lláhs wird durch eine göttliche Macht verbreitet. Er hat die Nachfolger dieser Religionen vereinigt, Er hat Verbindung und Zuneigung unter ihnen geschaffen und hat alle die Vorurteile, Dogmen und Klüfte von ihnen genommen. Er erleuchtete den geistigen Horizont des Ostens. Deshalb reise ich durch die verschiedenen Länder der Welt und rufe alle Nationen zum Reich Gottes, zur Einheit der Menschheit rufe ich sie, und bitte sie, göttliche Liebe und Zuneigung zu betätigen...

Gott sei Dank, daß das erleuchtete Zeitalter gekommen ist! Gelobt sei Gott, daß die Sonne der Wirklichkeit gedämmert hat! Es ist das Zeitalter der Einigkeit der Menschheit. Jetzt ist das Zeitalter der Entfaltung der Liebe Gottes. Jetzt ist das Zeitalter angebrochen, in welchem das Lamm und der Wolf aus derselben Quelle trinken, der Tag, an dem die Gazelle und der Löwe auf derselben Wiese weiden werden. Jetzt ist das Zeitalter, in welchem das Königreich Gottes auf der Erde sichtbar werden muß. Jetzt ist das Zeitalter angebrochen, in welchem die Strahlen des himmlischen Reiches sich ausbreiten müssen durch den ganzen Orient und überallhin. Es ist meine Hoffnung in dieser Versammlung, daß ein jeder von euch Anwesenden sich aufs äußerste bemühe, daß diese Welt das Paradies Gottes werde.


(aus Sonne der Wahrheit, 3. Jahrgang 1923/24, S. 151 ff)


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'Abdu'l-Bahá im Kreise Seiner Freunde im Garten der Villa Wagenburg in Stuttgart


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»Die geistige Frühlingszeit ist angebrochen«[Bearbeiten]

Aus einer Ansprache ‘Abdu’l-Bahás vom 5. April 1913 zu Bahá’í-Freunden in Stuttgart


...Wir sind zur schönsten Jahreszeit gekommen, im Frühling, wenn alle Wiesen grünen und die Bäume in herrlicher Blüte stehen. Ich bitte Gott, daß die Herzen ebenso aufblühen mögen. Ich bin sehr zufrieden mit euch und erfreut über die Gläubigen Stuttgarts; denn sie sind in der Tat Gläubige; sie sind gefestigt und treu im Bündnis und Testament. Ich werde sie nimmer vergessen. Wenn ich zum Heiligen Land zurückkomme, werde ich für euch beten am Heiligen Grabe Bahá’u’lláhs.

Die materielle Welt ist der Spiegel der geistigen Welt. Wie die materielle Welt ihre verschiedenen Jahreszeiten wie Frühling, Sommer, Herbst und Winter hat, so hat auch die geistige Welt ihr Aufblühen und Dahinwelken wie Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Überlegt: Die Erde, die Natur, schläft im Winter; Frost und Schnee halten sie im Winterschlaf. Wenn aber der Frühling naht, wird die ganze Erdoberfläche grün, sie ist wie verwandelt. Nun können wir sehen, daß ein neues Leben in die Natur gekommen ist. Die Natur war tot und ist neuerweckt worden. Die Natur war erstarrt und jetzt entwickeln sich neue Düfte. Die Natur war krank und ist jetzt wieder gesund. Ebenso verhält es sich mit der geistigen Welt. Die Welt des Geistes ist auch verdunkelt gewesen. Die Herzen haben ihre enge Beziehung mit Gott verloren. Die Grundlagen des Gottesreichs wurden zerstört. Die Herzen befanden sich in einem schlafenden, gleichgültigen Zustand. Die Seelen waren leblos.

Gott sei gepriesen, daß die geistige Frühlingszeit nun angebrochen ist. Die Wolken der Vorsehung Gottes schütten ihren Regen herab. Die Sonne der Wirklichkeit strahlt. Die Lüfte der Vorsehung wehen, und in späteren Zeiten werden wir sehen, daß die Seelen neu belebt und beglückt werden durch die neuen Frohen Botschaften. Die Menschheit wird erwachen, denn der Geist Gottes weht über die See der Existenz, und die höchsten Wünsche der Heiligen Seelen werden nun verwirklicht. Die ganze Menschheit wird Freundlichkeit und Güte zueinander bezeigen. Alle Menschen werden die Wellen einer See, die Blumen eines Rosengartens, die Sterne eines Himmels, die köstlichen Früchte eines Baumes werden, sie werden sich alle erheben zu einem Gesichtskreis. In nicht allzu langer Zeit werden sie diese große Gabe erlangen.


(aus Sonne der Wahrheit, 3. Jahrgang 1923/24, S. 105)

BAHÄT-BRIEFE 55 APRIL 1988 25


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»Die Vereinigung aller Völker nützt allen Menschen der Erde«[Bearbeiten]

Aus einer Ansprache 'Abdu'l-Bahás beim Kinderfest in Esslingen am 4. April 1913


...Ich hoffe, daß das deutsche Volk das Ziel des allgemeinen Friedens im Auge behalten wird. Strebet danach, daß das Licht des Königreichs euch erleuchte. Das Manna des Himmels möge auf euch herabkommen. Das Wehen des Heiligen Geistes möge eure Herzen bewegen, das Licht der Sittlichkeit möge in der Welt immer heller hervorstrahlen und die Flagge der Einigkeit möge in der Welt entfaltet werden. Möchten sich doch alle Nationen und alle Völker der Welt vereinigen in freundschaftlicher Gesinnung, so daß die düsteren Wolken, die jetzt noch den Horizont der Welt verdunkeln, zerstreut werden. Möchten doch die Strahlen der Sonne der Wirklichkeit immer heller hervorbrechen, so daß Unwissenheit und Vorurteile verschwinden. Es gibt nur einen Schöpfer der Menschheit. Es gibt nur einen Vater, der die Menschheit durch Seine Vorsehung lenkt. Es gibt nur einen Hirten für alle Schafe. Gott ist gütig zu allen Menschen. Gleicherweise müssen auch wir zu allen Menschen freundlich und gütig sein. Gott hat eine innere Gemeinschaft unter uns gegründet, in der sich der Osten mit dem Westen vereint. Alle fünf Erdteile dieser Welt sollen sich zu einem Erdteil zusammenschließen. Möge die Liebe Gottes in euren Herzen wohnen. Die Vereinigung aller Völker und die Gemeinschaft untereinander nützt allen Menschen der Erde. Ich bete an der Schwelle Abhás, daß Er euch mit Seinem besonderen Segen umgebe, daß die hellen Strahlen der göttlichen Sonne in eure Herzen scheinen, besonders in die Herzen der Kinder.

Ich bitte Gott, daß Er jeden von euch segnen möge. Möge Gott unser aller Erzieher sein, damit diese Kinder unter dem göttlichen Schutz und der göttlichen Vorsehung heranwachsen und die höchste Tugend und Vollkommenheit in dieser Welt erringen.

Ich bin den Esslingern sehr dankbar, daß sie mich eingeladen haben, ihr Gast zu sein. Ich erkenne... auf euren hellen Gesichtern mein Gesicht wieder. Ich bin unbeschreiblich glücklich, vor mir so viele glückliche Gesichter zu sehen. Diese Versammlung wird eingegraben sein im Buch meiner Erinnerungen, sie wird in Gedanken immer vor mir stehen. Ich bete für euch alle und für jeden einzelnen von euch, daß Gottes Segensstrom auf euch herabkommen möge.


(aus Sonne der Wahrheit, 3. Jahrgang 1923/24, S. 89)


[Seite 27]



»Dies ist ein gesegneter Tag!«[Bearbeiten]

Aus den Erinnerungen von Alice Schwarz

Frau Alice Schwarz und ihr Gatte, Konsul Albert Schwarz, zählten zu den ersten Bahá’í in Deutschland. Alice Schwarz sind die wohl ausführlichsten Aufzeichnungen zu verdanken, die uns heute über den Besuch 'Abdu'l-Bahás in Deutschland zur Verfügung stehen. Während des gesamten Aufenthalts 'Abdu'l-Bahás in Stuttgart hatte das Ehepaar Schwarz engsten Kontakt mit Ihm. Die schriftlich niedergelegten Erinnerungen an diese bedeutungsvolle Zeit tragen den Titel »Lausche den Worten des Erleuchteten«. Die nachfolgenden Auszüge vermitteln dem Leser einen unmittelbaren Eindruck von persönlichen Begegnungen mit 'Abdu'l-Bahá.


Die erste Begegnung

Mit bangem Herzen, doch erwartungsvoll, hatten mein Mann, Konsul Albert Schwarz, meine Tochter Olly und ich der ersten Begegnung mit dem Meister entgegengesehen...

'Abdu'l-Bahá erhob sich und forderte uns durch eine Handbewegung auf, in Seiner Nähe Platz zu nehmen. Meine Tochter überreichte 'Abdu'l-Bahá einen großen Strauß rosafarbener Tulpen, worüber sich der geliebte Meister sichtlich freute.

Vor uns stand 'Abdu'l-Bahá voll Würde und majestätischer Ruhe. Sein Haupt war bedeckt mit einem weißen Turban; die silbergrauen Haare reichten bis zur Schulter herab. Blaue Augen, erfüllt von Liebe, leuchteten uns in strahlender Klarheit entgegen. Seine edel geformte Stirn zeugte von höchster Vergeistigung. Sein silberweißer Bart fiel bis zur Brust. Die Gesichtsfarbe war hell mit leichter Tönung. Seine Stimme klang weich, voll und tief. Er trug eine hellbraune ‘Abá, den wollenen persischen Mantel...

Während dieses ersten Zusammenseins mit dem Meister war ich bis zu unserem Weggehen so sehr erschüttert, daß es mir nicht möglich war, auch nur ein Wort an Ihn zu richten. Ich fühlte in meinem Innersten: Er wird das zu uns sprechen, was gut für uns ist.








Alice Schwarz


Kinderfest in Esslingen

Seit langem waren von Fräulein Anna Köstlin die Esslinger Bahá’í-Kinder sonntags mit der Heiligen Lehre vertraut gemacht worden.

Am 4. April 1913 war nun der langersehnte Nachmittag gekommen, da sie den Geliebten selbst begrüßen durften. Gegen 16 Uhr traf ’Abdu’l-Bahá in Esslingen ein. Voll Erwartung standen die Kinder am Eingang des festlich geschmückten Saals des Museums in Esslingen, als Er dem Auto entstieg. [Seite 28]













Aufnahme anläßlich des Kinderfestes in Esslingen am 4. April 1913



[Seite 29] Mehrere Gläubige erwarteten den geliebten Herrn ehrfürchtig am Eingang des Hauses und geleiteten Ihn in den Saal. Voll Zutrauen und Liebe scharten sich die Kinder um den Meister und reichten Ihm Blumen. Hierbei berührte 'Abdu'l-Bahá die Ihm entgegengestreckten Händchen, liebkoste die Ihm Zunächststehenden und beschenkte alle Kinder mit Süßigkeiten. Er sprach folgenden Segen:

»Ich bete zu Gott, daß Er diese Kinder segnen möge, daß sie aufblühende Blumen im Reiche Abhás werden, frisch und prangend in herrlichem Blühen, und daß jedes von ihnen von dem Licht Gottes und Seiner Liebe erleuchtet werde. Sie sind Knospen, ihre Herzen sind rein und ihre Seelen von lieblichster Klarheit. Ich hoffe, daß sie sich in der Liebe Gottes entwickeln werden wie Perlen in der Schale.«

Nun betrat 'Abdu'l-Bahá den Festsaal und nahm Seinen reich mit Blumen geschmückten Ehrenplatz ein. Nach dankerfüllten Begrüßungsworten der Bahá’í-Freunde sprach ‘Abdu’l-Bahá:

»Preis sei Gott, daß ich heute unter euch bin! Ich sehe euch erleuchtet von der Liebe Gottes!...

Ich bete an der Schwelle Abhás, daß Er euch mit Seinem göttlichen Segen umgebe, daß die hellen Strahlen der göttlichen Sonne in eure Herzen scheinen mögen, vor allem aber in die Herzen der Kinder!

Ich bitte Gott, daß Er jeden von euch segne! Möge Gott unser Erzieher sein! So wachsen diese Kinder unter dem Schutz Gottes und unter Seiner Vorsehung heran. Sie werden höchste Tugend und Vollkommenheit in dieser Welt erlangen.

Ich bin den Freunden in Esslingen sehr dankbar, daß sie mich zu Gast gebeten haben. Wie ich schon sagte, erkenne ich in ihren strahlenden Gesichtern mein Antlitz wieder. Ich bin hoch beglückt, so viele leuchtende Gesichter zu sehen! Dieses Beisammensein wird weiterleben in meiner Erinnerung — in Gedanken wird es mir stets gegenwärtig sein!

Ich bete für euch alle, für jeden einzelnen von euch, daß Gottes Segen auf euch ruhe!«

Auf dem Weg zum Auto waren von den Kindern Blumen gestreut worden, um Ihn zu erfreuen. Sorglich vermied der Geliebte, auf eine der Blumen zu treten. Bei der Abfahrt war ein Grüßen und Winken ohne Ende.


Besuch in der »Wilhelma«

Eines Nachmittags fragten wir den Meister, ob Er sich die »Wilhelma« ansehen möchte. Auf der Fahrt im offenen Auto, entlang der königlichen Anlagen, fiel ein leichter Frühlingsregen; ich drückte dem Meister mein Bedauern darüber aus, daß sich die Sonne auf kurze Zeit hinter den Wolken verberge. Da sprach der Geliebte: »Sehet, wie wohltuend und erquickend der Regen auf die Blätter der Bäume wirkt.« Wieder lehrte Er uns, nur das Gute zu sehen. Der leichte Regenschauer war auch bald vorüber.

Der Meister betrat die schönen Parkanlagen, in denen sich Wasserspiele, gepflegte Gewächshäuser und kleinere Bauten befinden... Als Er sich dem Hauptgebäude zuwandte, wollte ich rasch zum Eingang des Parkes zurückeilen, um Eintrittskarten zu lösen. Wie der Meister sich jedoch dem Eingang des Schlößchens nahte, riß der Parkwächter mit tiefer Verbeugung die Tore weit auf. Ungehindert wandelten wir durch die in rein orientalischem Stil gehaltenen Räume, deren Aufteilung uns der Meister erklärte. Die Bedeutung der orientalischen Sinnsprüche über den Eingängen zu den einzelnen Räumen ließ uns der Geliebte übersetzen.

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Die »Wilhelma«, ein 1842 — 1845 in maurischem Stil erbautes Schloß in Stuttgart-Bad Cannstatt


Hinter dem Schloß führt ein abgesperrter, wohlgepflegter Fußweg zu einem erhöht gelegenen Tempelchen. Dienstbeflissen öffnete der Parkwächter die Sperrkette, und der Herr begab sich in den einzigen Raum, den dieser Bau enthält. Er setze sich auf den orientalischen Diwan und machte mir ein Zeichen, neben Ihm Platz zunehmen. Er erging sich in Betrachtungen über die Schönheit des vor Ihm liegenden Neckartales mit seinen lieblichen Höhenzügen, hob segnend die Hand und sprach: »Stuttgart wird sich noch sehr ausdehnen und entwickeln.« Er sprach über die Wechselfälle auf Erden, über irdisches und himmlisches Leben und über den Sieg der Wahrheit. Der Meister sagte, Er fühle sich hier so wohl, wie noch nie, seitdem Er die ferne Heimat verlassen habe.

Einige junge Mädchen folgten uns... Auf dem Antlitz dieser jungen Menschen lag der Ausdruck großen Staunens und tiefen Ernstes. Es war nicht die orientalische Kleidung des Meisters, sondern Seine majestätische Würde, die sie beeindruckte.


Besuch in Bad Mergentheim

Zum 7. April 1913 war die Abreise von 'Abdu'l-Bahá nach Budapest geplant. Auf die Bitte meines Mannes willigte der Meister ein, Seine Abreise um einen Tag zu verschieben, um Bad Mergentheim zu besuchen...

Während der Fahrt war der Geliebte viel in Meditation versunken; dann wieder erfreute Er sich der abwechslungsreichen Landschaft, die an Seinen Augen vorüberzog... Endlich sahen wir von ferne die Türme von Bad Mergentheim...

Nach kurzer Rast im Kurhaus machte der geliebte Meister einen Rundgang, besichtigte mit Interesse das Badehaus und die medizinischen Einrichtungen, ging durch die Wohngebäude und kehrte in den Empfangsraum des Kurhauses zurück.

Mit Windeseile war in Bad Mergentheim bekanntgeworden, daß ein hoher orientalischer Gast im Kurhaus abgestiegen sei. So war ich auch nicht überrascht, daß eine Anzahl Menschen dort Seines Kommens harrte. Er sprach über [Seite 31] die Entwicklung des Bades, über die vorzüglichen Einrichtungen des Badehauses, die Er mit den mangelhaften Einrichtungen im Orient verglich...

Nachdem die Besucher weggegangen waren, versenkte sich der Geliebte im Gebet. Bei Seinem Anblick verstummten wir in Ehrfurcht. Von Seinem Antlitz ging ein Leuchten und Strahlen, aus dem wir erkennen durften, wie mächtig Ihn die Ströme des Ewigen verklärten. Er schien entrückt in eine höhere Welt...

Später, an der festlich geschmückten Abendtafel erzählte der geliebte Meister persische Sagen und heitere Anekdoten, die Ihn wie uns zu herzlichem Lachen brachten. Er sagte unter anderem: »Der Witz ist das Salz der Sprache.« Es war mir neu, den Geliebten von dieser Seite kennenzulernen; Seine Sekretäre sagten mir, daß sich der Meister kaum einmal in der Erzählung solcher Anekdoten wiederhole.

Am nächsten Morgen, als wir 'Abdu'l-Bahá durch den taufrischen Park begleiteten, sprach Er darüber, wie







Kurhaus von Bad Mergentheim


sehr Er sich über die Manigfaltigkeit der gefiederten Sänger erfreue... Wir gingen weiter und kamen zu einer kleinen Anhöhe. Von hier hatten wir einen freien Blick über das Taubertal und seine Höhenzüge. In diesen Anblick versunken sprach der Meister: »Dies ist ein herrlicher Ort, die Atmosphäre hat eine äußerst günstige Einwirkung auf Kranke. Die Umgebung ist dem Auge wohltuend und lieblich.«

Man hatte den Eindruck, daß 'Abdu'l-Bahá sich hier wohlfühlte. Mein Mann bat den Meister mit herzlichen Worten, Er möge, wann es Ihm immer beliebe, hier der Ruhe pflegen. Darauf erwiderte der Meister: »Ich bin nach Baden-Baden zur Erholung eingeladen worden, aber es ist nicht meine Aufgabe zu rasten, noch der Ruhe zu pflegen, sondern dem Reich Gottes zu dienen. Meine Erholung liegt in dem Verkünden der Frohen Botschaften, und meine Freude ist, Bahá’u’lláh zu dienen; auch haben wir versprochen, nach Budapest zu kommen. Dort sind schon Versammlungen [Seite 32]









Aufnahme aus dem Jahre 1916 anläßlich der Enthüllung des Gedenksteins an den Besuch 'Abdu'l-Bahás im Kurpark von Bad Mergentheim


[Seite 33] und Vorträge festgelegt. Viele Seelen sehnen sich und warten auf 'Abdu'l-Bahá, ich muß deshalb weiterziehen. Wenn ich an einem Ort bleiben möchte, so wäre es hier! Dieses Bad ziehe ich jedem anderen vor!«

Auf dem Rückweg in das Kurhaus begegneten wir einem kleinen schwachsinnigen und verkrüppelten Mädchen... Es war für mich ein großes Erlebnis, wie der Meister liebevoll das Kind zu sich heranwinkte, ihm über den Kopf strich, einige gütige Worte zu ihm sprach und ihm eine Münze in die Hand drückte. — Wieder war es ein Beweis Seiner großen Nächstenliebe. Allem Leiden galt in erster Linie Seine Sorge. Als wir weitergingen, sprach der Meister über das Leid, das über uns kommt, daß dies ein verhüllter Engel sei, ein von Gott gesandter Bote, der zurückkehrt und berichtet, wie wir ihn aufgenommen haben. Stürme und Wetter beugen die Halme! Im Leiden sollen wir wachsen, einsichtsvoll werden und dankbar sein auch für jedes Leid, das uns der Allmächtige sendet...

Vor Seiner Abfahrt nach Stuttgart ließ der Geliebte die Ärzte und Direktoren des Bades zu sich rufen und ermahnte sie zu äußerster Pflichterfüllung und Gewissenhaftigkeit in ihrer großen Verantwortung, da sie in einem Unternehmen arbeiten, das für die leidende Menschheit von so großem Wert ist.

Der Geliebte wurde höflich gebeten, sich in das Gästebuch des Kurhauses einzuschreiben. Bereitwillig erfüllte Er diesen Wunsch:

»O Du Allmächtiger! 'Abdu'l-Bahá kam in dieses Kurhaus und gewahrte allerorts die größte Achtsamkeit. Eine Nacht verweilte Er hier. O Gott, segne dieses Kurhaus und schenke ihm Erfolg!«

Darauf wurde eine Gruppenaufnahme gemacht und der Geliebte begab sich zum Auto.


»Wir dürfen voll Vertrauen sein«

Zu unserer größten Sorge hatte sich der Gesundheitszustand des Meisters so sehr verschlimmert, daß Er am Nachmittag einer Versammlung in privatem Kreis nicht beiwohnen konnte. Der behandelnde Arzt, Dr. Faber, hatte den Meister ausdrücklich gebeten, das Zimmer nicht zu verlassen und sich sehr zu schonen.

Für diesen Abend war eine große öffentliche Versammlung im Bürgermuseum durch die Presse bekanntgegeben worden. Es waren Artikel erschienen, in denen mitgeteilt wurde, daß der große persische »Religionsphilosoph«, der jahrzehntelang Seiner hohen Mission wegen schwerste Kerkerhaft erduldet hatte, persönlich zu den Anwesenden sprechen werde. Kurz vor Beginn des Vortrages rief der Meister Seine Sekretäre und einige vertraute Freunde zu sich und sprach: »Mein Gesundheitszustand erlaubt mir nicht, in der Versammlung heute abend zu sprechen. Gehet ihr und redet! Der Segen aus dem Reiche El Abhás wird mit euch sein!... Sendet Bahá’u’lláh Seine Hilfe, dürfen wir voll Vertrauen sein. Seine Hilfe ließ mich zu jeder Zeit alle Schwierigkeiten überwinden! Ich werde hier bleiben. Gehet nun! Sein Heiliger Segen wird mit euch sein!«

Im Saal des Bürgermuseums hatten sich inzwischen mehrere hundert Menschen eingefunden; sie sahen erwartungsvoll der Ansprache des hohen Besuches entgegen. Als die Sekretäre des Meisters den überfüllten Saal betraten, fühlten sie sich verpflichtet, 'Abdu'l-Bahá von dem großen Interesse, das Ihm und Seinem Vortrag galt, zu berichten. Sie wollten Ihn bitten, sich — wenn auch nur kurz — zu zeigen. Wenn Er auch wegen Seiner angegriffenen Gesundheit keine Ansprache halten könne, so würde doch Seine persönliche Anwesenheit einen tiefen Eindruck machen. [Seite 34] Mein Mann übernahm es, diese Bitte dem Geliebten vorzutragen, und begab sich unverzüglich zum Hotel. Der Meister erhob sich und sprach: »Dem Arzt habe ich versprochen, mich zu schonen. Aber gerne gebe ich meine Gesundheit hin für die Heilige Lehre im Dienst für die Freunde Bahá’u’lláhs.«


»Kinder sind Lieblinge Bahá’u’lláhs«

Marie Schweizer war mit ihren beiden Kindern gekommen, auch war die Familie Häfner mit ihrem kleinen Sohn um den Meister. 'Abdu'l-Bahá wandte sich den Kindern zu: »Kommt ein Besuch zu einem türkischen Pascha, so gibt er Bakschisch! So werde ich auch diesen lieben Kindern hier Bakschisch geben! Ich will diese kleinen Paschas hier durch Bakschisch gewinnen!« Darauf verteilte der Meister freigebig Süßigkeiten. »Ich liebe Kinder so sehr, denn sie sind dem Königreich Gottes am nächsten. Ich hoffe, daß der Tagkommen wird, an dem diese Kinder als festgewurzelte Bäume die besten Früchte tragen werden. Kinder sind Lieblinge Bahá’u’lláhs, deshalb liebe auch ich sie so sehr.«


Ein Beispiel von Geduld und Liebe

Nach der Mahlzeit zog 'Abdu'l-Bahá meinen Jüngsten, den damals siebenjährigen Axel, liebevoll an sich und sprach gütig zu ihm: »Ich nehme dich mit nach Paris!« Darüber war das Kind überglücklich, und gleich beteuerten die Sekretäre des Meisters, um ihn so besorgt zu sein, als wenn er bei seiner Mutter wäre. Doch unvermittelt fing der Junge zu weinen an und sagte: »Mein Lehrer ist sehr streng, nie wird er erlauben, daß ich die Schule versäume.« Darauf wurde er von ‘Abdu’l-Bahá liebevoll getröstet und zu einer vorgesehenen Autofahrt nach Bebenhausen eingeladen, worüber das Kind sehr beglückt war.

Nun sprach der Meister längere Zeit über die Erziehung der Kinder und die Verantwortung, die der Schullehrer hierbei trage. Der Meister wünscht, daß die Kinder die allerbeste Erziehung erhalten, daß sie zu Höflichkeit, Hilfsbereitschaft, zu Selbstbeherrschung erzogen werden.

Er selbst gab allen Menschen mit Seinem Leben ein Beispiel von Geduld und Liebe.

Schweigend folgte mein älterer Sohn Wolfgang den weisen Worten des Meisters. Er war ein stilles Kind. Gütig lächelte der Geliebte dem Knaben zu. Er ermunterte ihn: »Ein junger Mensch soll viel reden, seine Sprache entwickeln; ist er im Mannesalter, soll er sich mit Maß und Überlegung äußern; ein alter Mann, ein Greis soll schweigen.«


Das königliche Mahl

Nun möchte ich eine Erzählung des geliebten Meisters einfügen, die beweist, wie sehr Er Liebe als das Höchste schätzt.

Es war am Sonntag, den 27. April, als Er uns die Ehre erwies, bei uns die Mahlzeit einzunehmen. Jedesmal, wenn Er uns mit Seinem Besuch ehrte, zog Er sich erst zurück, um zu ruhen; doch an diesem Tag forderte Er alle Familienmitglieder auf, im Empfangszimmer in Seiner Nähe zu verharren. Unvergeßlich sind mir Seine Worte und das strahlende Leuchten, das auf Seinem heiligen Antlitz lag:

»Jedesmal, wenn ich euer Haus betrete, empfinde ich eine so starke Liebe. Hört, was ich euch erzählen will: Tief in der Wüste, 15 Meilen von Baghdád entfernt, lebte ein sehr armer Mann. Kümmerlich ernährte er sich mit Dornsammeln. Als aufrichtiger Bahá’í lebte er so [Seite 35]









Schloß Bebenhausen bei Tübingen


gut als er vermochte nach den Gesetzen Gottes.

Er hatte große Sehnsucht nach mir, so beschloß ich, ihn aufzusuchen. Es war sehr heiß; wir besaßen keine Mittel, ein Gespann oder ein Reittier zu mieten, um rascher und leichter diesen Freund in der Wüste aufsuchen zu können. Weil er aber so sehr bat, machte ich mich auf den weiten Weg zu der armseligen Binsenhütte. Bei Nacht war ich mit einigen Freunden aufgebrochen, damit wir vor Einbruch der Glut des Tages schon ein großes Stück des Weges zurückgelegt hätten.

Als die Sonne aufgestiegen war und die Hitze mehr und mehr zunahm, sang ich Tablets von Bahá’u’lláh, um neue Kräfte zu schöpfen. So kam gegen Mittag, als ich schon sehr erschöpft und stark erhitzt war, die Hütte des armen Mannes in Sicht.

Als er uns sah, eilte er uns voll Seligkeit entgegen und bat uns inständig, in seine Behausung zu kommen. Dort war es noch heißer und sehr eng.

Wir aber sangen heilige Tablets von Bahá’u’lláh; dadurch wurde unsere Seele aller äußerlichen Beschwerden enthoben.

Der arme Mann lud mich zu seinem Mahle. Mitten in der Hütte war die Feuerstelle, ein Loch im Wüstensand. Dort entfachte die Frau des Dornsammlers ein Feuer und knetete aus Mehl und Wasser eine große Kugel. Sie legte diese in die Glut und häufte viel Reisig darüber. Nach einiger Zeit entfernte sie die Asche und nahm die völlig verrußte Kugel in die Hand, brach sie in Stücke und drückte in jedes Stück eine Dattel. Dieses Brot war völlig teigig und unausgebacken. Es war die einzige Mahlzeit der armen Wüstenbewohner, die sie sich Tag für Tag zweimal bereiteten. Aber diese Speise wurde mir mit so großer Liebe gereicht, daß ich den Geschmack davon jetzt wieder auf den Lippen habe und noch oft an dieses königliche Mahl zurückdenke!«


Besuch auf dem Jagdschloß Bebenhausen

Mein Mann war sehr bemüht gewesen, ein Zusammentreffen zwischen dem [Seite 36] König von Württemberg, Wilhelm dem Zweiten, und 'Abdu'l-Bahá zustande zu bringen. Er hatte sich aus diesem Grunde mit dem ihm sehr befreundeten Kabinettschef des Königs in Verbindung gesetzt. Von diesem war meinem Mann versprochen worden, daß eine Begegnung ermöglicht werde. Zu unserem größten Bedauern fand dieses Zusammentreffen jedoch nicht statt, da der König eine geplante Reise vorverlegen mußte; so hatten wir ‘Abdu’l-Bahá den Vorschlag gemacht, Ihm einen der schönsten Sitze des Königs zu zeigen. Wir erzählten Ihm von dem Jagdschloß Bebenhausen bei Tübingen, in dem die hohen Herrschaften mehrere Monate im Jahr verbringen — ein früheres Zisterzienserkloster, das in der Einsamkeit des Schönbuchs liegt.

Der Geliebte ging auf unseren Vorschlag ein und am Nachmittag erreichten wir die stillen Wälder des Schönbuchs; der Meister hatte meine Tochter Olly und meinen jüngsten Sohn Axel zu dieser Autofahrt eingeladen.









Eintragung 'Abdu'l-Bahás in das Gästebuch des Schlosses Bebenhausen


Unterwegs entstieg der geliebte Herr in Steinenbronn dem Wagen, um sich etwas Bewegung zu verschaffen. Er verteilte in der Dorfgasse unter den Kindern Gebäck und Obst. Das Gerücht war aufgekommen, daß ein orientalischer König gekommen sei, und Kinder und Erwachsene drängten sich um Ihn.

Später ließ der Geliebte an die Kinder Münzen verteilen. Er scherzte mit einem Seiner Begleiter: »Eine ganze Armee hast du hier gesammelt; mit dieser kannst du gegen eine Macht ankämpfen!«

Nachdem der Meister mit viel Interesse die Räume des ehemaligen Klosters besucht hatte, schrieb Er in persischen Lettern in das Fremdenbuch: »Der Königliche Hof ist öde, weil ich das Angesicht des Königs nicht sehen kann; die grüne Wiese ist wie abgemäht, da sie nicht geschmückt ist mit der herrlichen Gestalt der Königin.«

Später wurde mir gesagt, daß diese Worte in Persien die größte Form der Höflichkeit bedeuten.


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»Zeit und Raum bedeuten keine Trennung für uns«[Bearbeiten]

Abschiedsworte 'Abdu'l-Bahás am 30. April 1913 zu Bahá’í-Freunden in Stuttgart


Dies ist die letzte Versammlung hier in Stuttgart. Es ist heute der letzte Tag, an dem ich hier bin. Ihr seid nun eingetreten in das Königreich Abhás. Es ist leicht einzutreten, aber sehr schwer, fest und standhaft zu bleiben. Ihr müßt fest und standhaft bleiben und immer Treue und Ausdauer beweisen. Es mögen wohl schwere Prüfungen über euch kommen, und es gibt viele Anfechtungen, aber bleibet fest und getreu der Heiligen Sache. Wenn der Mensch fest bleibt, wird er über alle Schwierigkeiten siegen. Seid nicht wie ein wankender Strohhalm, sondern seid fest wie Berge, wie Pyramiden. Wenn jemand einen Berg besteigt, und er steigt immer höher, kommt er zum Schluß doch am Gipfel des Berges an, wenn der Weg vielleicht auch sehr steinig war. Ist er aber oben, dann hat er auch eine reine Luft, aber in dieser reinen, starken Atmosphäre auszuhalten, ist sehr schwierig. Laßt euch durch Welt-Menschen nicht beeinflussen. Überseht die Fehler der andern, vergebt ihnen ihre Fehler, dann wird Gott auch die euren verzeihen. Hat jemand eine Ungeschicklichkeit begangen, so müßt ihr darüber hinwegsehen. Ich bitte für euch alle um Bestätigung. Wenn ich Stuttgart verlasse, steht ihr unter dem Schutze Bahá’u’lláhs. Ich bete für euch, daß die Gnade Bahá’u’lláhs euch immer und überall umgeben wird, daß ihr Tag für Tag tiefer in die heiligen Lehren eindringt, daß ihr Tag für Tag Fortschritte machen werdet. Ich werde euch nie vergessen.

Ich möchte euch noch viel sagen, aber meine Brust schmerzt mich. Ich hoffe, immer gute Kunde von euch zu erhalten. Ihr müßt in großer Eintracht miteinander verkehren; ich habe den Samen hier ausgestreut, ihr müßt ihn jetzt begießen und ihn wie die Gärtner pflegen, bis die Pflanzen wachsen und ihr die Ernte seht. Ich werde euch nimmer vergessen, ihr seid immer in meinem Herzen.

Ich liebe euch sehr. Zeit und Raum bedeuten keine Trennung für uns. Wenn ich auch im Osten sein werde, wird mein Herz und meine Seele doch bei euch sein. Ich werde eure geistigen Wahrnehmungen und Empfindungen spüren. Sooft ich gute neue Nachricht von euch empfange, werde ich sehr glücklich sein. Seid versichert, daß ich euch nie vergessen werde. Wir sind alle geeint unter dem Banner Bahá’u’lláhs. Wir sind alle unter dem Schutz des großen Bündnisses Gottes; deshalb hat körperliche Trennung keinerlei Einfluß auf uns. Die wahre Quelle der Wirklichkeit, die Grundlage, ist die Liebe Gottes, die ewig ist. Wir alle sind vereint im Königreich Bahá’u’lláhs, welches die Liebe ist. Das ist ewige Vereinigung. Seid dessen ganz gewiß, daß ich nicht getrennt bin von euch. Ich werde mich immer eurer erinnern. Vertrauet darauf.


(aus Sonne der Wahrheit, 5. Jahrgang 1925/26, S. 5)


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Das letzte Sendschreiben 'Abdu'l-Bahás an die Bahá’í in Deutschland[Bearbeiten]

An die Freunde Gottes in Stuttgart!

Möge die Herrlichkeit des Höchsten mit ihnen sein. Er ist Gott! O ihr Freunde 'Abdu'l-Bahás! Herr und Frau Bosch trafen im Heiligen Lande ein und brachten die schönste und erfreulichste Gabe mit. Dies Geschenk war die frohe Botschaft von der Liebe, der Freundschaft, der Wertschätzung und der glühenden Begeisterung der Freunde, die durch das Feuer der Liebe Gottes entfacht ist. Diese Nachricht verursachte größte Freude. Gelobt sei Gott! Die Gaben aus dem Reiche Abhás haben wie ein Frühlingsregen den Boden Stuttgarts grün und lieblich gemacht und haben ihm Frische und Schönheit verliehen. Es sind Freunde erstanden, die ins Gottesreich eintraten, die teilgenommen haben an den ewigen Gnadengaben und die Tag für Tag vorwärtsschreiten.

O ihr himmlischen Freunde! In dieser vergänglichen Welt ist nichts von Dauer. Alle Geschöpfe strengen sich kurze Zeit unwesentlicher Dinge willen nutzlos an, bis sie schließlich Ruhe finden in den Stätten des Schweigens, in dem Schoß der Erde, und keine Spuren, kein Segen, keine Resultate, keine Früchte bleiben zurück. Ihr Leben war völlig umsonst. Aber die Kinder des Königreichs säen auf das Feld der Wirklichkeit die Samenkörner, aus denen Ernten reifen, deren Segen und reiche Fülle ewig währen wird. Sie werden ewiges Leben finden, ewigwährende Wohltaten genießen und werden wie Sterne vom Horizont des Königreichs strahlen. Die Herrlichkeit des Allhöchsten sei mit euch!


Dieses Schreiben vom 22. November 1921 wurde von 'Abdu'l-Bahá lediglich diktiert, aber nicht unterzeichnet, da Er vor dessen Durchsicht verschied. (Sonne der Wahrheit, 2. Jahrgang 1922/23, S. 1). Rechts das persische Original des Tablets.


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O Du freundlicher, gütiger Herr!
Diese Versammlung ist Deine Herde,
und Du bist der wahre Hirte.
Alle sind Deine Kinder,
und Du bist ihr freundlicher Vater.
O Gott,
sende auf sie Deine Segnungen herab,
öffne ihnen die Tore Deiner Führung!
O Herr, stehe ihnen bei
mit Deinen göttlichen Heerscharen!
Mache ihre Augen sehend
und ihre Ohren hörend!
Erquicke ihre Herzen, erfreue ihren Geist,
so daß alle einen reichen Anteil
von Deinen göttlichen, unendlichen Segnungen
bekommen mögen.
Sei ihr Schutz und ihr Obdach in Deinem Reich!
O Gott, wir sind arm,
öffne uns die Schätze Deines Himmels!
O Gott, wir sind unwürdig,
mache uns zu Bürgern Deines Reiches!
O Gott, richte die Gemeinschaft auf
zwischen den Herzen,
vereinige unsere Gemüter!
Veranlasse alle, in das Heiligtum einzutreten,
so daß bald aller Krieg und Streit vergessen sei
und die Menschheit zum höchsten Frieden gelange.
Wahrlich, Du bist der Geber,
der Gütige und der Barmherzige!
'Abdu'l-Bahá



Sonne der Wahrheit, 1. Jgg., S. 110