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BAHÁ'Í-BRIEFE
HEFT 53/54 16. JAHRGANG DEZEMBER 1987
Die Bahá’í-Briefe wollen eine intensive Auseinandersetzung mit den Lehren und der Geschichte der Bahá’í-Religion fördern und zu einem Dialog mit allen beitragen, die sich auf der Grundlage zeitgemäßen religiösen Denkens aufrichtig um die Lösung der Weltprobleme mühen.
BAHÁ'Í-BRIEFE
Heft 53/54, Dezember 1987
16. Jahrgang
- Inhalt
- Karl Türke jun.
- Die Lotosblüte von Bahapur . . . . . . .2
- Der Beitrag der Religionen zum Frieden . . . . . . .6
- Peter Gerlitz: Die Religionen und der Friede
- Foad Kazemzadeh: Der Wille zum Frieden
- Uta von Both
- Entwicklungsprojekte der Bahá’í-Weltgemeinde . . . . . . .18
- Ervin Laszlo
- Die Menschheit wird mündig . . . . . . .34
- Helen Grigor
- Die Anis-Zunuzi-Schule in Haiti — Eine Tür zur Welt . . . . . . .41
- Buchbesprechung . . . . . . .48
Herausgeber: Der Nationale Geistige Rat der Bahá’í in Deutschland eV.,
Hofheim-Langenhain. Redaktion: Dr. Klaus Franken, Bernd Herbon, Farideh Motamed, Hans Günther Randau, Karl Türke jun. Redaktionsanschrift:
Bahá’í-Briefe, Redaktion, Eppsteiner Straße 89, D-6238 Hofheim 6. Namentlich gezeichnete Beiträge stellen nicht notwendig die Meinung der Redaktion
oder des Herausgebers dar. Die Bahá’í-Briefe erscheinen halbjährlich. Abonnementpreis für vier Ausgaben 20, — DM. Einzelpreis 6, — DM. Vertrieb und
Bestellungen: Bahá’í-Verlag, Eppsteiner Straße 89, D-6238 Hofheim-6.
© Bahá’í-Verlag GmbH. ISSN 0005-3945
Titelbild: Bahá’í-Haus der Andacht in Neu-Delhi/Indien
Vor 50 Jahren befand sich die deutsche Bahá’í-Gemeinde in der kritischsten Phase ihrer bisherigen Entwicklung. Angesichts des unfaßbaren Leids, das im Dritten Reich vor allem den Juden, aber auch anderen schutzlosen Minderheiten zugefügt wurde, blieb es der Öffentlichkeit verborgen, daß die zahlenmäßig kleine Bahá’í-Gemeinde eine bedrückende Zeit des Verbots erdulden mußte. SS-Chef Himmler verfügte im Mai 1937 einen Sondererlaß, durch den er den Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í und sämtliche Einrichtungen der Bahá’í-Gemeinde auflösen und sonstige Aktivitäten der Bahá’í verbieten ließ. Die Bahá’í selbst erfuhren dies erst aus der Zeitung und sahen sich Stunden später der Gestapo gegenüber, die die Wohnungen zahlreicher Bahá’í durchsuchte, Archive und religiöse Schriften beschlagnahmte und zerstörte und vereinzelt Bahá’í-Angehörige inhaftierte. Auch der Bahá’í-Verlag erlitt mit seinen damals schon zahlreichen Publikationen das gleiche Schicksal. Noch bis 1944 fanden Prozesse gegen Bahá’í statt, in denen ihnen »Verbreitung des Bahá’í-Gedankenguts« vorgeworfen wurde. Weltoffenheit, Toleranz und Völkerverständigung waren dem Regime ein Dorn im Auge. Letztlich bedeuteten diese gegen die prinzipiell friedliebende Bahá’í-Gemeinde gerichteten Maßnahmen einen völligen Stillstand des Gemeindelebens, eine Zerstörung der mühsam in den Gründungsjahren des Glaubens errichteten Bahá’í-Verwaltungsordnung und vor allem eine unwiderrufliche Vernichtung wertvoller historischer Unterlagen und Gegenstände. Für die Bahá’í selbst tat sich damals eine Situation auf, in der sie als Gesamtheit angegriffen und bedroht, diskriminiert und verboten wurden und in der sicherlich geistige Prüfungen jedem Bahá’í die Dimension des neuen Glaubens vor Augen führten. Die Zeit des Verbots verleiht der deutschen Bahá’í-Gemeinde rückblickend einen besonderen geistigen Halt, auf den hinzuweisen es sich ein halbes Jahrhundert später durchaus lohnt.
- Die Redaktion
Karl Türke jun.
DIE LOTOSBLÜTE VON BAHAPUR[Bearbeiten]
Am 1. Januar 1987 wurde eines der meistbeachtetsten Bauwerke unserer Zeit der Öffentlichkeit freigegeben: das erste Bahá’í-Haus der Andacht des indischen Subkontinents in Neu-Delhi. Es hat die Form einer halb geöffneten Lotosblüte und wurde zum Lobpreis Gottes, zur Verherrlichung Seiner Propheten und zur Verkündigung der Einheit der Menschheit errichtet.
Die Einweihung dieses in seiner architektonischen Form einzigartigen Bauwerks fand am 24. Dezember 1986 in Anwesenheit von 400 prominenten Gästen und 8.000 Bahá’í aus 114 Ländern, unter ihnen 4.000 Bahá’í aus den verschiedensten Provinzen Indiens, statt. Die Einweihung wurde von einer großen internationalen Bahá’í-Konferenz begleitet, die vom 23. bis 27. Dezember durchgeführt wurde. Zahlreiche Ansprachen und kulturelle Darbietungen begeisterten die Teilnehmer aus aller Welt und führten ihnen die Bedeutung dieser Tage vor Augen. Ravi Shankar, der berühmte indische Meister der Sitar, hatte eigens für die Einweihung die Musik komponiert.
Amatu'l-Bahá Rúḥíyyih Khánum, die Vertreterin des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, der höchsten leitenden Körperschaft der Bahá’í-Weltgemeinde, sprach während der Einweihung folgende Worte: »Nun umschließt uns dieser prächtige Marmorlotos in seinem Herzen, dieses treffliche Symbol der Reinheit, Schönheit, Vollkommenheit und Gnade, die allen Menschen von ihrem Schöpfer zuteil wird. Er bittet uns, uns in Frieden zu vereinigen und heißt innerhalb seiner Mauern Menschen aller Glaubensbekenntnisse, aller Rassen, aller Nationen und aller Klassen willkommen. Er verkündet allen Menschen, daß dieser Tempel den drei fundamentalen Wahrheiten, die den Bahá’í-Glauben beseelen und ihm zugrundeliegen, geweiht ist — der Einheit Gottes, der Einheit Seiner Propheten und der Einheit der Menschheit.«
Danach folgten Lesungen aus den heiligen Schriften in Sanskrit, Hindi, Englisch und Persisch. Drei Chöre sangen heilige Texte in verschiedenen Sprachen und schufen einen Geist der Einheit in der Mannigfaltigkeit, der alle Anwesenden erfaßte und ihnen eine Vision von der Einheit der Menschheit vermittelte, wie sie von allen Propheten Gottes geschaut und von Bahá’u’lláh als erhabenstes Ziel Seiner Sendung verkündet wurde.
Der Entwurf
Das Haus der Andacht ist in Form einer halb geöffneten Lotosblüte errichtet. Diese besteht aus drei Blütenblattreihen mit jeweils neun kreisförmig angeordneten Blättern und umschließt einen Kuppelraum, in dem sich die Gläubigen zu Gebet und Andacht versammeln. Rings um das Gebäude sind neun Wasserbecken angeordnet, die den Eindruck einer sich aus einem Teich erhebenden Blüte vermitteln.
Der persische Architekt Fariburz Sahba schildert in folgenden Worten,
wie dieser Entwurf in seinen Gedanken reifte: »Einen Tempel zu entwerfen, der
im reichen Kulturerbe Indiens wurzelt und gleichzeitig das Hauptprinzip des
Bahá’í-Glaubens, die Einheit der Religionen, ausdrückt, war für mich eine
ungewöhnliche, hervorragende Gelegenheit, die Macht der Offenbarung
Bahá’u’lláhs zu veranschaulichen. Ich
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suchte nach einem Konzept, das für Menschen aus verschiedenen Religionen,
die wir in Indien in großer Vielfalt haben, akzeptabel war. Mein Entwurf
sollte neu und einzigartig, aber gleichzeitig nicht fremd, sondern irgendwie
vertraut sein. Also reiste ich durch ganz Indien und besichtigte Hunderte von
Tempeln — nicht wegen architektonischer Ideen, sondern um ein Konzept zu
finden, in das das geistige Erbe dieses Subkontinents integrierbar war... Die
Menschen sollten intuitiv in ihrem Herzen eine Beziehung zu diesem Bauwerk
finden... Beim tieferen Erforschen des kulturellen und architektonischen Erbes
Indiens faszinierte mich meine Aufgabe immer mehr. Ich konzentrierte mich
und betete, und ich war überzeugt, daß Gott mich zu einem Konzept führen
werde... Und dann stieß ich auf die Lotosblume, wohin mich mein Weg durch
Indien auf der Suche nach der Lösung für meine Fragen auch führte... Ohne
Zweifel hatte das Schicksal entschieden, daß der Tempel in dieser Form gebaut
werden sollte.«
Die Errichtung
Am 17. Oktober 1977 wurde anläßlich einer asiatischen Bahá’í-Frauenkonferenz in Neu-Delhi während einer speziellen Feierlichkeit auf dem Tempelgelände in Bahapur/Neu-Delhi der Grundstein für dieses herrliche Andachtshaus gelegt. Im Februar 1979 begannen die Bauarbeiten mit der Ausschachtung für die Fundamente. In einer annähernd achtjährigen Bauzeit wurden dann die Fundamente, das Untergeschoß, die Pfeiler und die Blütenblätter in Beton gegossen sowie die Marmorverkleidung angebracht. Dabei waren viele Schwierigkeiten zu überwinden, da ein derartig kompliziert zu errichtendes Bauwerk noch nie in Indien gebaut worden war.
- Dezember 1985: Die Marmorverkleidung der Blütenblätter wird angebracht.
- Juli 1986: Teilansicht der inneren Kuppel, die aus neun räumlichen Schalen von jeweils 5 cm Dicke gebildet wird.
Beispielsweise mußte der größte in Indien verfügbare Baukran eingesetzt werden.
Um jedoch die einheimische Bevölkerung an diesem Bauwerk zu beteiligen und ihr
eine Verdienstmöglichkeit zu eröffnen, wurden fast ausschließlich indische
Arbeitskräfte und nur unbedingt notwendige Maschinen eingesetzt. Die
zeitweise über 800 auf der Baustelle beschäftigten Personen verrichteten die
vielfältigen erforderlichen Tätigkeiten zum größten Teil in Handarbeit.
Die insgesamt 27 Blätter der Lotosblüte bestehen aus weißem Beton, der aus speziell ausgesuchtem hellem Dolomitgestein aus Steinbrüchen nahe Delhis, weißem Quarzsand aus Jaipur und weißem Zement aus Korea zusammengesetzt ist. Die äußere Seite der Blütenblätter wurde mit weißem Marmor verkleidet, der aus den Pentelikon-Steinbrüchen in Griechenland gebrochen und von Facharbeitern in Italien sorgfältig in der erforderlichen Größe und Form zugeschnitten wurde.
Die Beachtung in der Öffentlichkeit
Bereits während der Bauzeit erregte dieses einzigartige Gebäude in der Fachwelt großes Aufsehen und lockte zahlreiche Architekten und Ingenieure nach Indien. Der Höhepunkt der Publizität wurde jedoch durch die Einweihung erreicht, die von einer großen Pressekonferenz begleitet wurde. Unzählige Zeitungen, Radio- und Fernsehstationen in Indien und vielen anderen Ländern der Welt veröffentlichten Berichte über diesen »Taj Mahal des 20. Jahrhunderts«, wie er oft genannt wird. Allein in der deutschen Presse erschienen etwa einhundert Berichte mit einem Foto des neuen Hauses der Andacht.
Zahlreiche Persönlichkeiten aus Bauwesen, Politik und Kultur drückten ihre
Bewunderung für dieses Bauwerk schon vor seiner Fertigstellung aus. Im folgenden
seien einige von ihnen zitiert: Arthur Ericson, einer der führenden Architekten
Nordamerikas, bezeichnete das Haus der Andacht als »eine der bemerkenswerten
Leistungen unserer Zeit, die beweisen, daß Antrieb und Phantasie des Geistes
wahrhaft Wunder vollbringen können«. Kenneth D. Peterson, leitender Manager der
Bechtel Construction Inc. USA, nannte es seine Ingenieur- und Konstruktionsleistung,
die Maßstäbe für Jahrhunderte setzen wird«. Joseph Allen Stein, ein in Indien
lebender führender amerikanischer Architekt, sagte: »Es ist ermutigend, das
Ergebnis solcher Hingabe, Inspiration und Könnens zu sehen, wie diesen im
Entstehen begriffenen Tempel. Solch ein Gebäude ist ein Werk des Glaubens, das
den Glauben inspiriert. Dem Architekten und den Erbauern gebührt Dank.«
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Der berühmte indische Komponist Pandit Ravi Shankar äußerte: »Während
ich diesen großartigen und schönen Ort besuche, bin ich so tief gerührt, daß ich
keine Worte finde, meine Empfindungen auszudrücken! Ich bin sicher, daß
wenn er fertiggestellt ist, die ihn besuchenden Menschen sehr starke Freude,
Liebe und Frieden empfinden werden!« Der kanadische Hochkommissar in Indien,
William T. Warden, sagte: »Glückwünsche für diese höchst eindrucksvolle
Leistung. Der Entwurf ist beides, phantasievoll und hochinteressant, und
er verbindet in großartiger Weise den Bahá’í-Glauben mit der Kultur und
Tradition des Landes.« Dr. Karan Singh, der frühere indische Minister für
Erziehung und Kultur, urteilte: »Dieses Bahá’í-Haus der Andacht wird
sicherlich eines der Wunder der Weltarchitektur werden. Die Idee der Lotosblume,
ein göttliches Symbol in vielen großen Religionen einschließlich des Hinduismus,
liefert die Grundlage für dieses einzigartige Bauwerk. Ich freue mich schon,
es vollendet zu sehen, und beglückwünsche alle, die mit diesem großartigen
Projekt zu tun haben.«
Schon in den ersten zehn Wochen nach der Einweihung konnten über eine viertel Million Besucher gezählt werden, unter ihnen prominente Persönlichkeiten wie Minister, Botschafter und ausländische Staatsgäste, aber auch einfache Menschen aller Rassen, Religionen und sozialen Schichten Indiens und anderer Länder. So ist dieses Bahá’í-Haus der Andacht bereits jetzt zum Symbol und zum Ausdruck des bedeutendsten Zieles der Bahá’í-Religion geworden — der Einheit der Menschheit.
- Dezember 1986: Tausende von Besuchern aus aller Welt nehmen an den Einweihungsfeierlichkeiten teil.
DER BEITRAG DER RELIGIONEN ZUM FRIEDEN[Bearbeiten]
Am 28. November 1986 fand in Hannover eine Veranstaltung der örtlichen Bahá’í-Gemeinde zum Thema »Frieden« statt. Referenten waren der evangelische Theologe Dr. Peter Gerlitz, Bremerhaven, und Foad Kazemzadeh, Vertreter der Bahá’í-Gemeinde Hannover. Ihre Beiträge werden nachstehend abgedruckt.
Peter Gerlitz
Die Religionen und der Friede
Wie soll ich das Thema behandeln? Soll ich bei den religiösen Traditionen
beginnen? Bei den Religionsstiftern? Soll ich bei der Geschichte der Religionen
einsetzen? Soll ich davon sprechen, daß sich die Religionen bisher vergeblich um
Frieden in der Welt bemüht haben und die Religionsgeschichte eher unter dem
Gesichtspunkt der Religionskriege als unter dem Gesichtspunkt des Religionsfriedens
zu behandeln wäre?
Mein Vortrag ist nur kurz und wahrscheinlich zu oberflächlich, um dem Wesen der Religionen gerecht zu werden.1) Das Wesen der Religionen ist aber die Verkündung des Friedens und das Handeln im Frieden. Und wesentlich wird eine Religion dort, wo sie in Grenzsituationen kommt, dort, wo das Bekenntnis ihrer Gläubigen in Gefahr gerät und die Gläubigen sich in der Gefahr zum Frieden bekennen. Damit ist bereits eine Standortbestimmung für meinen Vortrag gegeben.
- I
Im Lukasevangelium wird berichtet, wie Christus, zwischen den beiden Verbrechern am Kreuz hängend, seinen Feinden vergibt mit den Worten: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!«2) Und von Mahatma Gandhi wissen wir, daß er sich eben dieses Kreuzeswort zueigen gemacht hat, als auf ihn die tödlichen Schüsse abgegeben wurden. Als sein Mörder auf ihn zutrat, ging er ihm — heißt es — mit zusammengelegten Händen entgegen und segnete ihn mit den Worten: »Shanti, Shanti, Shanti« — »Friede, Friede, Friede!«
Sie werden sagen, daß das extreme Situationen seien, Ausnahmen also, die nur die großen Homines Religiosi betreffen, und die von den Gläubigen nicht oder kaum nachvollzogen werden können. Und doch wissen wir, daß die Heiligen Schriften der Völker alle, alle ohne Ausnahme, die Verkündigung des Friedens in den Mittelpunkt gestellt haben und von ihren Gläubigen erwarten, daß sie das Friedensgebot einhalten.
In diesem Sinne wird das alttestamentarische Gebot »Du sollst nicht töten!«3)
von Martin Luther mit den Worten erklärt: »Wir sollen Gott fürchten und lieben,
daß wir unserem Nächsten an seinem Leibe keinen Schaden noch Leid zufügen,
sondern ihm helfen und ihn fördern in allen Leibesnöten.«4) — In
eben dieser Weise formuliert auch der Buddha sein oberstes Gebot: »Das
Gebot der Enthaltung vom Töten lebender
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Wesen nehme ich auf mich.«5) Er stellt es an die erste Stelle und
bezieht alle Wesen mit ein; denn alle lebenden Wesen sind nach buddhistischer
Auffassung dem Menschen verwandt. Das buddhistische Friedensgebot ist also
gleichzeitig ein Gebot zur Bewahrung der »Schöpfung«. Es übernimmt damit
die alte indische Tradition von der Gewaltlosigkeit, der Ahimsa, einer
Gewaltlosigkeit, die lieber leidet als Gewalt mit Gewalt zu vergelten. Die
buddhistische Ahimsa-Lehre gründet sich dabei auf die Lehre vom Leiden,
dem alle Lebewesen ausgesetzt sind. Das Leiden kann nur gemildert werden,
wenn die Menschen das Leben achten, mit den Lebewesen mitfühlen und die
Ursachen des Leidens beseitigen. Frieden schaffen ist nach buddhistischer
Auffassung ein Prozeß, den jeder einzelne an sich selbst erfahren und
durchmachen muß, wenn er zu einer harmonischen Persönlichkeit gelangen will,
wenn er — wie es im japanischen Buddhismus heißt — die »Buddhanatur« erlangen
will. Dazu ist Einsicht nötig in die kausalen Zusammenhänge, die zum
Leiden in der Welt führen und immer wieder führen werden, wenn sie nicht
durchbrochen werden. Nikkyo Niwano, der Stifter einer buddhistischen
Laienbewegung6) in Japan und deren Vorsitzender, hat das auf
dem Kongreß des Weltbundes für Religiöse Freiheit (IARF) 1981 in Leyden
mit den Worten ausgedrückt: »Der wahre Friede kann nur durch die Beseitigung
von Habgier, Zorn und Dummheit gewonnen werden. Solange diese drei vergiftenden
Elemente nicht beseitigt worden sind, kann es keinen vollkommenen Frieden
geben.«7)
- II
Wir gehen meistens von zwei falschen Voraussetzungen aus, wenn wir das Friedensthema in den Religionen behandeln.
Erstens neigen wir häufig zu der Annahme, die Religionen würden sich mit den gegenwärtigen Verhältnissen abfinden und ihre Anhänger lebten sozusagen in einer spirituellen Atmosphäre, ungeachtet der herrschenden Zustände auf Erden. Diese Annahme ist deshalb falsch, weil die Religionsstifter und die Zeugnisse, die sie hinterließen, ihre Friedensbotschaft immer mit einer Friedenspraxis verbinden: Die Bergpredigt Jesu theoretisiert nicht nur über die Feindesliebe, sondern Jesus und seine Jünger samt der Scharen christlicher Märtyrer praktizieren sie. Bahá’u’lláhs Weisung: »Erschlagen zu werden ist besser für euch als zu erschlagen«8) ist von den Anhängern der Bahá’í-Religion nie nur als eine ethische Maxime verstanden worden, sondern durch das Leben, vielmehr: durch den Tod zahlloser Gläubiger bis zum heutigen Tage bestätigt worden.9)
Zweitens versuchen wir häufig, die Religionen in friedliche und militante
einzuteilen (»Die indischen Religionen sind friedlich, die drei monotheistischen
Religionen sind aggressiv«). Diese Einteilung ist schon vom Ansatz her falsch:
Der Begriff »Schalom« im Alten Testament zieht sich nämlich wie ein roter
Faden durch alle Epochen der israelitischen Geschichte und ist ein Zustand,
der einmal die ganze Erde umfassen soll, wenn — wie der Zweite Jesaja
sagt — die Schuld gesühnt und Gott selber
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als der Garant des Friedens sein Volk beschalom, »in den Frieden« zurückführen
wird.10) Und im Qur’án, in dem man immer nur Muḥammads Kampf
gegen die »Heiden« und Alláhs unerbittliches Prädestinationsdogma sehen
will, finden sich die versöhnlichen Verse: »Wenn zwei Gruppen von Gläubigen
einander bekämpfen, dann stiftet Frieden zwischen ihnen... Die Gläubigen
sind doch Brüder. Sorgt also dafür, daß zwischen euren beiden Brüdern
Friede herrscht...«11) — Auch in den Religionen, die ihren
Absolutheitsanspruch vertreten und »keine anderen Götter neben sich« dulden,
wird ein Friede verkündigt, dessen Wesen die Gerechtigkeit unter den Menschen ist.
Die Sedakah, die Gerechtigkeit, die von Gott ausgeht und von den Menschen
angenommen wird, macht den Frieden auf Erden zum höchsten Gut.12) Nur
wenn Frieden herrscht, ist die Welt im eigentlichen Sinne Welt und ermöglicht
wahres Leben. Eine unfriedliche Welt hingegen ist im Grunde eine chaotische Welt.
- III
Die Verkündigung des Friedens auf Erden ist Inhalt jeder Religion. Ohne sie blieben die Religionen unglaubwürdig und unwahrhaftig. Es ist eine Tatsache in der gegenwärtigen Religionsgeschichte — und die vielen interreligiösen Aktivitäten und Friedensbemühungen beweisen es — daß sich darin alle Religionen, über alle dogmatischen Grenzen hinweg, einig sind. Die großen Visionen von einer neuen und heilen Welt legen Zeugnis davon ab: Jesaja träumt von einem Friedensreich, in dem die Völker ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden werden und nicht mehr lernen werden, Krieg zu führen;13) der Seher Johannes sieht ein himmlisches Jerusalem herabkommen, das keine Befestigungen mehr hat, dessen Stadttore Tag und Nacht offen stehen, und in dem Gott unter den Menschen wohnt;14) Paulus definiert das Reich Gottes als »Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist«15); der Buddha bezeichnet den Frieden als einen Zustand, in dem das Karma seine Macht verloren hat, das Begehren und die Gier versiegt sind und die Verblendung aufhört, wo das Leiden erloschen ist für alle Wesen;16) und die Mystiker aller Religionen werden sich dieses Friedens bewußt, wenn sie sich mit Gott vereint haben und in sich den Gottesfrieden spüren.
- IV
Aber bei dieser geradezu euphorischen Beschreibung des Gottesfriedens dürfen wir
seine Verletzlichkeit, die Sensibilität dieses Friedens in den Religionen, nicht
vergessen. Die Friedensvisionen sind ja zugleich Utopien, d.h. sie haben noch
keinen Ort, sind noch nicht verwirklicht, müssen sich erst noch konkretisieren.
Ja, sie werden von den Religionen selbst immer wieder aufs Spiel gesetzt,
verletzt und sogar pervertiert: Die Religionen führten und führen Kriege
gegeneinander und untereinander. Die Kreuzzüge des Mittelalters und die
Ketzerverfolgungen, Kriege, die sowohl nach außen wie nach innen geführt
wurden, sind abschreckende Beispiele meiner eigenen christlichen Religion;
die Kriege, die das alte Israel gegen seine Feinde führte, lassen Jahwe als einen
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Kriegsgott erscheinen, und der Jihád17), den Teile des Islam bis zum heutigen
Tage nie aufgegeben haben, wird noch immer als »Kampf auf dem Wege Gottes«, als
heiliger Kampf verstanden.
Auch er richtet sich gegen die äußeren und die inneren Feinde und artet immer mehr zur Perversion aus. Das Buch von William Sears »Klage des Herzens«, das die Verfolgungen der Bahá’í im Iran schildert, legt erschütternd Zeugnis ab von den Verbrechen, die noch immer aus Glaubensüberzeugung möglich sind in dieser Welt. Der Friede, den die Religionen verkündigen und in ihren Hoffnungen vorausahnen, ist also noch immer Utopie. Noch in unserer Zeit, die jemand emphatisch »eine Zeit der religiösen Erweckung« genannt hat,18) werden zahlreiche Religionskriege geführt: Von Nordirland bis in den Punjab, vom Sudan bis in den Mittleren Osten bekämpfen sich die Religionen unerbittlich und liefern den traurigen Beweis dafür, daß der Religionsfriede kein Beispiel für den Weltfrieden sein kann, denn er ist brüchig, unsicher und schwach, genau wie dieser. Er trägt die Strukturen der Welt an sich.
- V
Wir fragen: Sind — unter solchen Umständen — die Religionen dann überhaupt in der Lage, einen Beitrag zum Frieden in der Welt zu leisten? Bleibt es dann nicht doch bei einem spirituellen, esoterischen und individuellen Glaubensfrieden, den jeder mit sich selbst abmacht? Einem Frieden in uns, wie die Mystiker sagen, einem »Shanti-Frieden«; der nicht nach außen wirkt?
In dieser Kritik liegt zugleich die Frage beschlossen: Worin besteht eigentlich das Besondere der religiösen Friedensverkündigung? Was unterscheidet sie von den säkularen Friedensideologien und Friedensstrategien unserer Zeit? Was hat sie ihnen voraus, und was sind ihre Defizite?
Im Grunde genommen sind diese Fragen einfach zu beantworten: Das Besondere in der Friedensbotschaft der Religionen besteht darin, daß sie nicht vom Menschen, sondern von Gott bzw. den göttlichen Stiftern der Religionen ausgeht. Sie haben ihren Jüngern und Anhängern die Friedenszusage gegeben: »Der Bund meines Friedens soll nicht wanken«19), so heißt es beim Propheten Jesaja. »Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch«20), verheißt Jesus bei seinem Abschied, und in der Weihnachtsgeschichte verkündigt der Engel den Frieden Gottes an die Menschen. Die Jünger des Buddha, allen voran Ananda, erleben an dem Friedenszustand ihres Herrn, seinem Samadhi-Zustand, die Leiden heilende Wirkung des Nirvana-Friedens. Und so, wie sie ihn erlebt haben, geben sie ihn weiter.
a) Der Friede auf Erden geht immer zuallererst von Gott oder dem göttlichen
Stifter oder dem numinosen Geist aus und ergreift die Jünger, die Gläubigen,
die Anhänger und stiftet Frieden in ihnen: Der Ruf des Auferstandenen
»Friede sei mit euch!«21) ist das Erkennungszeichen Jesu für
seine Jünger und gleichzeitig das Zeichen des Segens. In eben diesem Sinne
bedeutet die Segenshaltung des Buddha zugleich die Übertragung des Friedens
an die Jüngerschaft. Der Friede, wie ihn die Religionen begründen, ist also kein
»selbstgemachter«, sondern ein empfangener Friede. Der Friede, den die
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Religionen verkündigen, ist ein Geschenk. Das unterscheidet diesen Frieden von
den Friedensideologien, die gegenwärtig in den verschiedenen politischen
Lagern entwickelt werden. — Auch der religiöse Friede muß sich entwickeln,
auch er ist ein Prozeß, der sich unter den Gläubigen fortsetzen und ausbreiten
muß, der selbstverständlich auch die Strömungen der Zeit mit einbezieht und
die Gefahren, welche sich aus den Technologien ergeben, erkennt. Er ist aber,
im Unterschied zu den säkularen Friedenskonzepten, nicht an diese Gefahren
fixiert und unterliegt ihnen nicht, weil er sich in jeder Phase der
Geschichte — und das heißt auch: in jeder Gefahr der Geschichte — an dem
Friedenskonzept orientiert, das der Glaube vermittelt. Der Gläubige empfängt
also den Frieden aus seinem Glauben und gibt ihn als ein Glaubensgut weiter,
das wie ein Ferment in der von Krieg, Leiden und Schuld heimgesuchten
Welt wirken soll.
b) Damit ist aber zugleich noch eine zweite Besonderheit angesprochen: Der Friede, den die Religionen vermitteln, wendet sich zunächst an den einzelnen und geht vom einzelnen aus. Buddha spricht den einzelnen Menschen an, er wendet sich an seine Jünger, an ihr Herz, an ihre Fähigkeit, Leidenszusammenhänge und Aggressionszwänge zu durchschauen, um von ihnen frei zu werden.
»Der wahre Friede kann nicht durch die Veränderung äußerer Systeme — seien sie politischer, wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Art — gewonnen werden«, sagt Nikkyo Niwano, »sondern durch die Beseitigung von Habgier, Zorn und Dummtbeit.«22) Sie sind die vergiftenden Elemente, die den Frieden unter den Menschen verhindern. Und auch Christus spricht den einzelnen Menschen an, er appelliert an das Herz, wenn er in der Bergpredigt23) zur Feindesliebe aufruft. Denn das menschliche Herz muß sich zuallererst wandeln, muß eine Umkehr, muß eine Buße vollziehen, wenn es den göttlichen Frieden aufnehmen und weitergeben will. In seiner Auslegung des alttestamentlichen Gebots »Du sollst nicht töten!«24) macht Jesus deutlich, daß dieses Gebot bereits im Herzen und durch Worte übertreten wird, bevor die böse Tat geschieht. Darum ist die Versöhnung die Voraussetzung dafür, daß Menschen einander im Frieden annehmen und selbst Feinde sich gegenseitig als Geschöpfe Gottes anerkennen.25) Dazu aber gehört ein Umdenken, eine Metánoia, eine Änderung des Bewußtseins, die den ganzen Menschen erfassen muß. Die erste These Martin Luthers von 1517 lautete: »Als unser Herr und Meister sprach: ›Tut Buße‹, da wollte er, daß das ganze Leben der Gläubigen eine Buße sei.«26)
Also nicht die Systemveränderung, nicht die Veränderung von gesellschaftlichen
Verhältnissen, sondern die Veränderung des Bewußtseins in den einzelnen
Menschen, die Umkehr und Buße der Herzen steht am Anfang des
Friedensprozesses, wie ihn die Religionen verkündigen. Der einzelne muß sich
in seiner Gesinnung wandeln, damit die menschliche Gesellschaft ihre Gesinnung
ändert — nicht umgekehrt. Die Religionen gehen also nicht den Weg,
den der Marxismus und andere säkulare Heilslehren vorschlagen, sie glauben
nicht, daß man — sozusagen per Edikt — die menschliche Gesellschaft
verändern muß, damit der einzelne befreit und von den Aggressionszwängen
»erlöst« wird. Die Religionen glauben
[Seite 11]
vielmehr, daß die Veränderung der menschlichen Gesellschaft nur dadurch
in Gang gesetzt werden kann, wenn sie im Herzen eines jeden Menschen beginnt.
‘Abdu’l-Bahá sagt: »Die Religion sollte alle Herzen vereinen und Krieg und
Streitigkeiten auf der Erde vergehen lassen.«27)
Wer die Welt verändern will, der muß sich zunächst selber ändern. Wer den Frieden auf Erden will, der muß zuallererst in seinem Herzen Frieden haben und mit sich selbst im Frieden leben. Anders ist der Prozeß des Weltfriedens nicht in Gang zu setzen.
Ich möchte mit einem Zitat schließen, das ursprünglich nicht als eine religiöse, sondern als eine politische Aussage konzipiert war, das aber — inmitten der Gefährdungen und Ängste unserer Zeit — eine religiöse, eine prophetische Dimension angenommen hat. Es stammt von Karl Jaspers, aus seinem Buch »Die Atombombe und die Zukunft des Menschen«, das vor beinahe 30 Jahren erschienen ist und — obgleich jetzt neu aufgelegt — nahezu unbeachtet blieb. Ich zitiere Karl Jaspers: »Ohne Umkehr ist das Leben der Menschen verloren. Will der Mensch weiterleben, so muß er sich wandeln... Der Wandel kann nur geschehen durch jeden Menschen in der Weise, wie er lebt. Zuerst kommt es allein auf ihn selber an. Jede kleine Handlung, jedes Wort, jedes Verhalten in den Millionen und Milliarden ist wesentlich. Was im großen vor sich geht, ist nur Symptom dessen, was in der Verborgenheit der vielen getan wird. Wer nicht Frieden mit seinem Nachbarn halten kann, wer durch bösartiges Verhalten dem anderen das Leben schwer macht, wer im Verborgenen ihm Unheil wünscht, wer verleumdet, wer lügt, wer die Ehe bricht, seine Eltern nicht ehrt, wer die Gesetze bricht, — der verhindert durch sein Tun, das selbst in der abgeschlossenen Kammer nie nur privat ist, den Frieden der Welt.«28)
- 1) Der Verfasser bedauert, hier nur einen Abriß seiner Thesen gegeben zu haben, und teilt mit, daß er sie zu gegebener Zeit näher ausführen wird.
- 2) Luk. 23,34
- 3) Exodus 20,13
- 4) Kleiner Katechismus, 1. Hauptstück
- 5) Khuddaka-Patha 2
- 6) der Rissho Kosei-kai
- 7) in: Rolf Italiaander, Ein Mann kämpft für den Frieden, Freiburg/Br. 1982, S. 52
- 8) Zitiert von 'Abdu'l-Bahá in: Esslemont, Bahá’u’lláh und das neue Zeitalter, Hofheim-Langenhain 61976, S. 196
- 9) vgl. William Sears, Klage des Herzens, Hofheim-Langenhain 21983
- 10) Jes. 55,12
- 11) Sure 49,9 + 10
- 12) vgl. Sure 5,9
- 13) Jes. 2,4
- 14) Apok. 21
- 15) Römer 14, 17
- 16) Samyutta-Nikaya 38
- 17) heiliger Krieg
- 18) Peter Scholl-Latour in einer Fernsehreportage des ZDF, 1985
- 19) Jes. 54,10
- 20) Johannes 14,27
- 21) Lukas 24,36; Johannes 20, 21 + 26
- 22) in: Rolf Italiaander, Ein Mann kämpft für den Frieden, S. 51f
- 23) Matthäus 5
- 24) Exodus 20, 13
- 25) Matthäus 5, 21-26 + 43-48
- 26) Luthers Werke, ed. Otto Clemen, Bd. 1, Bonn 1912, S. 3
- 27) Ansprachen in Paris, Oberkalbach 61973, S. 102
- 28) München 1958, S. 49 f
Foad Kazemzadeh
Der Wille zum Frieden
Wenn unter den hier Anwesenden eine Meinungsumfrage durchgeführt würde,
um festzustellen, was uns lieb und teuer ist — der Frieden und die Sicherheit
vor dem Krieg wären gewiß auf den ersten Rängen. Dies wäre nur ein Zeichen
dafür, daß die Friedensfrage heute eine neue Dimension erreicht hat. Sie bewegt
die Menschen in allen Teilen der Welt und nicht nur dort, wo der Krieg wütet.
Sie hat das Bewußtsein vieler Menschen durchdrungen und verändert.
Allerdings ist die Friedenssehnsucht der Menschen keineswegs eine völlig neue Erscheinung. Auch wenn in vergangenen Zeiten die Massen nicht in der Lage waren, ihre Friedenssehnsucht, ihr Verlangen nach Sicherheit vor dem Krieg so zu artikulieren, daß es zur politischen Kraft wurde, so wissen wir doch von den Überlieferungen dieser Zeiten, daß auch für unsere älteren Vorfahren Frieden ein hohes Gut gewesen ist.
Die Verheißung Jesajas von vor mehr als 2500 Jahren gehört zu den wohl bekanntesten überlieferten Friedensbildern: »Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere ein Schwert aufheben und werden hinfort nicht mehr kriegen lernen.«1)
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Diese eindringliche Vision ist denn auch zur Vorlage des Monuments auf
dem Platz der Vereinten Nationen geworden: der Mann, der ein Schwert zum
Pflug schmiedet.
Aus etwa der gleichen Zeit stammt die Prophezeiung Buddhas vom Kommen des Königs Sankha, der das Rad dreht, »...rechtschaffen und in Rechtschaffenheit lebend ... Er wird leben in Oberhoheit über diese Erde bis an die Grenzen der Ozeane, er, der die Erde nicht durch die Geißel, noch durch das Schwert erobert, sondern durch Rechtschaffenheit«.2)
Etwa 400 Jahre später sagte Cicero: »Ich ziehe den ungerechtesten Frieden dem gerechtesten Krieg vor.«3)
Erinnern möchte ich noch an die Seligpreisung der Friedfertigen in der Bergpredigt und die Zukunftsvision der Apokalypse, in der es u.a. heißt: »Und Gott wird alle Tränen wegwischen von ihren Augen; und der Tod wird nicht mehr sein und nicht Trauer und Klage und Mühsal; denn das Frühere ist vergangen.«4)
Diese Jahrtausende alte Vision, daß eines Tages Friede sein wird auf dieser Erde, könnte in unserer Zeit in Erfüllung gehen. Der Friede »ist jetzt endlich in Reichweite der Nationen«, wie das Universale Haus der Gerechtigkeit der Bahá’í in seiner Friedenserklärung vom Oktober vergangenen Jahres schreibt. »Weltfriede«, so heißt es weiter in dieser Erklärung, »ist nicht nur möglich, sondern unausweichlich. Er ist die nächste Stufe in der Evolution dieses Planeten...«5)
Mit der Unausweichlichkeit des Friedens ist allerdings nicht gemeint, daß er automatisch und ohne unser Zutun uns in den Schoß fallen wird. In diesem für die Bahá’í sehr bedeutsamen Dokument, das inzwischen einer Vielzahl von Staatsoberhäuptern und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens überreicht worden ist, werden die Völker auf folgende Alternative aufmerksam gemacht:
Frieden erst nach unvorstellbaren Schrecken, weil die Menschen stur auf veralteten Verhaltensmustern beharren, oder Frieden durch »konsultativen Willensakt« — durch Willensbildung auf Beratungsbasis —, vor diese Alternative seien alle Erdenbewohner jetzt gestellt.6)
Wie stehen nun die Chancen für die eine und für die andere Seite der Alternative, werden wir fragen, und vielleicht neigen wir dazu, die wünschenswerte Seite — Frieden durch Zusammenarbeit und Beratung — als Illusion abzutun.
Blicken wir auf die Geschehnisse, die unsere Aufmerksamkeit erregen, sei es
durch Nachrichten der Medien oder in unserer eigenen Umgebung, so sind es
meist Dinge, die uns pessimistisch stimmen. So berechtigt der Pessimismus
auch sein mag, wir dürfen uns davon nicht allzusehr beeindrucken lassen und
müssen unsere Sinne vielmehr für die Wahrnehmung der Möglichkeiten des
Friedens schärfen, wenn wir in dieser Richtung etwas bewegen wollen. Die
Menschheit hat endgültig den Punkt ihrer Geschichte erreicht, wo sie ein für
allemal mit Krieg und Frieden ins Reine kommen muß. Sie muß den Frieden,
den sie in ihren Dichtungen besingt, in der Realität verwirklichen. Dazu
müssen den starken destruktiven Kräften, die am Werk sind, konstruktive Kräfte
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entgegengesetzt werden; d.h. allein der Wunsch und die Sehnsucht nach Frieden
reicht nicht mehr aus. Aus Wunsch und Sehnsucht muß der Wille zum Frieden
werden.
Im Unterschied zur bloßen Sehnsucht nach Frieden ist mit »Wille zum Frieden« gemeint, daß der Schritt vom Wunsch zur Tat gemacht wird. Gemeint ist ferner, daß Krieg und Frieden nicht länger als unabwendbare quasi Naturereignisse aufgefaßt werden, sondern der einzelne, Gruppen und Völker sich als Subjekte des Geschehens begreifen, die den Frieden herbeiführen können, wenn sie die Erfordernisse richtig erkennen und danach handeln. Ich will nun einige dieser Erfordernisse, die ich aus der Sicht eines Bahá’í für wichtig halte, aufzählen:
1. Die eigene Friedfertigkeit, d.h. der feste Entschluß, Gegensätze mit gewaltlosen Mitteln beizulegen oder auszutragen, ist unabdingbare Voraussetzung des Willens zum Frieden. Jede Handlung, die Frieden fördern will, wird unglaubwürdig und bewirkt eher das Gegenteil, wenn sie von Gewalt getragen wird. Selbstverständlich gibt es unzählige Situationen, in denen die elementarsten Menschenrechte verletzt werden und die Betroffenen ab einem bestimmten Punkt sich nicht anders zu wehren wissen als durch Gegengewalt. Es geht nicht darum, diese Menschen und ihre Handlungen abzuqualifizieren. Es wäre auch naiv zu glauben, in absehbarer Zeit könnte auf staatliche Gewalt verzichtet werden — selbst zur Sicherung des Friedens wird ein in irgendeiner Weise organisiertes Gewaltenmonopol unvermeidlich sein. Worum es in diesem Punkt geht, ist die Feststellung, daß eine Bewegung, die auf Frieden aus ist, erkennen muß, daß Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit notwendig zu ihren Kennzeichen gehören müssen, sonst wird sie nicht überzeugen und wird keinen Erfolg haben.
2. Die in ihren Mitteln friedliche Friedensbewegung kann nur dann etwas bewegen, wenn sie selbst davon überzeugt ist, daß trotz aller Widrigkeiten Frieden ein erreichbares Ziel ist. Weder die Verhältnisse, die sich der Mensch geschaffen hat, noch die menschliche Natur dürfen da als unüberwindbare Barrieren betrachtet werden. Die uns bekannte und vertraute Welt ist so sehr von Konflikt und Aggression geprägt, daß wir leicht dazu neigen, den Menschen als unheilbar aggressiv anzusehen. Diese pessimistische Sichtweise, die sowohl von wissenschaftlichen wie von theologischen Denkrichtungen genährt worden ist, muß natürlich den Willen zum Frieden, die Friedensbewegung schwächen. In der bereits zitierten Friedenserklärung der Bahá’í wird der Gegensatz zwischen diesem Pessimismus und der Friedenssehnsucht als »lähmender Widerspruch«, als »das historische Dilemma der Menschheit«7) beschrieben, das der Verwirklichung des Friedens im Wege steht. Es gilt zu erkennen, so die Friedenserklärung der Bahá’í, daß diese Sicht auf einem Zerrbild der menschlichen Natur beruht und keineswegs das wahre Wesen des Menschen erkennt. Könnte diese falsche Sicht überwunden und an ihre Stelle die richtige Überzeugung treten, daß der Mensch Glück und Zufriedenheit nur findet, wenn er seine Neigungen, Interessen und Fähigkeiten zum Wohle anderer und nicht zu ihrem Schaden einsetzt, könnten ungeahnte konstruktive Kräfte freigesetzt werden.
3. Um die wahre Natur des Menschen wahrzunehmen, müssen wir erkennen, daß
das spezifisch Menschliche geistige Eigenschaften sind — der Verstand, die
Fähigkeit zu lieben und Vertrauen zu
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schenken, Barmherzigkeit, sich Ziele zu setzen und diese zu erreichen.
Der Mensch hat in seiner bisherigen Entwicklung noch nicht die Bahn
eingeschlagen, die seiner wahren Natur angemessen wäre. Er mißt den materiellen
Dingen, die ja nur Mittel zum Zweck sein sollten, immer noch größeren Wert
bei als den geistigen. Seine Umwelt, die er sich geschaffen hat, ist daher nicht im
Einklang mit seiner geistigen Natur, die er eher vergewaltigt. Seiner Natur
angemessen wäre, daß er Liebe, Geborgenheit und Frieden erfährt und anderen
gibt. Die Welt, in der er lebt, läßt dies aber häufig nicht zu und belohnt das
Gegenteil. Zu seiner Natur passen würde eigentlich, daß er in Zusammenarbeit
mit anderen und mit ihrer Hilfe die Welt erforscht, nutzt und gestaltet.
Aber er sieht sich gezwungen, sich gegen andere zu behaupten, mit ihnen
zu konkurrieren und sie auszutricksen. Dieser Zustand der Welt und solcherart
Verhalten der Menschen dürfen aber nicht als unveränderliche und konstante
Fakten, mit denen man sich abzufinden hätte, angesehen werden. Im Laufe der
Geschichte hat sich durchaus einiges in der menschlichen Gesellschaft und im
Verhalten der Menschen geändert; und es ist nicht allzuweit hergeholt, wenn
man sagt, daß die Menschheit wie ein einzelner Mensch verschiedene
Entwicklungsstadien durchläuft.
Unter diesem Aspekt, d.h. bei der Annahme, daß die Menschheit einen Reifungsprozeß durchmacht, vergleichbar der Entwicklung eines einzelnen Menschen, wird dieses »historische Dilemma der Menschheit«8) — Friedenssehnsucht und gleichzeitig Krieg — vielleicht doch verständlich. Aus dieser Sicht der Bahá’í-Religion sind die gegenwärtigen Wirren in der Welt und ihr gefährlicher Zustand eine natürliche — wenn auch in diesem Maße nicht notwendige — Phase eines Prozesses, dessen Ziel die Einigung der gesamten Menschheit in einer Gesellschaftsordnung durch geistige Bande ist. Die Menschheit ist nun, wie es in der Friedenserklärung der Bahá’í heißt, »auf dem Höhepunkt ihrer ungestümen Jugend und nähert sich ihrer lang ersehnten Mündigkeit«.9)
Der Wille zum Frieden lebt von der Zuversicht, daß nicht das Ende der Zivilisation bevorsteht, sondern daß die teilweise atemberaubenden Umwälzungen, einschließlich der schrecklichen Ereignisse und Zustände, dazu dienen, wie es in der Bahá’í-Religion heißt, »die Möglichkeiten, die der Stufe des Menschen innewohnen, freizulegen und das volle Maß seiner Bestimmung auf Erden, den angeborenen Vorzug seiner Wirklichkeit zu offenbaren«.10)
4. So wichtig Zuversicht für eine Bewegung zum Frieden ist, sie allein genügt nicht. Es ist nicht gleichgültig, welchen Weg diese Bewegung einschlägt und von welchem Verständnis der Zusammenhänge und Notwendigkeiten sie ausgeht.
Wir haben davon gesprochen, daß Geistigkeit die wahre Natur des Menschen ausmacht. Damit hängt es zusammen, daß alle Dinge, die Menschenwerk sind, geistigen Gesetzen gehorchen. Dies ist uns vielleicht nicht bewußt, weil wir die technische Seite unseres Tuns und unserer Werke so sehr in den Vordergrund geschoben haben, daß für die Frage nach dem geistigen Prinzip kein Raum geblieben ist. Die Folge ist ein Labyrinth von Sackgassen, in die wir uns verrannt haben.
Das geistige Prinzip des Weltfriedens ist nach der Auffassung der Bahá’í das
Prinzip der Einheit oder Einigkeit, eigentlich eine Selbstverständlichkeit,
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aber eine, die zuwenig Beachtung findet. Wenn man diesen Grundsatz der
Einheit ernster nehmen und ihn häufiger zur Richtschnur des Handelns machen
würde, müßten viele bewußte und unbewußte Handlungsmaxime revidiert
werden. Wenn wir uns z.B. fragen, was Einheit unter heute gegebenen
Rahmenbedingungen auf politischer Ebene bedeutet, müssen wir erkennen, daß es
nicht mehr genügt, sich zu einer nationalen Einheit zu bekennen; denn
Wissenschaft und Technik haben uns Mittel an die Hand gegeben, durch die
politisches Handeln weltweite Folgen zeitigt. Daher muß heute die zentrale
politische Bezugsgröße die globale Einheit, die Einheit der gesamten Menschheit
sein — so ungewohnt und unbequem uns diese Sichtweise sein mag —, und zwar mit
allen Konsequenzen für die politische Organisation. Wir sehen ja allenthalben,
daß von nationalstaatlicher Souveränität geprägtes politisches Handeln
immer wieder an Grenzen stößt, und es scheint, als würden diese Grenzen
immer enger, der Handlungsspielraum immer kleiner.
Diese für die Bahá’í-Religion zentrale Frage der Einheit der Menschheit haben inzwischen auch moderne Denker, wie C.F. von Weizsäcker und Karl Jaspers, als notwendige Bedingung des Weltfriedens erkannt. Jaspers z.B. spricht von der Geschlossenheit der Welt, in der wir heute leben. Seit 1914 — sagt er — sei die Welt nicht mehr offen, d.h.: man kann nicht mehr auswandern, um irgendwelchen Bedrohungen auszuweichen, wie das früher noch möglich war.
Was Jaspers mit »Geschlossenheit der Welt« meinte, macht vielleicht die folgende Anekdote deutlich. Ein englisches Ehepaar hatte beschlossen, sich in eine ruhige und friedliche Ecke der Welt zurückzuziehen. Als der Ehemann Anfang der 80er Jahre pensioniert wurde, war es endlich soweit. Nach reiflicher Überlegung und viel Beratung mit anderen entschied man sich schließlich für die entlegenen Falkland-Inseln. Kaum waren sie in ihrer neuen Heimat eingetroffen, als auch schon der Krieg ausbrach.
Jaspers — dessen Blick allerdings trotz allem allzusehr auf das Abendland zentriert war — schreibt in seinem Buch »Die Atombombe und die Zukunft des Menschen«: »Staatsgrenzen sollten in Europa immer mehr zu Grenzen von europäischen Verwaltungsbezirken werden... Die politische Einigung ist nur zu sichern durch die Begrenzung der Souveränität aller abendländischen Staaten im Verhältnis zueinander.«11) Und er spricht von der »Einheit der Menschheit als reale Verkehrseinheit«, die »eben, in so kurzer Zeit entstanden«12) sei.
Das, was ein wacher mitteleuropäischer Philosophengeist Mitte der 50er Jahre als »eben, in so kurzer Zeit entstandene« »Einheit der Menschheit als reale Verkehrseinheit« erkennen konnte, hatte Bahá’u’lláh, der Begründer der Bahá’í-Religion, bereits 90 Jahre zuvor im tiefsten Orient verkündet. Er verlieh damit dem Grundsatz der Einheit und der Einheit der Menschheit zugleich ein moralisches, sittliches und religiös-existenzielles Fundament, indem er dieses Prinzip als den Willen Gottes für die Menschheit heute verkündete.
Er sagte u.a.: »...betrachtet einander nicht als Fremde. Ihr seid alle die
Früchte eines Baumes und die Blätter eines Zweiges... Die Erde ist nur ein
Land und alle Menschen sind seine Bürger... Der Mensch rühme sich nicht dessen,
daß er sein Land liebt, eher dessen, daß er die Menschheit liebt.«13) Und Er
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sagte an anderer Stelle: »Die Wohlfahrt der Menschen, ihr Friede und ihre Sicherheit
sind unerreichbar, wenn und ehe nicht ihre Einheit fest begründet ist. Die Einheit
kann solange nicht erreicht werden, als die Ratschläge, die die Feder des Höchsten
offenbart hat, unbeachtet übergangen werden.«14)
Ich möchte nun in aller Kürze einige dieser Ratschläge nennen, die durch die Friedenserklärung der Bahá’í noch einmal den Völkern der Welt unterbreitet werden.
1. Überwindung von Vorurteilen jeglicher Art. Zu den schlimmsten Auswüchsen von Vorurteilen gehört der Rassismus und der religiöse Fanatismus; beide zählen zu den Haupthindernissen des Friedens.
2. Überwindung von krassen Unterschieden zwischen arm und reich — sowohl auf individueller Ebene als auch auf regionaler Ebene (Stichwort »Nord/Süd-Gefälle«, reiche und arme Länder).
3. Eine die ganze Menschheit einbeziehende umfassende Loyalität an Stelle von ungezügeltem Nationalismus. Das schließt einen gesunden Patriotismus, die Liebe zum eigenen Land, keineswegs aus. Bereits existierende internationale Aktivitäten, die auf dieses Ziel ausgerichtet sind, müssen stärker gefördert werden.
4. Die volle Gleichberechtigung der Geschlechter als einer der wichtigsten Faktoren der Errichtung und Erhaltung des Weltfriedens.
5. Universale Bildung und Erziehung auch mit dem Ziel, Unwissenheit als eine große Gefahrenquelle für den Frieden zu beseitigen. Dabei ist nach Auffassung der Bahá’í die Bildung von Mädchen und Frauen von besonderer Wichtigkeit, »denn durch gebildete Mütter kann der Nutzen des Wissens am wirksamsten und schnellsten die Gesellschaft durchdringen«.15) Weltfriede und Weltbürgerschaft sollten als Erziehungsziele Bestandteile der Grundbildung sein.
6. Schließlich: Annahme einer Welthilfssprache, die in ungeahntem Maße Verständigungsschwierigkeiten der Völker beseitigen würde.
Diese Forderungen dürften keinem, der sich für den Frieden einsetzen will, gleichgültig sein. Denn dauerhafter Frieden ist nicht nur eine Frage der Abschaffung von Waffen — so wichtig und dringend notwendig auch Abrüstung ist —, sondern eine vielschichtige und komplexe Aufgabe, deren Lösung nicht an den erwähnten Forderungen vorbeikommt.
Wie eingangs erwähnt, zeigt die Friedenserklärung der Bahá’í die Alternative
»Frieden nach unvorstellbaren Schrecken« oder »Frieden durch konsultative
Willensbildung«16) auf. Wenn die Schrecknisse vermieden werden sollen,
müssen sich die Menschen dazu verstehen, die notwendigen einzelnen Schritte
auf dem Weg zum Frieden durch Beratung miteinander zu gehen. Die verschiedenen
Gruppen, die politischen Repräsentanten, die Mächtigen dieser Erde müßten
sich zu gemeinsamer Beratung zusammensetzen und Wege ersinnen, wie die Welt
aus der verfahrenen Lage, in die sie hineinmanövriert worden ist, wieder
herausgebracht werden kann. Sie müssen herausfinden, was die Ursachen von
Krieg und Frieden sind und wie nun endlich ein für allemal der
Krieg überwunden und Gerechtigkeit hergestellt werden kann. Vor mehr als
100 Jahren schrieb Bahá’u’lláh: »Die Zeit muß kommen, da die gebieterische
Notwendigkeit für die Abhaltung einer ausgedehnten, allumfassenden
Versammlung der Menschen weltweit erkannt wird. Die Herrscher und Könige der
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Erde müssen ihr unbedingt beiwohnen, an ihren Beratungen teilnehmen und
solche Mittel und Wege erörtern, die den Grund zum Größten Weltfrieden
unter den Menschen legen.«17)
Die Zeit ist längst gekommen. Diese Versammlung ist überfällig. Der Wille zum Frieden erhält Kraft und Dynamik durch den Glauben — durch Glauben an den Frieden und daran, daß Weltfrieden Bestandteil von Gottes Plan für diesen Planeten ist. Aus dem Willen und dem Glauben müssen Taten erwachsen. ‘Abdu’l-Bahá, der Sohn Bahá’u’lláhs und der bevollmächtigte Interpret Seiner Lehren, sagte 1912 in einer Rede in den Vereinigten Staaten: »Wir wissen alle, daß der Weltfriede gut ist, daß er zum Wohlbefinden und zur Ehre des Menschen führt, aber Willenskraft und Taten sind nötig, bevor er errichtet werden kann. Das Handeln ist wesentlich. Weil dieses Jahrhundert ein Jahrhundert des Lichtes ist, bekam die Menschheit die Fähigkeit zum Handeln zugesichert. Die göttlichen Prinzipien müssen unter den Menschen verbreitet werden, bis die Zeit zum Handeln kommt. Dies ist sicherlich geschehen und jetzt sind Zeit und Umstände wahrlich reif für Taten.«18)
- 1) Jesaja 2, 4
- 2) zit. nach The Association for Bahá’í Studies (Arsg.): To the Peoples of the World. A Bahá’í Statement on Peace by the Universal House of Justice, Ottawa 1986, S. 29
- 3) a.a.O., S. 30
- 4) Die Offenbarung des Johannes 21,4
- 5) Die Verheißung des Weltfriedens. Eine Botschaft des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, hrsg. vom Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í in Deutschland, Hofheim 21985, S. 7
- 6) vgl. ebd.
- 7) a.a.O., S. 10
- 8) ebd.
- 9) a.a.O., S. 11
- 10) a.a.O., S. 11f
- 11) Karl Jaspers, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, dtv München 1964, S. 55
- 12) a.a.O., S. 32
- 13) Bahá’u’lláh, Ährenlese, Hofheim-Langenhain 31980, 112 und 117
- 14) a.a.O., 131:2
- 15) Die Verheißung des Weltfriedens, S. 24f
- 16) a.a.O., S. 7
- 17) Ährenlese 117
- 18) Frieden, Aus den Schriften Bahá’u’lláhs, ‘Abdu’l-Bahás und Shoghi Effendis sowie Briefen des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, zusammengestellt von der Forschungsabteilung des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, hrsg. vom Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í in Deutschland, Hofheim 1986, S. 30f.
- Alle heiligen Bücher
- wurden geschrieben,
- um die Menschen auf den Weg
- der Liebe und der Eintracht
- zu geleiten ...
- 'Abdu'l-Bahá
Ansprachen in Paris, S. 82
Uta von Both
ENTWICKLUNGSPROJEKTE DER BAHÁ’Í-WELTGEMEINDE[Bearbeiten]
In diesem Jahrhundert vollzieht sich eine immer intensiver werdende Verflechtung der Nationen und Völker untereinander und macht ihre Schicksale in viel höherem Grade voneinander abhängig, als dies früher der Fall war. Die Entwicklung der Technik hat so etwas wie eine Schrumpfung unseres Planeten bewirkt. Die vielfältigen Konflikte und Probleme einzelner Regionen bleiben nicht ohne Wirkung auf die übrige Welt. Immer klarer wird uns bewußt, daß wir — die gesamte Menschheit — eine Schicksalsgemeinschaft sind, und ein Überleben und Fortschritt nur dann möglich ist, wenn wir dieser Erkenntnis entsprechend handeln. So werden die Probleme der einzelnen Völker der Welt zur gemeinsamen Sorge aller. Die zwingende Notwendigkeit eines friedlichen Zusammenlebens der Menschheit kristallisiert sich heute immer klarer heraus. So schreibt Carl Friedrich v. Weizsäcker: »Der Weltfriede ist Lebensbedingung des technischen Zeitalters... Diese Welt bedarf des Friedens, wenn sie sich nicht selbst zerstören will.«1) Eine grundlegende neue Art des Denkens ist erforderlich, wenn wir Frieden schaffen wollen. Dies wird heute zunehmend anerkannt. So äußerte Hans-Peter Dürr neulich in einem Interview: »Aus unserer bisherigen historischen Erfahrung müssen wir doch notwendigerweise den Schluß ziehen, daß wir aus unserer gegenwärtigen Situation der Bedrohung nicht lebend herauskommen... Wenn wir überhaupt eine Überlebenschance haben wollen, dann müssen wir eben darauf setzen, daß Gedanken und Handlungsweisen in der Zukunft Realität werden können, für die uns die Vergangenheit bisher kein Vorbild liefert.«2)
Die Menschheit ist in ein neues Stadium der Evolution eingetreten und dies erfordert eine grundlegende Erneuerung des Denkens und des moralisch-ethischen Standpunktes als Basis unseres Handelns.
Gerechtigkeit und Wohlergehen für die gesamte Menschheit soll im Mittelpunkt aller Überlegungen stehen. So forderte Albert Einstein bereits 1938, »daß jedem Individuum die Entfaltung der in ihm schlummernden Fähigkeiten ermöglicht werde. Denn nur so kann dem Individuum die Befriedigung zuteil werden, auf die es gerechten Anspruch hat. Und nur durch Erfüllung dieser Forderung kann die Gemeinschaft zu reicher Blüte gebracht werden.«3)
Das übergreifende Ziel des Bahá’í-Glaubens ist die Begründung eines dauerhaften
Weltfriedens, basierend auf dem geistigen Grundsatz »von der Einheit der
Menschheit — der Angelpunkt, um den alle Lehren Bahá’u’lláhs kreisen... Die
Botschaft befaßt sich in erster Linie mit der Natur jener notwendigen Beziehungen, die
alle Staaten und Glieder einer menschlichen Familie verbinden müssen.«4)
Der Fortschritt der
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Welt und die Entwicklung der Nationen gehört zu den Verordnungen Gottes für
die heutige Zeit, und das Konzept der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Entwicklung ist in den Lehren Bahá’u’lláhs enthalten. Die Verwirklichung des
Zieles der Einheit der Menschheit in ihrer Mannigfaltigkeit »bedingt eine
dynamische Übereinstimmung der geistigen und praktischen Erfordernisse
des Lebens auf Erden.«5)
Wenden wir uns zunächst den geistigen Erfordernissen zu, die den praktischen Aktivitäten die Richtung weisen.
Aus der Sicht der Bahá’í-Religion ist die menschliche Natur von zweierlei Grundbeschaffenheit: der körperlichen und geistigen Dimension. Die wesentliche und innerhalb der Schöpfung dem Menschen einzigartig verliehene Dimension ist sein geistiges Sein. Die geistigen Fähigkeiten des Menschen — Verstand und Vernunft, Fähigkeit des Fühlens (Herz) sowie die Willensfähigkeit — werden durch Erziehung entfaltet.
Der Sinn unseres Lebens ist, eben diese geistigen Fähigkeiten gemäß den von Bahá’u’lláh geoffenbarten Leitlinien zu entfalten. Diese Entfaltung hat nicht einen Selbstzweck und ist auch nicht ausschließlich auf das Leben im Jenseits ausgerichtet, sondern diese Fähigkeiten sind im wesentlichen hier auf Erden für das Wohl der Gemeinschaft einzusetzen. Ein Bahá’í lebt in dem Bewußtsein, »daß in einer Welt gegenseitiger Abhängigkeit der Völker und Nationen der Teil den größten Nutzen gewinnt, wenn es dem Ganzen gut geht, und daß kein Teil sich einen dauerhaften Erfolg verschaffen kann, wenn das Allgemeinwohl dem Ganzen hintangestellt wird.«6)
Das Lebensziel eines Bahá’í ist es, »sich so zu verhalten, daß er dauernden Fortschritt bewirkt... Ein wahrer Bahá’í strebt Tag und Nacht danach, auf dem Pfade menschlicher Vervollkommnung voranzuschreiten. Sein sehnlichster Wunsch ist, so zu leben und so zu handeln, daß die Welt durch ihn bereichert und erleuchtet wird«.”7)
So hat jeder Bahá’í per se die geistige Verpflichtung, sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen seiner Mitmenschen, sei es in seiner unmittelbaren Umgebung oder auch in fernen Ländern, einzusetzen.
»Die Bahá’í-Schriften stellen klar, daß so, wie der einzelne einen grundlegenden
geistigen Seinszweck hat, auch die Gesellschaft eine geistige Daseinsberechtigung
hat. Der geistige Zweck der Gesellschaft besteht darin, ein bestmögliches
Umfeld zum vollen geistigen Wachstum und zur angemessenen Entwicklung für
die einzelnen Menschen in der Gesellschaft bereitzustellen... Natürlich
ist die wirtschaftliche Betätigung auch ein wichtiger Teil der gesellschaftlichen
Funktion, da ein gewisser Grad an materiellem Wohlergehen und Stabilität die
Möglichkeiten zum geistigen Wachstum schafft. Ein soziales Milieu,
in dem große Teile der Bevölkerung hungern oder unter anderen extremen
Bedingungen leben, ist kaum günstig für die volle und angemessene geistige
Entwicklung seiner Mitglieder... Bahá’u’lláh lehrt, daß die sozialen und
wirtschaftlichen Strukturen, die eine Zusammenarbeit und Einheit unterstützen,
den geistigen Wachstumsprozeß fördern, während jene Strukturen, die
auf Konkurrenz, Streit, Machtstreben und Herrschaftswillen beruhen, den
Wachstumsprozeß untergraben... Die Ausrichtung der Bahá’í auf die Einheit
und die Aufmerksamkeit, die die Bahá’í-Schriften der sozialen und kollektiven
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Dimension des geistigen Wachstumsprozesses zollen, sind wahrscheinlich
die ureigensten Beiträge der Bahá’í-Religion zum kollektiven geistigen
Bewußtsein der Menschheit. Die individuelle Dimension des geistigen
Wachstumsprozesses ist Teil jeder Offenbarungsreligion gewesen... Wir Bahá’í
sehen vielleicht zum ersten Mal in der Religionsgeschichte den geistigen
Wachstumsprozeß in seiner ganzen kollektiven Dimension.«8) Die
enge Verknüpfung zwischen gesellschaftlicher und individueller Entwicklung sowie
die Notwendigkeit des dynamischen Ineinandergreifens praktischer und geistiger
Erfordernisse wird hieraus deutlich. So hat Bahá’u’lláh in Seinen Lehren
Seinen Anhängern zur Pflicht gemacht, ihrem Glauben durch ihren Dienst für
die Menschheit Ausdruck zu verleihen. »Der ist wirklich ein Mensch, der sich
heute dem Dienst am ganzen Menschengeschlecht hingibt.«9)
So sind Gottesdienst und Dienst an der Menschheit für einen Bahá’í komplementäre Aktivitäten, sie bedingen sich gegenseitig und keine ist vollkommen ohne die andere.
Das Zentrum jeder Bahá’í-Gemeinde wird in der Zukunft der Mashriqu’l-Adhkár (Dämmerungsort der Erwähnung Gottes) sein.
In seiner Mitte wird ein Haus der Andacht stehen, umgeben von Institutionen für Erziehung, für Gesundheitswesen und für Wissenschaften, sowie von weiteren humanitären Einrichtungen. Diese Institution des Mashriqu’l-Adhkár hat eine einmalige, herausragende Stellung, denn nur sie kann so treffend und angemessen das Ineinandergreifen von Andacht und Dienst im Bahá’í-Glauben verdeutlichen.10) Die durch Andacht frei werdenden geistigen Kräfte werden in dem anschließenden Tun ihre prägende Wirkung finden.
Die Interdependenz von geistiger und materieller Entwicklung muß von uns immer besser verstanden werden und in unserem Leben und den Entwicklungsplänen und -projekten immer mehr Anwendung finden.
In den frühen Tagen des Bahá’í-Glaubens gründeten persische Gläubige Schulen, Gesundheitseinrichtungen und andere Institutionen, um den Nöten einer verfolgten und bedrängten, jedoch ständig sich vergrößernden Gemeinde zu begegnen. Häufig dienten diese Bemühungen auch dem Wohl der allgemeinen Bevölkerung. Als sich der Glaube Bahá’u’lláhs mehr über die Welt ausbreitete, bauten auch einige Bahá’í-Gemeinden in ihren Ländern Schulen auf oder förderten andere Projekte als Antwort auf die örtlich vorhandenen Bedürfnisse. Seit etwa 1980 haben sich die Initiativen für neue gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungsaktivitäten in hohem Maße beschleunigt. Damit wurde eine der wesentlichen Aufgaben der Bahá’í-Gemeinde aufgegriffen, unter anderem bedingt durch die rasche zahlenmäßige Vergrößerung der Bahá’í-Weltgemeinde — vor allem in den sogenannten Entwicklungsländern.
Das Universale Haus der Gerechtigkeit hat im Herbst 1983 ein Büro für
gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung gegründet. Es hat seinen Sitz
am Weltzentrum in Haifa, Israel, und unterstützt das Universale Haus der
Gerechtigkeit bei der Förderung und Koordination der weltweiten Tätigkeiten
aller Bahá’í-Gemeinden in diesem wichtigen Bereich. Mitte 1983, unmittelbar
vor der Gründung des oben erwähnten
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Büros und des weltweiten Aufrufs durch das Universale Haus der Gerechtigkeit an alle
Bahá’í, die Förderung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse
als Teil der regelmäßigen Tätigkeiten in den Gemeinden einzubeziehen,
arbeiteten 20 nationale Gemeinden an insgesamt 129 Entwicklungsprojekten,
darunter allein 94 Schulen in Indien und Zaire. Während der letzten
vier Jahre hat die Geschwindigkeit beträchtlich zugenommen, mit der
neue, dem Dienst gewidmete Entwicklungsaufgaben in Angriff genommen
werden. Die meisten dieser Projekte sind in den Entwicklungsländern
konzentriert, wo die überwältigende Mehrheit der Bahá’í lebt. Es handelt
sich dabei meistens um Kleinprojekte, die von den örtlichen Geistigen Räten
geführt werden. Die Hauptaufgabe der Nationalen Geistigen Räte besteht
darin, »in den örtlichen Gemeinden das Bewußtsein für die Bedürfnisse und
Möglichkeiten zu erweitern und die daraus resultierenden Bemühungen zu
leiten und zu koordinieren.«11)
Die wesentliche Arbeit ist auf örtlicher Ebene durchzuführen. Die Analyse der Verhältnisse findet vor Ort statt, und die zu planenden Projekte werden dann hier erstellt. Es ist damit gewährleistet, daß die Projekte nicht an den tatsächlichen Bedürfnissen vorbei geplant werden, denn der Entscheidungsprozeß wird von den Menschen geführt, die selbst die jeweils besonderen Nöte und Bedürfnisse genau kennen; sie werden die richtigen Mittel und Wege zur Durchführung finden und sich für solche Projekte entscheiden, die am dringlichsten sind.
Die Verhältnisse und Erfordernisse sind zwar von Land zu Land, ja von Ort zu Ort oft so verschieden, daß für erfolgreiches Handelns im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereich eine optimale Dezentralisierung segensreich ist. Dies ist besonders im Hinblick auf die Entwicklungsländer erwähnenswert. Die Bahá’í-Gemeinden in Afrika, Südamerika, Asien und anderswo planen ihre Entwicklungsprojekte selbst und entscheiden selbst, ob sie zur Durchführung Hilfe von außen benötigen. Sie haben die Gewißheit, daß sie dann auch Unterstützung von anderen Bahá’í-Gemeinden erhalten werden. Diese Art des Vorgehens hat auch etwas mit der Beachtung der Menschenwürde zu tun. Es wird nie über die Köpfe der Betroffenen hinweg geplant. Die Projekte finden so die dringend notwendige begeisterte und tatkräftige Unterstützung der einzelnen, da sie von dem Sinn des Projekts überzeugt sind und das Ziel konkret vor Augen haben. Einheit im Denken und Handeln wird hierdurch Realität, der Erfolg ist dann gewiß.
Die Nöte der Menschen auf unserem Planeten sind so vielfältig und so tiefgreifend, daß man verzweifelt resignieren müßte, wären alle Probleme auf einmal zu lösen. Durch die eben skizzierte dezentrale und auf gemeinsamer Beratung fußende Vorgehensweise wird die lähmende Frustration abgebaut, die weite Teile der Menschheit wegen der vermeintlichen Unlösbarkeit der Aufgaben in sich aufgestaut haben. Es müssen eben solche Aufgaben und Projekte erstellt werden, mit denen sich der einzelne identifizieren kann, und diese müssen genügend klein und überschaubar sein, um die begrenzten Kräfte nicht zu überfordern. Auf diese Weise werden schrittweise die Lebensbedingungen für alle Menschen verbessert werden können.
Shoghi Effendi schrieb 1933 ermutigend an die Bahá’í-Gemeinde: »Die Probleme,
denen sich die Gläubigen zur Zeit gegenübersehen, seien sie sozialer,
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geistiger, wirtschaftlicher oder administrativer Art, werden schrittweise gelöst
werden ... Sie sollten geduldig, vertrauensvoll und aktiv sein und jede nur
mögliche Gelegenheit nutzen, die sich ihnen innerhalb der ihnen notwendigerweise
auferlegten Begrenzungen bietet. Möge der Allmächtige ihnen beistehen,
damit sich ihre großen Hoffnungen erfüllen.«12)
Bis heute haben sich die Möglichkeiten der Bahá’í-Weltgemeinde vervielfacht und so sollte die Durchführung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklungsprojekte jetzt zu den regelmäßigen Tätigkeiten jeder örtlichen Bahá’í-Gemeinde gehören.
Die Entwicklungsprojekte können in fünf Bereiche gegliedert werden. Über die Hälfte der Entwicklungsprojekte sind der Erziehung und allgemeinen Bildung gewidmet. Im September 1986 waren es 732 von insgesamt 1247 Projekten. An zweiter Stelle stehen Gemeindeentwicklungsprojekte mit 358 bekannten Projekten. Sie werden gefolgt von den Diensten im Gesundheitswesen (78) und den land- und forstwirtschaftlichen Projekten (74). Ein sehr wichtiger und äußerst wirkungsvoller Bereich sind die Bahá’í-Radiostationen. Bis heute sind sieben Bahá’í-Radiostationen errichtet worden.
Im folgenden wird auf die einzelnen Bereiche der Entwicklungsprojekte etwas ausführlicher eingegangen mit dem Wunsch, die Vielfältigkeit der Bahá’í-Entwicklungsprojekte dem Leser etwas nahebringen zu können.
Bahá’í-Radiostationen
Im Oktober 1977 ging die erste Bahá’í-Radiostation der Welt auf Sendung: Radio Bahá’í del Ecuador strahlt seither täglich über 15 Stunden Programm aus.
Die Bahá’í-Radiostationen sind meist in Ländern der sogenannten Dritten Welt installiert. Dies hat einen plausiblen Grund. Die Menschen dort sind häufig nicht lese- und schreibkundig, leben in entlegenen Dörfern, die mangels geeigneter Verkehrswege nur schwer Kommunikation über die Dorfgrenze hinaus ermöglichen. So sind sie von der Außenwelt ohne Radio weitestgehend abgeschnitten.
Die Bahá’í-Radiostationen in diesen Ländern verfolgen das Ziel, durch allgemeine und grundlegende Bildungsprogramme das Wissen der einheimischen Bevölkerung anzuheben und ihr dadurch die Möglichkeit für die weitere Entfaltung ihrer Fähigkeiten zur Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen zu bieten. Außerdem werden die Hörer mit den grundlegenden Prinzipien des Bahá’í-Glaubens vertraut gemacht und dies bewirkt eine zunehmende Mobilisierung der Kräfte, sich für den Fortschritt der menschlichen Verhältnisse in der eigenen Gemeinde einzusetzen.
Radio Bahá’í del Ecuador ist, wie bereits erwähnt, die erste Bahá’í-Radiostation und sendet zweisprachig. Sie erreicht ca. 200000 Menschen in ihrem Sendegebiet. Das tägliche Programm besteht aus viel Musik, Bildungsprogrammen, Kinderstunden und allgemeiner Information, mit dem Ziel, die allgemeinen Lebensbedingungen zu heben und im besonderen die Stellung der Frau zu verbessern. Es war der erste Sender überhaupt, der in der Eingeborenensprache zu senden begann. Jährlich findet ein Folklore-Festival in der Umgebung der Sendestation statt. 1986 nahmen 3500 Gäste daran teil, die meist erst nach stundenlangem Fußmarsch den Ort des Geschehens erreichen konnten.
- Bahá’í-Radio-Station in Peru, Radio del Lago Titicaca während eines Musikfestivals.
Radio Bahá’í del Ecuador ist inzwischen der populärste Sender in der Region.
Radio Bahá’í del Lago Titicaca, Peru sendet dreisprachig (Aymara, Quechua und Spanisch). Der Sender strahlt ein allgemeines Bildungsprogramm mit Unterstützung des Erziehungsministeriums aus, arbeitet eng mit dem Land- und Forstministerium zusammen und gibt wichtige Termine, wie z.B. Impftermine, für die Bevölkerung bekannt.
Wie rasch das Radio-Team auf unvorhergesehene Erfordernisse reagiert, zeigte das prompte Aufnehmen eines Unterrichtsprogramms für Schüler nach der letzten großen Überschwemmung im Sendegebiet. Die Schüler konnten ihre Schule nicht mehr erreichen, so lief über Radio Bahá’í der Unterricht weiter. Auch diese Radiostation ist die populärste in ihrem Sendegebiet.
Radio Bahá’í Caracollo, Bolivien begann im März 1984 Sendungen auszustrahlen und ist seit langem ebenfalls der meistgehörte Sender im Sendegebiet. Wie bei Radio Bahá’í del Lago Titicaca ist das Programm dreisprachig. Es ist die erste Bahá’í-Radiostation, die direkt den Glauben lehrt. Es laufen 14 Programme, die jeweils einzelne Aspekte des Glaubens vermitteln. Außerdem wird täglich ein Andachtsprogramm ausgestrahlt und es laufen spezielle Programme an allen Bahá’í-Feiertagen. Eine regelmäßige Sendezeit für Mütter gehört zum Programm; es werden ihnen dabei Informationen über Hygiene, Ernährung und Entwicklungshinweise übermittelt. Die jährlichen Folklore-Festivals sind ein großer Anziehungspunkt für die Bevölkerung. So waren 1985 4000 Gäste gekommen, 1986 waren es bereits 7000.
Radio Bahá’í in Hemingway/South Carolina, USA ging zwei Monate später als Radio Bolivien auf Sendung, am 23. Mai 1984. Der Sender kann von ca. 800000 Menschen empfangen werden.
- Buntes Treiben während eines der alljährlich stattfindenden Folklorefestivals in der unmittelbaren Umgebung der südamerikanischen Bahá’í-Radio-Stationen. Das vielfältige Programm zieht jedes Jahr mehr Menschen an.
Viele Bahai wohnen im Sendegebiet. Tägliche Sendezeit ist zwölf Stunden mit viel Musik und »Bahá’í-Spots« dazwischen, die sich vorwiegend mit dem Thema Harmonie unter den Rassen befassen. Sein vorrangiges Ziel ist, die zahlreichen Bahá’í in seinem Sendegebiet auf diese Weise im Glauben zu vertiefen. Auch dieser Sender ist, informellen Berichten zufolge, der beliebteste im Sendegebiet.
Radio Bahá’í Panama strahlt seit Januar 1986 sein Programm, vor allem für die Guaymi-Indios, aus. Sendezeit ist täglich zwölf Stunden. Das Programm ist ganz auf die Bedürfnisse der Guaymi-Bevölkerung abgestimmt. Der Radiostation ist ein Kulturzentrum für Guaymi-Indios angegliedert und hilft so, die kulturelle Identität der Indios zu bewahren. Ein internationales Musikprogramm erfreut sich großer Beliebtheit unter der gesamten Bevölkerung. Programme auf dem Gebiet des Gesundheitswesens, der Landwirtschaft und Erziehung sind geplant und werden zusammen mit Fachleuten der Region aufgestellt. Eines der wichtigsten Ziele dieser Radiostation ist, zunehmend Mitarbeiter an entlegene Orte zu schicken, damit sie von dort ihre Berichte über Ereignisse und Verhältnisse über den Sender verbreiten können. Die Kultur der Guaymi-Indios wird dadurch bekannter, gewinnt Wertschätzung und motiviert zur weiteren Pflege des Kulturgutes.
Während der Hauptsender in Boca del Monte errichtet ist, befindet sich ein Studio im Herzen des Guaymi-Reservates, dem Sitz des Bahá’í-Kulturzentrums für Guaymi. Da es dort keinerlei kommerzielle Energiequellen gibt und diese auch in Boca del Monte recht unzuverlässig sind, arbeitet diese Radiostation auf Sonnenenergie-Basis.
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Radio Bahá’í Chile begann am 12. November 1986 mit begrenzter Sendezeit
ein Programm auszustrahlen. Die Eröffnung der Radiostation kennzeichnet
einen erfolgreichen Abschluß nach fünf Jahren harter Arbeit der Bahá’í in
Chile. Radio Bahá’í Chile ist das vierte Glied einer Kette von Radiostationen
entlang der Anden (Ecuador — Peru — Bolivien — Chile).
Radio Bahá’í Liberia ist die erste Radiostation auf dem afrikanischen Kontinent und wurde am 21. März 1987 offiziell eingeweiht.
Der Sender ist entlang der liberianischen Küste und bis weit ins Landesinnere zu empfangen. Radio Bahá’í Liberia erreicht viele Menschen, die nicht lesen können, und so sieht sich diese Radiostation in erster Linie der Aufgabe gegenüber, Bildungsprogramme auszustrahlen, die für die gesamte Bevölkerung bedeutsam sind. Die Radiostation wird durch ihr Sendeprogramm den Hörern auch die Lehren Bahá’u’lláhs vermitteln.
Alle Bahá’í-Radiostationen haben zum Ziel, die geistige, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der einzelnen und der Gemeinden innerhalb ihres Sendegebietes zu fördern. Das gesamte Programm basiert auf dem Prinzip des Dienstes an der Menschheit. Bemerkenswert ist, mit wie wenig finanziellem Aufwand, jedoch maximalem Einsatz der menschlichen Fähigkeiten und örtlichen Hilfsquellen die Radiostationen errichtet und in Betrieb gehalten werden. So nutzen nahezu alle Bahá’í-Radiostationen alternative Energiequellen (Sonnenenergie, Windgenerator) und können so auch — wie in Panama — in entlegenen, von der Zivilisation noch nicht erreichten Gebieten errichtet werden und von dort aus ein kulturelles Zentrum aufbauen.
1982 wurde ein Kommunikations- und Planungszentrum für alle Bahá’í-Radiostationen in Arecibo / Puerto Rico ins Leben gerufen — das Amoz-Gibson-Zentrum. Dieses Zentrum bietet die Mittel zum weiteren Ausbau der Kohärenz zwischen den geistigen und praktischen Erfordernissen des Lebens. Es verfügt über ein reichhaltiges Programm in Kommunikationstechniken und Organisationsformen zum optimalen Einsatz des zur Verfügung stehenden personellen Potentials. Die notwendige und jeweils sinnvolle Technologie wird hier entwickelt und das Personal der Bahá’í-Radiostationen — es sind primär keine Fachleute — kommt zur Schulung nach dort. Seit der Einrichtung dieses Kommunikations-Entwicklungsprogramms (Development Communication Program) am Amoz-Gibson-Zentrum waren Bahá’í aus über 25 Entwicklungsländern und den USA zur Schulung dort. Die Bildungsvoraussetzungen sind sehr unterschiedlich. So findet sich dort zum Beispiel ein schreibunkundiger Indio der Anden mit einem Universitätsprofessor der USA zusammen ein. Die verbindende Basis ist das gemeinsame Ziel: sich für den Fortschritt der menschlichen Gesellschaft einzusetzen.
Wie wichtig die angemessene Nutzung der wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten ist, geht aus folgenden Worten des Universalen Hauses der Gerechtigkeit hervor: »Die wissenschaftlich-technischen Fortschritte unseres ungewöhnlich gesegneten Jahrhunderts deuten auf einen gewaltigen Vorstoß in der gesellschaftlichen Entwicklung des Planeten und zeigen die Mittel auf, mit denen die praktischen Probleme der Menschheit gelöst werden können. Sie bieten in der Tat das Werkzeug zur Ordnung des vielschichtigen Lebens einer vereinten Welt.«13)
Erziehungsprojekte
Dieser Entwicklungsbereich hat zur Zeit absoluten Vorrang in Asien. Nahezu 90% aller Projekte entfallen dort auf diesen Bereich. Im Oktober 1986 waren es bereits 341 Schulen und 86 andere Erziehungsprojekte.
In Afrika und Südamerika stehen ebenfalls die Erziehungsprojekte zahlenmäßig eindeutig an der Spitze. Die Notwendigkeit für Bildungsmaßnahmen jeglicher Art in allen Entwicklungsländern ist offenkundig, denn der Mangel an geeigneter Bildung hält diese Völker in Armut und menschenunwürdigen Verhältnissen. Eine grundlegende und dauerhafte Verbesserung der Lebensbedingungen ist nur durch breit angelegte Bildung und Erziehung zu erreichen.
So wurde eine Elementarschulform entwickelt, die Kinder, Jugendliche und Erwachsene, Männer und Frauen, unterrichtet und ihnen Kenntnisse in allen erforderlichen lebenspraktischen Bereichen vermittelt.
Für Afrika gilt Zaire als bemerkenswertes Beispiel. Dort vollzog sich in den vergangenen zwei Jahren in großem Maße eine weitreichende Ausdehnung und Entwicklung der Elementarschulen. In einem Jahr hat sich die Zahl der Schulen hier nahezu verdoppelt. Dies ist der Durchführung eines systematischen Ausbildungsprogramms für Lehrer zu verdanken. Über 200 Freiwillige kamen zur Ausbildung und lernten, wie Lese-Schreibklassen durchzuführen sind. Es wurde Material zur Gesundheitserziehung, Landwirtschaft und für andere Bereiche erstellt, was in den ca. 90 Bildungszentren in Zaire vermittelt wird. Mehr als 2500 Personen lernen in diesen Zentren, wobei der Anteil der Frauen sehr hoch ist. Meistens sind zwei Lehrer an einem Zentrum tätig, und sie arbeiten alle auf ehrenamtlicher Basis. Die
- Schulklasse in Sambia/Afrika. Die Ausstattung der Klassenräume ist äußerst einfach. Oft findet der Unterricht im Freien statt. Alle anfallenden Kosten für Lehrmaterial werden von der Bahá’í-Gemeinde getragen.
- Die Faizi-Schule wurde 1980 in dem Indianerdorf Loncopulle/Chile gegründet. Ca. 70 Schüler werden z. Zt. hier unterrichtet. Eine Erweiterung der Schule steht bevor, um in Zukunft auch Kinder aus entlegenen Dörfern als Internatsschüler aufnehmen zu können.
Gemeinde finanziert weitestgehend das Lernmaterial. So haben die Lernenden nur einen ganz kleinen Kursbeitrag zu entrichten.
Auch in Kenia und Simbabwe weitet sich das Ausbildungsprogramm rasch aus. Das Universale Haus der Gerechtigkeit hat ein regionales Entwicklungskomitee für Zentral- und Ostafrika ernannt, das zur Aufgabe hat, Kursprogramme für Schulen und vor allem auch Lehrerausbildungsprogramme auszuarbeiten. Der Lehrerausbildung wird große Beachtung geschenkt, da jeder neu hinzukommende, gut geschulte Lehrer in der Lage sein wird, viele Menschen unterrichten zu können.
Die Bildungszentren sind vorwiegend für die einheimische Stammesbevölkerung bestimmt. So gibt es in Zaire ein besonderes Projekt für Pygmäen, die in Lesen, Schreiben und Rechnen sowie in Hygiene und Landwirtschaft unterrichtet werden.
Die bessere Bildung und Ausbildung hat bei diesen Menschen, zusammen mit der zunehmenden Vertrautheit mit den Bahá’í-Lehren, eine größere Selbstachtung und Selbstwertschätzung bewirkt.
Bis Ende 1986 waren in Afrika in 24 Ländern bereits Schulen bzw. Bildungszentren errichtet worden.
In Zentral- und Südamerika unterhielten 1986 20 nationale Bahá’í-Gemeinden
insgesamt 115 Bildungsprojekte, davon sind 92 dem zuvor erwähnten
Elementarschulbereich zuzuordnen. An erster Stelle stehen auch hier Lese- und
Schreibunterricht sowie Unterweisung in Hygiene, Ernährung und Landwirtschaft.
Auf Bolivien entfallen nahezu 50% aller Bildungsprojekte. Es wird
hier besonders Wert darauf gelegt,
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- Die New Era School, Panchgani/Indien wurde bereits 1945 als Schülerwohnheim gegründet. Jetzt umfaßt die Schuleinrichtung Kindergarten, Grundschule, weiterführende Schule und College mit ca. 500 Schülern und 50 Lehrkräften. Das Bild zeigt den Schlaftrakt für die Mädchen.
Lesen und Schreiben in den Eingeborenensprachen zu vermitteln, um dieses
Kulturgut zu erhalten. Die Bahá’í schrieben dazu Texte in Quechua und Aymara,
Sprachen, in denen die Bahá’í-Radiostation ebenfalls sendet. Auch
hier kommt der Lehrerschulung Freiwilliger große Bedeutung zu.
Neben den sogenannten Elementarschulen gibt es in Amerika auch einige Regelschulen und weiterführende Schulen, die von den Bahá’í-Gemeinden unterhalten und geführt werden. So zum Beispiel eine Schule für Waisenkinder und die Schule der Nationen mit über 200 Schülern, die in Kürze für 400 Schüler Platz bieten wird. Die Schule der Nationen in Brasilien zählt zu ihren Schülern Kinder aus über 30 Ländern, meist aus Diplomatenfamilien.
Das Colegio Nur, in einem Vorort von Santiago/Chile gelegen, ist ebenfalls eine große Schule mit 400 Schülern und schließt den Grundschul- und weiterführenden Schultyp ein. Die Unterweisung in Informatik- bzw. Computertechnik ist hier möglich.
Die Bildungsprojekte in Amerika schließen die Vermittlung elementarer Grundkenntnisse in ländlichen Gebieten und die Unterrichtung bis zur Hochschulreife in Städten ein.
Die Bildungs- und Erziehungsprogramme in Asien machen über ein Drittel
der gesamten Bahá’í-Entwicklungsprojekte aus. Ende 1986 waren 427 solcher
Projekte in Asien bekannt. Davon entfallen 317 auf Elementarschulen, 24
auf weiterführende Schulen und 86 auf andere Bildungsprojekte. In einem Jahr
(von 1985 bis 1986) nahm die Zahl der Elementarschulen um 118 zu, was einem
Zuwachs von nahezu 60% entspricht. Außer in Indien, wo mit Abstand die
meisten Schulen bis heute errichtet wurden, sind in Bangladesh, Pakistan und
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auf den Philippinen eine Anzahl von Bahá’í-Schulen zu finden.
Die Elementarschulen werden auch hier, wie in Afrika und Amerika, vorrangig in ländlichen Gebieten und Regionen, wo die Urbevölkerung lebt, errichtet. Es geht auch hier wiederum in erster Linie um eine gute und kontinuierliche Lehrerausbildung.
Stellvertretend für die vielfältigen Bildungseinrichtungen soll das Faizi-Institut erwähnt werden. Es werden dort Frauen, die auf dem Lande leben, im Lesen und Schreiben unterrichtet. Außerdem besuchen sie dort Kurse, um verschiedene handwerkliche Fertigkeiten zu erwerben. Ziel ist, diesen Frauen durch Ausbildung die Möglichkeit zu schaffen, selbst etwas Geld zu verdienen, denn sie stammen alle aus Familien mit äußerst geringen Mitteln für den Lebensunterhalt. Jeden Monat kommen ca. 20 Frauen zu einem 14-tägigen Kurs.
Sie können dort unter anderem das Herstellen von Kerzen, Seifen und Kreide, sowie das Knüpfen von Teppichen erlernen. Außerdem werden ihnen von Ärzten Grundkenntnisse in Hygiene und gesunder Lebensweise vermittelt. Es werden den Frauen dort unter anderem die Prinzipien der Einheit und des Friedens nahegebracht. Mit ihnen werden Themen besprochen wie Familienplanung, Notwendigkeit der Erziehung und Bildung ihrer Töchter und die Auswirkungen starrer Traditionen wie Mitgift und Kastensystem. Weiterführende Teppichknüpfkurse können späterhin besucht werden. Finanzielle Unterstützung von Regierungsseite wird hierzu gewährt.
Dieses Beispiel zeigt, wie vielfältig eine solche Elementarschule angelegt ist und wie angestrebt wird, die Teilnehmer zur Verbesserung ihrer allgemeinen Lebensbedingungen zu motivieren und ihnen die Fertigkeiten dafür zu vermitteln sowie die dahinterstehenden geistigen Prinzipien ihnen nahezubringen. Die Verbesserung der Stellung der
- Treffen zum Frühgebet in der New Era School. Die Bahá’í-Schulen bemühen sich, ein Beispiel der Bahá’í-Lebensart zu vermitteln.
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Frau ist häufig ein wesentliches Merkmal.
Der Entwicklung und Ausweitung weiterführender Schulen bis zur Hochschulreife wird zunehmend Beachtung geschenkt. So hat die Bahá’í-Schule in Sikkim (Tadong-Schule) eine offizielle Anerkennung von seiten der Regierung als weiterführende Schule erhalten. Sie ist als eine der besten Schulen in Sikkim angesehen und unterrichtet über 870 Schüler. Eine Erweiterung der Schule um ein weiteres Schulgebäude ist im Gange.
Die New Era High School Panchgani (Indien) schließt ebenfalls in sich Grundschule und weiterführende Schule ein. Neu hinzugekommen ist ein Computerprogrammierkurs. Über 450 Schüler werden dort ausgebildet.
Die Rabbani-Schule in Madhya Pradesh ist vergleichbar einer weiterführenden Schule, jedoch mit zusätzlicher umfassender Ausbildung in Landwirtschaft.
Sie wird ein staatlich anerkanntes Ausbildungszentrum für Entwicklung auf dem Lande sein. Zur Zeit umfaßt die Schule etwa 200 Internatsschüler. Von der Schule werden 74 Morgen Land bebaut und eine Hühnerfarm unterhalten. Die Schüler (nur Jungens) helfen bei der Landwirtschaft und werden dabei gleichzeitig geschult. Ziel der Schule ist, die Schüler zu ermutigen, nach Abschluß ihrer Ausbildung in ihre Dörfer zurückzukehren, um dort mit ihren Fähigkeiten und erworbenen Kenntnissen tätig zu werden. Es wird durch diese Maßnahme dem krassen Bildungsgefälle zwischen Land- und Stadtbevölkerung entgegengewirkt und das Leben auf dem Lande wird wieder attraktiver.
Es könnten noch viele hervorragende Schulen und Bildungsprojekte Erwähnung finden, doch im wesentlichen arbeiten sie alle nach den gleichen Grundsätzen, wie sie an den oben erwähnten Beispielen verdeutlicht wurden.
Gemeindeentwicklungsprojekte
In Nordamerika (USA und Kanada) wurden im Jahr 1986 etwa 250 Projekte mit unterschiedlichsten Entwicklungsaktivitäten auf den Weg gebracht. Weltweit waren es Ende des vergangenen Jahres 358 Projekte.
Beispielhaft werden einige Gemeindeentwicklungsprojekte der USA erwähnt, um einen ungefähren Einblick in die Vielfalt zu ermöglichen.
Seit April 1986 bietet ein Zentrum öffentlichen und privaten Dienststellen einen Beratungsdienst an, der sich in Familien-, Erziehungs- und Beschäftigungsfragen besonders für das harmonische Zusammenleben der verschiedenen Rassen einsetzt. Ein Bildungsprogramm für Erwachsene in einem Indianerreservat wurde ins Leben gerufen, nachdem bekannt wurde, daß dort 80% der Achtzehn- bis Dreißigjährigen keinen Schulabschluß haben und 90% ohne Arbeit sind. Die Bahá’í-Gemeinde hat dort ein entsprechendes Ausbildungsprogramm aufgebaut. Sie erwarben ein Gebäude, in dem der Unterricht nun stattfinden kann.
Ein Erdbebenhilfsfonds für Mexiko wurde 1986 gegründet. Die Bahá’í koordinierten die Bemühungen von mehr als 20 örtlichen Organisationen, die selbst Spenden sammelten. Medizinische Hilfsgüter wurden zusammengetragen, die beigefügten medizinischen Informationen wurden ins Spanische übersetzt. Die Geld- und Sachspenden wurden dann durch das Rote Kreuz nach Mexiko gebracht. In Gründung ist nun eine Wohltätigkeitsstiftung, die von einzelnen Bahá’í geleitet und direkt dem Nationalen Geistigen Rat unterstellt sein wird.
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Eine größere Anzahl von örtlichen Bahá’í-Gemeinden gewährt Einwanderern
Unterstützung, sei es durch Sprachkurse oder andere Dienstleistungen.
Es sind alles Projekte, die ein konkretes und aktuelles Problem im gesellschaftlichen Bereich aufgreifen und nach Möglichkeiten suchen, wie dieses Problem oder dieses Defizit von örtlichen Bahá’í-Gemeinden beseitigt oder zumindest verringert werden kann. Es liegt in der Natur dieser Projekte, daß sie teilweise nur zeitlich begrenzt durchgeführt werden.
Dienste im Gesundheits- und Sozialwesen
In diesem Bereich sind bisher vergleichsweise wenig Projekte ins Leben gerufen worden, wobei zu berücksichtigen ist, daß innerhalb der zuvor beschriebenen Elementarschulprojekte die Unterweisungen in Hygiene, gesunder Ernährung und gesunder Lebensweise sowie in Säuglingspflege einen breiten Raum einnehmen und als wichtige Präventivmaßnahmen im Bereich des Gesundheitswesens anzusehen sind.
In Afrika wurden in den vergangenen zwei Jahren besondere Anstrengungen auf diesem Gebiet im Tschad, in Kenia, Swasiland und Zaire gemacht. Im Tschad wurden in über 100 Gemeinden, veranlaßt durch Hungersnot und Bürgerunruhen, Verteilungsstellen für Medikamente, Lebensmittel und Kleidung, sowie für Saatgut eingerichtet. In Kenia und Swasiland wurden Lehrprogramme für die Arbeit im Gesundheitsdienst auf Gemeindeebene durchgeführt. Alle Teilnehmer solcher Kurse leisten ihren Dienst auf freiwilliger, d.h. ehrenamtlicher Basis. In Zaire liegt der Schwerpunkt auf der Unterweisung in
- Die Ärzte und Mitarbeiter der mobilen Medizinstation Bahá’í-Medical Camps Dang. Achtmal im Jahr besuchen drei Bahá’í-Ärzte und ihre Mitarbeiter jeweils für mehrere Tage die Bevölkerung in abgelegenen Dörfern, wo medizinische Hilfe und Aufklärung dringend erforderlich sind.
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gesunder Ernährung und gesunder Lebensführung. Alle Projekte finden auf
örtlicher Ebene statt.
In Amerika sind die Aktivitäten auf diesem Gebiet bis jetzt vorwiegend Sofortmaßnahmen im Zusammenhang mit der Erdbebenkatastrophe in Mexiko und dem Vulkanausbruch in Kolumbien gewesen.
In Asien werden große Anstrengungen im Bereich der Gesundheitserziehung unternommen. Es werden hier besonders die Frauen zur Teilnahme an den Kursen ermutigt.
Mobile ärztliche Stationen werden von der Bevölkerung auf dem Lande in übergroßer Zahl in Anspruch genommen. Tausende von Menschen erhalten auf diese Weise medizinisch notwendige Hilfe.
Die bekanntesten ärztlichen Bahá’í-Stationen sind die Dang Medical Camps. Sie leisten seit einigen Jahren durch den opferbereiten Einsatz einiger Bahá’í-Ärzte, zusammen mit weiteren ergebenen Gläubigen, hervorragende Dienste.
In Malaysia erzielte eine Antidrogenkampagne einer örtlichen Bahá’í-Gemeinde große Erfolge. Dieses positive Beispiel soll nun von weiteren Gemeinden aufgegriffen werden.
Projekte in Land- und Forstwirtschaft
Aktivitäten auf diesem Gebiet sind am dringlichsten in Afrika, Zentral- und Südamerika und Asien. So sind auch 90% aller bisherigen Projekte dieser Art dort zu finden. Es geht dabei vorrangig um bessere Nutzung des Bodens, Verbesserung der Bodenqualität, Verbesserung des Saatgutes und allgemein um effektivere und sinnvollere Nutzung der Ressourcen.
- Schüler der Rabbani-Schule in Madhya Pradesh/Indien bei landwirtschaftlicher Tätigkeit. Den Schülern werden neben allgemeiner Schulbildung vor allem Fertigkeiten gelehrt, die sie in ihrem Heimatort auf dem Lande sinnvoll einsetzen können.
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In Afrika, Nord- und Südamerika, in Indien und auf Haiti wurden jeweils in
den vergangenen zwei Jahren zigtausende Bäume gepflanzt, zum Teil im
Rahmen staatlich geförderter Aufforstungsprogramme.
In Afrika werden einige Ländereien, die der Bahá’í-Gemeinde gehören, gewinnbringend bebaut. Der Erlös wird dann für die Finanzierung von örtlichen Erziehungsprojekten eingesetzt.
Die land- und forstwirtschaftliche Schulung der Bevölkerung in den eben genannten Entwicklungsgebieten ist in den Unterrichtsangeboten der Elementarschulen enthalten, wo immer dies die örtlichen Verhältnisse erforderlich machen.
Aus der Fülle der Bahá’í-Entwicklungsprojekte konnten nur einige wenige direkt Erwähnung finden. Vermißt haben Sie sicher die Schilderung von Projekten in Europa und in Australien.
In Europa sind es bisher vorwiegend solche zur Unterstützung der Integration iranischer Bahá’í-Flüchtlinge und zur Unterstützung einzelner Projekte in Entwicklungsländern.
Die Projekte in Australien fügen sich in den Rahmen der geschilderten Projekte ein.
Alle Bahá’í-Entwicklungsprojekte — so verschiedenartig sie auch sein mögen — werden von den Bahá’í-Gemeinden auf der ganzen Welt als ein Beitrag der Verwirklichung des geistigen Prinzips der Einheit der Menschheit verstanden.
Universale Erziehung, das heißt, die immer weitergehende Sicherstellung umfassender und angemessener Erziehungs- und Bildungsangebote in jedem Land und für jeden Volksstamm verdient nachdrücklichste Unterstützung.
Die Verbindung von geistiger und praktischer Erziehung gibt dem Menschen das Vertrauen in sich selbst, den Willen, ihre Lebensverhältnisse zu verändern, und die Kraft, den Vorsatz in die Tat umzusetzen. In dem Maße, in welchem wir uns auf diesem Feld betätigen, kommen wir unserer eigentlichen Aufgabe auf Erden nach: eine fortschreitende Kultur voranzutragen.
Es geziemt den Menschen, »sich an das zu halten, was an diesem Tag der Erhöhung ihrer Stufe und der Förderung ihres eigenen Besten dienen kann.«14)
- 1) Carl Friedrich v. Weizsäcker, »Der bedrohte Friede«, Carl Hanse-Verlag, München 1981, S. 154
- 2) Prof. Hans-Peter Dürr, »Friedenssicherung vor Wissenserweiterung« in Bild der Wissenschaft, Heft 10/87
- 3) Albert Einstein, »Aus meinen späten Jahren«, Deutsche Verlagsanstalt 1979, S. 35 f
- 4) Shoghi Effendi, »Die Weltordnung Bahá’u’lláhs«, Bahá’í-Verlag, Hofheim-Langenhain 1977, S. 69
- 5) Botschaft des Universalen Hauses der Gerechtigkeit vom 20. Oktober 1983
- 6) Shoghi Effendi in »Religion der Einheit«, Bahá’í-Verlag 1978, S. 8
- 7) 'Abdu'l-Bahá in »Geistiger Adel«, Hofheim-Langenhain 1982, S. 13
- 8) William S. Hatcher, »Der Prozeß der Vergeistigung«, Bahá’í-Verlag 1986, S. 38 ff
- 9) Bahá’u’lláh, »Ährenlese«, Bahá’í-Verlag, Hofheim-Langenhain 31980, 117
- 10) Bahá’í-Administration, Bahá’í Publishing Trust, Wilmette, Illinois 1974, S. 184 ff
- 11) Universales Haus der Gerechtigkeit, Botschaft vom 20. Oktober 1983.
- 12) a.a.O.
- 13) Das Universale Haus der Gerechtigkeit, »Die Verheißung des Weltfriedens«, Bahá’í-Verlag, Hofheim-Langenhain 21985, S. 8
- 14) Bahá’u’lláh, »Die Verheißung Bahá’u’lláhs«, Bahá’í-Verlag 1967, S. 130
- Alle Menschen wurden erschaffen,
- eine ständig fortschreitende Kultur
- voranzutragen.
- Bahá’u'lláh
- Ährenlese 109:2
Ervin Laszlo
»... DIE MENSCHHEIT WIRD MÜNDIG«[Bearbeiten]
- Vortrag, gehalten am 29. August 1986 in San Franzisco während der ersten Internationalen Bahá’í Friedenskonferenz. Veröffentlicht in Bahá’í News No. 667, October 1986, S. 8-12, unter dem Titel »...mankind is coming of age«. Die Übersetzung aus dem Englischen besorgte Yasmin Mellinghoff. Dr. Ervin Laszlo ist Mitbegründer des »Club of Rome«, Herausgeber der »World Encyclopaedia of Peace« und Leiter der »General Evolution Research Group«. Seine Forschungsgebiete sind Systemphilosophie und Zukunftsstudien.
Ich bin zutiefst bewegt. Man sagt üblicherweise, man fühle sich geehrt und sei
erfreut, anwesend zu sein, aber ich finde keinen Ausdruck dafür, Ihnen zu sagen,
wie sehr ich mich geehrt fühle, bei Ihnen sein zu dürfen. Ich wurde gebeten, über
die Frage »Ist Frieden möglich?« zu sprechen. Ich muß Ihnen gestehen, daß ich
überzeugt davon bin, daß Frieden nicht nur möglich, sondern notwendig ist und
kommen wird, erst recht, nachdem ich heute hier war.
Der Frieden scheint heute in weiter Ferne zu liegen, aber die Menschheit wird mündig. Hier bei Ihnen bin ich überzeugt davon, daß sich die Menschheit an der Schwelle zum Erwachsensein befindet. Die Vorführung heute morgen hat mich tief bewegt — all diese jungen Menschen tanzen und Theater spielen zu sehen — Einheit in der Mannigfaltigkeit — und Sie alle miteinander zu erleben. Wenn diese Erfahrung hier auf der ganzen Welt wiederholt werden kann, dann wird die Menschheit tatsächlich mündig und Bahá’u’lláhs Verheißung erfüllt werden.
Aber wenn es Frieden geben soll, so brauchen wir Einheit, und für die Einheit benötigen wir eine Gesellschaft auf Weltebene. Dies ist noch nicht der Fall. Wir können es erreichen, wir können uns dieser Weltzivilisation, einer Weltkultur, einer Weltgesellschaft nähern — aber ob wir uns noch zu unseren Lebzeiten ihr nähern, das liegt in unserer Hand. Wenn der einzelne als reifer Mensch handelt, mit dem Gefühl der Einheit im Herzen, mit dem Wissen um die Notwendigkeit der Einheit im Sinn, dann wird es eine Weltgesellschaft geben und mit ihr der Weltfrieden erreicht werden.
Wir müssen weise handeln. Die Herausforderung an uns ist groß. Die Herausforderung unserer Zeit ist, meine ich, größer als jede, der sich je zuvor in der Menschheitsgeschichte eine Generation gegenüber sah. Wir haben heute die Mittel, eine friedliche, weltweite Gesellschaft zu schaffen. Wir haben aber auch die Mittel, uns selbst und die lebenserhaltende Umwelt dieses schönen Planeten in wenigen Stunden oder Tagen zu zerstören. Wir haben die Wahl. Wenn wir nicht völlig dem Wahnsinn und der Kurzsichtigkeit verfallen sind, so schaffen wir eine weltweite Zivilisation. Dies ist die Verheißung; dies ist meiner Meinung nach auch der Weg der Evolution in der Natur und in der Geschichte, und über dieses Thema möchte ich heute sprechen — über diese bemerkenswerte Parallelität zwischen der intuitiven, geoffenbarten Weisheit, an der Sie als Bahá’í teilhaben, und den neuesten Erkenntnissen der empirischen Wissenschaften.
Dies sollte Ihnen Mut machen, es sollte Ihnen Kraft spenden, es sollte Sie
begeistern und Ihnen den Willen verleihen, Sie selbst zu sein und den Weg zu
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weisen; denn viele der großen Lehren, der Schriftstellen mit Bahá’í-Prophezeiungen
und Bahá’í-Offenbarungen werden heute über einen völlig anderen
Weg bestätigt, nämlich durch den unabhängig erforschten Weg der
Wissenschaft — genauer: in neuen Wissenschaftszweigen, die unter den Namen
»Systemwissenschaften«, »Komplexitätswissenschaften« oder
»Evolutionswissenschaften« bekannt sind.1) Denn
die in den Bahá’í-Schriften mitgeteilte Weisheit ist heute mehr denn je aktuell,
zeitgemäß und glaubhaft für alle Menschen, ungeachtet, zu welchem Glauben
sie sich bekennen.
Diese Weisheit nimmt die jetzigen Erkenntnisse der Wissenschaften um anderthalb Jahrhunderte vorweg. Lassen Sie mich zunächst einige Passagen Ihres Glaubens zitieren und dann einige dieser Prozesse, so wie sie von den heutigen Wissenschaften verstanden werden, in großen Zügen darstellen.
Bahá’u’lláh sagte, »die Erde ist nur ein Land, und alle Menschen sind seine Bürger«2). Die Weltordnung, die Bahá’u’lláh voraussah, ist eine Ordnung, die, wie Er sagte, als »die reinste Frucht eines langsam reifenden Zeitalters«3) betrachtet werden wird. Nachdem die Menschheit die der Kindheit und Jugend eines Menschen vergleichbaren Stadien durchlaufen hat, ist sie nunmehr im Begriff, mündig zu werden. Sie kämpft sich durch die Turbulenzen der Jugend, um schließlich zur vollen Reife zu gelangen.
Aber der Schritt zur Reife geht nicht ohne Schwierigkeiten vonstatten. Schon in der Mitte des vorigen Jahrhunderts sah Bahá’u’lláh den Kampf, den Konflikt und die Leiden, die auf unsere Zeit einstürmen, voraus. »Ach, die Winde der Verzweiflung«, schrieb Er, »wehen aus jeder Richtung, und der Hader, der das Menschengeschlecht spaltet und peinigt, nimmt täglich zu. Die Zeichen drohender Erschütterungen und des Chaos sind jetzt deutlich zu sehen«4) — und dies vor anderthalb Jahrhunderten. Dieses evolutionäre Geschichtsverständnis und dieses ganzheitliche, dynamische Konzept der Gesellschaft wird nun in unserer Zeit mit einer Verzögerung von anderthalb Jahrhunderten bestätigt.
Die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse kommen vielleicht gerade im richtigen Augenblick, um die Menschheit vor den Gefahren dieses entscheidenden Übergangs von der Jugend zur Reife, von der Uneinigkeit zur Einheit, zu retten. Die neue Erkenntnis kam zunächst durch die Offenbarung zu uns und wird uns jetzt durch die Wissenschaft vermittelt. Lassen Sie mich einige Worte über das Wesen dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse sagen und Ihnen dann zeigen, wie sehr sie tatsächlich den Schriften und Glaubenssätzen, die Ihnen gemeinsam sind, entsprechen und sie bestätigen.
Von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist die Gesellschaft keine beliebige
Ansammlung von Menschen. Sie ist in ihrer Entwicklung nicht dem Zufall
überlassen. Sie ist in der Tat ein dynamisches System; sie ist fast wie
ein lebender Organismus. Sie entfaltet sich, sie wächst und entwickelt sich.
Die menschliche Gesellschaft ist ein gesellschaftliches und kulturelles
System. Sie besteht aus einzelnen Menschen; aber zusammen sind alle diese
Wesen mehr als die Summe ihrer Teile — sie bilden ein neues Ganzes mit
eigenen Gesetzen, einer eigenen Entwicklung; und diese Entwicklung
beeinflußt und bestimmt
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in entscheidender Weise unser aller Leben.
Einige Dinge beginnen wir sogar mit diesen langsamen, vorsichtigen und schwerfälligen wissenschaftlichen Methoden zu verstehen, was Sie vielleicht schon lange durch Ihren Glauben und durch die Offenbarung der Bahá’í-Religion verstanden haben. Eine dieser neuen Erkenntnisse ist, daß die Entwicklung jedes komplexen Systems Stadien durchläuft und daß diese Stadien immer aufgrund ihrer Entwicklung in der Vergangenheit verstanden werden können. Wenn wir auf die Evolution des Menschengeschlechts während der gesamten Zeitspanne der überlieferten Geschichte und der gesamten Zeitspanne der biologischen Evolution zurückblicken, die auf unserem Planeten vielleicht dreieinhalb Milliarden Jahre zurückreicht, so können wir immer Erklärungen finden, wir können die Entwicklung verfolgen, wir können sehen, wie sich eine Spezies entwickelt, einer anderen Platz macht, wie die Komplexität wächst, wie Spezien und Organismen autonomer werden, fähiger, sich selbst zu helfen und mit ihrer Umwelt zurechtzukommen. Und wir kommen zu einer bemerkenswerten neuen Einsicht: Trotz des weitverbreiteten Glaubens, die Natur sei nur Zahn und Klaue — das Gesetz des Dschungels —, ist der Dschungel oder die Natur tatsächlich erstaunlich zur Zusammenarbeit bereit, bemerkenswert symbiotisch und vereint, weil die Teile durch Symbiose leben, durch andere Spezien bestehen und in Einheit leben. Nichts bricht die Einheit der Natur — nur die Menschheit durch ihre erste egoistische Angeberei mit der Technologie, weil sie glaubt, über der Natur stehen und eine Welt völlig nach ihrer eigenen Vorstellung schaffen zu können.
Die Natur schreitet immer harmonisch voran, sie schafft Systeme innerhalb von Systemen und Systeme über anderen Systemen. Wir haben in kleinen Schritten Gesellschaften gebaut; wir bauten sie aus kleinen Jäger- und Sammlerstämmen — aus Nomadenstämmen, die mit ihren Tieren dorthin zogen, wo es Getreide, Früchte und Beeren gab, wohin auch die Tiere zogen. Aus diesen kleinen Einheiten bauten wir seßhafte Gemeinschaften, in denen einige Menschen Nahrung züchteten, andere in der Verwaltung tätig waren oder sich um Rechtsangelegenheiten kümmerten und wieder andere sich mit den Künsten beschäftigten; noch andere widmeten sich der Geschichte und schrieben die gemeinsamen Erfahrungen aller nieder.
Wir verwandelten Dörfer in größere Einheiten, in die großen Reiche der Antike. Wir errichteten Stadtstaaten. Wir gründeten die moderneren Reiche. Wir errichteten die mittelalterlichen Gesellschaften; und schließlich schufen wir die Nationalstaaten. Und in all diesen Gesellschaften gab es verschiedene Ebenen innerhalb einer Ebene und Systeme innerhalb von Systemen.
Das System auf der niedrigsten Stufe, die Familie — und mit niedrig meine ich kein Werturteil, sondern das einfachste, grundlegendste System — diese grundlegenden Systeme sind nicht verschwunden, sie bleiben lebenswichtige Bestandteile: Die Familie, dann die Gemeinschaft; die Gemeinschaft, die zusammen arbeitet, zusammen lebt, gemeinsam betet — sie bleibt ein Grundstein, ein Fundament jeder Gesellschaft, egal wie komplex sie wird.
Die Gesellschaft entwickelte sich weiter, indem sie diese Einheiten
zusammenbrachte, größere Einheiten schuf und die Mannigfaltigkeit dieser
Einheiten koordinierte, ohne sie zu verlieren. Ein guter Begriff, der in
diesen neuen Wissenschaftszweigen verwendet wird, ist der
der »Konvergenz«. Konvergenz
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im klassischen Sinn bedeutet natürlich zunehmende Ähnlichkeit, Übereinstimmung.
Dies ist hier jedoch nicht gemeint und auch nicht das, was ich mit Konvergenz
ausdrücken möchte. Mit Konvergenz meine ich, was die Stifter der
Bahá’í-Religion meinten — nämlich Einheit in der Mannigfaltigkeit. Die
Systeme der niedrigsten, fundamentalsten Stufe konvergieren auf der nächsten
Stufe. Familien konvergieren, indem sie in Gemeinschaften zusammenleben;
Gemeinschaften konvergieren miteinander, indem sie Nationen gründen;
und Nationen konvergieren miteinander, um eine weltweite Gesellschaft zu
errichten.
Aber wo stehen wir heute in diesem Prozeß? Wir haben in der Tat Nationen geschaffen. Es gibt heute ungefähr 180 oder vielleicht mehr Nationalstaaten auf der Welt, die alle Souveränität und Unabhängigkeit voneinander beanspruchen, die behaupten, allein und unabhängig, die Herren ihres Schicksals und vor keiner höheren Autorität verantwortlich zu sein. Die Gründung von Nationen ist, worauf Shoghi Effendi hinwies, zum Ende gekommen, aber die Menschheit befindet sich noch immer im Stadium der Jugend, sie ist immer noch im Stadium der Gründung von Nationen. Dies geschieht immer noch auf der ganzen Welt: neue Nationen versuchen zu ihrer Identität zu finden; bestehende Nationen achten eifersüchtig darauf, ihre Macht, ihre Souveränität zu bewahren.
Was finden wir in der heutigen Welt vor? In gewissem Sinne haben wir ein weltweites Dorf, denn wir kommunizieren miteinander, wir beeinflussen uns gegenseitig, wir verschiffen unsere Waren überallhin, wir wissen nie, wenn wir etwas in einem Geschäft kaufen, wo es hergestellt wurde — die Nahrung, die wir essen, ist möglicherweise von der anderen Seite des Globus importiert; wenn wir ihre Rückseite betrachten, so stellen wir fest, daß die Produkte, an die wir glauben, auf der anderen Seite der Erde hergestellt wurden. Wir leben in einem weltweiten Dorf, aber dieses Dorf ist kein geeintes Ganzes. In diesem Dorf sind wir immer noch sich bekriegende Stämme — und das ist das Traurige, das ist die Tragödie der heutigen Situation der Menschheit. Dies ist noch das Stadium der Jugend.
Deshalb müssen wir dieses Stadium überwinden — weil der Frieden nicht in einem Stadium kommen kann, in dem wir zwar alle voneinander abhängen, uns aber gegenseitig nicht verstehen. Nur Konflikt kann hieraus entstehen, und anstelle von gegenseitiger Abhängigkeit hätten wir dann gegenseitige Vernichtung. Aber gegenseitige Abhängigkeit führt nach den Bahá’í-Verheißungen und nach den neuen Wissenschaften über Komplexität und Evolution mit der Zeit auf eine neue Stufe, zu einem neuen Ganzen, zu einem neuen System, das höher, komplexer und harmonischer ist als irgendeines davor.
Und das ist die Herausforderung, die vor uns liegt. Sollen wir die Uneinigkeit die Oberhand gewinnen lassen und unsere gegenseitige Abhängigkeit in Krieg und Zerstörung auflösen? Sollen wir uns und unsere Umwelt zerstören, so daß nur Gras und die niedersten Lebensformen des Meeresgrundes überleben würden? Oder sollen wir es zulassen, daß unsere wechselseitige Abhängigkeit uns zur Reife, zu wahrem Vertrauen und Verständnis führt?
Im Zusammenhang mit der Evolution, wie sie sich im Laufe der Geschichte
entfaltet hat, ist der nächste Schritt eine Gesellschaft weltweiter Einheit.
Ich bin überzeugt davon, daß diese Gesellschaft kommen wird — aber
wann und wie sie kommt, ist unbestimmt. Wir können — und hier spreche
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ich als Wissenschaftler — immer logisch erklären, was in der Vergangenheit
geschah, wir können immer Gründe dafür finden. Aber wir können
nie mit hundertprozentiger Sicherheit die Zukunft vorhersagen. Und dies
sollte uns ermutigen und Glauben geben, weil wir nicht in einer vom
Schicksal vorherbestimmten, dem Untergang geweihten Welt leben. Wir leben
in einer Welt, für die die Zukunft offen ist. Was uns vorgegeben ist, ist nur die
allgemeine Richtung, der umfassende »Megatrend«, die gewaltige, große
Welle, die uns zu dieser weltweiten Gesellschaft trägt, in der der Weltfrieden
möglich wird. Aber wie, wann und sogar ob wir sie überhaupt
erreichen — vorausgesetzt, daß wir uns nicht mit diesen heute vorhandenen
gewaltigen Technologien, die jederzeit benützt werden können, gegenseitig
umbringen — wenn wir dies nicht tun, dann werden wir zweifellos die neue
Stufe erreichen, die das Kommen des Zeitalters der Menschheit ankündigt.
Ich könnte Ihnen viel über die Details dieser Erkenntnisse berichten, darüber, wie die Konvergenz in der Natur wirkt und sich in der Geschichte entfaltet. Aber lassen Sie es mich heute mit einer Feststellung bewenden: Es ist eine Tatsache, eine Realität, daß jedes dynamische System, jedes Ganze, das auf der Welt existiert, sich immer zu einer größeren Einheit hin entwickelt. Dies wird in gewisser Weise geschehen, wenn wir weise genug sind zu überleben. Und gerade heute, wo ich hier bin, glaube ich daran, daß wir weise genug sein werden zu überleben.
Aber lassen Sie mich noch einige Worte über die einzigartige Verantwortung sagen, die Sie als Bahá’í-Gemeinde tragen, eine Verantwortung, die ich selbst als Wissenschaftler und Humanist übernehme, aber die noch viel mehr Menschen übernehmen sollten, gleichgültig, ob sie sich auf die Religion oder die Wissenschaft berufen. Die Verantwortung, die Sie tragen, ist einzigartig, weil Sie allein, glaube ich, unter allen Gemeinschaften der Welt eine weltweite Gemeinde sind, die daran glaubt und davon überzeugt ist, daß der Frieden kommen wird, daß Frieden Einheit voraussetzt und daß Einheit nur in einer weltweiten Gesellschaft möglich ist. Daher sind Sie zur Schaffung einer weltweiten Gesellschaft verpflichtet. Bei sich haben Sie bereits eine weltweite Gesellschaft errichtet.
Ihr Beispiel könnte ein sehr wichtiger Faktor für die Entwicklung einer weltweiten Gesellschaft sein, weil Sie zeigen, daß dies möglich ist. Und wir leben heute in einer turbulenten Zeit, in der die Wirkung eines solchen Beispiels, eines lebendigen Beispiels, sich ausbreiten könnte. Warum? Zunächst, weil wir alle Kommunikationsmittel zur Verfügung haben. Ihr Beispiel könnte auf der ganzen Welt bekannt werden und wird es schon. Zuerst wird es bekannt, weil es verfolgt wird mit allen beklagenswerten Bedingungen der Verfolgungen, der schrecklichsten, die wir auf der Welt sehen können. Aber es sollte zusätzlich auch wegen des Guten, das es tut, bekannt werden, wegen Ihrer Lebensweise, wegen der Einheit, die man bei Ihnen vorfindet. Dieses Bekanntwerden könnte ein entscheidender Katalysator in der Welt werden, nicht nur, weil wir alle Kommunikationsmittel besitzen, sondern auch, weil wir in einer vielfach als unsicher bezeichneten Zeit leben, in einer Zeit der Umwälzungen, des Unvorhersehbaren.
Es ist eine Zeit, in der die Menschen nach Lösungen suchen. Sie suchen einen
Sinn; sie suchen eine Zukunft, die sie noch nicht ganz sehen können. Sie
haben nicht die Überzeugung, nicht den Glauben und nicht die wissenschaftliche
Erkenntnis, die besagt, »wenn wir
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nur überleben können, werden wir eine weltweite Gesellschaft mit Weltfrieden
errichten«. Sie meinen, die Zukunft sei unvorhersehbar und unerkennbar. Sie
könnte dunkel sein; und deshalb werden heute viele junge Menschen Beute des
Pessimismus. Unter diesen Umständen ist es wichtig, dieses Beispiel ans Licht
zu bringen — die Menschen wissen zu lassen, daß wir so wie Sie leben können.
Ich möchte vielleicht noch ein zwar etwas dunkleres, aber meiner Meinung nach doch ermutigendes Schlußwort anfügen. Noch etwas anderes lernen wir über die Evolution dieser komplexen Systeme, nämlich, daß ihre Entwicklung nicht glatt verläuft. Die Evolution ist nicht wie der Flug eines Bogens, beständig und nach oben strebend. Sie ist durchsetzt von Gipfeln und Tälern; sie hat viele zackige, diskontinuierliche Verläufe, viele schmerzliche Übergänge. Wir wissen dies aufgrund der Erfahrungen in unserer eigenen Entwicklung. Wenn Sie sich vom Säugling zum Kind entwickeln, vom Kind zum Jugendlichen, vom Jugendlichen zum Erwachsenen und dann zum Alter, so ist keiner dieser Übergänge einfach. Viele von ihnen bringen eine Krise mit sich. Und wenn eine Zeit völlig ruhig, monoton, geordnet und unverändert ist, so ist dies ein Zeichen dafür, daß ein Übergang noch nicht in Sicht ist. Aber haben Sie keine Angst. Solche Zeichen bestehen heute nicht. Die Welt ist voll von Krisen.
Wir leben im aufregendsten Zeitalter der größten Herausforderungen in diesem Übergang von einer uneinigen, aber voneinander abhängigen Welt zu einer Welt, die sowohl vereint als auch voneinander abhängig sein könnte. Das kommende Zeitalter wird, wenn es kommt, die Frucht großer Anstrengung und Voraussicht sein, hat aber als Preis viele Krisen und, so fürchte ich, auch viel Leid. Es liegt an uns, dieses zu verringern. Aber wir müssen bereit sein für die Tatsache, daß wir einer Umwälzung gegenüberstehen, einer Umwälzung, die alle Aspekte des Lebens, die zwischenmenschlichen Beziehungen auf allen Ebenen und die gesellschaftlichen Institutionen erfaßt. Nichts kann so bleiben wie bisher, wenn wir uns der nächsten Evolutionsstufe nähern. Als wir den Nationalstaat gründeten, blieben die Institutionen der Justiz, der Regierung, der Wirtschaft, des Markts nicht unverändert. In einem mittelalterlichen Fürstentum oder in einem archaischen Reich waren all diese Institutionen anders. Genauso, wie wir uns von den früheren Stadien zum heutigen Stadium entwickelten, so werden wir von dem heutigen Stadium in die Zukunft voranschreiten.
Die Unterschiede in Ihrem Rechtssystem und Ihrer demokratischen Verwaltung zeigen bereits — im Gegensatz zu der normalen, üblichen Art der Organisation und gesellschaftlichen Institutionen —, wie groß diese Unterschiede in der Zukunft sein werden.
So werden wir uns verändern, und diese Veränderung beginnt zu Hause, in uns selbst, in unseren Beziehungen zu anderen, in unseren Werten, unserem Lebensstil. Sie wird sich weiter auf die Organisation unserer Unternehmen, Gemeinschaften und Regierungen auswirken. Alles wird sich verändern, und diese Veränderung wird nicht leicht sein. Aber es wird sich ändern, weil es sich ändern muß. Eines sollten wir meines Erachtens nicht vergessen: Wir können nicht so bleiben wie wir sind. Wir haben eine Welt geschaffen, die sich verändern muß. So wie sie ist, glaube ich nicht einmal, daß sie bis ins 21. Jahrhundert überlebt. Sie wird sich verändern, weil sie es muß, und es ist unsere Aufgabe, diese Veränderung zu einer für die ganze Welt wohltuenden zu machen.
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Shoghi Effendi schrieb — lassen Sie mich das zitieren: »Wenn lang gehegte
Ideale, wenn altehrwürdige Institutionen, wenn gesellschaftliche Postulate
und religiöse Glaubensbekenntnisse das Wohl der Gesamtheit aller Menschen
nicht mehr fördern, wenn sie den Bedürfnissen einer sich ständig entwickelnden
Menschheit nicht länger gerecht werden, dann fegt sie hinweg und
verbannt sie in die Rumpelkammer überholter, vergessener Doktrinen!«5)
Meine Damen und Herren, liebe Freunde, es ist an der Zeit zu verbannen
und sich zu entwickeln. Die Weltgesellschaft ist der nächste Schritt, und dieser
Schritt könnte das Ende von Streit und Hader in dieser unreifen Übergangszeit
mit sich bringen.
Es kann einen dauerhaften Frieden für die Menschheit geben, davon bin ich überzeugt. Die Einsicht der Bahá’í, die nun durch wissenschaftliche Erkenntnisse bestätigt und untermauert ist, sollte Ihnen die Weisheit und den Mut geben, unsere Führer zu sein. Herzlichen Dank!
- 1) Vgl. Ervin Laszlo, A Strategy for the Future, George Braziller, New York 1974 (Anm. der Redaktion)
- 2) Botschaften aus ‘Akká, Hofheim-Langenhain 1982, 11:13
- 3) Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá’u’lláhs, Hofheim-Langenhain 1977, S. 67
- 4) Bahá’u’lláh, Botschaften aus ‘Akká 11:27
- 5) Die Weltordnung Bahá’u’lláhs, S. 69
- Alle Glieder der Menschheitsfamilie, ob Völker oder Regierungen, Städte oder Dörfer, sind immer mehr voneinander abhängig geworden. Selbstgenügsamkeit ist für niemanden mehr möglich, da politische Bindungen alle Völker und Nationen vereinigen, und die Beziehungen durch Handel und Industrie, Landwirtschaft und Erziehungswesen täglich fester werden. Folglich kann die Einheit aller Menschen an diesem Tage erreicht werden. Dies ist wahrlich nichts anderes als eines der Wunder dieses wundervollen Zeitalters. Davon waren frühere Zeiten ausgeschlossen, während dieses Jahrhundert — das Jahrhundert des Lichts — mit einzigartiger und beispielloser Herrlichkeit, Kraft und Erleuchtung beschenkt wurde.
- 'Abdu'l-Bahá
- Esslemont, S. 280
Helen Grigor
DIE ANIS-ZUNUZI-SCHULE IN HAITI — EINE TÜR ZUR WELT[Bearbeiten]
- Zuerst veröffentlicht in Herald of the South, Juli 1987, S. 4—11 unter dem Titel »The Anis Zunuzi School — A Window to the World«. Die Übersetzung aus dem Englischen besorgte Karl Türke jun.
Zwei Besucher aus Übersee waren betroffen über die Verhältnisse in Haiti. Sie beschlossen, eine Schule zu bauen, die wiederum zur Keimzelle für eine Reihe von ländlichen Entwicklungsprojekten in diesem verarmten Land wurde.
Haiti gilt als das ärmste Land der westlichen Hemisphäre, und das vollkommene Elend in der Bon-Repos-Region dieses Landes erschütterte ein Ehepaar aus Belgien zutiefst. Was der Mann sah, versetzte ihn 50 Jahre zurück in seine eigene Kindheit in Persien, wo es weitab von moderner Zivilisation zumindest eine Schule gegeben hatte. Drei Jahre in dieser Schule hatten ihm eine Tür zur Welt geöffnet und ihn auf den Weg zu seinem späteren Beruf als Jurist für internationales Recht gebracht.
Die Kinder dieser armen Region sollten dieselbe Chance bekommen. Also baute er ihnen eine Schule. In Lilavois, einige Kilometer nordöstlich der Hauptstadt Haitis, Port-au-Prince, nahm die Schule im Jahre 1980 die ersten Kinder auf und hat nun etwa 300 Schüler. Der Unterricht umfaßt Vor-, Grund- und Realschul-Lehrpläne bis zum zehnten Schuljahr und bietet zusätzlich vergleichenden Religionsunterricht, Englisch, Gesundheitsvorsorge, Musik und technische Fächer an.
Offiziell wurde die Schule 1982 am Jahrestag des Geburtstages des Báb eingeweiht. Die »Anis-Zunuzi-Bahá’íSchule« wurde nach dem mutigen Jugendlichen benannt, der zusammen mit dem Báb den Märtyrertod starb.
Architekt der Schule ist Dr. Iraj Majzub, der Dekan des Fachbereichs für Konstruktion an der Internationalen Universität von Florida. Er hatte freie Hand beim Entwurf — lediglich geringe Kosten und hohe Qualität wurden ihm zur Auflage gemacht.
Der Bau der Schule dauerte vier Jahre und kostete etwa 300.000 Dollar, finanziert von der belgischen Familie. Die Klassenräume sind aus Beton und natürlich belüftet. Es gibt Klassenräume für die Grund- und Realstufe, einen Kindergarten und drei Büroräume, die auf einem ehemaligen Zuckerrohrfeld stehen. Im Schuljahr 1985/86 wurde der Lehrplan um die Klassen sieben und acht erweitert.
Es gab die Befürchtung, die Schule könnte von der einheimischen Bevölkerung als
ausländisches Projekt angesehen und daher abgelehnt werden. Um
dies zu vermeiden, verwendete Dr. Majzub einheimische Bauweisen und stellte
nur ansässige Arbeiter ein. Er lehrte sie bessere Baumethoden und zahlte
Sonderprämien für Fachkenntnisse und Leistung. Für 12.000 Dollar wurde ein
Stromanschluß von Port-au-Prince gelegt. Mit Hilfe der Elektrizität konnten
die Arbeiter einen Brunnen bohren, der das Gebiet zum ersten Mal mit frischem
Wasser versorgte. Eine elektrische Pumpe, die zur Not auch mit der Hand
bedient werden kann, und ein 70.000 Liter Wasser-Reservoir ergänzen die
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- Die Lehrerin Marie Frida Petit unterrichtet die dritte Klasse.
Anlage. Dieses Projekt hat nun auch indirekte Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage und die Lebensweise dieses Gebiets.
Die Geschichten einiger Schüler machen die Armut und den Lebenskampf in dieser Region deutlich. Die neunjährige W.P., eine von 34 Schülern der zweiten Klasse, ist das achte von neun Mädchen. Sie lebt bei ihrer Mutter, einer strengen Protestantin. Ihr Vater, ein Anhänger des Voodoo-Kults, hat noch viele weitere Kinder und könnte es sich trotz harter Arbeit niemals leisten, sie in eine Schule wie die Anis-Zunuzi-Schule zu schicken, gäbe es keine Stipendien.
Der 1971 geborene A.S. profitierte von einem Schulangebot, das sonst in der Lilavois-Region nicht vorhanden ist; er war der Neuntbeste von 26 Schülern der vierten Klasse. Sein Vater, der sich seinen Lebensunterhalt mühsam bei der Zuckerrohrernte verdient, ist so arm, daß er das Schulgeld nicht weiter aufbringen konnte. A.S. wäre gezwungen gewesen, die Schule zu verlassen, hätte nicht ein Bahá’í-Ehepaar ein Stipendium für ihn übernommen.
R.R. absolvierte erfolgreich die dritte Klasse. Seine Familie schickt drei Kinder zur Schule. Die Mutter ist Analphabetin und der Vater, der in Surinam arbeitet, schickt soviel Geld, daß 50 % des Schulgeldes seiner Kinder gedeckt werden können.
E.R. war bereits elf Jahre alt, als sie in die erste Klasse kam; aber sie lebte sich gut ein und wurde jedes Schuljahr versetzt. Wenn alles gut läuft, wird sie wahrscheinlich die Hauptschule weit früher abschließen als ihre Schwester und auch mit einer wesentlich solideren Ausgangsbasis für eine Berufsausbildung ihrer Wahl.
Aber die Bahá’í haben mehr als nur eine Schule errichtet. Sie dient auch als
Ausgangsort für eine Reihe dringend erforderlicher ländlicher Entwicklungsprojekte.
Den Anstoß dazu gab ein Aufruf der leitenden Körperschaft der
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Bahá’í-Religion, des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, an die Bahá’í-Welt.
Im Jahre 1983 rief das Universale Haus der Gerechtigkeit die Bahá’í auf, verstärkt
an der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung mitzuarbeiten. Bis
dahin hatten begrenzte Mittel und die Notwendigkeit, sich auf den Aufbau der
Bahá’í-Institutionen zu konzentrieren, die Anhänger des Glaubens in ihren
Möglichkeiten eingeschränkt, sich für die großen sozialen Probleme einzusetzen.
Der Aufruf des Jahres 1983 markiert einen Wendepunkt in der Bahá’í-Entwicklung.
Mit einem beträchtlichen Zuwachs der Anhänger und der ausgereiften Arbeit der
Bahá’í-Institutionen hat sich das Betätigungsfeld der offiziellen
Bahá’í-Aktivitäten ausgeweitet.
Die örtliche Initiative ist die treibende Kraft der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungsprojekte der Bahá’í. Die Betonung liegt hierbei auf individueller Entwicklung — insbesondere der angewandten Kunst der Beratung, die als Hinführung zu wirtschaftlicher Unabhängigkeit der Gemeinden, Selbstvertrauen und der Wahrung menschlicher Würde angesehen wird. Solche Prinzipien, die vom Selbstbestimmungsrecht ausgehen, werden zunehmend auch von anderen Entwicklungsorganisationen übernommen.
Das Anis-Zunuzi-Programm für ländliche Entwicklung folgte in seiner Planung diesem Geist der Selbstbestimmung und Zusammenarbeit in der Gemeinde. Das vorrangige Ziel der ersten Phase war es, mit den Dorfbewohnern der Umgebung der Schule zu beraten, um die Nöte vor Ort festzustellen und herauszufinden, welche Projekte die Unterstützung der Leute finden würden.
Dies mag als selbstverständlicher Weg für Entwicklungsprojekte erscheinen, er ist jedoch ungewöhnlich. In einer Welt, in der die Reichen und Gebildeten glauben, sie müßten den Armen zeigen, wie sie selbst zu werden, ist dies ein eindrucksvoller neuer Weg, der von den Dorfbewohnern in Lilavois und Umgebung positiv aufgenommen wurde.
Beratungen mit Einheimischen sowie mit Vertretern einiger internationaler Organisationen und Regierungsstellen resultierten in dem ersten Projekt: einem Kurs zur Ausbildung junger Menschen
- Schüler der dritten Klasse lernen »Verborgene Worte«.
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als Familienerzieher. Unter der Leitung von Berater Farzam Arbab und
des Nationalen Geistigen Rates von Haiti begann eine Gruppe interessierter
Bahá’í mit ihren Freunden, Mitte 1982 einen entsprechenden Kurs auszuarbeiten.
Acht Lehrer erklärten sich an zwei Nachmittagen in der Woche bereit,
Klassen über Charakterentwicklung, Früherziehung von Kindern, Familienleben,
Gesundheit und Ernährung, geistige Prinzipien der Erziehung, Wissenschaft,
Handwerk, Spiele, Musik und Geschichten erzählen, Landwirtschaft
und Tierzucht abzuhalten. Über 30 Schüler zwischen 18 und 26 Jahren
meldeten sich zu diesem Kurs, der in den ersten fünf Monaten des Jahres
1983 jeweils sechs Stunden pro Woche stattfand. 20 Schüler nahmen regelmäßig
100 Stunden lang daran teil; 13 von ihnen bestanden die schriftlichen und
mündlichen Abschlußprüfungen. Die Hauptziele des Kurses waren, in den
Teilnehmern Verantwortung für den Dienst an der Gemeinde zu wecken und
die jungen Menschen als Vorschullehrer auszubilden. Es wurde auch besonderer
Wert auf die Abstimmung mit den Eltern gelegt, da die Eltern das Lernen
ihrer Kinder zu Hause unterstützen können.
Dieses Projekt wurde sehr durch die Mitarbeit von Francisque Francois unterstützt, einem erfahrenen Experten auf den Gebieten der Gemeindeentwicklung und Landwirtschaft, der seit über 20 Jahren Bahá’í ist und aufgrund einer tragischen Augeninfektion fast erblindet ist. Er sprach nicht nur mit den Kursteilnehmern, sondern besuchte in Begleitung von einheimischen Führern auch viele Dörfer, um mit den Eltern über ihre Nöte und Sorgen zu sprechen und ihre Vorschläge für Ausbildungszentren in den Gemeinden entgegenzunehmen.
Im Juni 1983 beschlossen Elterngruppen in vier Dörfern, solche Zentren zu errichten. Eine Unterstützung der kanadischen Botschaft half, die Kosten für die Errichtung einfacher Hütten, für Bänke und Tische sowie für die Anschaffung von Unterrichtsmaterial zu decken. In jedem Dorf beteiligten sich auch die Eltern an den Baumaßnahmen und beschlossen, den freiwilligen Lehrern ein bescheidenes Entgelt zu gewähren, sobald sie mit dem Unterricht begonnen hatten.
Nach einer Probezeit im gleichen Monat wurden acht Lehrer ausgewählt, und die Zentren wurden an drei Vormittagen in der Woche geöffnet. In jedem Dorf wurden von den Eltern Einweihungsfeiern organisiert. In jedem dieser Zentren nehmen nun 12 bis 25 Kinder an den Aktivitäten teil, die unter anderem eine geistig orientierte Erziehung durch Lieder, Gebete und Geschichten, Spiele und Übungen zur Förderung der Intelligenz, Bewegungsübungen und künstlerische und handwerkliche Betätigung umfassen. Die Eltern äußerten sich bereits über den Wandel ihrer Kinder, die ihre neuen Aktivitäten sichtlich genießen. Auch die Eltern gewinnen langsam Vertrauen in ihre Fähigkeit, durch Zusammenarbeit Änderungen in ihren Dörfern zu bewirken. In Haiti gibt es weder traditionellen Zusammenhalt in der Gemeinde noch verbreitete genossenschaftliche Organisationen. Daher ist das Maß an Hingabe und freiwilliger Mitarbeit der an diesem Projekt beteiligten Lehrer, Ausbilder und Eltern besonders bemerkenswert und ermutigend.
Von 1980 bis 1985 wurde die Schule von dem deutschen Bahá’í Hans-Jürgen
Thimm geleitet, seitdem von seiner Frau Matty Thimm, einer amerikanischen
Bahá’í mit einem Diplom-Abschluß der Universität von Wisconsin, USA. Als
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- Schüler der Anis-Zunuzi-Schule beim Mittagessen in der Schul-Kantine.
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beratender Direktor fungiert der haitianische Bahá’í Rene Jean-Baptiste, der
früher als Pionier in der Zentralafrikanischen Republik lebte. Im Schuljahr
1987/88 arbeiten hier 16 Lehrer, davon 13 Haitianer.
Direktorin des Anis-Zunuzi-Projekts für ländliche Entwicklung ist Linda Gershuny, Hilfsamtsmitglied und gebürtige Kanadierin, die seit etwa zehn Jahren in Haiti lebt. Sie war Stipendiatin der Internationalen Kanadischen Entwicklungsbehörde (CIDA) für internationale Studien und besitzt ein Diplom auf dem Gebiet der Erziehung von der Universität von Toronto, Kanada.
Die zweite Phase des Programms für ländliche Entwicklung wurde mit 82.000 Dollar gemeinsam finanziert von CIDA und dem Universalen Haus der Gerechtigkeit unter Mithilfe örtlicher Bahá’í-Gemeinden in Kanada. Die ersten Schritte umfaßten die Sammlung von Informationen und die Beratung mit Elterngruppen, Organisationen und Regierungsstellen, um einerseits die Bedürfnisse und Interessen in der Zielregion festzustellen und andererseits die vorhandenen Hilfsquellen zur Befriedigung dieser Bedürfnisse herauszufinden. Diese Vorarbeit führte zur Auswahl weniger informeller Erziehungsprogramme und Selbsthilfeprojekte, die von dem Projektteam koordiniert wurden. Das Projektteam unterstützte auch die Bildung kleiner Gruppen von Dorfbewohnern, die zur Investition eigener Mittel in kleine kommerzielle und landwirtschaftliche Unternehmen eigener Wahl ermutigt wurden. Das Ziel war die Verbesserung der Lebensqualität der beteiligten Familien und Gemeinden durch spezielle Aktivitäten auf den Gebieten der Landwirtschaft, Gesundheitsvorsorge und des Handels und die Verbesserung der Wasserversorgung — all dies im Zusammenhang von Dienst und Zusammenarbeit.
Während diese Ziele verfolgt werden, sucht man, die Zentren zur Vorschulerziehung, die während des Pilotprojekts errichtet wurden, zu stärken: die Lehrer erhalten eine Fortbildung, die es ihnen erlaubt, ein erweitertes Programm zur Familienerziehung und ländlichen Entwicklung zu fördern. Weitere professionelle und internationale Hilfswerke haben bereits ihr Interesse für dieses Projekt bekundet, und es entwickeln sich Gelegenheiten zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit. Das Zentrum für spezielle Erziehung, das das UNICEF-Programm zur Förderung frühkindlicher Erziehung leitet, hat dem Projekt Material zur Verfügung gestellt und 1984 in der Anis-Zunuzi-Schule ein dreiwöchiges Seminar zur Lehrerausbildung durchgeführt.
Das Projektteam für ländliche Entwicklung hat unter Mitwirkung kanadischer Projektleiter auch Kontakte mit UNICEF und den Entwicklungsprogrammen der Vereinten Nationen aufgenommen, um Möglichkeiten zur Teilnahme an anderen Programmen wie dem GOBI-Gesundheitsplan und der Bereitstellung von Trinkwasser auszuloten.
Ein weiteres Anliegen der Bahá’í ist es, die Zahl der Analphabeten zu senken.
Schätzungsweise 75-80% der Einwohner Haitis sind Analphabeten (auf dem
Land besuchen nur elf Prozent der Kinder eine Schule, davon erreicht nur ein
Prozent den Hauptschulabschluß). Um die Gültigkeit dieser Schätzung in der
Lilavois-Region und die Auswirkungen der Schule auf das örtliche Bildungsniveau
zu überprüfen, fertigten die Bahá’í 1984 eine Studie an. In einer Stichprobe
von 25% aller Haushalte hatten 38,9% der Erwachsenen keine Schulbildung
und 56,4% hatten weniger als vier Schuljahre absolviert; aber in der
Altersgruppe der 6 bis 16-jährigen besuchten 90% die Schule. Sogar in der
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Gruppe der Drei- bis Sechsjährigen besuchten 52,5% eine Schule oder ein
Zentrum.
Durch Kontakte der belgischen Bahá’í-Gemeinde zu der nichtstaatlichen belgischen Organisation PROTOS wurde im gleichen Jahr, als diese Studie erstellt wurde, eine Unterstützung für eine Erwachsenenbildungs-Kampagne gewährt. Diese Kampagne wurde gemeinsam von PROTOS und belgischen Bahá’í getragen. PROTOS unterstützte darüberhinaus das Ehepaar Francois und Geertrui Madoe-Devriendt in ihrer Mitarbeit an diesem Projekt wie auch an damit verbundenen Gesundheitsprojekten.
Durch die Einrichtung zweier weiterer Bahá’í-Schulen in Haiti spielt nun die Bahá’í-Religion eine aktive Rolle bei der Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Situation in diesem armen Land — und dies alles begann mit der Entscheidung eines Paares, selbst etwas zu unternehmen.
- Die Anis-Zunuzi-Schule in Lilavois, Haiti.
Die Kosten für die Unterhaltung der Anis-Zunuzi-Schule betragen im Jahr 30.000
US-Dollar. Das heißt, auf jeden Schüler entfallen etwa 120 US-Dollar — oder fast
ein halbes Jahreseinkommen einer Familie dieser Region! Dennoch schicken viele
Familien mehr als ein Kind auf diese Schule.
Um zur Deckung der Kosten beizutragen, wurde ein Stipendien-Programm aufgestellt. Um ein Gefühl der Verantwortung und Ehre zu wahren, sind die Eltern aufgerufen, einen kleinen Beitrag, der 22,5% der Gesamtkosten nicht übersteigt, zu leisten.
Bahá’í und Nicht-Bahá’í in aller Welt beteiligen sich an diesem Stipendien-Programm, und jeder, der einen Beitrag leisten möchte, kann sich direkt wenden an: Ecole Bahá’í Anis Zunuzi, B.P. 2566, Port-au-Prince, Haiti.
Es gibt auch ein spezielles Heft in englischer Sprache, Timoun, das heißt in haitianischem Kreolisch »Kinder«, oder wörtlich, »Kleine Leute«. Es berichtet über Neues von der Schule und den ländlichen Entwicklungsprogrammen. Timoun wird von der Schulverwaltung herausgegeben und an alle Förderer und Freunde verschickt.
BESPRECHUNG[Bearbeiten]
Labib, Muhammad: The Seven Martyrs of Hurmuzak, George Ronald, Oxford 1981. Aus dem Persischen ins Englische übertragen und mit einem Vorwort versehen von Moojan Momen.
Die rund 60 Seiten umfassende Schrift ist eine bedeutende Quelle für die Erforschung der jüngeren Verfolgungen der Bahá’í im Iran. Der Autor zeichnete 1955 im Auftrag des Nationalen Geistigen Rates der Bahá’í im Iran, nur wenige Tage nach der Ermordung von sieben Bahá’í in dem kleinen iranischen Dorf Hurmuzak, auf Grund von Augenzeugenaussagen die Umstände und Vorgeschichte des Verbrechens auf. Aus seiner Schilderung ergibt sich ein eindrucksvolles Bild der Reaktionen ländlicher Bevölkerungskreise Irans auf die Hetzpredigten Mullá Falsafís, der im Mai 1955 mit Unterstützung der Regierung des Landes und der höchsten Geistlichkeit unter Führung Áyatu’lláh Burúdjírdis allgemeine Ausschreitungen und Verfolgungen gegen die Bahá’í anstiftete. Die Darstellung widerlegt damit und auch mit der Schilderung der halbherzigen Hilfsmaßnahmen örtlicher Polizeikreise eindrucksvoll die Behauptungen, die Bahá’í hätten den besonderen Schutz des Pahlavi Monarchen und seiner Regierungen genossen.
Darüberhinaus ermöglicht das Buch, Details über die Situation der iranischen Bahá’í-Gemeinde in den 1950er Jahren deduktiv zu erschließen; so auch die im Anhang befindlichen zwei Berichte der iranischen Tageszeitung Saḥar vom Januar und Juli 1956, die sich mit den Morden von Hurmuzak beschäftigen.
- Stephan Pernau