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BAHÁ'Í-BRIEFE
HEFT 52 15. JAHRGANG DEZEMBER 1986
DANIEL JORDAN
ERKENNEN, WOLLEN, HANDELN — DIE STUFEN GEISTIGER WANDLUNG
ULRICH GOLLMER
UND FRIEDE AUF ERDEN
OFFICE OF PUBLIC INFORMATION
ZUR FRAGE DER APARTHEID
BESPRECHUNG
Die Bahá’í-Briefe wollen eine intensive Auseinandersetzung mit den Lehren und der Geschichte der Bahá’í-Religion fördern und zu einem Dialog mit allen beitragen, die sich auf der Grundlage zeitgemäßen religiösen Denkens aufrichtig um die Lösung der Weltprobleme mühen.
BAHÁ'Í-BRIEFE
Heft 52, Dezember 1986
15. Jahrgang
- Inhalt
- Daniel Jordan
- Erkennen, Wollen, Handeln . . . . . . .199
- Ulrich Gollmer
- Und Friede auf Erden . . . . . . .207
- Office of Public Information
- Zur Frage der Apartheid . . . . . . .234
- Buchbesprechung . . . . . . .237
- Inhaltsübersicht
- Zu Band 1 der Neuen Folge . . . . . . .240
Herausgeber: Der Nationale Geistige Rat der Bahá’í in Deutschland e.V., Hofheim-Langenhain. Redaktion: Dr. Klaus Franken, Ulrich Gollmer, Hans Günther Randau, Christopher Sprung, Karl Türke jun. Redaktionsanschrift: Bahá’í-Briefe, Redaktion, Eppsteiner Straße 89, D-6238 Hofheim-6. Namentlich gezeichnete Beiträge stellen nicht notwendig die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers dar. Die Bahá’í-Briefe erscheinen halbjährlich. Abonnementpreis für vier Ausgaben 20,- DM. Einzelpreis 6,- DM. Vertrieb und Bestellungen: Bahá’í-Verlag, Eppsteiner Straße 89, D-6238 Hofheim-6.
© Bahá’í-Verlag GmbH. ISSN 0005-3945
Frieden ist nicht nur möglich, sondern unausweichlich — dies ist eine zentrale
Aussage der Friedenserklärung des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, des höchsten
gewählten Gremiums der Bahá’í-Weltgemeinde, die anläßlich des von den Vereinten
Nationen proklamierten Internationalen Jahres des Friedens 1986 herausgegeben
wurde. Diese Friedenserklärung, gerichtet »an die Völker der Welt«, manifestiert
den unerschütterlichen Glauben der Bahá’í, daß die Menschheit, bewußt oder unbewußt,
der Einheit zustrebt, daß die Wirren und Nöte unserer Zeit gleich Geburtswehen den
Umbruch der alten zur neuen Zeit begleiten und daß der Menschheit
schließlich nur der Ausweg zur Einheit verbleibt. Diese Erklärung, die die Nöte und
Mißstände unserer Zeit analysiert, günstige Zeichen in der Entwicklung der
Menschheit sieht und Lösungsansätze für die weltweiten Probleme aufzeigt, konnte
seit ihrer Veröffentlichung am 24. Oktober 1985, dem 40. Jahrestag der Vereinten
Nationen, der überwiegenden Mehrzahl aller Staatsoberhäupter der Welt, zum
Großteil in einem persönlichen Gespräch übergeben werden. Diese Erklärung, an
die Völker der Welt gerichtet, wurde durch unermüdliche Bemühungen der Bahá’í
in aller Welt allen Bevölkerungsschichten zugänglich gemacht. Unter den Empfängern
sind Mitglieder von Regierungen, Parlamenten, Parteien, Organisationen,
Lehrer, Schüler, Arbeiter, Handwerker, Professoren, Studenten, kurzum Menschen
aller Herkunft und Berufe, allen Alters, aller Rassen, aller Nationen, aller
Religionen. Die Bahá’í in aller Welt hatten sich zur Aufgabe gestellt, durch diese
Friedenserklärung und durch begleitende Veranstaltungen und Aktionen wie
Friedensfeste, Podiumsdiskussionen, Vorträge, Baumpflanzungen, Aufsatz- und
Malwettbewerbe, Kinderfeste und Friedenskonferenzen, um nur einige zu nennen, das
Internationale Jahr des Friedens tatkräftig zu unterstützen und den Gedanken des
Weltfriedens stärker in das Bewußtsein der Menschen zu tragen. Dabei wurde kein
bloßes Wunschbild einer friedlichen Welt gezeichnet, sondern durch klare Darlegung
und modellhaftes Beispiel gezeigt, daß eine Welt-Friedensordnung nicht nur
gedacht sondern praktisch gelebt werden kann. Nun, da sich das Internationale
Jahr des Friedens seinem Ende zuneigt, stellt sich die Frage, ob es die Menschheit
dem Weltfrieden einen Schritt näher gebracht hat. Ganz gewiß sind die Friedenssehnsucht
der Menschen und die Einsicht, daß Frieden und Abrüstung für ein Überleben der
Menschheit unumgänglich sind, stärker geworden — ein Prozeß, der sich
in den vor uns liegenden Jahren sicherlich verstärken wird und muß, hängt doch
eine weltumspannende Friedensordnung nicht nur von den Entscheidungen hoher
Politiker und starker Regierungen, sondern vielmehr von der Einstellung der
Mehrheit der Menschheit in allen Völkern ab. Es wird also ein stetes Bemühen um den
Weltfrieden vonnöten sein, bis er schließlich errichtet und durch internationale
vertragliche Regelungen sowie durch einen Bewußtseinswandel der einzelnen
Menschen gesichert sein wird. Das Internationale Jahr des Friedens kann dazu nur
ein Anstoß sein, der aber der Sache des Weltfriedens einen unverzichtbar starken
Impuls verliehen hat.
- Die Redaktion
THE HOUSE AT RIDVAN GARDEN
- RUHE 1970
Daniel C. Jordan
ERKENNEN, WOLLEN, HANDELN — DIE STUFEN GEISTIGER WANDLUNG[Bearbeiten]
- Zuerst veröffentlicht in World Order, Band 7, Nummer 2, 1972/73, S. 43—48 unter dem Titel Knowledge, Volition, and Action — The Steps to Spiritual Transformation«. Copyright © 1973 by the National Spiritual Assembly of the Bahá’ís of the United States. Die Übersetzung aus dem Englischen besorgte Nicola Towfigh.
Bahá’u’lláh sagt, die Religion sei in allen Ländern im Absterben begriffen.1) Einer
der augenfälligsten Beweise dafür ist, daß immer mehr Menschen die Verantwortung
für ihr Leben aus der Hand geben. Sein Schicksal nicht mehr selbst
zu bestimmen, heißt aber, eine passive Haltung gegenüber dem Leben
einzunehmen — eine Haltung ohne Selbstdisziplin, Initiative, Willen
und Fortschritt. Hieraus folgt unvermeidlich ein
Nachgeben gegenüber dem Druck der alten Ordnung und die Anpassung an
Verhaltensmuster, die den Zusammenbruch eben dieser Ordnung beschleunigen.
Religion schwindet dann, wenn der Mensch das Ziel vergißt, das Gott ihm gesetzt hat. Ohne Gespür für dieses Ziel kann es keine Perspektive eines geistigen Schicksals geben, keinen Antrieb, in der Gegenwart so zu leben, daß das geistige Leben in der Zukunft gesichert ist, keinen Grund, den negativen Versuchungen einer zusammenbrechenden Zivilisation zu widerstehen. Wiedergeburt der Religion bedeutet daher, daß Gottes Plan für den Menschen auf dessen Lebensgestaltung einwirkt. Bei seiner Verbreitung über die ganze Welt entwickelt der Bahá’í-Glauben genau diese Wirkung. Er stellt die Mittel bereit, durch die jeder Anhänger Bahá’u’lláhs Erkenntnis über Gottes Plan für den Menschen erwerben und eben diesen Plan zusammen mit den Bahá’í überall in der Welt in die Tat umsetzen kann, was uns schließlich zum Größten Frieden führen wird.
Ein wahrer Bahá’í kann in seinem Glauben nicht passiv sein. Bahá’u’lláh sagt: »Es ist die Pflicht eines jeden Menschen mit Einsicht und Verständnis, danach zu streben, das hier Niedergeschriebene in die Wirklichkeit und in die Tat umzusetzen«2), und ‘Abdu’l-Bahá sagt: »Ein wahrer Bahá’í strebt Tag und Nacht danach, auf dem Pfade menschlicher Vervollkommnung voranzuschreiten. Sein sehnlichster Wunsch ist, so zu leben und so zu handeln, daß die Welt durch ihn bereichert und erleuchtet wird. Der Quell seiner Eingebung ist der Wesenskern göttlicher Tugend. Sein Lebensziel ist es, sich so zu verhalten, daß er dauernden Fortschritt bewirkt. Erst wenn der Mensch solche vollkommenen Gaben erworben hat, kann er als wahrer Bahá’í gelten. Denn in dieser heiligen Sendung, der krönenden Herrlichkeit vergangener Zeitalter und Zyklen, ist wahrer Glaube nicht die bloße Anerkennung der Einheit Gottes, sondern ein Leben, das alle Vollkommenheiten und Tugenden offenbart, die sich aus einer solchen Überzeugung ergeben.«3)
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Wenn wir ernsthaft danach streben, wahre Bahá’í zu werden, wenn dies eines
unserer höchsten Ziele ist, so müssen wir Gottes Plan für den Menschen
erkennen, den Willen haben, unser Leben danach auszurichten, und die Fähigkeit,
danach zu handeln. Ohne Erkennen, Wollen und Handeln gibt es keine geistige
Wandlung, denn ’Abdu’l-Bahá sagt: »Um ein Ziel zu erreichen, bedarf
es notwendig des Erkennens, Wollens und Handelns. Nichts läßt sich
vollbringen, ohne daß diese drei Voraussetzungen zusammenwirken.«4)
Erkennen des göttlichen Plans für den Menschen
Um die geistige Wandlung unseres Lebens aktiv zu bestimmen, ist eine bewußte Erkenntnis von Gottes Plan für den Menschen grundlegend. Der Wandlungsprozeß wird vorangetrieben, wenn Aktion und Reaktion von dieser Erkenntnis ausgehen. Da viele unserer Gewohnheiten und natürlichen Neigungen eher mit dem Muster der alten Weltordnung als mit dem der neuen übereinstimmen und dem Bahá’í-Gesetz direkt widersprechen, werden viele unserer Aktionen und Reaktionen bewußte Anstrengung erfordern, um diese Erkenntnis anzuwenden. Die bewußte Erkenntnis von Gottes Plan für den Menschen schafft die Grundlage für Entscheidungen, die zu geistigem Wachstum führen und uns zur Wahl von Handlungsketten befähigen, die die geistigen Grundlagen unseres Lebens festigen.
Die Erläuterung von Gottes Plan für den Menschen in diesem Zeitalter finden wir in den Worten Bahá’u’lláhs, ‘Abdu’l-Bahás und Shoghi Effendis. Bahá’u’lláh erklärt, daß wir erschaffen wurden, Gott zu erkennen und zu lieben, und daß wir mit der Fähigkeit ausgestattet wurden, alle Namen und Eigenschaften Gottes widerzuspiegeln.5) Er legt weiter dar, daß wir erschaffen wurden, »eine ständig fortschreitende Kultur voranzutragen«6). ‘Abdu’l-Bahá lehrt, daß der Sinn unseres Lebens in der Aneignung von Tugenden besteht,7) den in menschliches Verhalten übertragenen Eigenschaften Gottes. Shoghi Effendi versichert, daß das Ziel unseres Lebens in der Förderung der Einheit der Menschheit bestehen sollte. Er sagt sogar, daß die Einheit der Menschheit der Angelpunkt sei, um den alle Lehren Bahá’u’lláhs kreisen.9)
Gerüstet mit der bewußten Erkenntnis von Gottes Plan für den Menschen10) ist es möglich, unser geistiges Schicksal selbst positiv zu gestalten. Weg und Erfolg werden dabei von der Tiefe unserer Erkenntnis abhängen und von der Fähigkeit, sich zum Handeln zu entschließen und dann zu handeln.
Die Rolle des Willens bei der geistigen Wandlung
Unser geistiges Schicksal in die Hand zu nehmen — die Entwicklung unseres
wahren Selbstes zu bestimmen — kann letztlich nicht anderen übertragen werden.
Dies klar zu erkennen, ist grundlegend für jede geistige Wandlung. So
schreibt Bahá’u’lláh: »Jedem ist, wie auf Gottes mächtigen, wohlverwahrten
Tafeln verfügt, ein vorbestimmtes Maß zugewiesen. Alles, was ihr an Anlagen
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besitzt, kann jedoch nur als Ergebnis eueres eigenen Wollens offenbar werden.
Euere Taten bezeugen diese Wahrheit.«11)
Wenn wir dies erkannt und voll akzeptiert haben, werden wir aufhören, Entschuldigungen für unsere Orientierungslosigkeit und Inaktivität zu suchen; wir werden davon ablassen, nach Personen und Umständen Ausschau zu halten, die wir für die Unzufriedenheit mit unserem geistigen Entwicklungsstand verantwortlich machen können. Es ist nicht mehr notwendig, Energien auf diese nutzlose Beschäftigung zu vergeuden.
Eltern, Erzieher, Berater und Therapeuten tun sich — ungeachtet der Bestätigung durch die Erfahrung — schwer zu akzeptieren, daß die bloße Erkenntnis dessen, was wir machen sollen, uns noch lange nicht befähigt, es auch wirklich auszuführen. ‘Abdu’l-Bahá betont, daß bloße Erkenntnis noch lange kein entsprechendes Handeln bewirkt: »Das Erkennen von Prinzipien reicht allein nicht aus. Wir alle wissen und bestätigen, daß Gerechtigkeit gut ist, aber zu ihrer Verwirklichung sind Wollen und Handeln notwendig. Fänden wir es zum Beispiel gut, eine Kirche zu errichten, so würde dieser Gedanke allein noch lange nicht zum Bau der Kirche führen. Es muß für Mittel und Wege gesorgt werden; wir müssen die Kirche erbauen wollen und die Bauarbeiten vorantreiben.«12)
Eine ‘Akká-Pilgerin berichtet, wie ‘Abdu’l-Bahá die Beziehung zwischen Erkenntnis und Willen erklärte: »Der Wille ist Zentrum und Brennpunkt menschlichen Verstehens. Wir müssen Gott erkennen wollen und ebenso müssen wir das uns von Gott gegebene Leben meistern wollen. Der menschliche Wille muß dem Willen Gottes unterstellt und so erzogen werden, daß er sich in Gottes Willen fügt. Ein starker Wille ist eine große Kraft, aber die Kraft, diesen Willen Gott hinzugeben, ist noch größer. Der Wille kommt in unserem Handeln zum Ausdruck, die Erkenntnis in unserem Verstehen. Wille und Erkenntnis müssen in der Sache Gottes eins sein. Die Absicht führt zum Erfolg.«13)
Die Fähigkeit etwas zu wollen — der Wille —, ist eine Widerspiegelung der »ideellen und himmlischen Kraft« im Menschen: »Die Natur besitzt keinen Willen und handelt zwanghaft, der Mensch dagegen besitzt einen starken Willen... Es ist offenkundig, daß der Mensch edler und erhabener ist, daß in ihm eine ideelle Macht wirkt, die die Natur transzendiert. Er besitzt Bewußtsein, Willen, Gedächtnis, Verstand, göttliche Eigenschaften und Tugenden, deren die Natur völlig beraubt ist... Daher ist der Mensch durch die ideelle und himmlische Kraft, die in ihm zugleich verborgen und offenbar ist, größer und edler.«14)
Worin äußert sich der tätige Wille? Wodurch wird er greifbar? Es ist wichtig für uns, diese Willensäußerungen zu erkennen, damit wir aus unserer Erfahrung die Bestätigung ziehen können, daß wir diese »ideelle und himmlische Kraft« in Übereinstimmung mit Gottes Plan für den Menschen gebrauchen.
Ziele setzen. Eine der wichtigsten greifbaren Willensäußerungen ist, sich
selbst Ziele zu setzen — »hohe Entschlüsse und edle Vorsätze«, auf die sich
‘Abdu’l-Bahá bezieht: »...des Menschen höchste Ehre und wahres Glück liegt
in der Selbstachtung, in hohen Entschlüssen und edlen Vorsätzen, in der
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Unversehrtheit und Sittlichkeit der Person, in der Reinheit
des Denkens.«15)
Es ist klar, daß es ohne Zielsetzung nichts gibt, wonach wir unser Verhalten aufbauen könnten. Ein Leben ohne Ziele und Entschlußkraft verrät eine völlig passive Haltung gegenüber unserem Glauben. Der Mangel an Zielen verhindert, daß wir unsere »geistigen Kämpfe« austragen; er verhindert geistige Wandlung; er vereitelt schließlich Gottes Plan für den Menschen.16)
Ausdauer und Geduld. Der tätige Wille äußert sich auch im ernsten Streben; denn Tugenden zu üben, erfordert Anstrengung. Ohne Übung können sich keine Gewohnheiten bilden; und geistige Wandlung wird durch geistige Gewohnheiten gefestigt. Bahá’u’lláh sagt: »Strebe, damit du befähigt wirst, den Völkern der Erde die Zeichen Gottes zu enthüllen und Seine Gebote widerzuspiegeln.«17)
Streben um des Strebens willen kann jedoch keine geistigen Gewohnheiten bilden. Vielmehr müssen wir nach einem bestimmten Ziel streben, bis wir es erreicht haben. Diese Art unermüdlichen Strebens — Ausdauer — ist eine grundlegende Willensäußerung. Sie ist eine der wichtigsten Eigenschaften, die für die Widerspiegelung von Gottes Plan für den Menschen in unserem Leben erforderlich ist: »Die Gefährten Gottes sind an diesem Tag der Sauerteig, der die Völker der Welt voll durchdringen muß. Sie müssen solche Vertrauenswürdigkeit, Wahrhaftigkeit und Ausdauer, solche Taten und einen solchen Charakter zeigen, daß die ganze Menschheit aus ihrem Beispiel Nutzen ziehen kann.«18)
Ausdauer bedeutet mehr, als eine Sache über eine bestimmte Zeitspanne zu verfolgen. Ausdauer bedeutet, daß wir nicht aufgeben, wenn Schwierigkeiten und Probleme auftreten. Fast jedes lohnende Ziel erfordert Ausdauer in schwierigen Lagen. Die Fähigkeit, ein Ziel auch angesichts großer Mühsale zu verfolgen, bildet einen weiteren Aspekt des Willens: »Alles Wichtige in der Welt bedarf der ungeteilten Aufmerksamkeit dessen, der danach strebt. Wer etwas erreichen will, muß Schwierigkeiten und Mühsale erdulden, bis das Ziel, das er vor Augen hat, erreicht und der große Sieg errungen ist.«19)
Im folgenden Abschnitt führt ‘Abdu’l-Bahá die Rolle des Eifers und der Ausdauer
bei der Errichtung des Weltfriedens aus: »Einzelne, welche die im
menschlichen Streben ruhende Kraft nicht kennen, halten diesen Gedanken
für völlig undurchführbar, ja für jenseits dessen, was selbst die äußersten
Anstrengungen des Menschen je erreichen können; doch ist dies nicht der
Fall. Im Gegenteil kann dank der unerschöpflichen Gnade Gottes, der
Herzensgüte Seiner Begünstigten, den beispiellosen Bemühungen weiser und
fähiger Seelen und den Gedanken der unvergleichlichen Führer dieses
Zeitalters nichts, was es auch sei, als unerreichbar angesehen werden. Eifer,
unermüdlicher Eifer ist nötig. Nur unbezähmbare Entschlußkraft kann
das Werk vollbringen. Manches hat
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man in vergangenen Zeiten als reines Hirngespinst betrachtet; heute ist es
leicht durchführbar geworden. Warum sollte diese wichtigste und erhabenste
Sache20) — das Tagesgestirn am Himmelszelt wahrer Kultur und die Ursache
des Ruhmes, des Fortschritts, des Wohlergehens und Erfolges der ganzen
Menschheit -— unmöglich sein? Der Tag wird kommen, an dem ihr klares Licht
Erleuchtung über die gesamte Menschheit gießen wird.«21)
Geduld in Schwierigkeiten ist ein anderes Merkmal des tätigen Willens: »O mein Gebieter, wer ungeduldig ist in den Heimsuchungen, die ihn auf Deinem Pfade befallen, der hat nicht aus dem Becher Deiner Liebe getrunken und nicht die Süße Deines Gedenkens gekostet.«22)
Das Handeln kontrollieren und den Versuchungen widerstehen. Das Streben, etwas bestimmtes zu erreichen, ist nicht die einzige Art des Handelns, die Willen und Selbstdisziplin erfordert. Etwas nicht oder nicht länger zu tun, ist eine wesentliche Willensäußerung. Die Fähigkeit des Menschen, Versuchungen zu widerstehen oder Laster aufzugeben, unterscheidet ihn vom Tier. Diese Widerspiegelung des Willens kennzeichnet ihn als geistiges Wesen: »Die Natur hat keinen Willen und handelt zwanghaft, der Mensch dagegen besitzt einen starken Willen... Der Mensch kann freiwillig Laster aufgeben, die Natur besitzt jedoch nicht die Kraft, den Einfluß der Instinkte einzuschränken.«23) »Wir haben euch wahrlich geboten, eueren üblen Leidenschaften und verderbten Wünschen den Befehl zu verweigern und nicht die Grenzen zu überschreiten, die die Feder des Höchsten gesetzt hat, denn diese sind der Lebensodem alles Erschaffenen.«24)
So besitzt der Wille im wesentlichen zwei grundlegende Merkmale oder Funktionen in der geistigen Wandlung: Zum einen das ernste Streben und die Ausdauer, um bestimmte, mit Gottes Plan für den Menschen übereinstimmende Ziele zu erreichen; zum anderen, Versuchungen zu widerstehen, Laster aufzugeben und Impulse und Bedürfnisse ungeistiger Art zu kontrollieren. Es erfordert den Willen, wenn wir unser Leben so führen wollen, daß wir fähig werden, Tugenden zu erwerben und zugleich allen Versuchungen zu widerstehen, die Bahá’í-Gesetze zu brechen.
Die Rolle selbstdisziplinierten Handelns bei der geistigen Wandlung
Bahá’u’lláh erklärt: »Es ist die Pflicht eines jeden Menschen mit Einsicht und
Verständnis, danach zu streben, das hier Niedergeschriebene in die Wirklichkeit
und die Tat umzusetzen.«25) Diese Umsetzung hängt ab von der Umsetzung
»teuflischer Stärke in himmlische Kraft«26). Es sind Taten — Handeln — und
nicht Worte, die zählen. Ohne Handeln ist geistige Wandlung unmöglich.
Nachdenken, Gebet, Meditation und Studium der heiligen Schriften sind sehr
wichtig; aber wenn keine geistigen Ziele gesteckt werden und wenn nicht
gehandelt wird, um diese Ziele zu erreichen, so kann keine geistige Wandlung
stattfinden. Nur im Handeln kann die Wirklichkeit geistiger Eigenschaften sichtbar
werden. ‘Abdu’l-Bahá sagt: »Liebe äußert ihre Wirklichkeit in Taten, nicht in
bloßen Worten. Worte allein besitzen keine Wirkung. Um ihre Kraft zu zeigen,
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muß Liebe einen Gegenstand, ein Werkzeug, einen Anlaß haben.«27) »Das
Unrecht in der Welt besteht gerade deshalb weiter, weil die Menschen lediglich von
ihren Ideen reden und nicht auch trachten, sie in Taten umzusetzen.«28)
Nicht jegliches Handeln reicht aus. Was immer wir uns zu tun entscheiden, es muß den Willen Gottes widerstrahlen und die Verwirklichung Seines Planes für den Menschen fördern. Folglich muß das Handeln mit der Erkenntnis von Gottes Plan übereinstimmen; dies erfordert die Unterwerfung des menschlichen Willens unter den Willen Gottes. Nur so kann Handeln zu geistiger Wandlung führen.
Haben wir erst begonnen zu handeln, so können wir uns sehr leicht im Handeln verlieren; dabei vergessen wir darauf zu achten, ob unser Handeln noch immer mit Gottes Plan für den Menschen in Einklang steht. Deshalb müssen wir unsere Handlungen ständig abwägen, um festzustellen, ob sie mit dem Willen Gottes übereinstimmen; wenn nicht, müssen wir uns anstrengen, sie bewußt und überlegt zu ändern: »O Sohn des Seins! Lege jeden Tag Rechenschaft vor dir ab, ehe du zur Rechenschaft gezogen wirst. Denn unangemeldet kommt der Tod, und dann mußt du deine Taten verantworten.«29)
Zwei wichtige Fähigkeiten sind erforderlich, um unser geistiges Geschick zu bestimmen. Die eine ist die Fähigkeit, Unterschiede zwischen unserem Handeln und dem Plan Gottes für den Menschen zu erkennen. Die andere ist das Vermögen, unser Handeln zu verändern, so daß es diesen Plan widerspiegelt. Hier spielt Selbstdisziplin, die Fähigkeit, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen und eine Situation zu korrigieren, eine entscheidende Rolle.
Es ist die geistige Verantwortung und Verpflichtung eines jeden Bahá’í, diese Art Selbstdisziplin zu entwickeln. Weder können uns unsere Mitgläubigen mit dieser Selbstdisziplin ausstatten, noch können die administrativen Einrichtungen des Glaubens geistige Fähigkeiten für uns entwickeln, auch wenn sie uns als einzelne führen und ermutigen können. Wenn wir weit von Gottes Plan für den Menschen abweichen — so, daß die Bahá’í-Gemeinschaft in Mitleidenschaft gezogen wird — werden die Bahá’í-Institutionen helfen, die Situation zu bereinigen. Trotzdem kann nur der einzelne entscheiden, ob er sich mit dem inneren Ursprung eines Problems in seinem geistigen Leben auseinandersetzen will.
Die Ausdauer in unseren Anstrengungen, in Einklang mit Gottes Plan für den Menschen zu handeln, ohne dabei zu sehr von anderen oder von Bahá’í-Institutionen abhängig zu sein, hat wichtige Konsequenzen für unser Leben. Dieses selbstdisziplinierte Handeln bringt ein Selbstwertgefühl mit sich. Es gibt auch Vertrauen in die Fähigkeit, unsere »geistigen Kämpfe« selbst auszutragen.
Es ist wichtig, unsere geistigen Kämpfe selbst auszutragen: Wir stärken
uns selbst damit und unterstützen gleichzeitig den Glauben. Geistige Räte
können einzelne beraten und bei der Überwindung schwerwiegender Probleme
helfen. Aber sie können unsere geistigen Kämpfe nicht für uns austragen.
Wenn wir Bahá’í-Institutionen trotzdem darum bitten, so lenken wir
ihre Energien von ihren festgesetzten Aufgaben ab. Das Universale Haus der
Gerechtigkeit, die leitende Körperschaft der Bahá’í-Weltgemeinde, schreibt, daß
»alle beten« und »ihre geistigen Kämpfe
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austragen können«, und daß dies uns in unserer Entwicklung helfen wird.30)
Tragen wir unsere »geistigen Kämpfe« selbst aus, so wächst auch unsere Fähigkeit, durch die dynamische Kraft des Beispiels anderen zu helfen, für ihren eigenen Wandlungsprozeß Verantwortung zu übernehmen. Die vielleicht wichtigste Konsequenz solcher Ausdauer ist ihre Wirkung auf unser Verhältnis zu anderen Menschen. Sie hilft uns einerseits, weniger habgierig, ausbeuterisch, manipulierend und abhängig, und andererseits, unvoreingenommen im Lieben und Dienen zu werden. Durch Liebe und Dienst werden wir der Liebe auch eher würdig, und die Liebe, die wir entfachen, hilft uns, all unsere Anstrengung um Selbstdisziplin zu festigen und zu verstärken. Dadurch wird ein Kreislauf geistiger Wandlung in Bewegung gesetzt, der, wenn er durch fortschreitende Versenkung in den Ozean der Worte Bahá’u’lláhs und durch die aktive Teilnahme am Aufbau der neuen Weltordnung genährt wird, eine fortdauernde geistige Entwicklung und Entfaltung gewährleistet.
»O Kinder Adams! Heilige Worte und reine, treffliche Taten steigen empor in das Reich himmlischen Ruhms. Strebt, daß eure Taten vom Staub der Selbstsucht und Heuchelei geläutert und am Hof der Herrlichkeit angenommen werden; denn bald werden die Prüfer der Menschheit in der heiligen Gegenwart des Angebeteten nur noch wahre Tugend und makellos reine Taten annehmen. So strahlt die Sonne der Weisheit und des göttlichen Geheimnisses am Horizont des göttlichen Willens. Selig, wer sich ihr zukehrt.«31)
- 1) „Die Lebenskraft des Glaubens der Menschen an Gott stirbt aus in allen Landen... .« Ährenlese, Hofheim-Langenhain 31980, 99:1
- 2) a.a.O. 117
- 3) Zitiert in Göttliche Lebenskunst, Hofheim-Langenhain, 3. revidierte und erweiterte Auflage 1985, S. 27
- 4) Foundations of World Unity, Wilmette 51971, S. 101
- 5) Ährenlese 27:2
- 6) a.a.O. 109:2
- 7) Paris Talks, London 111969, S. 177
- 4) Zitiert in Rúḥíyyih Khánum, To the Bahá’í Youth, Bahá’í News, Nr. 231, Mai 1950, S. 6
- 9) Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá’u’lláhs, Hofheim-Langenhain 1977, S. 69
- 10) Siehe dazu ausführlicher Daniel Jordan, The Meaning of Deepening, Wilmette 1969
- 11) Ährenlese, 77
- 12) Foundations, S. 26
- 13) Zitiert in Julia M. Grundy, Ten Days in the Light of 'Akká, Wilmette 21979, S. 31
- 14) ‘Abdu’l-Bahá, Foundations, S. 70
- 15) Das Geheimnis göttlicher Kultur, Oberkalbach 1973, S. 27
- 16) Das Universale Haus der Gerechtigkeit verbindet das Austragen von »geistigen Kämpfen« mit Shoghi Effendis Ermahnung: »Eines und nur eines wird unfehlbar und allein den unzweifelhaften Triumph dieser heiligen Sache sicherstellen, nämlich inwieweit unser Leben und unser persönlicher Charakter den Glanz jener ewigen Grundsätze, wie sie Bahá’u’lláh verkündet hat, in ihren verschiedenartigen Brechungen widerspiegeln«. Wellspring of Guidance, Messages 1963—1968, Wilmette 1969, S. 37f
- 17) Zitiert in Shoghi Effendi, Das Kommen göttlicher Gerechtigkeit, Frankfurt 1969, S. 43
- 18) Bahá’u’lláh, a.a.O., S. 40
- 19) 'Abdu’l-Bahá, Tablets of Abdul-Baha Abbas, Bd. 2, Chicago 21919, S. 265
- 20) d.h. der Weltfrieden
- 21) Das Geheimnis Göttlicher Kultur, S. 64
- 22) Bahá’u’lláh, Gebete und Meditationen, Frankfurt 1963, Nr. 81, S. 104
- 23) ‘Abdu’l-Bahá, Foundations, S. 70
- 24) Bahá’u’lláh, Ährenlese 155:2
- 25) a.a.O., S. 117
- 26) a.a.O., 99
- 27) Ansprachen in Paris, Hofheim-Langenhain 61973, S. 23
- 28) a.a.O., S. 8
- 29) Bahá’u’lláh, Verborgene Worte, zweisprachige Ausgabe Hofheim-Langenhain 1983, arab. 31
- 30) Wellspring, S. 38
- 31) Bahá’u’lláh, Verborgene Worte, pers. 69
- Unter Glauben
- versteht man zuerst
- bewußtes Wissen,
- dann
- rechtschaffenes Handeln.
- 'Abdu'l-Bahá
- Tablets, S. 549
Ulrich Gollmer
»... UND FRIEDE AUF ERDEN...«[Bearbeiten]
Der Friede vor dem Frieden1)
»Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden zusammen weiden, daß ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder... Man wird nirgends Sünde tun noch freveln auf meinem ganzen heiligen Berge...«2)
So ist die Welt heute leider nicht. Aber keinen, den die Not der Menschen
bewegt, der mitleidet mit den Geschundenen, den Getretenen, den Beladenen,
keinen, den grausame Gleichgültigkeit und herrschgierige Tyrannei der Satten
und Mächtigen mit Zorn erfüllt, keinen, der Verzweiflung empfindet angesichts
der Scheinlösungen von Haß und Gewalt wird diese Vision je loslassen. Der
ewige Frieden, das friedfertige Miteinander von Mächtig und Gering, von
Arm und Reich, die weltumspannende brüderliche Solidarität ungeachtet des
Geschlechts, der Rasse oder sozialen Stellung, von alters her verheißen und
erhofft, ist noch immer nur Sehnsucht, Utopie, bestenfalls vielleicht Leitbild.
Doch selbst der Wunsch, die Welt nach diesem Bilde zu formen, ist nicht genug. Denn wie könnten wir zum ewigen Frieden kommen? Zu fest haben wir uns im Unfrieden eingerichtet. Unfriede ist in unseren Köpfen, in unseren Herzen; Unfrieden bestimmt die Strukturen von Recht, Wirtschaft und Politik. Wir leben in einer weltumspannenden, alles durchdringenden Un-Friedensordnung. Der Weg zum ewigen Frieden ist auf keiner Landkarte verzeichnet. Wir können nicht dorthin einsteigen wie in eine Straßenbahn. Eine Welt voller Frieden ist etwas unerhört Neues, gänzlich Unbekanntes, außerhalb unserer kollektiven Erfahrung.
Dies gilt durchaus auch für alle Vorstufen des Weltfriedens. Die allfälligen
Vorbehalte sogenannter Realisten sind deshalb keineswegs pauschal als bornierter
Zynismus abzutun. Es ist leicht zu sagen: »Entscheidet euch gegen das Gesetz der
Gewalt und Vergeltung für das Gesetz der Liebe und Vergebung... Frieden ist
möglich.«3) Oder: »Genauso wie wir beschlossen haben, Kernwaffen
herzustellen, können wir beschließen, sie zu verschrotten. Genauso wie wir
beschlossen haben, in dem System souveräner Staaten zu leben, können
wir beschließen, in irgendeinem anderen System zu leben.«4) Sicherlich
können solche Aussagen und Haltungen Ansporn sein, vermitteln Zuversicht,
Hoffnung. Aber sie sind auch gefährlich, weil naiv, unhistorisch und apolitisch.
Denn wenn Widerstände kommen auf dem Weg zum Frieden — und
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sie kommen, sind da, unausweichlich, massiv —, dann macht sich aus dieser
Haltung leicht Resignation breit oder die Friedensbereitschaft schlägt um in
Aggression. Friedensarbeit ist Kärrnerdienst, zäh, mühselig, nicht Freudentanz,
sondern leidvolle Plage. Friedensarbeit muß alle Einwände und Vorbehalte ernst
nehmen. Wir können nicht aus unserer Geschichte aussteigen, Staaten,
Wirtschaftssysteme, Ideologien, Interessen, Waffen einfach vergessen.
Wir können nicht von vorne beginnen, unbelastet wie Neugeborene, sanftmütig,
brüderlich, friedfertig. Noch immer huldigt die Welt dem Fetisch
nationalstaatlicher Souveränität,5) noch immer ist die Bereitschaft
ungebrochen, vermeintliche oder tatsächliche partikulare Interessen mit Gewalt
durchzusetzen. Die oft beschworene Schicksalsgemeinschaft aller Staaten und
Menschen der Erde ist eine bloß negative Einheit, der objektive Tatbestand
einer Existenzbedrohung, die letztlich niemanden ausnimmt. Im Bewußtsein
der vielen bildet sich noch nicht einmal dieses negative Faktum konsequent ab.
Nur wenige sehen diese Einheit als Gestaltungsauftrag in brüderlicher Solidarität.
Die Welt ist noch weit davon entfernt, »einerlei Gesinnung«6) zu
haben. Die Kontraste der historisch gewordenen Vielfalt sind Markzeichen
von Konkurrenz, Konfrontation und Konflikt, armiert und eingegraben in
den Köpfen und Landschaften. Ist es da nicht Borniertheit, Blindheit, Hybris,
wollte man behaupten, der Mensch könne sich am eigenen Schopf aus dem
Unfrieden ziehen? Die Wirklichkeit ist nicht so.
Doch gegen den dumpfen Opportunismus, die Resignation, den verzweifelten Zynismus vieler »Realisten«, gegen den kurzatmigen Aktionismus, die Selbstüberschätzung und Realitätsflucht vieler »Utopisten« soll hier auf eine ganz andere Wirklichkeit verwiesen werden: auf das schöpferische Wort Gottes. Denn »ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist«7). Notwendig Neues, Niemalsgewesenes ist vorgebildet im offenbarten Wort, damit Realität, auch wenn noch nicht materielle Wirklichkeit geworden. »Die Errichtung des Weltfriedens ist nicht möglich, außer durch die Macht des Wortes Gottes...«8)
Diese Offenbarung des Worts als Bedingung der Möglichkeit neuen, bislang unbekannten Heils haben wir präsente Eschatologie genannt.9) Für die Macht und Wirksamkeit des Worts sind menschliche Maßstäbe unzureichend: »Hättest Du auch alle Schätze der Welt darauf verwandt, ihre Herzen hättest du nicht geeint; Gott aber hat sie geeint.«10) Nicht der Mensch ist allmächtig, sondern Gott. Nicht der Mensch plant und gestaltet frei und bewußt seine Geschichte — diese überhebliche Erwartung hat sich gründlich zerschlagen —, er wird bestenfalls zum Werkzeug in Gottes Plan. Der Mensch kann sich gegen das göttliche Heil sperren, kann es verzögern, erschweren, sich selbst davon ausschließen; hindern kann er es nicht: »Der Mensch kann sich gegen alles stellen, nur nicht gegen das, was für das Zeitalter und seine Bedürfnisse göttlich bestimmt und verordnet ist.«11)
»Diese fruchtlosen Kämpfe, diese zerstörenden Kriege werden aufhören, und der Größte Friede wird kommen.«
- Bahá’u’lláh”12)
Bahá’u’lláh verheißt uns den ewigen Frieden, verspricht uns die Erfüllung dessen, was seit Jahrtausenden sehnsüchtig-gläubige Erwartung war, Inbegriff der futurischen Eschatologie des »Reiches Gottes auf Erden«: »Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein.«13) Es ist das Versprechen eines innerweltlichen und zugleich geistigen Friedensreiches; eines Friedens der Waffen wie der Herzen: der Größte Frieden.
Aber nicht in unmittelbarer Zukunft werden wir gesellschaftlich im Größten Frieden leben können. Die Zurückweisung der göttlichen Gnade in Bahá’u’lláh durch die Menschheit und ihre Führer hat uns zurückgeworfen, nötigt uns auf den Umweg des Geringeren Friedens.14) Statt eines Friedens in Gott wenigstens ein Friede der Waffen: der Geringere Frieden als die Begrenzung und schließliche Überwindung des Kriegs als Mittel der Politik.
»Nun, da ihr den Größten Frieden zurückgewiesen habt, haltet euch fest an diesen, den Geringeren Frieden...«
- Bahá’u’lláh15)
Bewegt man sich auf gefahrvollem Terrain, so bedarf es zweierlei, um zu überleben: Kenntnis der Richtung, in der man sicheren, befriedeten Grund erreicht, und Sicherung gegenüber den unmittelbar drohenden Gefahren. Die Schritte zum Größten Frieden weisen den Pfad aus der Gefahr; sie zielen darauf, deren Ursachen aufzuheben. Doch ein gut Stück dieses Wegs verläuft auf extrem unsicherem Gelände; ein Weg, der anderen Regeln unterliegt, den man aber nicht weniger sorgfältig planen muß. Ohne perspektivische Planung geht man irr, taumelt von einer Gefahr zur nächsten — mit voraussichtlich fatalem Ende. Den Sicherungsrahmen dieses Streckenabschnitts kennzeichnen die Bedingungen des Geringeren Friedens. Hier geht es um Begrenzung unmittelbar drohender Gefahr, um die Sicherung des Überlebens in einer Welt unleugbarer Interdependenz; die zugleich gekennzeichnet ist durch ideologische Verblendung, fehlendes Gleichgewicht, globale Mißwirtschaft, ökologischen Leichtsinn und ständig neue Eskalationsstufen wissenschaftlich-technischer Überrüstung.
Alle sinnvolle und zukunftsträchtige Sicherheitspolitik steht darum heute
unter dem Wort vom Geringeren Frieden. Auch dieses Wort ist schöpferisches
Wort Gottes, Bedingung der Möglichkeit einer neuen sozialen und geistigen
Evolution der Menschheit. Zwar wird sich der Geringere Frieden weitgehend
außerhalb der Gemeinde Bahá’u’lláhs vollziehen; er steht darum aber
keineswegs außerhalb des göttlichen Heilsplans. Auch der Geringere Frieden
ist präsente Eschatologie, mithin gegenwärtige und innerweltliche Verheißung,
ermöglicht durch das schöpferische Wort Gottes in Bahá’u’lláh. Es ist eine
erfüllbare, handlungsfordernde Verheißung, bezogen allerdings auf die
Gefährdung einer Welt, die sich dem Größten
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Frieden versagt hat; der Geringere Frieden zielt auf die politische Einigung
und Befriedung einer Welt, die sich nicht unter das göttliche Gesetz gestellt,
sich verschlossen hat vor dem Heil in seiner ganzen Fülle. Der Geringere Frieden
ist säkulares Surrogat, temporäre Ersatzlösung, vorbereitende Alternativstrategie
zum eigentlich Intendierten, notwendiger Umweg zur Schadensbegrenzung: göttliches
Gnadengeschenk unter der Bedingung des verwirkten
umfassenderen Heils. Der Geringere Frieden benennt die Voraussetzungen
des Überlebens, den unabdingbaren Sicherungsrahmen einer gefährdeten
Menschheit, das Minimalkonzept einer möglichen Zukunft. Eindringlich
spricht Bahá’u’lláh in einem Seiner späten Tablets von einer Waffe, »so
grausam, wie man es nie zuvor gesehen oder gehört hat«, warnt vor einer
tödlichen Verseuchung der Erdatmosphäre und drängt die Menschheit mit
deutlichem Bezug auf diese Warnung zum Geringeren Frieden.16)
Der Geringere Frieden ist Garant dafür, daß es noch
Geschichte geben kann.
Um falschen Erwartungen vorzubeugen: Präsente Eschatologie war nie und ist nicht politisches Programm, noch sozialwissenschaftliche Studie in Abwägung alternativer Optionen. Von präsenter Eschatologie kann man nicht die Planung konkreter Einzelschritte unter Beachtung möglicher Ereignisse und Reaktionen erwarten. Der Geringere Frieden als Begriff präsenter Eschatologie ist zugleich mehr und weniger: ein allgemeiner, aber notwendiger Bezugsrahmen des Überlebens, der Politik und planender Forschung durchaus als Motiv und Leitbild dienen kann und soll. Für den Bahá’í ist der Geringere Frieden Ansporn und Halt in Zeiten äußerer Not, gesellschaftliche Hoffnung aus Glaubensgewißheit.
»Wir haben der ganzen Menschheit befohlen, den Geringeren Frieden zu begründen — das sicherste Mittel für den Schutz der Menschenwelt.«
- Bahá’u’lláh17)
Eine Friedenspolitik, die dauerhaft sein soll, darf sich nicht auf Aspekte der Sicherheit und Abrüstung beschränken: »Die Abschaffung der Atomwaffen, das Verbot der Verwendung von Giftgas oder die Ächtung der bakteriellen Kriegsführung werden die eigentlichen Kriegsursachen nicht beseitigen.«18) Selbst wenn sich die Menschheit auf diese notwendigen Sofortmaßnahmen verständigen könnte: Der menschliche Erfindungsgeist ist allemal gut genug für neue Formen der Kriegführung. Friedensdiskussion und Friedenspolitik bedürfen der Ausweitung auf Bereiche, die traditionell nicht mit der Ächtung des Kriegs in Beziehung gebracht werden.
Der Geringere Frieden zeigt sich als integratives Gesamtkonzept: »Bleibt ...
die Frage allein auf den Weltfrieden beschränkt, so sind die herausragenden
Erfolge, die man erwartet und erhofft, nicht zu erzielen.«19) Elemente
des äußeren Friedens — Sicherheitspolitik, Abrüstung, weltweite politische und
wirtschaftliche Ordnungspolitik und ein verbindliches internationales
Recht — verbinden sich mit solchen des inneren Friedens — darunter soziale
Gerechtigkeit, Überwindung der Rassenschranken und Gleichstellung von Mann und
Frau — und der Erziehung zu einem friedensfördernden individuellen und
gesellschaftlichen Wertesystem. Denn der Krieg hat vielfältige Ursachen, ist so
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tief in den vorhandenen sozialen und psychischen Strukturen verwurzelt,
daß seine Überwindung »nichts Geringeres als den Wiederaufbau20) und die
Entmilitarisierung der ganzen zivilisierten Welt«, »eine organische, strukturelle
Veränderung der heutigen Gesellschaft«21) erfordert.
Viele Strukturelemente des Geringeren Friedens finden sich bereits in Bahá’u’lláhs Tablet an Königin Victoria, wo Er erstmals das Wort vom Geringeren Frieden spricht: soziale Gerechtigkeit22), der Wille zur Verständigung23), Abrüstung24), ein System kollektiver Sicherheit25) und Parlamentarier, deren Trachten auf das gerichtet ist, »was der Menschheit nützt und ihre Lage bessert«26). An anderer Stelle werden ergänzend genannt: die Bereitschaft zur Aussöhnung zwischen den Großmächten,27) eine Versammlung aller Herrscher der Erde,28) ein Weltparlament, eine internationale Exekutive und ein internationaler Gerichtshof, die Bewahrung der Menschen vor Unterdrückung;29) die stützende Funktion der Religion;30) die Verbesserung internationaler Kommunikation;31) die Gleichberechtigung der Frauen, wie auch aller Völker und Rassen. Die Begründung dieser Aspekte des Friedens erfolgt aus der Logik des Glaubens, aber auch aus dem Nutzen heraus: »So legen wir euch vor Augen, was euch nützt — würdet ihr es doch begreifen!«32)
Strukturskizze des Geringeren Friedens
Der Geringere Frieden ist nicht von heute auf morgen erreichbar. Die Bahá’í-Schriften erwarten hier eine schrittweise Entwicklung,33) zu der sich die Nationen der Welt durchringen müssen, »noch ohne Wissen darüber, daß sie die allgemeinen Grundsätze durchsetzen, die Er (Bahá’u’lláh) verkündet hat«34).
Wesentliche Voraussetzung des Geringeren Friedens ist ein grundlegendes
Bewußtsein der Zusammengehörigkeit aller Menschen35) bei Herrschenden
und Beherrschten. Die Erziehung zum Weltbürgertum ist dabei ein wesentlicher
Faktor.36) Aus diesem Bewußtsein muß sich eine grundsätzliche
Bereitschaft zur Zusammenarbeit ergeben: »Wir rufen die ... Herrscher
und Regenten ... auf, sich zu regen und alles, was in ihrer
Kraft steht zutun, um die Zwietracht zu bannen und die Welt mit dem Licht der
Einheit zu erleuchten.«37) Unter solchen Vorbedingungen kann der Weg zum
Frieden idealerweise über Verhandlung und Verständigung gehen; andernfalls
wird ein zunehmender Problemdruck den Verständigungswillen erzwingen.
Als wesentlichen Schritt dabei antizipierte Bahá’u’lláh eine Versammlung
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sämtlicher Regierungschefs39), mit dem Ziel einer Weltfriedensordnung.
Angestrebt wird ein Vertragswerk, das alle Staaten der Welt einschließen muß. In
diesem sollen sämtliche Staatsgrenzen festgelegt, alle internationalen Verträge
und Konventionen verbindlich kodifiziert und die Rechtsgrundsätze sämtlicher
Beziehungen zwischen den Staaten genau definiert sein. Garantiemächte
dieses Vertragswerks sind alle Staaten der Erde. »Die Hauptgrundlage dieses
feierlichen Vertrags sollte so festgelegt werden, daß bei Vertragsverletzungen
durch eine beliebige Regierung sich alle Regierungen der Erde erheben, um jene
wieder zu voller Unterwerfung unter den Vertrag zu bringen, nein, die
Menschheit als Ganzes sollte sich entschließen, mit allen ihr zu Gebote
stehenden Mitteln diese Regierung zu stürzen.«40)
'Abdu'l-Bahá nennt diesen Zusammenschluß einen »Weltvölkerbund«41), Shoghi Effendi spricht von einen »Weltbundsystem«42). Gemeint ist allemal ein föderatives Gebilde; Zentralismus wird abgelehnt, da dieser die Despotie fördere.43) Wesentliche Unterschiede zu den ersten beiden historischen Weltorganisationen, dem Völkerbund und den Vereinten Nationen, sind Universalität der Teilhabe, Verbindlichkeit der Vertragsbestimmungen und Entscheidungen — die weder Einstimmigkeit voraussetzt noch ein Vetorecht kennt — und eine gemeinsame Garantie des Vertrags mit allen Bestimmungen, deren Durchführung nicht der Entscheidung der Gliedstaaten überlassen bleibt.
Offenkundig ist dieser Weltvölkerbund nicht ohne Einschränkung der nationalen Souveränität möglich. Von den Einzelstaaten abzutreten sind der Anspruch auf Kriegführung, Teile der Steuerhoheit und »alle Rechte auf Kriegsrüstung außer zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung« in den Gliedstaaten.44) Die Institutionen, die sich in diese an den »Welt-Überstaat« abgetretenen Rechte teilen, sind: eine internationale Exekutive mit voller Entscheidungsbefugnis im Rahmen des Vertragswerks, ein Weltparlament in legislativer Funktion, gewählt durch das Volk aller Länder und bestätigt durch die Regierungen der Gliedstaaten, sowie ein Oberster Gerichtshof, der aus den hervorragendsten Vertretern aller Staaten gewählt werden soll.45) Alle Staaten sind der Spruchhoheit dieses Gerichtshofs unterworfen, seine Entscheidungen sind verbindlich, auch hier sind alle Staaten gemeinsam Garantiemächte.46) Die Entscheidungskompetenz des Gerichtshofs erstreckt sich auch auf alle strittigen Bestimmungen aus dem Vertragswerk.47)
Im Konfliktfall verfügen Exekutive und Oberster Gerichtshof »als Ergebnis der wohlüberlegten Entscheidung der weltweit vereinigten Volksvertreter«48) uneingeschränkt über die Streitkräfte der Gliedstaaten.
Das System kollektiver Sicherheit — ob noch getragen von den Einzelstaaten
oder bereits unter der Führung durch die internationale Exekutive und den
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Obersten Gerichtshof —49) hat Abrüstung als wesentlichen Bestandteil.50)
Unilaterale Abrüstung wird als untauglich abgelehnt;51) statt dessen bedarf es
einer verbindlichen vertraglichen Verpflichtung aller Staaten: »Alle Regierungen der
Welt müssen durch ein allgemeines Übereinkommen gleichzeitig abrüsten.
Es hilft nichts, wenn einer die Waffen niederlegt und die anderen sich weigern,
dasselbe zu tun. Die Nationen der Welt müssen in dieser lebenswichtigen
Angelegenheit übereinstimmen und zusammen die Mordwaffen endgültig niederlegen.
Solange ein Volk seinen Rüstungsetat zu Wasser und zu Lande vergrößert,
werden andere Nationen durch natürliche und vermeintliche Interessen in
diesen irren Wettbewerb hineingezwungen.«52) Solche
Abrüstungsvereinbarungen können dem föderalen Vertragswerk bereits
vorausgehen, bilden aber in jedem Fall einen wesentlichen Bestandteil davon.
»... möge Gott ihnen durch Seine stärkende Gnade helfen..., den Geringeren Frieden zu errichten.«
- Bahá’u’lláh53)
Die institutionellen und rechtlichen Komponenten des föderativen Weltstaats sind nur entwicklungsfähig und dauerhaft, wenn sie von einer ganzen Reihe flankierender Maßnahmen gestützt werden. Es sind dies einerseits funktionsbezogene Schritte, vor allem zur Lösung grenzüberschreitender Probleme der Umwelt, der Ökonomie, der Sozial- und Gesellschaftsstruktur. Dazu gehört aber auch das Herausarbeiten mehrheitsfähiger Normen als Leitwerte dieser globalen Veränderungen.
Carl Friedrich von Weizsäcker hat Friedlosigkeit als eine Krankheit bezeichnet,
als prinzipiell heilbaren pathologischen Zustand, der der Fürsorge bedarf.54) Fürsorgeeinrichtungen für alle Restbestände des Ungeheilten sind für
ihn Rechtsinstitutionen, Mechanismen geregelter Konfliktaustragung und die
Schaffung einer weltweiten Friedensordnung — nichts anderes, als die institutionellen Strukturelemente des Geringeren Friedens. Zur Heilung der Friedlosigkeit
liegt es nahe, sich auf die Kraft zu besinnen, die wie keine andere seit alters
fähig war, den Menschen zu verwandeln: auf Religion. Denn »der Hauptzweck,
der den Glauben Gottes und Seine Religion beseelt, ist, das Wohl des
Menschengeschlechts zu sichern, seine Einheit zu fördern und den Geist der
Liebe und Verbundenheit unter den Menschen zu pflegen«55) Insbesondere
alle Wohlhabenden, alle Macht- und Amtsträger hat Bahá’u’lláh aufgefordert,
»der Religion die höchste Achtung«56) zu schenken. Nicht eine
einzelne Konfession oder Kirche ist hier angesprochen, sondern der
friedenstiftende Kern, der allen Religionen eigen ist; in den Worten des
Universalen Hauses der Gerechtigkeit: »Die Lehre, daß wir andere so
behandeln sollen, wie wir selbst behandelt werden wollen, eine in allen
großen Religionen auf mannigfache Weise wiederholte Ethik... faßt die
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ethische Grundhaltung zusammen, den friedenswirkenden Aspekt, der sich
durch diese Religionen hindurchzieht, ungeachtet des Ortes und der Zeit ihrer
Entstehung; sie kennzeichnet außerdem den Aspekt der Einheit als wesenhafte
Eigenschaft der Religion...«57) Alle religiösen Führer der Welt
ruft Bahá’u’lláh auf, sich zusammen mit den politischen
Führern »für die Neugestaltung dieses Zeitalters und die Wiederherstellung
seiner Wohlfahrt«58) zu erheben. Ja, er faßt eine gemeinsame
Beratung beider Gruppen ins Auge, geradezu ein interreligiös-politisches
Friedenskonzil.59)
Doch selbst in säkularisierter Form ist die ethische Lehre, »daß wir andere so behandeln sollten, wie wir selbst behandelt werden wollen«, dieser universale Grundsatz religiös-sozialer Ethik, von weitreichender Bedeutung für das Erreichen und Bewahren einer internationalen Friedensordnung. Die »Goldene Regel«, unterstreicht die Bedeutung der Gegenseitigkeit als wesentliches Prinzip zur Ordnung und Pazifizierung einer Gesellschaft. Auch jenseits des Bereichs religiös fundierter Ethik gibt es nicht wenige Versuche, aus dem Prinzip der Gegenseitigkeit einen relationalen Begiff der Gerechtigkeit zu entwickeln. Wenn Frieden mehr sein soll als bloßes appeasement, als bloßes Aufschieben eines unvermeidlichen Konflikts, so muß eine gegebene Ordnung in ihren Grundzügen von allen als »gerecht« empfunden werden können: Frieden ist nicht ohne die gegenseitige Anerkennung legitimer Interessen und Bedürfnisse aller Gruppen der (in unserem Fall: Welt-)Gesellschaft zu erzielen. Gerechtigkeit läßt sich damit geradezu durch die allgemeine gegenseitige Anerkennung solcher Interessen definieren; eine formal wohl einleuchtende, praktisch aber höchst problematische Bestimmung, denn welche Interessen als »legitim« allgemeine Anerkennung finden, ist nicht nur dem historischen Wandel unterworfen: gerade hier verlaufen die Feuerlinien der feindlichen Ideologien und Systeme. Diese bloß formale Bestimmung der Gerechtigkeit ist damit zwar conditio sine qua non, also unverzichtbar, aber keine hinreichende Voraussetzung des Friedens.
Die Bestimmung der Gerechtigkeit durch Gegenseitigkeit findet sich auch
in den »Kalimát-i-Firdawsíyyih«: »...wenn du auf Gerechtigkeit siehst, dann
wähle für deinen Nächsten, was du für dich selbst wählst.«60)
Im selben Tablet
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benennt Bahá’u’lláh das »Zustandekommen von Einheit unter den Menschen«
als den »Zweck der Gerechtigkeit«.61) Diese Aussagen lassen sich
wohl in folgende formale Definition der Gerechtigkeit umformen: Unter der
Voraussetzung des Prinzips der Gegenseitigkeit (bei der Zuerkennung von Rechten
und Gütern) ist gerecht, was Einheit bewirkt. Dieses »was« muß weiter
material bestimmt werden. Einiges davon negativ: Unterdrückung und
Tyrannei,63) Ausbeutung64), Zerstörung der
Umwelt, Nationalismus, Rassismus und ideologische Feindschaften. Positiv
ist zu ergänzen: Universale Erziehung, Gleichstellung von Frau und Mann,
wirtschaftliche und soziale Entwicklung und verschiedene Elemente einer
universalen, gleichberechtigten Kommunikation. Alle diese Aspekte erfordern
intensive Forschung, sowohl zur Auslotung ihres Bedeutungsspektrums
in den Primärquellen der Bahá’í-Lehre, als auch zur praktischen Umsetzung
und Anwendung — gerade hier ist zudem eine kritische Aufarbeitung und,
soweit möglich, Aneignung der vorliegenden, auf unterschiedlichsten
Theorieansätzen beruhenden Integrationstheorien und Studien von
Einzelbereichen erforderlich.65) Dies ist bislang
nicht einmal im Ansatz geleistet. Im Bewußtsein dieser Unzulänglichkeit
wollen wir dennoch einige der oben genannten Aspekte kurz anreißen.
Eines der hartnäckigsten Weltprobleme ist die frappante Ungleichheit
der Güterverteilung, sowohl weltweit zwischen den Staaten, als auch — in
sehr unterschiedlichem Grade — in den einzelnen nationalen Gesellschaften.
Folgende Aussagen ‘Abdu’l-Bahás können den geistigen Rahmen bezeichnen,
der, ohne künstliche, nivellierende Gleichheit, hier das Prinzip der
Gegenseitigkeit und Einheit zur Geltung bringt: »...jedes einzelne Glied der
Menschheit ist eine Zelle des gesellschaftlichen Organismus... Folglich ist
es der Wunsch Gottes, daß im gesellschaftlichen Organismus der Menschheit
jeder einzelne vollkommene Wohlfahrt und uneingeschränktes Wohlbehagen
genießt.«66) Die Fortexistenz krassen Mangels neben erheblichem
Überfluß erklärt 'Abdu'l-Bahá aus dem Fehlen der »notwendigen Wechselseitigkeit«,
der weltweiten »sozialen Symmetrie«, verursacht durch Mängel in drei
Bereichen: im Fehlen einer weltweit gültigen, angemessenen Vertragsgrundlage
(»Mangel an einem brauchbaren Grundgesetz«) und einem entsprechenden
Instrumentarium zur Durchsetzung der Vertragsbestimmungen (»Mangel
an Überwachung«), im Verein mit einem grundlegenden ethischen Defizit:
»dem Mangel an Güte«.67) Zum Zeichen individueller und
gesellschaftlicher Reife, aber auch zur Wahrung des gesellschaftlichen
Friedens, zieht ‘Abdu’l-Bahá darum freiwillige Lösungen zum
Abbau des sozialen Gefälles vor.68) Wo dies nicht möglich ist,
sollten alle erforderlichen Schritte — ohne ideologische
Voreingenommenheit — zumindest die direkt Betroffenen mit
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in den Entscheidungsprozeß einbeziehen.68)
Ohne wirtschaftliche Entwicklung, Finanzausgleich und ausgewogene, gleichberechtigte Handelsbeziehungen wird die Kluft zwischen armen und reichen Ländern wohl kaum zu schließen sein. Wissenschaftlich-technischer Fortschritt ist gutzuheißen; er muß wirtschaftlich umgesetzt werden und allen Menschen zugute kommen. Er sollte getragen sein von einer individuellen Entwicklungsethik auf Gegenseitigkeit: »...Ehre und Würde des einzelnen liegen darin, daß er vor all den Massen der Weltbewohner zu einer Quelle des gesellschaftlichen Wohles wird.«70) Die Entwicklung darf nicht an den tatsächlichen Bedürfnissen der Wirtschaftssubjekte vorbeigehen, sondern muß ihre mündige Entscheidung mit einbeziehen, in diesem Sinne demokratisiert werden. Eine notwendige Folge dieses Postulats muß auch eine neue, dem Prinzip der Gegenseitigkeit Rechnung tragende Weltwirtschaftsordnung sein. Unter solchen Voraussetzungen kann wirtschaftliche Entwicklung weder Selbstzweck noch Mittel der Unterdrückung werden.
Das Prinzip der Gegenseitigkeit gilt aber nicht nur für die Gegenwart. Wir tragen Verantwortung für künftige Generationen, so wie die Leistungen und Versäumnisse der Menschen vor uns unsere Lebensumstände prägen. Jede Generation ist der Vergangenheit wie der Zukunft verpflichtet.71) Wir dürfen deshalb um kurzfristiger Vorteile willen nicht leichtfertig mit unserem Ökosystem umgehen. Die Zerstörung der Umwelt verkehrt den Segen wirtschaftlicher Entwicklung ins Gegenteil. In der Schöpfungsgeschichte kommt diese Verantwortung des Menschen zum Ausdruck durch den doppelten, unteilbaren Auftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren.72)
Wo irgendeine Klasse, Nation, Rasse oder Religion für sich mehr Macht oder Recht in Anspruch nimmt, als sie bereit ist, anderen zuzugestehen, wird der Grundsatz der Gegenseitigkeit verletzt. Für alle diese ideologischen Feindschaften73) gilt das Wort Shoghi Effendis: »Rechtsnormen, politische und wirtschaftliche Theorien sind nur dazu da, die Interessen der Menschheit als Ganzes zu schützen; nicht aber ist die Menschheit dazu da, für die unversehrte Aufrechterhaltung eines bestimmten Gesetzes oder Lehrsatzes gekreuzigt zu werden.«74)
Von allen diesen Ideologien, die unserem Begriff der Gerechtigkeit entgegenstehen,
verdient gerade heute der Rassismus wieder besondere Erwähnung. Das
Universale Haus der Gerechtigkeit bezeichnet ihn als »eines der
verhängnisvollsten, hartnäckigsten Übel, ein Haupthindernis für den Frieden. Wo er
herrscht, wird die Menschenwürde zu schändlich verletzt, als daß es unter
irgendeinem Vorwand gebilligt werden könnte.«75) Opfer des Rassismus
sind auch die Rassisten selbst, deren
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emotionale und moralische Entwicklung verkrüppelt und korrumpiert wird.
Mehr als die Hälfte aller Menschen sind Frauen; doch die Frau ist noch immer überwiegend vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Wie im Falle des Rassenwahns gibt es auch hier keine akzeptablen ethischen, praktischen oder biologischen Gründe, die Emanzipation der Frau, ihre völlige rechtliche und soziale Gleichstellung, zu verweigern. Durch die bestehende Ungleichheit ist das Prinzip der Gegenseitigkeit empfindlich gestört, zu Lasten beider Teile: »Die Verweigerung der Gleichberechtigung bedeutet ein Unrecht gegenüber der Hälfte der Weltbevölkerung und leistet bei den Männern Vorschub für schädliche Einstellungen und Gewohnheiten, die aus der Familie an den Arbeitsplatz, ins politische Leben und letztlich in die internationalen Beziehungen hineingetragen werden.«76) Im Kampf um die Gleichberechtigung der Frau ist Konfrontation aber der denkbar schlechteste Weg; die Frau ist aufgerufen, durch Leistung zu überzeugen, ohne »männliche« Verhaltensformen zu imitieren.77) Nach den Worten ‘Abdu’l-Bahás wird das bewußte kollektive Eintreten der Frauen gegen den Krieg ein Beweis ihrer Reife sein: »Sobald die Frauen die Verhältnisse der Welt umfassend und gleichberechtigt mitgestalten, sobald sie zuversichtlich und kompetent die Arena des Rechts und der Politik betreten, wird der Krieg aufhören...«78) Denn die Frau hat als Erzieherin der Kinder im besonderen Maße ein natürliches Interesse gegen den Krieg.79)
Zu den materialen Bestimmungen der Gerechtigkeit gehört auch die bestmögliche Erziehung aller. Bildung ist ein wesentliches Gut zur persönlichen Reifung, zur Entwicklung einer kulturellen Identität; ohne die Förderung von Ausbildung und Forschung verarmt eine Gesellschaft geistig wie materiell. Die Erziehung und Ausbildung der Kinder ist eine moralische Pflicht für die Eltern, eine der zukunftsträchtigsten Aufgaben für die Gesellschaft. Die unleugbaren Unterschiede der Begabung lassen das Prinzip der Gegenseitigkeit hier als gleiche Chance zur Entwicklung unterschiedlicher Fähigkeiten konkretisieren. Wo diese universale Bildung aus Mittelknappheit noch nicht möglich ist, rät das Universale Haus der Gerechtigkeit den gesellschaftlichen Entscheidungsträgern »der Bildung von Frauen und Mädchen höchste Priorität einzuräumen, denn durch gebildete Mütter kann der Nutzen des Wissens am wirksamsten und schnellsten die Gesellschaft durchdringen.«80)
Bildung kann nicht wertfrei sein. Bei aller kulturellen Verschiedenheit ist hier die Friedensfähigkeit zu fördern, nicht zuletzt durch die Einsicht einer grundlegenden Gemeinsamkeit aller Menschen, der gegenüber alle unterscheidenden, bislang trennenden Aspekte bloß sekundär sind.81)
Wege und Mittel der Kommunikation sind extrem ungleich ausgebaut und
verteilt. Noch immer bestehen erhebliche bürokratische, ideologische,
technische und systembedingte Hemmnisse gegen den freien Fluß von
Informationen, Personen, Geldmitteln und Gütern. Noch immer kommt man von
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einer afrikanischen Hauptstadt schneller nach Europa als in eine andere
afrikanische Hauptstadt, funktioniert die Telefonverbindung zwischen
Frankfurt und Montreal besser als zwischen Sucre und Tocopilla. Erhebliche Teile
der Weltbevölkerung sind von der Teilnahme an einer Diskussion der
Weltprobleme abgeschnitten; bei der Berichterstattung herrschen allgemein
partikulare Blickwinkel vor. Für alle Medien sollte gelten, was Bahá’u’lláh für
die Presse fordert: Zeitungen sollten »Spiegel der Welt« sein, exakt und
gründlich recherchieren, unparteiisch berichten.82) Auch für die
Kommunikationswege, für die sich rasant entwickelnden Kommunikationstechniken
und die übermittelten Inhalte muß das Prinzip der Gegenseitigkeit Norm
werden.
Neben diesen künstlichen Barrieren ist die gewachsene Vielfalt der Sprachen und Schriften ein gravierendes Hindernis. Die Einigung auf eine Welthilfssprache würde die Möglichkeit des Transfers von Gedanken, Kulturleistungen und Information, die Chance zu einem umfassenden gegenseitigen Austausch, der nicht länger nur einige wenige Sprachen und Kulturbereiche begünstigt, entscheidend fördern. Da Denken zudem immer sprachbezogen ist, wäre die Teilhabe aller Menschen an einer gemeinsamen Sprachwelt neben den Muttersprachen ein in seiner Bedeutung nicht zu überschätzender Beitrag zu wirklicher Kommunikation; keine der großen regionalen Kulturen der Vergangenheit hat sich ohne gemeinsame Sprachwelt entwickelt.
»Idealistische törichte Politik handelt, als ob der Zustand schon wirklich sei, der als Ziel vor Augen liegt. Realistische törichte Politik handelt, als ob jener bessere Zustand der neuen Politik nie eintreten könne. Beide sind unverantwortlich.«
- Karl Jaspers83)
Was Jaspers hier als »idealistische törichte Politik« bezeichnet, unterschätzt die Anstrengungen und Fährnisse auf dem Weg zur Friedensordnung. Der hieraus resultierende Mangel an hartnäckiger Geduld kann leicht selbst zur Gefahr werden für den Frieden: als Umschlag in Aggression aus enttäuschter Erwartung oder als Kapitulation vor der Gewalt. »Realistische törichte Politik« stellt die Möglichkeit dieser Ordnung in Frage und muß daher weiter eine Außenpolitik treiben, die allein an nationaler Interessenmaximierung, ohne Rücksicht auf — und wo nötig und möglich, gegen — andere Staaten, orientiert ist. Letzte Bezugsgröße solcher Politik bleibt der eigene Staat; alle anderen sind nur Konkurrenten oder Material im Ringen um die Macht. »Right or wrong, my country« ist die überlebte Devise einer im Zeitalter globaler Verflechtung gefährlichen nationalistischen Ethik.
Als den »Weg der Verantwortung« benennt Jaspers »jeden Ansatz zu fördern,
jeden Keim wachsen zu lassen, jeden guten Antrieb zum eigenen zu machen,
im Realen der Gegenwart schon die Möglichkeit der Zukunft mit wahrzunehmen
und im Rahmen der gegenwärtigen Realitäten schon auf sie hin zu denken und
zu handeln«.84) Dies erfordert eine Außenpolitik,
welche die nationalen
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Interessen gemeinschaftlich mit denen anderer Staaten zu optimieren sucht,
ohne deshalb blind zu sein für bestehende Realitäten. Verantwortungsvolle
Politik bedeutet, bewußt den Weg der Verflechtung und Integration
zu gehen, die Entwicklung international anerkannter Rechtsnormen und ein
Bewußtsein der Zusammengehörigkeit aller Völker auf breiter Basis zu fördern,
die Entfaltung eines internationalen Rechtssystems zu betreiben und alle
konstitutionellen Schritte zu forcieren, die zu regionalen und internationalen
Zusammenschlüssen führen — immer mit Blick auf die angestrebte schließliche
Weltordnung. Ob das Schwergewicht auf rechtliche, auf funktionale
(vorwiegend ökonomische) oder auf erzieherisch/normative Vorgänge gelegt
wird, ist eine bloß pragmatische, situationsabhängige Entscheidung. Notwendig
sind Maßnahmen in allen Bereichen; getan werden muß, was je möglich ist.
Ein erhebliches Störpotential sind dabei die Vorbehalte und Ängste gegen eine Weltordnung. Sie gilt es zu verstehen und zu entkräften. Der erste, häufigste Vorbehalt entstammt einer Zufriedenheit mit dem erreichten Maß an Sicherheit und Wohlstand. »Sichert nicht«, so wird gesagt, »gerade das gegenwärtige Gleichgewicht der Kräfte durch die beiden großen Militärblöcke und deren atomare Bewaffnung schon seit vierzig Jahren den Frieden und garantiert uns wirtschaftliche Prosperität?« Offensichtlich verdrängt solches Denken die reale Bedrohung,84) übersieht, daß dieses Gleichgewicht stets labil und durch neue waffentechnische Entwicklungen jederzeit ebenso gefährdet ist wie durch menschliches oder technisches Versagen. Ausgeblendet wird auch, daß die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg keineswegs so friedlich war, wie es uns in Europa scheinen mag: Etwa 130 Kriege mit zirka fünfzig Millionen Toten sind nicht unbedingt Zeichen einer Epoche des Friedens; ebensowenig die Tatsache, daß in einem einzigen Jahr (1982) 600 Milliarden US-Dollar für die Rüstung ausgegeben wurden, während gleichzeitig Tag für Tag mehr als 40 000 Kinder an Unterernährung sterben. Diese Art »Frieden« reicht nicht aus. Sich damit zufriedengeben zu wollen, gleicht einem Tanz auf sehr dünnem Eis. Es muß unsere gemeinsame Sorge sein, zu einer stabileren Friedensordnung zu kommen.
Doch auch wenn hierüber Einvernehmen erzielt ist, bleiben noch Einwände. Sie sind, grob gesagt, von zweierlei Art: Zunächst die Skepsis, ob ein Weltstaat überhaupt möglich sein kann; dann aber auch die Frage, ob er denn wünschenswert sei.
Gegen die Möglichkeit einer dauerhaften, weltumspannenden Friedensordnung
wird mit der biologischen Grundausstattung des Menschen argumentiert:
»Kampf und Streit gehört zur menschlichen Natur. Menschen sind keine Engel, keine Heiligen. Deshalb hat es immer Kriege gegeben und wird es immer Kriege geben.«
Seine moderne Begründung nimmt dieser Einwand aus der Verhaltensforschung,
aus der Annahme eines Aggressionstriebs beim Menschen. Wissenschaftlich ist diese
Hypothese nicht unwidersprochen. Andere Forschungen kommen zu dem Ergebnis,
daß Aggression beim Menschen ein zwar tiefverwurzeltes, aber nicht
angeborenes, sondern erworbenes Verhalten ist. Doch unabhängig davon,
ob diese Streitfrage empirisch entschieden
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werden kann, muß der Einwand zurückgewiesen werden:
Selbst wenn der Mensch einen angeborenen Aggressionstrieb besäße, könnte dies kein Einwand gegen eine Weltfriedensordnung, einen Weltstaat sein. Es ist gerade Aufgabe einer jeglichen gesellschaftlichen Ordnung, egal ob Stammesverband, Stadt-, National- oder Weltstaat, aggressive Verhaltensweisen der Gesellschaftsglieder zu verhindern oder wenigstens einzudämmen. Gerade wenn Aggressivität ein wesentliches Kennzeichen der menschlichen Natur ist, muß es im Interesse des Überlebens institutionelle Sicherungen gegen diesen zerstörerischen Trieb geben. Es besteht kein logischer Grund für die Annahme, daß dies zwar in allen bisherigen Gesellschaftsverbänden möglich war, im Falle eines Weltstaats nun aber plötzlich nicht mehr gelten soll.
Ein weiterer Einwand gegen die Möglichkeit eines institutionell gesicherten
Weltfriedens wird aus der bisherigen Menschheitsgeschichte abgeleitet.
»Staaten oder staatsähnliche Gebilde sind ständig neu entstanden und wieder vergangen. Der Kampf zwischen diesen Einheiten ist eine zeitüberdauernde Realität und dazu ein Motor des Fortschritts. Krieg wird es deshalb immer geben.« Daß die Vernichtung der
Indianerstaaten Südamerikas, die Zerschlagung der Bantukönigreiche oder
der Hunnensturm mehr Fortschritt brachten, darf füglich bezweifelt werden.
Der erste Teil dieser Aussage ist dagegen gewiß zutreffend. Aber es ist
notwendig, sich diesen historischen Prozeß etwas genauer anzusehen. Norbert
Elias, Soziologe, Kulturhistoriker, Psychologe, hat dies in einer Betrachtung
zum 8. Mai 1985 unternommen. Die feststellbare Konstanz des Kriegs
in der Geschichte erklärt Elias als Ergebnis der Konkurrenz »autonomer
Überlebenseinheiten«, von Staaten oder Stämmen. Im Laufe einer Serie von
Ausscheidungskämpfen treten zwei oder drei dieser Einheiten in einen Kampf um die
Vormacht der jeweiligen Region. Das Ziel ist Hegemonie. Bisweilen verbrauchen
sich die beteiligten Staaten in aussichtslosen Pattsituationen; sie
werden dann von bislang randständigen Mächten überflügelt. Athen, Sparta
und Theben sind dafür Beispiel, oder die westeuropäischen Staaten im Ersten
und Zweiten Weltkrieg. Das Römische Reich ist dagegen Beispiel des Aufstiegs
einer Hegemonialmacht in jahrhundertelangen Kämpfen. »Wenn es einem
Staat gelungen ist, bei frühen Ausscheidungskämpfen zwei oder drei annähernd
gleich starke Konkurrenten zu besiegen..., dann werden seine führenden
Schichten mit großer Regelmäßigkeit von der Vorstellung gepackt, es sei
für ihre Sicherheit nötig, militärisch stärker zu sein als irgendein anderer
Staat in ihrer Reichweite. Die Figuration, die sie mit anderen Staaten bilden,
übt auf jeder Stufe eines solchen Ausscheidungskampfes immer von neuem
einen starken Druck auf sie aus, jeden nur möglichen Gegner in die Schranken
zu fordern und durch dessen Besiegung oder Zerstörung die Sicherheit des
eigenen Staates zu gewährleisten.87) Elias nennt diese
psychosoziale Disposition des second to none den furor hegemonialis,
das Hegemonialfieber. Die so entstehenden Gebilde stehen in der
Gefahr, sich zu überdehnen. Die Utopie einer absolut sicheren Grenze, durch
Ausschaltung aller möglichen Konkurrenten, war nie zu erreichen. Alexander
kam nie an das erträumte Ende der Welt; sein in wenigen Jahren erobertes Reich
kollabierte rasch. Rom bezahlte die Überdehnung seiner Kräfte mit einer
zunehmenden Militarisierung aller Lebensverhältnisse. Zentrifugale Kräfte
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im Innern und immer neue äußere Feinde ließen bislang noch jede Hegemonialmacht
wieder zerfallen und leiteten eine neue Serie von Ausscheidungskämpfen ein.
Heute geht es mehr denn je darum, die Zwangsläufigkeiten bestimmbarer Figurationen zu sehen. »Erst wenn man aufhört, den sich steigernden Gegensatz zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten als etwas Einzigartiges, ganz für sich zu betrachten, erst wenn man sieht, daß es Hunderte von Präzedenzfällen gibt, daß es sich hier um eine soziale Figuration mit gewissen Regelmäßigkeiten, mit wiederkehrenden Abläufen handelt, erst dann kann man klar herausarbeiten, was an dieser heutigen Situation einzigartig ist.«88) Zu den historischen Regelmäßigkeiten solcher bipolaren Hegemonialkämpfe gehören im Vorfeld die weitgehende Polarisierung des Staatensystems, Rüstungswettlauf und dann die kriegerische Austragung des Gegensatzes.89) Zweierlei ist heute aber ohne Präzedenz: Universalität und Bedrohung. Krieg zwischen den Supermächten ist weder die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, noch eines der bekannten tektonischen Beben in den zwischenstaatlichen Beziehungen, mehr auch als die Existenzgefährdung für einen oder beide Hegemonialkandidaten: Ein solcher Konflikt birgt die Gefahr des universalen Genozids. Alle Erfahrungen und Beschreibungen der Vergangenheit sind nicht länger angemessen. Austragungsort dieses Hegemonialkampfes ist die gesamte Erde. Gäbe es einen Gewinner, so stünden ihm nie gekannte militärische und ökonomische Machtmittel zu Gebote; eine weitere effektive Staatenkonkurrenz wäre nicht mehr existent. Allerdings ist dieser Ausgang sehr unwahrscheinlich, bei der derzeitigen Kräfteverteilung sogar unmöglich. Wesentlich näher liegt die reale Gefahr der weitgehenden Vernichtung beider Hegemonialkandidaten und ihrer Klientel, ja die Gefährdung der Bewohnbarkeit der Erde überhaupt. In beiden Fällen wäre dies wohl auch ein Ende des Kriegs: Entweder als gewaltsame Pazifizierung unter der Knute einer Welthegemonialmacht — oder durch das Ende der Menschheit.
Offensichtlich sind wir — so oder so — am Ende eines Wegs angelangt. Wir kennen die Mechanismen des Kriegs, wir wissen um die möglichen Konsequenzen. Aber Fatalismus ist nicht am Platz, denn es sind soziale Gesetze, geschaffen durch menschliches Verhalten, abhängig von unseren Entscheidungen. Sollten wir da das Unvermeidliche, die Überwindung des Kriegs und die Schaffung einer institutionell gesicherten Friedensordnung, nicht besser aus Einsicht tun? Ob wir es wollen oder nicht, wir stehen in einer Entscheidungssituation: »Ob der Friede erst nach unvorstellbaren Schrecken erreichbar ist, heraufbeschworen durch stures Beharren der Menschheit auf veralteten Verhaltensmustern, oder ob er heute durch einen konsultativen Willensakt herbeigeführt wird, das ist die Wahl, vor die alle Erdenbewohner gestellt sind.«90)
Doch bei vielen erzeugt der Gedanke an eine weltumfassende institutionelle
Friedensordnung Angst:
»Ein Weltstaat, das wäre eine Tyrannei ohne Ausweg, der Verlust der Freiheit, das uniforme Ende aller Kulturvielfalt.« Man darf diese Furcht nicht zu leicht
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nehmen, sie ist nicht unbegründet. Würde die Pazifizierung der Welt erreicht
durch ein einheitlich beherrschtes Imperium, einen Staat, dessen Droh- oder
Gewaltpotential ausreicht, allen anderen seinen Willen aufzuzwingen — etwa
in der Folge einer begrenzten atomaren Katastrophe — so wäre eine totalitäre
Weltdiktatur sogar eher wahrscheinlich. Eine solche Zukunft ist nicht
ausgeschlossen. Ausgehend von der absoluten Notwendigkeit des Weltfriedens hat
Carl Friedrich von Weizsäcker dies in folgender These ausgedrückt: »Nicht
die Elimination der Konflikte, sondern die Elimination einer bestimmten Art
ihres Austrags ist der unvermeidliche Friede der technischen Welt. Dieser
Weltfriede könnte sehr wohl eine der düstersten Epochen der Menschheitsgeschichte
werden. Der Weg zu ihm könnte ein letzter Weltkrieg oder blutiger Umsturz,
seine Gestalt könnte die einer unentrinnbaren Diktatur sein. Gleichwohl ist
er notwendig.«91) Jaspers sieht die Gefahr eines Weltdespotismus
nicht nur in der Genese eines solchen Einheitsstaats, sondern auch in dessen
faktischem Gewaltmonopol: »Denn jede Macht, die alle Gewalt in einer
Hand konzentriert, vernichtet alsbald die Freiheit.«92)
Die Notwendigkeit einer institutionellen Weltfriedensordnung wird davon nicht berührt. Im Gegenteil: Gerade dann, wenn wir uns nicht um eine andere Form der institutionellen Friedenssicherung bemühen, verbleiben uns mit ständig zunehmender Unausweichlichkeit Vernichtung oder Weltdespotie als einzige Alternative. Der vernünftige, für die Menschheit gangbare Weg in den Frieden ist ein weltumspannender Föderalismus.93) Dieser Föderalismus bedingt die freiwillige vertraglich fixierte Souveränitätsbegrenzung aller Staaten der Welt zugunsten einer übergeordneten Exekutive. Deren »Souveränität kann beschränkt sein auf jene elementaren Machtfragen — Militär, Polizei, Gesetzesschöpfung — und an dieser Souveränität kann durch Wahl und Mitwirkung die gesamte Menschheit beteiligt sein.«94) Auch Elias sieht als einzigen Ausweg die freiwillige Souveränitätsübertragung an eine Konföderation aller Staaten der Erde, mit effektiven Organen zur zwischenstaatlichen Konfliktlösung und der Fähigkeit zur Bestrafung von Friedensbrechern.
Die Nähe dieser Vorschläge zu Bahá’u’lláhs Konzept des Geringeren Friedens
ist auffällig. Durch Freiwilligkeit des Zusammenschlusses, föderative
Ordnung, Rechtsstaatlichkeit, die Garantie grundlegender Menschenrechte
und sozialen Ausgleich können die möglichen negativen Begleiterscheinungen
eines Weltstaats aufgefangen werden. Alle diese Elemente sind Bestandteile
des von Bahá’u’lláh vorgesehenen Vertragswerks. Nicht alle
Souveränitätsrechte gehen an die Weltexekutive über, sondern lediglich die,
welche zur Friedenssicherung unumgänglich sind: der Anspruch auf Kriegführung,
dazu Teile der Steuerhoheit. Selbst die Rüstungspolitik bleibt den Gliedstaaten
insoweit überlassen, wie es zur »Aufrechterhaltung der inneren Ordnung«
nötig ist.” Die Weltexekutive ist damit kein omnipotenter zentralistischer
Machtapparat; sie soll zudem demokratischer Kontrolle unterworfen sein.96)
'Abdu'l-Bahá spricht sich ausdrücklich gegen jeglichen Zentralismus aus und
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empfiehlt eine Weltföderation, in der »jede Provinz völlig selbständig ist, wo es
aber einen Bund gibt, der die Interessen der unterschiedlichen unabhängigen
Staaten schützt... Den Zentralismus abzuschaffen, da er die Despotie fördert,
ist das Erfordernis der Zeit.«97) Auch die vorgeschlagene Zusammensetzung
des Weltschiedsgerichtshofs drückt das Bestreben aus, keine Nation, Staatengruppe
oder Rechtstradition zu benachteiligen; die Mitglieder dieses Gerichtshofs sind
von den Nationalparlamenten zu wählen. Die Zahl der Abgeordneten
steht im Verhältnis zur Bevölkerungszahl des Landes. Die Wahl ist vom
Oberhaus, durch das Kabinett und den Präsidenten oder Monarchen des jeweiligen
Staats zu bestätigen, damit jeder dieser gewählten Richter »die ganze Nation«
vertritt. Gleichzeitig legt ‘Abdu’l-Bahá Wert auf Persönlichkeiten, die zur
Unabhängigkeit ihrer Entscheidungen befähigt sind. Benannt werden sollen
»die Edelsten ihres Volkes, Kenner des internationalen Rechts sowie der
internationalen Beziehungen, dazuhin vertraut mit den wesentlichen
Bedürfnissen der heutigen Menschheit«.98)
Im Gegensatz zu manchen Einwänden wird die Vielfalt der Kulturen und
Traditionen in einer solchen Weltföderation als Chance aufgefaßt. »Einheit in
der Mannigfaltigkeit« ist das Programm einer zu schaffenden Weltkultur; dabei
geht es »nicht um Einheit, die zu Uneinigkeit führt, oder um Eintracht, die
Zwietracht schafft«99). Kulturimperialismus, Anpassungszwang,
Uniformierung sind von Übel. Statt dessen wird eine Pluralität gefördert, die nicht
auf ein gleichgültiges Nebeneinander, sondern auf eine facettenreiche Einheit
gerichtet ist. Quelle dieser Einheit muß Anerkennung und Gegenseitigkeit sein,
»eine Stufe, auf der jede verdienstvolle Seele ihren Teil
erhält«100). Politisch geht es um einen Interessenausgleich
zwischen Nationalstaat und Weltordnung. Mehr noch: langfristig ist eine
Interessenoptimierung auch für den Nationalstaat nur über die föderale
Friedensordnung zu erreichen. So antwortete ‘Abdu’l-Bahá auf die Frage eines
hohen US-Regierungsbeamten, wie er denn die Interessen seiner Regierung und seines
Landes am besten fördern könne: »Sie können ihrem Land am besten dienen,
indem Sie in Ihrer Eigenschaft als Weltbürger bestrebt sind mitzuhelfen, daß
das Prinzip des Föderalismus, das der Regierung Ihres eigenen Landes zugrunde
liegt, endlich auf die Beziehungen angewandt wird, die jetzt zwischen
den Völkern und Nationen der Welt bestehen.«101) Shoghi Effendi
faßt diesen Aspekt des Geringeren Friedens aus den Lehren und dem Gesetz
Bahá’u’lláhs zusammen: »Weit davon entfernt, auf den Umsturz der bestehenden
Gesellschaftsordnungen abzuzielen, sucht es ihre Grundlagen zu erweitern, ihre
Institutionen in einer Weise umzugestalten, die mit den Bedürfnissen einer stets
sich wandelnden Welt in Einklang steht. Es kann mit keiner rechtmäßigen
Untertanenpflicht in Widerspruch sein, noch kann es wirkliche Treue untergraben.
Seine Absicht ist weder, die Flamme einer vernünftigen Vaterlandsliebe in
den Herzen der Menschen zu ersticken, noch den Grundsatz nationaler Selbständigkeit
abzuschaffen, der so wesentlich ist, wenn die Übel übertriebener Zentralisation
vermieden werden sollen. Es übersieht weder die Verschiedenheiten der völkischen
Herkunft, des Klimas, der Geschichte, Sprache und Überlieferung, des Denkens
und der Gewohnheit, die die Völker und Länder
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der Erde unterschiedlich gestalten, noch versucht es, sie auszumerzen... Es
besteht auf der Unterordnung nationaler Belange unter die zwingenden Ansprüche
einer geeinten Welt. Es verwirft einerseits die übersteigerte Zentralisation
und entsagt zum andern allen Versuchen der Gleichmacherei. Seine Losung
ist Einheit in der Mannigfaltigkeit...«102)
Es bleiben Einwände: »Der Gedanke einer Weltföderation klingt gut. Aber geht er nicht an der Realität vorbei? Die Welt ist nicht nur machtpolitisch in zwei Lager gespalten; jede Seite vertritt offensiv eine bestimmte Vorstellung vom Menschen und der Gesellschaft. Diese Ideologien sind unverzichtbare Bestandteile der Ordnungspolitik und Legitimation der verschiedenen Systeme. Wie sollte da ein föderativer Zusammenschluß überhaupt möglich sein?« Diesem Einwand liegen zwei aufeinander bezogene Argumente zugrunde: Das eine setzt voraus, daß die ideologischen Gräben auf Dauer bestehen werden. Das zweite hält die ideologische Einigung für die unbedingte Voraussetzung einer institutionellen Friedenssicherung, eines föderativen Weltstaats.
Werner Becker — seine Argumentation steht für viele andere Befürworter eines Abschreckungsfriedens — sieht machtpolitische Stellung und Gesellschaftsideologie der beiden Supermächte als untrennbar verbunden. »Die USA und die UdSSR sind natürliche Feinde, weil sie in ihren Staatsauffassungen Lebens- und Gesellschaftsideale verkörpern, die einander ausschließen. Es sind Ideale, die nicht auf Koexistenz angelegt sind, weil jede Seite das ihre mit dem Anspruch auf globale Geltung vertritt.«103) Zwar könne diese Feindschaft aufgrund der damit einhergehenden Existenzbedrohung nicht kriegerisch ausgetragen werden, aber eine weitergehende Kooperation, ein Übergang zu gemeinsamem ordnungspolitischem Handeln sei ausgeschlossen: »Die Vereinigten Staaten können weder nach innen noch nach außen ihre weltpolitische Rolle rechtfertigen, ohne die ideologische Feindschaft gegen jede Form von Diktatur, besonders gegen die am meisten totalitäre — die durch die Sowjetunion repräsentierte kommunistische — in den Mittelpunkt ihres außenpolitischen Selbstverständnisses zu stellen. Genausowenig kann die Sowjetunion die kommunistische Weltrevolution, und damit die Feindschaft gegen den westlichen Kapitalismus, aus ihrer Selbstdarstellung streichen. Sie verlöre — auch in den Augen der russischen Bevölkerung — das Ansehen der Führungsmacht des kommunistischen Lagers.«104) Zwar muß das realpolitische Interesse beider Staaten allein am gemeinsamen Überleben orientiert sein; gegenüber der Bevölkerung sei aber ein Verzicht auf den eigenen ideologischen Anspruch unmöglich, da damit die Grundlage des militärischen Status quo und in der Folge die Garantie des gegenseitigen Wohlverhaltens verloren ginge: »Weder in den USA und in den westeuropäischen Demokratien noch bei den Völkern der UdSSR ließe sich Verteidigungsbereitschaft mobilisieren, wenn es nicht im Dienst der jeweils eigenen politischen Grundwerte geschähe.«105)
Diese Argumentation setzt den festgefügten allgemeinen Glauben an die eigene
Ideologie voraus. In Wahrheit sind die Menschen viel mehr auf die unmittelbare
Bewältigung ihres täglichen Lebens bezogen. Systemstabilisierend wirken
Gewöhnung und unspezifische Ängste, die sich auf ein austauschbares Feindbild
projizieren lassen; die eigene Ideologie wird darum nicht glaubhafter.
[Seite 226]
Die ideologischen Ansprüche sind längst erodiert. Bisweilen mögen sie
noch zur kurzfristigen regionalen Mobilisierung taugen; im Weltmaßstab
haben die enttäuschten Hoffnungen der ideologischen Versprechen einer
besseren Welt nurmehr Apathie hinterlassen. Viel zu oft wurde ein Krieg als »der
letzte« im Kampf gegen das absolut Böse apostrophiert; viel zu oft wurden
Entbehrungen und Opfer verlangt für eine bessere, gerechtere Welt, die dann nicht
kam. »Die Zeit ist gekommen, daß die Dogmenprediger des Materialismus — im
Osten wie im Westen, im Kapitalismus wie im Sozialismus — Rechenschaft ablegen
müssen über die moralische Führung, die auszuüben sie sich
anmaßen. Wo ist die von diesen Ideologien verheißene »neue Welt«? Wo ist der
internationale Friede, für dessen Ideale sie ihre Ergebenheit bekunden?
Warum versinkt in unserer Welt der Großteil der Völker immer tiefer in
Hunger und Elend, wenn den heutigen Sachwaltern der Gesellschaft Reichtum
in einem Maße zur Verfügung steht, von dem die Pharaonen, die Caesaren oder
selbst die imperialistischen Mächte des 19. Jahrhunderts nicht hätten träumen
können?«106)
Daß die allmähliche Überwindung tiefsitzender ideologischer Feindschaften möglich ist, dafür gibt es historische Beispiele. Elias verweist auf das Zeitalter der Glaubenskämpfe. Die unerbittliche Feindschaft zwischen den Anhängern der christlichen Konfessionen saß sicherlich tiefer, als die ideologischen Spannungen heute; ging es für die Zeitgenossen doch um mehr als um Ordnungspolitik und zeitlich begrenzte, irdische Freiheit: Es ging um die eigene Seligkeit, um das Ewige Leben. Doch die unsäglichen Leiderfahrungen der Religionskriege brachten eine Neuorientierung des Denkens; Vernunft und Humanität sollten an die Stelle eifernder Glaubensloyalitäten treten. Der Glaube verlor seine zentrale Stellung, Leben und Denken säkularisierten sich. Keine Ideologie, keine religiöse und schon gar keine säkulare, ist auf Dauer resistent gegen die Erfahrung des durch sie gezeugten Leids. Appellativ bringt Shoghi Effendi dies zum Ausdruck, wenn er schreibt: »Wenn lang gehegte Ideale, wenn altehrwürdige Institutionen, wenn gesellschaftliche Postulate und religiöse Glaubensbekenntnisse das Wohl der Gesamtheit aller Menschen nicht mehr fördern, wenn sie den Bedürfnissen einer sich ständig entwickelnden Menschheit nicht länger gerecht werden, dann fegt sie hinweg und verbannt sie in die Rumpelkammer veralteter und vergessener Doktrinen! Warum sollten sie in einer Welt, die dem unabänderlichen Gesetz des Wandels und Verfalls unterliegt, von der Entartung verschont bleiben, die alle menschlichen Einrichtungen zwangsläufig ereilt? Rechtsnormen, politische und wirtschaftliche Theorien sind nur dazu da, die Interessen der Menschheit als Ganzes zu schützen; nicht aber ist die Menschheit dazu da, für die unversehrte Aufrechterhaltung eines bestimmten Gesetzes oder Lehrsatzes gekreuzigt zu werden.«107)
Doch unabhängig davon, ob und wie lange diese Ideologien fortbestehen, ist auch die zweite Voraussetzung dieses Einwands nicht fraglos. Müßten sich bei einem föderativen Zusammenschluß wirklich alle Staaten der Erde auf eine gemeinsame binnenstaatliche Ordnungspolitik, auf eine gemeinsame Ideologie einigen? Bemühen wir nochmals das historische Beispiel des konfessionell gespaltenen Europas im 17. und 18. Jahrhundert. Nach einer Übergangsphase des cuius regio, eius religio
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bestanden die verschiedenen Religionen nebeneinander in einem politischen
Gemeinwesen; der Staat wurde zum Garanten religiöser Toleranz. Grundlage
dafür war die funktionale Reduzierung der Staatsaufgaben auf die Garantie des
formalen Friedens in der Gesellschaft sowie das gegenseitige Übereinkommen
zwischen staatlichen und religiösen Institutionen, sich nicht in den
Zuständigkeitsbereich des anderen einzumischen. Warum sollte sich eine
entsprechende funktionale Arbeitsteilung nicht auch auf einen föderalen
Weltstaat übertragen lassen? Struktur und Verfassung eines solchen Bundes
könnten durchaus darauf ausgerichtet sein, die nationale Eigenständigkeit
gerade in Fragen der Ordnungspolitik weitgehend zu bewahren und zu
garantieren.
Ganz in diesem Sinne antwortete 'Abdu'l-Bahá, als Er in den Vereinigten Staaten gefragt wurde, ob denn der Weltfriede nicht die Errichtung der Demokratie in allen Staaten der Erde zur Voraussetzung habe, mit dem Hinweis auf den föderalen Charakter dieser Friedensordnung. Vordringlich ist, »daß es in Zukunft keine Zentralisierung in den Ländern... geben wird.« Demgegenüber ist ihr politisches System sekundär: »...egal ob ihre Regierungsform konstitutionell, republikanisch oder demokratisch ist.« Unabhängig von ihrer Regierungs- und Gesellschaftsform sollen alle Staaten in einem föderalen Bund zusammengeschlossen sein. Aufgabe des Bundes ist, »die Interessen der unterschiedlichen unabhängigen Staaten zu schützen«. Auf den Bund bezogen, faßt 'Abdu'l-Bahá nochmals zusammen: »Er braucht keine republikanische oder demokratische Ordnung zu haben. Den Zentralismus abzuschaffen, da er die Despotie fördert, ist das Erfordernis der Zeit.«108) Ist diese Überlebensordnung einmal geschaffen, dann kann und muß die innere Ausgestaltung einvernehmlich vorangehen. In den von 'Abdu'l-Bahá so genannten »Lichtern der Einheit« finden sich denn auch »die Einheit im politischen Bereich«, »die Einheit der Nationen« und »die Einheit in der Freiheit«.109)
Zur Logik säkularer Ersatzlösungen
Manche werden gegen diese Skizze des Geringeren Friedens einwenden, dies sei
kein wirklicher Frieden, die Maßnahmen blieben zu äußerlich, garantierten
nicht eine wirklich friedfertige Gesellschaft. Dieser Einwand besteht zu
Recht. Aber heute geht es nicht um ein himmlisches oder säkulares Friedensreich,
sondern ums Überleben. Der ewige Frieden mag, soll unsere Hoffnung sein;
unmittelbar erreichen werden wir ihn nicht. Die Menschheit hat
das Gnadengeschenk des Größten Friedens zurückgewiesen; er ist uns wieder
künftige Verheißung, auf die wir gläubig hoffen dürfen. Aber dieses göttliche
Friedensreich wird weder vom Himmel fallen, noch läßt es sich politisch
erzwingen, gar herbeibomben. Im Angesicht der Gefahr brauchen wir eine
mittelfristige Not-Lösung — statt des ewigen, des himmlischen Friedens
wenigstens einen gesicherten Frieden der Waffen. Abschreckung ist da nicht
genug; man mag die Wahrscheinlichkeit für geringer oder größer halten, daß das
Gleichgewicht des Schreckens versagt — die Konsequenz wäre tödlich, tödlich
in einer bislang unvorstellbaren Dimension. Ein bloßer Abschreckungsfrieden
ist instabil, nicht zukunftsfähig. Der
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Frieden muß eine institutionelle Form finden, die für alle Staaten akzeptabel
ist, eine Form, die sie mehrheitlich bewahren wollen; und diese Form bedarf
der Mittel und Maßnahmen, die ihr Stabilität geben. Wenn wir die Welt
in eitel Liebe und Frieden (noch) nicht haben können, dann müssen wir wollen,
was möglich ist. Eben den Geringeren Frieden.
Es ist hilfreich, hier auf die Unterscheidung zwischen einem formalen und einem inhaltlichen Begriff des Friedens zurückzugreifen. Ein formal verstandener Friede löst keine Konflikte; aber er bietet Regeln und Institutionen zu ihrer nichtkriegerischen Austragung. Eine verbindliche Schlichtungs- oder Schiedsinstanz ist Teil des Systems. Das Gewaltmonopol ist besonderen Einrichtungen übertragen, die auf dieses Regelsystem verpflichtet sind. Ein solcher Frieden schafft nicht Harmonie, aber bietet Schutz und Sicherheit. Er tritt nicht mit moralischem Anspruch auf, er will Rechtssicherheit. Er entnimmt seine Legitimation nicht einem Wahrheitsanspruch, sondern der Vereinbarung zwischen Vertragspartnern. Sein Modell ist der Rechtsstaat.
Das inhaltliche Friedensverständnis will mehr. Ihm liegt ein bestimmter Begriff sozialer Gerechtigkeit, eine gewaltfreie Gesellschaftsvision, ein irdisches oder himmlisches Friedenstelos zugrunde. Solcher Frieden hat einen moralischen Anspruch. Er will, er muß bekehren. Wo dieser Missionswille politisch wird, kommt es zum Streit um den Frieden. Eine Vielzahl kapitalistischer, sozialistischer, pazifistischer, christlicher, muslimischer und sonstiger Konzepte stehen sich hier weitgehend unversöhnlich gegenüber. Modell dieses Friedens ist die weltanschaulich einheitliche, geschlossene Gemeinde.
Der Geringere Frieden will Frieden trotz gegensätzlicher Positionen und Systeme ermöglichen. Er ist keine Frage des (ideologischen) Glaubens, sondern der planenden Vernunft. Der Weg zum Geringeren Frieden führt nicht über Umkehr, Konversion, Bekennertum, Kreuzzüge, sondern über politische Vereinbarungen im wohlerwogenen Eigeninteresse aller Staaten. Der Geringere Frieden verbleibt darum weitgehend auf der Ebene des formalen Friedens. Wo er inhaltlich wird — inhaltlich werden muß, damit die fortdauernden Konflikte nicht die formale Einigung aushöhlen — , etwa in Fragen der sozialen Gerechtigkeit, des Umweltschutzes, der Rassengleichheit, der Emanzipation der Frau, der Erziehung, da sucht er eine einvernehmliche Lösung, ist er am Prinzip der Gegenseitigkeit orientiert.
Die Bahá’í und der Geringere Frieden
»Der Größte Friede wird kommen«, so lautet die Verheißung Bahá’u’lláhs.110) Der Geringere Frieden ist nach der Zurückweisung der Offenbarung Bahá’u’lláhs durch die Machtträger und Völker der Welt eine historisch notwendige Vorstufe dazu. Obwohl der Geringere Frieden unverkennbar säkularen Charakter hat, sich in weitgehender Unkenntnis über die Offenbarung Bahá’u’lláhs realisieren wird, ist er nach Überzeugung der Bahá’í Teil des göttlichen Heilsplans.
Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte, daß sich der göttliche
Heilswille säkularer Formen bedient.111)
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Auch unter anderem Namen bleibt er identisch. Hinter manchem, was sich
säkular gibt, wirkt die Heilsgeschichte fort. Klänge es nicht hinterhältig und
damit falsch, man könnte es die List der göttlichen Vernunft nennen, die sich
gegen die menschliche Unvernunft durchsetzt: Der Heilswille geht voran,
auch wo ihm der Weg verlegt ist; dann halt auf Umwegen, verborgen, in anderer
Tracht. Scheitert die unmittelbare Umsetzung des göttlichen Gesetzes am
bornierten Widerstreben der Menschen, dann kann auch eine säkulare
Lösung »wenigstens ein gewisser Fortschritt auf dem Weg zur Einheit
sein«,112) Schadensbegrenzung, heilsnotwendiger Umweg zur
nächsten Etappe. Denn »der Mensch kann sich gegen alles stellen,
nur nicht gegen das, was für das Zeitalter und seine Bedürfnisse
göttlich bestimmt und verordnet ist«113). Der Geringere
Frieden ist ermöglicht durch das schöpferische Wort Gottes in
Bahá’u’lláh, ist präsente Eschatologie, handlungsfordernd, verweist
in aller Beschränkung bereits auf das heilsgeschichtliche Ziel des
Größten Friedens.
Parallel dazu gestaltet sich ein zweiter Prozeß, der ebenfalls in den Größten Frieden münden wird: Die Entfaltung des Gesetzes und der Ordnung Bahá’u’lláhs in und durch Seine Gemeinde. In dieser Aufgabe stehen die Bahá’í allein. Es ist ihr zentraler Friedensauftrag.114) Der Geringere Frieden wird dagegen ohne die direkte gestaltende Mitwirkung der Bahá’í-Gemeinde verwirklicht werden müssen.
Geht also der Geringere Frieden die Bahá’í gar nichts an? Stehen sie abseits
als zwar wohlwollende, aber distanzierte Beobachter? Überlassen sie es
anderen, das baufällige Gebäude der »alten Ordnung« notdürftig zu sichern,
während sie am Neubau des Größten Friedens zimmern? Natürlich weist der
spezifische Friedensdienst der Bahá’í weit über die unmittelbaren Nöte der
Gegenwart hinaus. Aber »dies bedeutet... nicht, daß die Bahá’í abseits stehen
und auf das Kommen des Geringeren Friedens warten, bevor sie sich um den
Frieden für die Menschheit kümmern«115). Zur Ethik der Bahá’í gehört
eine durchaus pragmatische Haltung der Weltverantwortung. Das Universale
Haus der Gerechtigkeit, das oberste Führungsgremium der Bahá’í-Gemeinde,
ruft die Bahá’í ausdrücklich dazu auf, »jetzt alles in ihrer Macht Stehende«
zu tun, um den Übergang »vom jetzigen System nationaler Souveränität
zu einem System der Weltregierung« voranzutreiben.116) Der
Geringere Frieden ist ein lebenswichtiges Ziel für alle Menschen. In diesem
Ringen ist auch der Bahá’í mitbetroffener Bürger, Nächster und Bruder: »Unsere
wesentlichste Pflicht ist, den Glauben zu lehren und seine Verwaltungsordnung
mitzutragen. Aber das ist nicht alles. Der Glaube wird sein Ziel und seine
Ordnung in dem großen Reich des Friedens nicht erreichen, solange seine
Grundsätze nicht in die Tat umgesetzt sind. Wir müssen die verschiedenen Bewegungen
unterstützen, die fortschrittliche Gedanken haben und Ziele verfolgen, die
unseren ähnlich sind.«117) Den parteipolitischen, ideologischen
Streit um den Frieden gilt es dabei allerdings zu meiden: »... immer
vorausgesetzt, daß wir
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den Glauben aus politischen Streitfragen und politischer Parteinahme
heraushalten.«118) Beides setzt eine gewisse
Kenntnis dieser Strömungen voraus.
Die Perspektive
Auch bei Ausklammerung parteipolitischen Engagements stehen dem Bahá’í eine erhebliche Zahl von Bereichen der Friedensförderung offen, so etwa: Entwicklung von Friedensstrategien und -modellen, Publizität für den Frieden, Förderung des inneren Friedens durch soziale Projekte, Friedenserziehung, Förderung von Minderheiten, Projekte der Entwicklungshilfe, der wichtige Bereich des internationalen Rechts, die Arbeit in internationalen Organisationen zur Stärkung der möglichen institutionellen Garanten einer föderativen Welt-Friedensordnung. Zur aktiven Friedensarbeit der Bahá’í außerhalb ihrer eigenen Gemeinde zählt so die möglichst breite Streuung der Bahá’í-Lehren über den Frieden, vor allem auch an die Meinungsführer, an Politiker, an herausragende Denker. Dies bedarf auch intellektueller Anstrengung. Es gilt, die drückenden Probleme der Menschheit zu sehen, sie zu analysieren und tragfähige Lösungsmodelle zu entwickeln.119) Die Bahá’í müssen sich einlassen auf die drängenden Fragen der Welt, müssen für ihre Mitmenschen fähige und kenntnisreiche Dialogpartner werden: »Befaßt euch gründlich mit den Nöten der Zeit, in der ihr lebt, und legt den Schwerpunkt eurer Überlegungen auf ihre Bedürfnisse und Forderungen.«120) In derzeit 1030 Entwicklungsprojekten in aller Welt findet diese Sorge um die Mitmenschen weiter praktischen Ausdruck.121)
Ein wesentlicher Beitrag der Bahá’í für den Geringeren Frieden ist allein
schon die Stützung und Verbreitung des Gedankens einer internationalen
Weltfriedensordnung. In einem Meinungsklima, das nach den anfänglich überzogenen
Erwartungen an die Vereinten Nationen nunmehr von Ernüchterung
und Skepsis gegen jede Form institutioneller Friedenssicherung geprägt
ist, finden sich nur wenige Entscheidungsträger, die wagen, eine solche
Perspektive zum langfristigen Ziel ihres politischen Handelns zu machen. Es ist
ein Klima der Resignation und der Ungeduld: Was nicht kurz- oder zumindest
mittelfristig realisierbar erscheint, taugt schlecht zur Mobilisierung von
Wählern. Kein Wunder, daß eine technizistische Utopie, die Vision einer doch noch
möglichen Dominierung des Gegners mit technischen Mitteln, wesentlich
besser ins politische Geschäft paßt. Wer das bipolare Hegemonialsystem
der beiden Supermächte durch ein multipolares Weltsystem entschärfen und
ersetzen will — der als Einstieg erwägenswerte, als Lösungsvorschlag aber
unzureichende Versuch der Übertragung der Gleichgewichtspolitik des 18. und
19. Jahrhunderts auf die Bedingungen des nuklearen Zeitalters — vertritt
als Politiker bereits eine eigenwillige Position. Wer eine institutionell
gesicherte Weltfriedensordnung für eine zwar noch ferne, aber unumgängliche
Notwendigkeit hält, ist Außenseiter, auch unter seinen politischen Freunden.
Es gehört Mut dazu, eine solche Position zu vertreten. Sie im politischen
[Seite 231]
Tagesgeschäft in mühselige kleine Schritte umzusetzen, dazu bedarf es
noch weit mehr. Die Medien sind hier wahrlich keine Hilfe: Vorschläge und
Argumente für eine föderale Weltfriedensordnung selbst von Seiten so gefeierter
Denker wie Karl Jaspers oder Carl Friedrich von Weizsäcker finden so gut
wie keine Resonanz. Unter dem medienpolitischen Paradigma eines kritischen
Realismus kommen regionale Zusammenschlüsse wie die EG nur mit ihren
Schwierigkeiten und Querelen in die Schlagzeilen. Die Vereinten Nationen
haben eine anhaltend schlechte Presse; daß sie nicht besser sein können als ihre
Mitgliedstaaten, wird nie als Auftrag zur Umgestaltung, sondern immer nur
als unveränderliches Faktum ihrer Impotenz gesehen. Hinter diesem durchgängig
negativen Meinungsbild steckt der mangelnde Glaube an die Entwicklungsfähigkeit
des Menschen und seiner Institutionen; eine kollektive Willenslähmung, genährt
vielleicht aus unserer Erfahrung historischer Schuld, vielleicht auch
(unbewußtes) Residuum einer Jahrhunderte eingeschärften Erbsündenlehre.
Die Bahá’í können und müssen hier dazu beitragen, schrittweise ein anderes
Meinungsklima zu schaffen. Das Menschenbild, das sie vermitteln können, ist
realistisch und optimistisch zugleich. Grundsätzlich bezeugen die Schriften
Bahá’u’lláhs die Perfektibilität des Menschen und die Möglichkeit dessen
ethischer Reife.122) Aber die Natur des Menschen ist ambivalent: Der
Mensch ist befähigt, sich seiner göttlichen Bestimmung zu verweigern. Nur unter
der Voraussetzung dieser Verweigerung ist »die Welt des Menschen eine Welt der
Unterdrückung und Grausamkeit, ein Reich von Aggression und Irrtum«123).
Das selbstverschuldete Unvermögen, die Existenz des Bösen werden nicht
geleugnet, aber die Menschen sind damit nicht alleingelassen. Die Friedlosigkeit
und ihre Ursachen werden verstanden als Krankheit, als Abirrung,
derer die menschliche Natur fähig ist, nicht aber als der Normalzustand des
menschlichen Wesens. Heilung ist möglich, das Heilmittel aber nicht beliebig;
es ist eine Gnadengabe Gottes, der eigentliche Zweck der Religion: die Erziehung
des Menschen durch Sein Wort.124) Das Wort Gottes hat die Fähigkeit,
»satanische Stärke in himmlische Kraft zu verwandeln«125). Im Wissen
um diese Macht des Wortes können die Bahá’í unbeirrt und aus tiefster Überzeugung
das Etappenziel benennen, das als präsente Eschatologie allein das Überleben
der Menschheit sichern kann: den Geringeren Frieden. Wie niemand sonst
haben die Bahá’í den unerschütterlichen Glauben, die Gewißheit, daß Einheit
und Frieden ein nicht bloß notwendiges, sondern auch erreichbares Ziel sind. Die
Bahá’í wissen, daß Anstrengungen in Richtung auf diese Weltfriedensordnung,
allen Widerständen und Rückschlägen zum Trotz, nicht vergeblich sind:
»Einzelne, welche die im menschlichen Streben ruhende Kraft nicht kennen,
halten diesen Gedanken für völlig undurchführbar, ja für jenseits dessen,
was selbst die äußersten Anstrengungen des Menschen je erreichen können;
doch ist dies nicht der Fall. Im Gegenteil kann dank der unerschöpflichen Gnade
Gottes... nichts, was es auch sei, als unerreichbar angesehen werden. Eifer,
unermüdlicher Eifer ist nötig. Nur unbezähmbare Entschlußkraft kann das
Werk vollbringen... Der Tag wird sicher kommen, an dem ihr klares Licht
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Erleuchtung über die gesamte Menschheit gießen wird.«126)
Unter diesen Voraussetzungen sind bedeutende Friedensbeiträge auch durch den kontinuierlichen Ausbau der Beziehungen zwischen der Bahá’í-Gemeinde und den Vereinten Nationen zu leisten. Dies gilt für die direkte Zusammenarbeit der Bahá’í International Community mit den Führungsgremien der Vereinten Nationen, aber auch an der Basis, in den etwa 30000 Bahá’í-Gemeinden in aller Welt. Existenz und Erfahrungen der Bahá’í-Gemeinde als multikultureller Gemeinschaft könnten ebenfalls ihren Beitrag leisten. Das Universale Haus der Gerechtigkeit schreibt in seiner »Botschaft an die Völker der Welt« anläßlich des von den Vereinten Nationen proklamierten »Jahres des Friedens«: »Wenn die Erfahrungen der Bahá’í, in welchem Ausmaß auch immer, etwas dazu beitragen können, die Hoffnung auf Einheit des Menschengeschlechts zu stärken, schätzen wir uns glücklich, sie als Studienmodell anzubieten.«127) Die Überreichung dieser Botschaft an sämtliche Staatsoberhäupter der Welt, die breite Streuung des Aufrufs zum Geringeren Frieden, greift den historischen Appell Bahá’u’lláhs an die Könige und Herrscher der Welt und 'Abdu'l-Bahás Friedensmission am Vorabend des Ersten Weltkriegs wieder auf und entspricht dem Auftrag Bahá’u’lláhs an die »Männer des Hauses der Gerechtigkeit«, den »Geringeren Frieden zu fördern«.128) Mit dem wachsenden Gewicht der Bahá’í-Gemeinde kann diese Pflicht nachdrücklicher umgesetzt werden; auch hier greifen Lehrauftrag und Weltverantwortung ineinander, findet das Mühen um den Geringeren und den Größten Frieden zusammen.
Hoffnung, Sehnsucht und letztes Ziel bleibt der ewige, der Größte Frieden. Das seit alters verheißene Reich Gottes auf Erden verspricht, die Ursachen des Kriegs aufzuheben, verspricht Liebe zwischen den Menschen, den Frieden der Herzen. Hieran muß sich jeder erreichte Friedenszustand messen lassen; doch nicht als Vorwurf, nicht als Forderung an Gesellschaft und Mitmensch. Der Vorblick auf das Friedensreich sollte vielmehr Ansporn sein — zur eigenen Vervollkommnung, zu einem wachsenden Verständnis der Welt und der Ordnung Bahá’u’lláhs, zu einer immer besseren, sinnentsprechenderen Umsetzung Seiner Gebote für die Menschheit, zu umfassender Liebe: ein unendlicher Prozeß. Es ist Ausdruck dieser Liebe, daß zugleich der drohenden Gefahr der Selbstvernichtung der Menschheit wirksam begegnet wird, daß die materiellen Voraussetzungen geschaffen werden, das weltweite Unrecht, das sinnlose Leiden und Sterben zu begrenzen — durch Strukturen, die im göttlichen Heilsplan vorgesehen und darum möglich sind: durch den Geringeren Frieden. Solange dieser Frieden nicht realisiert ist, solange die Existenz der Menschheit weiter bedroht bleibt, gilt für jeden — ob Bahá’í oder nicht — der Appell ‘Abdu’l-Bahás: »In der Zwischenzeit müssen sich alle Menschen guten Willens darum bemühen, den Weltfrieden zum größten Anliegen zu machen.«130)
- 1) Der erste Teil dieses Beitrags ist in Bahá’í-Briefe 50, S. 128-160 abgedruckt.
- 2) Jesaja 11:6,7,9
- 3) Franz Alt, Frieden ist möglich. Die Politik der Bergpredigt, München 1983, S. 117
- 4) Jonathan Schell, Das Schicksal der Erde. Gefahr und Folgen eines Atomkriegs, München 21982, S.183. Damit soll weder die Notwendigkeit solcher Willensentscheidung überhaupt, noch Schells brilliante Analyse des Problems einzelstaatlicher Souveränität unter der nuklearen Bedrohung herabgesetzt werden.
- 5) Siehe dazu Peter Mühlschlegel, Der Fetisch Souveränität, Bahá’í-Briefe 47, 13. Jg. 1984, S. 15ff
- 6) 1. Petrus 4:1
- 7) Johannes 1:3
- 8) ‘Abdu’l-Bahá, Frieden 25:2 (S. 27)
- 9) Siehe dazu den ersten Teil dieses Beitrags in Bahá’í-Briefe 50
- 10) Qur’án 8:63
- 11) 'Abdu'l-Bahá, Promulgation, S. 125
- 12) Worte Bahá’u’lláhs, gerichtet an den britischen Orientalisten Edward Granville Browne bei dessen Besuch in Bahjí, 15. — 20. April 1890; zitiert in dessen Einleitung zu: A Travellers Narrative. Written to illustrate the Episode of the Báb, Cambridge 1891, S. xi
- 13) Offenbarung 21:4
- 14) Siehe Bahá’í-Briefe 50, S. 151-153
- 15) Ährenlese 119:3
- 16) Botschaften 6:31
- 17) Botschaften 8:54
- 18) Das Universale Haus der Gerechtigkeit, Weltfrieden, S. 19
- 19) 'Abdu'l-Bahá, Briefe 227:25
- 20) Im Original reconstruction, bezeichnet als historischer Fachterminus die Neuordnung der Vereinigten Staaten nach dem Sezessionskrieg.
- 21) Shoghi Effendi, Weltordnung, S. 70
- 22) Ährenlese 119:2
- 23) Ährenlese 119:4; vgl. 4:1
- 24) a.a.0.; vgl. Brief 56f (S. 42); Botschaften 7:19
- 25) Ährenlese 119:5
- 26) Ährenlese 120:1
- 27) Bahá’u’lláh, Ährenlese 117
- 28) Bahá’u’lláh, Ährenlese 117; Brief 56 (S. 41f)
- 29) Bahá’u’lláh, Botschaften 8:52
- 30) Bahá’u’lláh, Botschaften 8:53; 11:15; Ährenlese 110
- 31) Bahá’u’lláh, Ährenlese 117; Botschaften 3:6; 6:30; 7:20; 8:58; 11:9; 'Abdu'l-Bahá, Promulgation, S. 60
- 32) Bahá’u’lláh, Ährenlese 119:2
- 33) 'Abdu'l-Bahá in London, S. 106; Shoghi Effendi, Der verheißene Tag, S. 186
- 34) Shoghi Effendi, Der verheißene Tag, S. 186
- 35) Vgl. Bahá’u’lláh, Botschaften 6:27; 7:13; 11:13; Verkündigung, S. 5
- 36) Weltfrieden, S. 25
- 37) Bahá’u’lláh, Botschaften 8:63
- 38) Bahá’u’lláh, Botschaften 11:8; Ährenlese 111, 117; 'Abdu'l-Bahá, Promulgation, S. 317
- 39) Bahá’u’lláh, Botschaften 8:63
- 40) ‘Abdu’l-Bahá, Geheimnis, S. 63; zum Ganzen S. 62f
- 41) Geheimnis, S. 63; im Original ‘Aqd-i Anjuman-i Duwal-i Álam, »ein Bund der versammelten Staaten der Welt«
- 42) Weltordnung, S. 290; im Original world federal system, The World Order of Bahá’u’lláh, Wilmette 31974, S. 204
- 43) 'Abdu’l-Bahá, Promulgation, S. 167
- 44) Shoghi Effendi, Weltordnung, S. 66
- 45) Vgl. ‘Abdu’l-Bahá, Briefe 227:30
- 46) 'Abdu’l-Bahá, zitiert in Esslemont, Zeitalter, S. 194; vgl. Ansprachen, S. 124; Shoghi Effendi, Weltordnung, S. 66
- 47) 'Abdu’l-Bahá in London, S. 70
- 48) Shoghi Effendi, Weltordnung, S. 67
- 49) Vgl. Bahá’u’lláh, Ährenlese 117, 119:5; Botschaften 11:8; ‘Abdu’l-Bahá, Geheimnis, S. 63; Briefe 202:11
- 50) Vgl. Bahá’u’lláh, Ährenlese 118:2, 119:4; Botschaften 11:8; Brief 57 (S. 42); ‘Abdu’l-Bahá, Promulgation, S. 120; Geheimnis, S. 63f; ‘Abdu’l-Bahá, zitiert in Balyuzi, ‘Abdu’l-Bahá, Bd. 2, S. 754
- 51) ‘Abdu’l-Bahá, zitiert in Balyuzi, ‘Abdu’l-Bahá, Bd. 1, S. 357
- 52) ‘Abdu’l-Bahá, zitiert in Esslemont, Zeitalter, S. 195; siehe auch ‘Abdu’l-Bahá, zitiert in Balyuzi, ‘Abdu’l-Bahá, Bd. 1, S. 357; ‘Abdu’l-Bahá in Canada, Toronto 1962, S. 51
- 53) Brief 56 (S. 41)
- 54) Der bedrohte Friede, S. 157
- 55) Bahá’u’lláh, Ährenlese 110; vgl. Botschaften 8:63
- 56) Botschaften 8:53; 8:63
- 57) Weltfrieden, S. 14. Harry T. D. Rost sieht die Goldene Regel in seinem Buch »The Golden Rule. A Universal Ethic«, Oxford 1986, als gemeinsames religiöses Erbe und als Ausgangspunkt für einen Dialog unter den Religionen.
- 58) Botschaften 11:15
- 59) Es gibt einige Ansätze, diese gemeinsame Friedensverantwortung der Religionen aufzugreifen: Carl Friedrich von Weizsäcker hat im Sommer 1985 auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag zu einem christlichen Friedenskonzil aufgerufen. Dabei bemerkt er zu der Beschränkung auf ein ökumenisches Konzil der christlichen Kirchen: »Heute wird auch schon von einem Konzil der Weltreligionen geredet. Das wäre hochwichtig. Ich habe es nicht vorgeschlagen, weil es wohl historisch noch etwas verfrüht wäre, und weil die Zeit drängt.« Die Zeit vom 22. November 1985. Zur näheren Begründung siehe sein Buch »Die Zeit drängt. Eine Weltversammlung der Christen für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung« (München, 1986). Ein Beitrag von Hans Küng in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. Oktober 1984 ist überschrieben »Religionsfriede, Menschheitsfriede. Vom langsamen Erwachen eines globalen ökumenischen Bewußtseins«. Im Schlußkapitel seines Buches ›Christentum und Weltreligionen< (München 1984) stellt Küng fest: »Niemand wird heute ernsthaft bestreiten, wie sehr der Frieden in der Welt vom Frieden unter den Religionen abhängt.« (618) Und er ruft auf, die »religiös-ökumenische Mitverantwortung ernst zu nehmen für eine Befriedung unserer friedlos-zerrissenen Welt. Christen, Juden, Muslime, Hindus und Buddhisten sind hier gleichermaßen herausgefordert.« (620).
- 60) Bahá’u’lláh, Botschaften 6:20
- 61) Botschaften 6:26
- 62) Das Postulat der Gegenseitigkeit schließt eine vorgebliche, erzwungene Einheit aus. Inhaltlich wird dies auch in Botschaften 6:26 und vor allem 11:14 deutlich.
- 63) Botschaften 6:26; 7:6; 8:52; 11:11
- 64) Ährenlese 119:2
- 65) Gerade unter dem Aspekt der Weltverantwortung hat das Universale Haus der Gerechtigkeit die Bahá’í zu ernsthafter wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit den Lehren ihrer Religion aufgefordert; Brief vom 19. 1.1983, abgedruckt in: Frieden, S. 77
- 66) Das Gesellschaftsmodell von Bahá’u’lláh, Bahá’í-Briefe 39, 10. Jg. 1960, S. 1046
- 67) a.a.O., S. 1047
- 68) Briefe 79:2,3; 227:19
- 69) Vgl. Das Universale Haus der Gerechtigkeit, Weltfrieden, S. 22
- 70) ‘Abdu’l-Bahá, Geheimnis, 5. 14
- 71) Als ‘Abdu’l-Bahás Leben in akuter Gefahr war, pflanzte Er zum Erstaunen aller einen Baum und begründete dies mit den Worten: »Unsere Vorfahren haben gepflanzt, und wir haben die Früchte genossen. Es ist unsere Pflicht, für unsere Nachkommen dasselbe zu tun.« Zitiert bei Balyuzi, ‘Abdu’l-Bahá, Bd. 1, S. 179f
- 72) 1. Mose 2:15
- 73) Darunter verstehe ich alle weltanschaulichen Entwürfe — auch religiösen Ursprungs — mit dem Anspruch auf eine »richtige« Welterklärung und einer daraus resultierenden aggressiven politischen Handlungsforderung. Vgl. auch Bahá’í-Briefe 50, S. 142f. ‘Abdu’l-Bahá verwendet hier den Begriff des »Vorurteils«, vgl. Briefe 227:11-16
- 74) Weltordnung, S. 69
- 75) Weltfrieden, S. 21
- 76) Das Universale Haus der Gerechtigkeit, Weltfrieden, S. 24
- 77) 'Abdu’l-Bahá, Promulgation, S. 283f
- 78) Promulgation, S. 135
- 79) a.a.O., 134f, 175; Shoghi Effendi, in: Frauen 89
- 80) Weltfrieden, S. 24f
- 81) Zur Friedenserziehung siehe Hossain B. Danesh, Die gewaltlose Gesellschaft: ein Geschenk für unsere Kinder, in: Farzin Dustdar (Hg.), Das Modell des Friedens, Wien 1985; zur transkulturellen Verständigung Nossrat Peseschkian, Auf der Suche nach Sinn. Psychotherapie der kleinen Schritte, Frankfurt 1983
- 82) Botschaften 4:25
- 83) Die Atombombe, S. 351
- 84) a.a.O. Ganz in diesem Sinne verweist das Universale Haus der Gerechtigkeit auf eine ganze Reihe von »günstigen Zeichen« für Fortschritte auf dem Weg zum Frieden. Weltfrieden, S. 8, 35f
- 85) Vgl. dazu Bahá’í-Briefe 50, S. 138f
- 86) Diese Sichtweise wird von ‘Abdu’l-Bahá bestätigt: »In früheren Zeiten entwickelte sich ein Aggressionstrieb im Kampf mit wilden Tieren. Er ist nicht länger nötig...« ‘Abdu’l-Bahá in London, S. 20
- 87) Elias, Humana conditio, S. 28
- 88) a.a.O., S.66
- 89) ‘Abdu’l-Bahá spricht die Eigendynamik dieses Prozesses an, wenn Er in einem Interview mit dem Montreal Daily Star vom 11. September 1912 erklärte: »Es ist sinnlos, darauf zu hoffen, daß die Nationen in ihrem gegenwärtigen Wettrüsten nachlassen werden... Die Rüstung selbst führt schon den Krieg herbei...«
- 90) Das Universale Haus der Gerechtigkeit, Weltfrieden, S. 7
- 91) Der bedrohte Friede, S. 127
- 92) Die Atombombe, S. 65
- 93) So Jaspers, Ursprung, S. 190ff; vgl. Die Atombombe, S. 71; auch Weizsäcker, Der bedrohte Friede, S. 23ff, 209, und Wege in der Gefahr, S. 263
- 94) Jaspers, Ursprung, S. 193
- 95) Shoghi Effendi, Weltordnung, S. 66
- 96) a.a.O., S.67
- 97) Promulgation, S. 167
- 98) Briefe 227:31
- 99) Bahá’u’lláh, Botschaften 11:14
- 100) a.a.O.
- 101) Zitiert in: Shoghi Effendi, Weltordnung, S. 61
- 102) Weltordnung, S. 67f
- 103) Der Streit, S. 78
- 104) a.a.O., S. 83
- 105) a.a.O., S. 108
- 106) Das Universale Haus der Gerechtigkeit, Weltfrieden, S. 17
- 107) Weltordnung, S. 69
- 108) Promulgation, S. 167
- 109) Zitiert in: Shoghi Effendi, Weltordnung, S. 64. Shoghi Effendi bemerkt an anderer Stelle, daß die Reihenfolge der von ‘Abdu’l-Bahá genannten sieben »Lichtstrahlen der Einheit« nicht als vorgegeben betrachtet werden kann. Directives from the Guardian, New Delhi 1973, S. 67
- 110) Worte Bahá’u’lláhs, gerichtet an den britischen Orientalisten Edward Granville Browne bei dessen Besuch in Bahjí, 15. — 20. April 1890; zitiert in dessen Einleitung zu: A Travellers Narrative. Written to illustrate the Episode of the Báb, Cambridge 1891, S. xI; Reprint Amsterdam 1975
- 111) Für das Beispiel des Nationalstaats vgl. Denis MacEoin, The Concept of the Nation in Islam, in: World Order, Bd. 10, Summer 1976, S. 7-21
- 112) 'Abdu'l-Bahá, Promulgation, S. 394
- 113) 'Abdu'l-Bahá, Promulgation, S. 125
- 114) Siehe dazu Bahá’í-Briefe 50, S. 157-160
- 115) Aus einem Brief vom 31. Januar 1985 im Auftrag des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, Frieden, S. 79 (Nr. 76)
- 116) Aus einem Brief vom 19. Januar 1983 im Auftrag des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, Frieden, S.76f (Nr. 74)
- 117) Aus einem Brief im Auftrag Shoghi Effendis an ein Mitglied eines regionalen Lehrausschusses in Kanada, Bahá’í News, Nr. 10, Februar 1926, S.7
- 118) a.a.O.
- 119) Vgl. Frieden, S. 77 (Nr. 74); Den Glauben vertiefen. Aus den Schriften Bahá’u’lláhs, 'Abdu'l-Bahás und Shoghi Effendis zusammengestellt von der Forschungsabteilung des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, Hofheim-Langenhain 1984, Nr. 137, Nr. 152
- 120) Bahá’u’lláh, Ährenlese 106:1
- 121) Davon dienen 599 Projekte der Ausbildung und Erziehung, die übrigen der Gesundheitsfürsorge und der Land- und Forstwirtschaft.
- 122) Vgl. etwa Ährenlese 27:2, 90:1, 90:2, 109:1, 109:2, 161:5
- 123) 'Abdu'l-Bahá, Briefe 227:24
- 124) Vgl. Bahá’u’lláh, Ährenlese 122; siehe auch Claudia Gollmer, Grundlagen, bes. S. 102ff
- 125) Bahá’u’lláh, Ährenlese 99
- 126) 'Abdu'l-Bahá, Geheimnis, S. 64
- 127) Weltfrieden, S. 36
- 128) Botschaften 7:19
- 129) Siehe Bahá’í-Briefe 50, S. 157-160
- 130) Zitiert in Balyuzi, 'Abdu'l-Bahá, Bd. 1, S. 357
Literatur
zu beiden Teilen des Aufsatzes, Bahá’í-Briefe 50 und 52
Bahá’u’lláh, Ährenlese, Hofheim-Langenhain 31980
- Botschaften aus ‘Akká, Hofheim-Langenhain 1982
- Brief an den Sohn des Wolfes, Frankfurt 1966
- Das Buch der Gewißheit, Kitáb-i-Iqán, Frankfurt 21969
- Kalimát-i-Maknúnih, Verborgene Worte, zweisprachige Ausgabe, Hofheim-Langenhain 1983
- Die Verkündigung Bahá’u’lláhs. Aus Seinen Schriften gerichtet an die Könige und Herrscher der Welt, Frankfurt 1967
Der Báb, Selections from the Writings of The Báb, Haifa 1976
'Abdu'l-Bahá, Ansprachen in Paris, Hofheim-Langenhain 61983
- Kleine Auswahl aus Seinen Schriften, Hofheim-Langenhain 1980
- Beantwortete Fragen, Hofheim-Langenhain 41977
- Das Geheimnis göttlicher Kultur, Oberkalbach 1973
- Promulgation of Universal Peace, Wilmette 21982
- Selections from the Writings of 'Abdu'l-Bahá, Haifa 1978; eine deutsche Ausgabe unter dem Titel »Briefe und Botschaften: ist in Vorbereitung
- 'Abdu'l-Bahá in London, Addresses and Notes of Conversations, London 21982
Shoghi Effendi, Bahá’í Administration, Wilmette 1968
- Citadel of Faith, Messages to America 1947-1957, Wilmette 1970
- Gott geht vorüber, Hofheim-Langenhain 21974
- Das Kommen göttlicher Gerechtigkeit, Frankfurt 1969
- Messages to the Bahá’í World 1950—1957, Wilmette 21971
- Der verheißene Tag ist gekommen, Frankfurt 1967
- Die Weltordnung Bahá’u’lláhs, Hofheim-Langenhain 1977
Das Universale Haus der Gerechtigkeit,
- Die Verheißung des Weltfriedens, Hofheim-Langenhain 21985
Der Nationale Geistige Rat der Bahá’í in Deutschland (Hrsg.),
- Frieden, Eine Textauswahl aus den Schriften Bahá’u’lláhs, 'Abdu'l-Bahás und Shoghi Effendis, sowie Briefen des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, zusammengestellt von der Forschungsabteilung des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, Hofheim-Langenhain 1986
Hasan M. Balyuzi, ‘Abdu’l-Bahá, 2 Bde., Hofheim-Langenhain 1983/84
Werner Becker, Der Streit um den Frieden, München 1984
Norbert Elias,
- Humana conditio. Beobachtungen zur Entwicklung der Menschheit am 40. Jahrestag eines
Kriegsendes (8. Mai 1985), Frankfurt 1985
John E. Esslemont, Bahá’u’lláh und das neue Zeitalter, Hofheim-Langenhain 61976
Claudia Gollmer,
- Die metaphysischen und theologischen Grundlagen der Erziehungslehre der Bahá’í-Religion, MA-Arbeit am
Institut für Philosophie und Pädagogik der Universität Stuttgart, WS 1982/3
Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Frankfurt 21955
- Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, München 21961
Hermann Grossmann, Das Bündnis Gottes in der Offenbarungsreligion, HofheimLangenhain 31981
Udo Schaefer, Die Grundlagen der »Verwaltungsordnung« der Bahá’í, Diss. Heidelberg 1957
- Die mißverstandene Religion. Das Abendland und die nachbiblischen Religionen, Frankfurt 1968
- Der Bahá’í in der modernen Welt. Strukturen eines neuen Glaubens, Hofheim-Langenhain 21981
Dolf Sternberger, Die Politik und der Friede, Frankfurt 1986
J. Tyson, World Peace and World Government. From Vision to Reality, Oxford 1986
Carl Friedrich von Weizsäcker, Wege in der Gefahr, München 1976
- Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie, Frankfurt 21980
- Der bedrohte Friede, München 21983
Office of Public Information
ZUR FRAGE DER APARTHEID[Bearbeiten]
Die Prinzipien und Grundaussagen der Bahá’í-Religion sind in letzter Zeit bei verschiedenen Gelegenheiten Teil der öffentlichen Diskussion auch in der Bundesrepublik Deutschland geworden. Im von den Vereinten Nationen proklamierten „Internationalen Jahr des Friedens« 1986 setzten sich die Bahá’í in Dutzenden von Podiumsgesprächen, Symposien und Vortragsveranstaltungen für den Gedanken des Friedens und der Einheit der Menschheit ein. Dabei führten sie mit evangelischen und katholischen Theologen, Universitätsprofessoren und Politikern, darunter Mitgliedern des Deutschen Bundestags, oft fruchtbare Dialoge. Den Auftakt zu diesem verstärkten öffentlichen Engagement der Bahá’í-Gemeinde bildete ein Aufruf des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, der höchsten Führungsinstitution der Baha’i-Welt, anläßlich des internationalen Jahres des Friedens an die Völker der Welt. In diesem Aufruf wird der Rassismus »eines der verhängnisvollsten, hartnäckigsten Übel, ein Haupthindernis für den Frieden« genannt und weiter ausgeführt: »Wo er herrscht, wird die Menschenwürde zu schändlich verletzt, als daß es unter irgendeinem Vorwand gebilligt werden könnte. Der Rassismus hemmt die Entfaltung der unbegrenzten Möglichkeiten seiner Opfer, korrumpiert die Täter und vereitelt den menschlichen Fortschritt. Die Einheit der Menschheit, vollzogen durch geeignete rechtliche Maßnahmen, muß allgemein gültig anerkannt werden, wenn dieses Problem überwunden werden soll.« Die hier veröffentlichte Stellungnahme führt den Grundgedanken der Überwindung des Rassismus weiter aus. Verfaßt wurde sie von dem im Jahre 1984 vom Universalen Haus der Gerechtigkeit gegründeten Informationsbüro der Bahá’í International Community in Haifa.
Vor etwas mehr als einhundert Jahren erklärte Bahá’u’lláh, der Stifter der
Bahá’í-Religion, die Menschheit trete in ein neues Zeitalter ihrer Geschichte ein,
in welchem der immer rascher ablaufende Prozeß ihres Zusammenwachsens
der allgemeinen Erkenntnis zum Durchbruch verhelfe, daß die Menschheit nur
eine einzige Gattung, nur eine Spezies ist. Bahá’u’lláh rief die Völker der Welt
auf, diese grundlegende Wahrheit zu akzeptieren und alle Schranken der Rasse,
Nationalität und Kultur — die Hauptursachen der Kriege, die unsere Geschichte
seit je begleiten — zu beseitigen. Nach Bahá’u’lláh gibt es keine Möglichkeit für
einen Weltfrieden, solange das Grundprinzip der Einheit nicht anerkannt ist
und in der Gestaltung der Gesellschaft Anwendung findet.
Daher ist die Bahá’í-Weltgemeinde seit ihren Anfängen vor mehr als einem Jahrhundert
geprägt durch die Integration der zahlreichen sie konstituierenden religiösen,
rassischen, ethnischen, kulturellen, sprachlichen und nationalen Elemente.
Zur Ehe zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer und kultureller Abstammung,
insbesondere zwischen schwarzen und weißen Bahá’í, wird in den Bahá’íSchriften sehr
ermutigt. Um sicherzustellen, daß Angehörige solcher Gruppen, die in der
Gesellschaft diskriminiert werden, nicht auch bei der Mitwirkung am Gemeindeleben
behindert sind, enthalten die Bahá’í-Lehren administrative Grundsätze
zur Überwindung von Benachteiligungen aus sozialer Ungleichheit. Etwa in Fällen
der Stimmengleichheit bei einer Bahá’í-Gemeindewahl oder bei gleicher Qualifikation
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zweier Gläubiger für ein Amt wird grundsätzlich dem der Vorrang gegeben,
der einen benachteiligten oder unterdrückten Teil der Gesellschaft
repräsentiert.
Seit Anfang dieses Jahrhunderts sind die Bahá’í in Südafrika diesen Grundsätzen gefolgt. Nachdem die Apartheidsgesetze bei bestimmten örtlichen Vereinigungen, zu denen die gewählten Geistigen Räte der Bahá’í zählen, eine gemischtrassische Zusammensetzung untersagten, verzichteten die weißen Bahá’í auf das Recht, in diese Gremien gewählt zu werden, getreu dem Grundsatz, benachteiligten Bevölkerungsschichten den Vorzug zu geben. Mit Ausnahme dieser örtlichen entscheidungsbefugten Körperschaften, deren Mitgliedschaft ausdrücklich durch staatliches Recht eingeschränkt war, gab es bei Bahá’í-Zusammenkünften in Südafrika keine Rassenschranken. Diese Tatsache ist den Behörden wohlbekannt.
Neben ihrem Versuch, ein ermutigendes Beispiel für die Rassenintegration zu geben, hat sich die Bahá’í-Gemeinde in Südafrika mit Nachdruck darum bemüht, im einzelnen Bahá’í-Grundsätze wie die Einheit der Menschheit zu verankern und ihm ein Selbstwertgefühl und soziale Verantwortung einzuprägen. Parallel dazu wurde ein Programm durchgeführt, dessen Ziel es war, die Geistigen Räte in den Grundsätzen der Beratung und Problemlösung zu schulen. Die Ergebnisse dieser Bemühungen erfüllen die Bahá’í mit besonderem Stolz, da so den schwarzen Gläubigen die höchsten Ämter der Gemeinde durch Wahl oder Ernennung eröffnet wurden.
Dieser historische Hintergrund unterstreicht die Überzeugung der Bahá’í, daß es zur Lösung von Konfliktsituationen wie der in Südafrika der Kraft des Beispiels bedarf. Ein grundlegender Wandel im sozialen Verhalten wird am ehesten dann erreicht, wenn die entsprechenden geistigen und moralischen Grundsätze mutig vorgelebt werden und wenn Männer und Frauen guten Willens sehen können, wie andere sich erfolgreich bemühen, diesen Idealen in ihrem persönlichen Leben wie in der Gemeinschaft praktischen Ausdruck zu verleihen.
Das System der Apartheid verstößt gegen die Menschenwürde; es erweckt daher in den Menschen aller Nationen und Kulturen tiefempfundene Abscheu. Bahá’í teilen dieses Gefühl in besonderem Maße. Doch ist die daraus erwachsende moralische Herausforderung inzwischen zutiefst mit parteipolitischen Interessen vermengt. Diese Verflechtung ist so vollkommen, daß beide Aspekte des Konflikts nicht mehr voneinander getrennt werden können: Sozialer Protest aus moralischer Empörung hat den Charakter politischer Aktionen angenommen.
Unter der Voraussetzung des Freund-Feind-Verhältnisses, das die politischen Traditionen in aller Welt bestimmt, ist dies nur folgerichtig. Aber politische Aktionen ohne die Bedingung wirklicher Beratung, in der Parteiinteressen den Interessen des Ganzen untergeordnet werden, können für sich allein bei so ernsten Problemen, wie sie Südafrika erschüttern, keine dauerhafte Lösung bringen. Doch unabhängig davon, wie schwierig die Aufgabe und wie entmutigend die derzeitige Lage auch sei, jene Teile der südafrikanischen Bevölkerung, die in der völligen Integration die zentrale Aufgabe sehen, stehen vor der Herausforderung, durch gemeinsame Anstrengungen solche Bedingungen zu schaffen. Dies ist eine moralische Pflicht; sie ist so dringlich wie jede andere, die Menschen guten Willens motiviert, Südafrika von seiner schrecklichen Last zu befreien.
Die Bahá’í sind durch die Lehren ihres Glaubens gehalten, sich jeder parteipolitischen
Aktivität und jeder Beteiligung an Unruhen zu enthalten. Dies gilt unabhängig davon,
ob es sich um Reaktionen auf rassische Unterdrückung wie in Südafrika
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handelt oder ob sich der Widerstand gegen die verbreiteten Versuche wendet,
das Volk zu spalten und zu schwächen, sei es durch Verfolgung der Religion,
die Unterdrückung der Frau, oder die Verweigerung politischer Freiheit.
Schmerzliche Erfahrungen unter all diesen Bedingungen haben in den Bahá’í die
Gewißheit wachsen lassen, daß die Menschheit lernen kann, wie eine Familie
zu leben, und daß die Kräfte der Geschichte unsere Gattung heute rasch in
diese Richtung drängen. Der Druck dieser Gewalten ist unausweichlich; selbst
Südafrika wird schließlich darauf eingehen müssen. In welcher Art und wie
rasch dies geschieht, hängt ebensosehr von geistigen und moralischen
Bedingungen ab wie von ökonomischen und politischen.
- Vor Gott
- gibt es keine Weißen und Schwarzen.
- Alle Farben sind eins,
- sie alle sind
- die Farbe des Dienstes
- für Gott.
- ...
- Wichtig ist das Herz.
- Ist das Herz rein,
- so sind weder weiß, noch schwarz,
- noch eine andere Farbe
- von Bedeutung.
- Gott
- sieht nicht auf die Farbe;
- Er sieht auf das Herz.
- 'Abdu'l-Bahá
Promulgation, S. 44
BESPRECHUNG[Bearbeiten]
Gerda Sdun-Fallscheer: Jahre des Lebens, Die Geschichte einer Familie in Palästina um die Jahrhundertwende bis zum Zweiten Weltkrieg, J.F. Steinkopf Verlag, Stuttgart, 1985
Gerda Sdun-Fallscheer beschreibt in ihrem Buch das Leben ihrer Mutter, Dr. Josephine Fallscheer-Zürcher, einer Frau, die ein Leben des Dienstes und der Nächstenliebe führte und deren Liebe, Güte und Tatkraft all ihren Mitmenschen stets Hilfe, Trost und Beistand entgegenbrachte. Es ist eine ungewöhnliche Lebensgeschichte, die den Leser anregt, über das Leben und seinen Sinn nachzudenken und sein eigenes Leben geistig und zugleich praktisch auszurichten. Besonders interessant für den Bahá’í-Leser ist die Verbindung dieser bemerkenswerten Frau zur Bahá’í-Religion: Sie lebte sieben Jahre in der Kolonie der deutschen Templer am Berge Karmel in Haifa und war die Hausärztin der Familie ‘Abdu’l-Bahás; später in Deutschland hatte sie engen Kontakt zur Stuttgarter Bahá’í-Gemeinde.
Josephine Zürcher wurde am 1. Oktober 1866 in der Schweiz geboren, verlor als Zehnjährige ihren Vater und mußte wegen der schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse ihrer Mutter einige Jahre im Waisenhaus verbringen. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, Medizin zu studieren, um mit diesem Beruf den Menschen dienen zu können. Es gelang ihr als einer der ersten Frauen in der Schweiz Ende des letzten Jahrhunderts, dieses Studium erfolgreich abzuschließen. Ihr besonderes Interesse galt der Psychiatrie, und einer ihrer Lehrer war der berühmte Psychiater und Naturwissenschaftler Prof. August Forel, der sich später zur Bahá’í-Religion bekannte, eine Tatsache, die auch in diesem Buch Erwähnung findet.
In Berlin erfuhr Josephine Zürcher von den Massakern an den Armeniern in der Türkei, die unter diesem Volk unsägliches Leid verursacht hatten. Der Gründer der »Deutschen Orientmission«, Dr. Lepsius, sprach sie an, ob sie nicht als Ärztin in die Türkei gehen wolle, um dort den in großer Not lebenden Armeniern zu helfen. Sie war von dieser Idee sehr beeindruckt, kam sie doch ihrem Wunsche, leidenden Menschen zu helfen, geradezu entgegen. 1897 trat sie dann die Reise in den Orient an, wo sie in Urfa/Mesopotamien ihre erste Stelle als Missionsärztin antrat. Dort lernte sie auch ihren späteren Mann, Heinrich Fallscheer, kennen, der von der Missionsgesellschaft beauftragt war, ihr organisatorisch zur Seite zu stehen. Er war ein Sohn des beliebten deutschen Missionars Johann Christian Fallscheer, der in Nablus wirkte. Er war im Orient aufgewachsen, hatte in Deutschland das Lehramt studiert und war jetzt bei der Mission in Palästina tätig.
Nun folgte ein wechselvolles Leben in verschiedenen Städten des Orients, in Aleppo, Marasch, Haifa, Nablus und Jerusalem, wo Josephine Fallscheer-Zürcher als Ärztin praktizierte und Mensch und Tier ihre berufliche und private Hilfe angedeihen ließ. 1901 wurde in Aleppo ihre einzige Tochter Gerda, die Autorin des Buches, geboren.
Von 1905 bis 1912 lebte die Familie in der deutschen Templerkolonie am Fuße
[Seite 238]
- Der Berg Karmel mit der Templerkolonie und dem Grabmal des Báb.
des Berges Karmel in Haifa. Das war auch die Zeit, in der Dr. Fallscheer als Hausärztin ‘Abdu’l-Bahás und seiner Familie wirkte. Gerne besuchte sie diesen Haushalt und unterhielt sich mit 'Abdu'l-Bahá, den sie sehr verehrte, über religiös-philosophische Themen. Auch sammelte sie Aussprüche und Reden von ihm, die sie in späteren Jahren der Stuttgarter Bahá’í-Gemeinde zur Verfügung stellte. Der Kontakt zu ‘Abdu’l-Bahá blieb auch in späteren Jahren erhalten, als sie längst in Nablus und Jerusalem lebte. Die Autorin des Buches widmet ein ganzes Kapitel der Bahá’í-Religion, in dem sie einen Artikel ihrer Mutter über die »Bahá’í-Bewegung« aus dem Jahre 1929 zitiert.
In den folgenden Jahren erlebte die Familie Fallscheer die Auswirkungen des ersten Weltkrieges in Palästina, insbesondere durch den so nahen Sinai-Feldzug. Im März 1917 erhielt Heinrich Fallscheer als Auslandsdeutscher seinen Stellungsbefehl nach Eßlingen am Neckar. So nahm die Familie nun Abschied von ihrem geliebten Palästina und trat die beschwerliche Reise ins ferne Heimatland, durch die Türkei und den Balkan, an.
Der Zufall wollte es, daß sie 1919 eine Wohnung im Hause von Herrn und Frau Konsul Schwarz in Stuttgart bezogen, dem Hause, in dem 'Abdu'l-Bahá 1913 als Gast geweilt hatte. So entstand eine enge Beziehung zur Stuttgarter Bahá’í-Gemeinde.
1922 kehrte die Familie nach Palästina zurück, wo der Vater in der Templerkolonie
Bethlehem bei Nazareth die Schule übernahm. Danach lebten sie noch fünf
Jahre in Jerusalem, bevor sie im Jahre 1930 endgültig nach Deutschland
zurückkehrten. Wieder in Stuttgart,
[Seite 239]
schrieb Josephine Fallscheer in ihren letzten Jahren unter anderem ihre Erinnerungen
an ‘Abdu’l-Bahá nieder, die sie der Bahá’í-Gemeinde zur Verfügung stellte.
Am 10. Juli 1932 verließ sie diese Welt nach einem aufopfernden Leben
des tätigen Dienstes am Nächsten.
Dieses Buch ist in zweifacher Hinsicht für den Bahá’í-Leser faszinierend: Zum einen beschreibt es das Leben einer selbstlosen und tatkräftigen Frau, die trotz häufiger gesundheitlicher Schwäche immer bereit war, ihren Mitmenschen zu helfen, und die mehrmals im Leben so eng mit der Bahá’í-Religion in Berührung kam. Sie war eine protestantische Christin, jedoch immer offen, aufgeschlossen und tolerant gegenüber jeder anderen Religion, Kultur und Lebensweise und stellte den Glauben an Gott über jede Konfession.
Zum anderen beschreibt dieses Buch sehr anschaulich die Lebensverhältnisse und äußeren Gegebenheiten, die politischen und religiösen Umstände in Palästina zur Zeit ‘Abdu’l-Bahás und stellt somit eine fruchtbare Ergänzung zu den Schilderungen der Bahá’í-Geschichte dar. Dabei werden auch religiöse Minderheiten wie die Templer, die Drusen, die Samaritaner und die Armenier in ihrer Eigenart beschrieben, so daß der Leser sich ein Bild vom Völkergemisch im Heiligen Land machen kann. Auch erfährt er von Choleraepidemien, Heuschreckenplagen und Erdbebenkatastrophen jener Zeit. Es gelingt dem Leser geradezu, sich in diese Zeit zurückzuversetzen, besonders dann, wenn er dieses geschichtsträchtige und vielen Religionen heilige Land bereits selbst einmal besucht hat.
- Karl Türke jun.
- »Der Herr ist nahe«, Inschrift an einem Haus der Templerkolonie in Haifa.
Inhaltsübersicht[Bearbeiten]
Bahá’í-Briefe 47—52, Band 1 der Neuen Folge
- 13. Jahrgang 1984 bis 15. Jahrgang 1986
Jacques Chouleur, Der Bahá’í-Glaube: Weltreligion der Zukunft . . . . . . . 4
Peter Mühlschlegel, Der Fetisch Souveränität . . . . . . . 15
Christopher Sprung, Bahá’í-Haus der Andacht 1964—1984 . . . . . . . 21
Friedo Zölzer, 140 Jahre Bedrängnis. Ein Abriß der Bahá’í-Geschichte im Iran . . . . . . . 35
Amin Banani, Die Bahá’í im Iran — Religion oder Komplott der Kolonialmächte? . . . . . . . 48
Sohrab Faridani, Standhaft in Gottes Namen . . . . . . .59
Ervin Laszlo, Weltgesellschaft im Wandel: Eine Herausforderung zum Handeln . . . . . . . 76
Ingo Hofmann, Frieden ist mehr als keine Waffen . . . . . . . 89
Badi Panahi, Vorurteile und Weltfrieden . . . . . . . 101
Huschmand Sabet, Frieden, Frucht der Einheit . . . . . . . 108
Adelbert Mühlschlegel, Die Einheit Gottes und Seiner Propheten . . . . . . . 118
Alessandro Bausani, Frieden, Fortschritt und politische Ethik . . . . . . . 123
Ulrich Gollmer, Der lange Weg zum Größten Frieden . . . . . . . 128
Foad Kazemzadeh, Die Notwendigkeit einer neuen Gesellschaftsordnung . . . . . . . 162
Kent Beveridge, Professor Edward Granville Browne . . . . . . . 169
Peter Khan, Wie einst die Verfolgung der Christen . . . . . . . 183
Christopher Sprung, Zur Lage der Bahá’í im Iran . . . . . . . 190
Daniel Jordan, Erkennen, Wollen, Handeln . . . . . . . 199
Ulrich Gollmer, Der Friede vor dem Frieden . . . . . . . 207
Office of Public Information, Zur Frage der Apartheid . . . . . . . 234
Besprechungen
Zur Darstellung der Bahá’í-Religion in: Taschenlexikon Religion und Theologie (TRT)und Theologische Realenzyklopädie (TRE) (Ulrich Gollmer) . . . . . . . 29
Christine Hakim: Die Bahá’í — oder der Sieg über die Gewalt (Peter Spiegel) . . . . . . . 65
Juan R. Cole: Imami Jurisprudence and the Role of the Ulama (Ulrich Gollmer) . . . . . . . 66
Internationale Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung (Adolf Kärcher) . . . . . . . 71
Serge Moscovici: Sozialer Wandel durch Minoritäten (Foad Kazemzadeh) . . . . . . . 113
Die Bahá’í im Iran. Dokumentation der Verfolgung einer religiösen Minderheit (Karl Türke jun.) . . . . . . . 195
Gerda Sdun-Fallscheer: Jahre des Lebens (Karl Türke jun.) . . . . . . . 237
Illustrationen
Das Haus der Andacht im Bau (Archivbilder) . . . . . . . 24
Bazare in Persien (Archivbilder) . . . . . . . 47,58
David S. Ruhe, Stufen zum Haus Bahá’u’lláhs in Mazra'ih . . . . . . . 74
David S. Ruhe, Maulbeerfeigenbaum auf dem Weg zum Schrein Bahá’u’lláhs in Bahjí . . . . . . . 175
David S. Ruhe, Das Haus im Garten Riḍván . . . . . . . 198
David S. Ruhe, Das Seetor in ‘Akká . . . . . . . 206
Houshang Sayhoon, Herbstliche Allee . . . . . . . 222
David S. Ruhe, Blick auf das Grabmal des Báb am Berg Karmel . . . . . . . 238
David S. Ruhe, Haus in der Templerkolonie Haifa . . . . . . . 239