- BAHÁ'Í-BRIEFE
HEFT 49 14. JAHRGANG MAI 1985
- ERVIN LASZIO
- WELTGESELLSCHAFT IM WANDEL: EINE HERAUSFORDERUNG ZUM HANDELN
- INGO HOFMANN
- FRIEDEN IST MEHR ALS KEINE WAFFEN
- BADI PANAHI
- VORURTEILE UND WELTFRIEDEN
- HUSCHMAND SABET
- FRIEDEN, FRUCHT DER EINHEIT
- BESPRECHUNGEN UND HINWEISE
Die Bahá’í-Briefe wollen eine intensive Auseinandersetzung mit den Lehren und der Geschichte der Bahá’í-Religion fördern und zu einem Dialog mit allen beitragen, die sich auf der Grundlage zeitgemäßen religiösen Denkens aufrichtig um die Lösung der Weltprobleme mühen.
BAHÁ'Í-BRIEFE
Heft 49, Mai 1985
14. Jahrgang
- Inhalt
- 'Abdu'l-Bahá
- Frieden ist eine Frucht der ewigen Gnade 75
- Ervin Laszlo
- Weltgesellschaft im Wandel: Eine Herausforderung zum Handeln 76
- Ingo Hofmann
- Frieden ist mehr als keine Waffen 89
- Badi Panahi
- Vorurteile und Weltfrieden 101
- Huschmand Sabet
- Frieden, Frucht der Einheit 108
- Besprechungen und Hinweise 113
Herausgeber: Der Nationale Geistige Rat der Bahá’í in Deutschland e.V., Hofheim-Langenhain. Redaktion: Dr. Klaus Franken, Ulrich Gollmer, Christopher Sprung. Redaktionsanschrift: Bahá’í-Briefe, Redaktion, Eppsteiner Straße 89, D-6238 Hofheim-6. Namentlich gezeichnete Beiträge stellen nicht notwendig die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers dar. Die Bahá’í-Briefe erscheinen halbjährlich. Abonnementpreis für vier Ausgaben 20,- DM. Einzelpreis 6,- DM. Vertrieb und Bestellungen: Bahá’í-Verlag, Eppsteiner Straße 89, D-6238 Hofheim-6.
© Bahá’í-Verlag GmbH. ISSN 0005-3945
Vor vierzig Jahren, am 8. Mai 1945, kapitulierte die deutsche Wehrmacht. Eine aggressive Übersteigerung nationalen Denkens und nationaler Machtpolitik, das gewaltsame Aufbäumen gegen den historisch notwendigen Übergang vom Nationalismus zum Universalismus, war gescheitert. Vielleicht gerade noch rechtzeitig, um Europa die furchtbare Erfahrung einer weiteren Eskalationsstufe technischer Kriegführung zu ersparen. Gleichwohl wurde die Welt in diesen vierzig Jahren Zeuge von etwa 130 Kriegen mit insgesamt über 50 Millionen Toten.
Aber der Atavismus nationalstaatlicher Ordnung und traditioneller Macht- und Interessenpolitik hat viele Gesichter: Ideologische Verhärtungen und Fanatismen unterschiedlichster Herkunft und Zielrichtung vergiften das Denken, terroristische Regime sind eine Gefahr für die eigene Bevölkerung und für den Frieden; eine desolate Weltwirtschaft, Überbevölkerung, Hunger und die zunehmende Zerstörung der Lebensgrundlagen bilden zusammen eine fast ebenso große Bedrohung der Menschheit wie die Hybris der Überrüstung. Es steht zu wünschen, daß Machtverlust, Leiderfahrung und das problematische Verhältnis zur eigenen Geschichte die Menschen und Machtträger dieses geteilten Landes besonders für die Warnzeichen der Strukturkrise des Nationalstaats sensibilisiert haben, daß sie darum bereit sind, mit Geduld und Hartnäckigkeit für internationale Lösungen und damit für einen gesicherteren Frieden zu optieren.
Die Vereinten Nationen — trotz aller Mängel und Beschränkungen realer Hoffnungsträger einer neuen Qualität der Weltpolitik — haben das Jahr 1986 zum Jahr des Friedens proklamiert. Frieden, das »ist mehr als keine Waffen«, mehr als Abrüstung und Nicht-Krieg. Mit dem Frieden notwendig verbunden sind in unserer Epoche alle Aspekte des Übergangs vom Nationalstaat zu einer alle Staaten umfassenden föderativen Weltordnung. Die Beiträge dieses Hefts und weitere in den folgenden Nummern sind im Vorblick auf dieses bedeutsame Jahr ausgewählt.
- Die Redaktion
O du, die Gottes Liebe mitreißt! Die Sonne der Wahrheit ist über dem Horizont dieser Welt aufgegangen und wirft ihre Lichtstrahlen der Führung hernieder. Die ewige Gnade wird nie unterbrochen, und eine Frucht dieser ewigen Gnade ist der Weltfrieden. Sei deshalb gewiß: In diesem Zeitalter des Geistes wird das Reich des Friedens sein Tabernakel auf den Gipfeln der Welt errichten. Die Gebote des Friedefürsten werden jedes Volk so durchdringen und durchpulsen, daß sie alle Nationen auf Erden in Seinen schützenden Schatten ziehen. An den Quellen der Liebe, der Wahrheit und der Einheit wird der wahre Hirte Seine Schafe tränken.
O du Dienerin Gottes! Der Friede muß zuerst unter den einzelnen Menschen gestiftet werden, bis er schließlich zum Frieden unter den Nationen führt. O ihr Bahá’í! Strebt deshalb mit ganzer Kraft danach, durch die Macht des Gotteswortes echte Liebe, geistige Gemeinschaft und dauerhafte Bande zwischen den Menschen zu schaffen. Das ist eure Aufgabe.
- 'Abdu'l-Bahá
Selections from the Writings of 'Abdu'l-Bahá, Haifa 1978, 201:1-2. Deutsche Ausgabe »’Abdu’l-Bahá,
Briefe und Botschaften« in Vorbereitung.
Ervin Laszlo
WELTGESELLSCHAFT IM WANDEL: EINE HERAUSFORDERUNG ZUM HANDELN[Bearbeiten]
- Vortrag, gehalten bei der 8. Jahreskonferenz der Association for Bahá’í Studies (Gesellschaft für Bahá’í-Studien), 4. - 7. November 1983, Palmer House, Chicago. Dr. Ervin Laszlo ist Direktor des Programms für regionale und interregionale Kooperation beim Ausbildungs- und Forschungsinstitut der Vereinten Nationen (UNITAR). Die Übersetzung aus dem Englischen besorgten Cornelia Meseke und Gudrun Pallaske.
Ich danke Ihnen, Professor Eyford, und der Gesellschaft für Bahá’í-Studien, daß
Sie mich hierher eingeladen haben. Ich muß sagen, meine Bekanntschaft mit
der Bahá’í-Gemeinde war bislang nur flüchtig. Sie erfolgte durch meine Arbeit
bei den Vereinten Nationen, wo wir, wie Sie wissen, ein sehr aktives und
angesehenes Verbindungsbüro haben, und ich hatte die Gelegenheit und Ehre,
an einigen Bahá’í-Versammlungen bei den Vereinten Nationen teilzunehmen.
Aber schon durch diese kurze Bekanntschaft ist mir klar geworden, daß die Ziele, die Sie haben und verfolgen, außerordentlich mit den Idealen und Träumen harmonieren, die ich habe, und so fühle ich mich bei Ihnen weniger allein. Die Menschen in internationalen Kreisen bleiben oft am Status quo kleben, versuchen hartnäckig, das Bestehende zu bewahren, haben Angst, nach vorn zu sehen; und sogar wenn sie nach vorn blicken, geben sie vor, alles sei in Ordnung.
Und doch ist längst nicht alles in Ordnung, und es gibt eine Menge, was wir tun können — und ich denke, daß Ihre Gemeinschaft weltweit zu den wenigen Gruppen gehört, die die positiven Aspekte repräsentieren, welche uns von einem Zeitalter ins nächste helfen können.
Ich kann allerdings nicht so tun, als könnte ich, was ich meine, in Ihr Gedankengebäude übertragen; ich weiß nicht genug davon. Trotzdem möchte ich mit einigen Textstellen beginnen, die mir auffielen, weil sie besonderen Bezug zu den Anliegen haben, die mir sehr am Herzen liegen und die ich Ihnen mitteilen will. Und so möchte ich Ihnen zuerst einfach einige Textstellen vorlesen, die Sie sicherlich auswendig können — aber ich möchte gleichsam als Vorwort an sie erinnern, als einen globalen Rahmen für das, was ich sagen möchte.
Die folgende Darstellung steht in dem Faltblatt, das mit Ihrer Anmeldebestätigung kam, und ich will einfach ein paar Sätze daraus vorlesen. Es wird über das Prinzip der Einheit gesprochen, und es heißt, daß dieses Prinzip der Einheit »eine organische, strukturelle Veränderung der heutigen Gesellschaft« verlangt, »eine Veränderung, wie sie die Welt noch nicht erlebt hat«.
Dieser Wandel wird »die Vollendung der menschlichen Entwicklung« genannt,
»einer Entwicklung, die ihren Uranfang in der Geburt des Familienlebens
hat, deren weitere Entfaltung zur Stammeseinheit und zur Bildung des
Stadtstaates führte, und die sich später zur Bildung unabhängiger, souveräner
Nationen erweiterte«. Dieser Prozeß ist
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»nicht nur notwendig, sondern unumgänglich«, und »seine Verwirklichung«
nähert sich »rasch«.1)
Diese ... Gedanken haben mich tief berührt. Lassen Sie mich dieses durch ein Zitat ergänzen, das ebenso von Shoghi Effendi stammt und das in der Monographie von Dr. Danesh über »Die gewaltlose Gesellschaft«2) angeführt ist. Er zitiert Shoghi Effendi, und lassen Sie mich Ihnen einfach auch diese beiden Sätze vorlesen:
»Die langen Zeiten der Kindheit und der Minderjährigkeit, welche die Menschheit zu durchschreiten hatte, sind in den Hintergrund getreten. Die Menschheit erlebt jetzt die Erregungen, die unabänderlich mit der stürmischsten Stufe ihrer Entwicklung, dem Jünglingsalter, verbunden sind. In dieser Zeit erreichen jugendliche Unbändigkeit und Heftigkeit den Höhepunkt; sie müssen Schritt für Schritt von der Ruhe, der Weisheit und der Vollendung abgelöst werden, welche die Stufe des Mannesalters kennzeichnen.«3)
Es ist mein Traum und meine Hoffnung, daß wir für dieses Alter der Reife wirken und es schließlich erreichen können, diese Stufe der Menschlichkeit, welche ruhig und friedvoll sein und alle Völker der Erde in einer weltweiten Familie vereinen wird. Und ich möchte, und davon soll meine Rede eigentlich handeln, die Aussage in diesem bemerkenswerten Satz unterstreichen, daß wir im Augenblick »die stürmischste Stufe« der menschlichen Entwicklung durchlaufen. Das ist wahr, und ich fürchte, es wird in den nächsten zehn oder fünfzehn Jahren immer zutreffender werden.
Alle Daten und Belege in internationalen Dokumenten, alle Pläne, alle Strategien, die ich in den Vereinten Nationen und außerhalb gesehen habe, drängen mir die Schlußfolgerung auf, daß das gegenwärtige System — und ich spreche über das internationale sozioökonomische, technische, industrielle System — auf eine Krise zusteuert, auf eine Wasserscheide, und daß es kein Zurück gibt. Aber ich will nicht den Weltuntergang predigen. Wenn ich dies sage, dann meine ich nicht, dies sei das Ende der Straße. Was ich sagen will, ist, daß es das Ende eines Zeitalters ist — und ich hoffe, es ist das Ende des Zeitalters der Adoleszenz und es möge der Anfang des Zeitalters der Reife sein. Aber dafür müssen wir handeln, müssen wir schon jetzt handeln, denn wenn es ein Wort gibt, über das ich sprechen möchte, dann ist es dies eine Wort »unumgänglich«, das unvermeidbare Erreichen der nächsten Stufe.
Vielleicht waren, als diese Worte geschrieben wurden, die entsetzlichen Gewalten, die die Menschheit freigesetzt hat, noch nicht bekannt, konnten nicht bekannt sein. Es konnte nicht bekannt sein, daß wir jetzt uns und alle Lebewesen auf Erden durch das Drücken von ein paar Knöpfen umbringen können. Es war nicht bekannt, daß wir jetzt praktisch die Lebenserhaltungssysteme der Erde, dieses Planeten, der unser Zuhause ist, zerstören können.
Und so möchte ich Ihnen eindringlich sagen, daß Sie nicht blind an das Heraufkommen des nächsten Zeitalters glauben möchten, sondern daß Sie dafür arbeiten müssen. Denn es gibt eine Alternative, eine furchtbare Alternative: daß wir es nicht schaffen werden.
Ich möchte Ihnen zeigen, was wir eventuell erwarten können, wenn wir
uns auf die 90er Jahre zu und in sie hinein bewegen, welche Entscheidungen
wir treffen müssen, welche Perspektiven
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wir haben werden — denn wir gehen nicht auf eine prädeterminierte Epoche
zu. Wir sind nicht festgelegt, weder in der einen noch in der anderen
Richtung. Ich glaube, wir haben noch Entscheidungsmöglichkeiten, und es wird
zunehmend an uns liegen, die Entscheidungen zu treffen. Das ist mein
Hauptanliegen. Es wird möglich sein, die Entscheidungen zu der Zeit zu treffen, wo
das gegenwärtige System, dieses Zeitalter der Adoleszenz, um uns herum zerfällt;
und ich glaube, es wird zerfallen.
Die Tatsache, daß wir mitten in einer Krise eine Wahlmöglichkeit haben, ist kein vager Verdacht, sie ist jetzt eine gut dokumentierte, anerkannte wissenschaftliche Einsicht, die sich auf die Biologie, auf physikalische und chemische Systeme und auf die Evolution des Universums als Ganzem stützt.
Ich will Ihnen hier nicht einen Vortrag über die Theorien von Wandel und Evolution halten, sondern Sie lediglich an ein paar Dinge erinnern. Die Vorstellung, daß Evolution sich langsam und allmählich vollzieht, ist im großen und ganzen aufgegeben worden, sogar in den Bio-Wissenschaften. Erst kürzlich — so ungefähr 1980 — kam man darauf, daß man in dieser Hinsicht umdenken muß. Die Vorstellung, daß die Natur keine Sprünge macht — was ja eine Hauptthese Darwins war — können wir in den Schornstein schreiben.
Jetzt sprechen wir von »akzentuiertem Equilibrium« oder von sprunghaften Versionen der darwinistischen These. Mit anderen Worten: man sagt heute, daß Evolution dann stattfindet — Makro-Evolution, die Schöpfung einer neuen Spezies, und auch in der Gesellschaft spricht man in gewissem Sinne von der Schöpfung einer neuen Spezies —, wenn die existierende, dominante Spezies die Anpassung nicht mehr leisten kann; und dann kann eine kleine, bis dahin sozusagen latent vorhandene oder am Rande existierende Spezies ganz plötzlich auftauchen, sich ausbreiten und an die Stelle der alten treten. Stellen Sie mal die Analogie her. Stellen Sie die Analogie sogar zur Bahá’í-Gruppe her.
Es wird eine Zeit kommen, und ich bin davon überzeugt, es wird noch vor dem Ende dieses Jahrhunderts sein, wo die dominanten Systeme, die Institutionen von heute, zerfallen werden, wo diejenigen Randbewegungen, die heute unterdrückt und verfolgt werden, zum Zuge kommen. Und wir müssen hoffen, daß solche Bewegungen wie die Ihre bedeutend werden, und nicht unmenschliche, diktatorische, terroristische Bewegungen — und deshalb müssen wir uns heute schon darauf vorbereiten.
Aus einem anderen Blickwinkel, dem der Systemtheorie, — der Tagungsvorsitzende hat ja erwähnt, daß ich auf diesem Gebiet interessiert bin und eine Reihe Bücher darüber geschrieben habe — sind wir ebenfalls zum Schluß gekommen, daß kein System sich entwickelt, ohne eine sogenannte Fluktuation, eine sehr bedeutende Fluktuation, manchmal auch Mega-Fluktuation genannt. Diese Fluktuation, welche entweder der Umwelt entstammt oder vom System selbst erzeugt wird, muß die vorhandenen korrektiven, selbststabilisierenden Mechanismen dieses Systems destabilisieren, so daß das System dann in einen neuen Zustand übergehen kann, in eine andere Art der Existenz, in ein sogenanntes neues dynamisches System.
Ich will dies — wie schon gesagt — nicht weiter ausführen ... Aber Beweise dafür, daß dies im Universum überall geschieht, daß dies im Laboratorium reproduziert werden kann, mehren sich. Seit Mitte der 70er Jahre hat dies ein Laborversuch nach dem anderen bestätigt. In den späten 70er Jahren wurde für diese Entdeckung ein Nobelpreis verliehen.
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Unser Denken über die Struktur des Wandels verändert sich. Wandel vollzieht
sich nicht reibungslos, nicht schrittweise. Er geschieht plötzlich, er
bewegt sich durch Krisen, er kann in die Katastrophe führen, aber er kann uns
auch auf die nächste Ebene heben, auf die nächste Stufe der Evolution. Und
wir müssen darauf hoffen, daß Wandel, bezogen auf die menschliche Gesellschaft,
nicht die Form einer Katastrophe annimmt, sondern uns auf jene nächste
Ebene hebt, die die Reife unserer Spezies darstellt.
Lassen Sie mich von einem etwas mehr empirischen Aspekt sprechen. Ich möchte Ihnen sagen, warum ich glaube, daß wir uns einer solchen Wasserscheide nähern. Wir haben in dieser Epoche, in diesem Jahrhundert Perioden des Kriegs und Perioden des finanziellen Zusammenbruchs erlebt — aber auch Epochen des Fortschritts, der Kooperation und der Stabilität. Wenn wir jedoch Bilanz ziehen müßten, dann würden wir merken, daß die Krisenperioden schneller aufeinander folgen, daß die Instabilität wächst, und wenn diese Tendenzen anhalten, erreichen wir möglicherweise einen Punkt, der keine Umkehr mehr erlaubt.
Vielleicht kommt eine Serie untereinander verbundener Krisen, in der ein Ereignis das nächste auslöst, und deren Ausbrechen kein Marshallplan, keine Apollo-Mission, keine von den gegenwärtigen administrativen oder politischen Systemen unternommene Anstrengung verhindern kann. Die Risiken sind jetzt natürlich größer denn je. Wir haben jetzt ungefähr 4,5 Milliarden Menschen; um 1990 werden es 5 Milliarden sein; im Jahr 2000 müßten es entsprechend Hochrechnungen der Vereinten Nationen 6,5 Milliarden Menschen sein. Augenblicklich machen wir uns Sorgen über den zusätzlichen Druck, der von diesen Menschen in einer tribalistisch orientierten Weltgesellschaft ausgeht — und damit meine ich Nationalstaaten, die nach innen sehen, die an ihrer Souveränität festhalten, als sei sie gottgewollt, als ob nichts anderes existiere, die von gegenseitiger Abhängigkeit reden, aber ihre Nachbarn fürchten, und die nur darum miteinander in Beziehung zu kommen trachten, um für sich selbst Vorteile herauszuschlagen — und wir sind besorgt darüber, daß wir uns in dieser Epoche plötzlich in der Situation eines Zusammenbruchs wiederfinden könnten.
Wir hören, daß dies zu einem Krieg führen würde, zu einer Konfrontation, in der Atomwaffen eingesetzt werden könnten. Das ist eine Möglichkeit; aber ich möchte Ihnen gegenüber betonen — obwohl das sehr ketzerisch klingen mag — daß, verfallen wir in übertriebenem Maße der Faszination, die von dem nuklearen Gespenst ausgeht, diese uns fast ... und ich gebrauche dieses »fast« im klinischen Sinne ... blind machen kann gegenüber einem anderen Faktor: Wenn wir uns nicht gegenseitig umbringen, wird uns die Fortschreibung der gegenwärtigen Tendenzen in den Zusammenbruch führen.
Es genügt nicht, die Atomwaffen abzuschaffen. Wir müssen diesen Schritt natürlich tun, denn das Vorhandensein nuklearer Waffen bedeutet in dieser Epoche eine allgegenwärtige Gefahr, es wird auch auf der nächsten Ebene der Zivilisation eine Gefahr bleiben. Aber wir dürfen uns von der Furcht vor dem nuklearen Blitz nicht derart blenden lassen, daß wir die Tendenzen, die Makro-Tendenzen, die Weltproblematik, aus dem Blick verlieren, die uns geradewegs in eine Situation führen, deren Herr zu werden schwer sein wird — die wir, wie ich meine, nicht mit unseren jetzigen Institutionen werden bewältigen können.
Oberflächlich betrachtet — lassen Sie mich nun etwas in die Zukunft
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blicken — werden die 90er Jahre, wie ich meine, eine Zeit steigender Spannungen
und sich selbst verstärkender Krisen sein. Diese Krisen werden soziale Unruhen
mit sich bringen, Staatsstreiche und alles, was dazugehört. Das wird sich
ereignen, trotz der Zusicherung unserer Ökonomen, ... daß alle
diese Schwankungen ihrer Natur nach vorübergehend sind und sich selbst korrigieren,
daß wir lediglich den Markt wirken lassen müssen, und daß er sich dann schon
aller unserer Probleme annehmen wird.
Das ist in der Tat eine der gefährlichsten Überzeugungen, denn sie lädt zu Untätigkeit ein. Sie besagt: »Laß die Dinge laufen, wie sie laufen, sie werden sich schon selber regeln«. Und Zeichen einer wirtschaftlichen Erholung können in uns die falsche Illusion wecken, daß alles in Ordnung ist. Aber sehen Sie sich das weltweite Bild an; die Dinge sind weit davon entfernt, in Ordnung zu sein.
Wir werden in den letzten 25 Jahren dieses Jahrhunderts ungefähr 2,23 Milliarden Menschen mehr haben — fast zwei und eine viertel Milliarde neuer Menschen — das ist die Zuwachsrate der menschlichen Bevölkerung. Nach allen Hochrechnungen ist dies die größte Zuwachsrate, die die Menschheit je erlebt hat, und möglicherweise die größte, die sie je erleben wird.
Später, selbst wenn wir uns nicht gegenseitig umbringen und selbst wenn wir das gegenwärtige System aufrechterhalten können, wäre im Jahre 2000 bis 2025 die nächste Zuwachsrate kleiner, weil es dann nicht so viele junge Leute gäbe. Die Altersverteilung wäre anders.
Diese Menschen kommen in den ärmeren Gegenden auf die Welt. Bis zum Jahr 2000 werden, wenn die gegenwärtigen Trends anhalten, über 80 % der Bevölkerung in dem Teil der Welt leben, den wir ... heute die Dritte Welt nennen. Das schnellste Bevölkerungswachstum vollzieht sich in den ärmsten Gebieten. Diese würden eine Kapitalinfusion brauchen, eine Infusion an Bildung und Fertigkeiten, die Schaffung einer Infrastruktur und neue Arbeitsmöglichkeiten von ungeheurer Größenordnung.
Wir wissen, was nottut. Zum Beispiel besagen die letzten Berechnungen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, daß wir die Investitionen in die Nahrungsmittelproduktion in den Entwicklungsländern verfünffachen müßten. Ähnliches gilt, wenn man über Gesundheit spricht, über Arbeit, über die Verteilung der industriellen Produktion usw.
Es gibt kein Anzeichen, daß dies geschehen kann. Tatsächlich hat die
Nahrungsmittelproduktion pro Kopf während des letzten Jahrzehnts in Afrika um
10 % abgenommen. Sie nimmt auch in vielen Ländern in Asien und Lateinamerika
ab, wo immer mehr Länder von Nahrungsmitteleinfuhren abhängig
werden. Und wenn dies geschieht, werden sie von zweierlei abhängig: von der
Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln und von dem Geld, mit dem man diese
kaufen kann. Beides wird es in den kommenden Jahren nicht geben können.
Warum? Zuerst einmal steigt die Verschuldung für die betroffenen Länder,
so daß sie kein Kapital haben werden. Sie haben jetzt schon kein Kapital; es
könnte reihenweise Staatsbankrotte geben. Zweitens ist die Menge der
Nahrungsmittel, die auf den Weltmärkten umgeschlagen werden kann, im
Abnehmen begriffen. Die neuesten Hochrechnungen, welche erst bei einem
Treffen des Club of Rome vor mehr als einem Monat in Budapest in einigen
hochqualifizierten, professionellen Computerstudien über die Agrarwirtschaft
der USA ans Licht kamen, zeigen, daß die USA im Jahr 2000 keine Nahrungsmittel
mehr für den Export haben werden. Dem liegen wieder eine Reihe von Ursachen
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zugrunde: der Preis für Energie, das Unbrauchbarwerden von ertragreichem Land,
die Erosion der Ackerkrume, der steigende Bedarf an Kunstdünger, an
Mechanisierung usw.
Es ist ziemlich wahrscheinlich, daß wir um die Jahrhundertwende nicht in der Lage sein werden, sechs und eine halbe Milliarde Menschen zu ernähren. Und das ist nur einer der vielen Aspekte des Problems. Lassen Sie mich Ihnen kurz ausmalen, wie die Dinge sich entwickeln könnten. Ich hoffe, sie tun es nicht; auf der anderen Seite hoffe ich in gewissem Sinne auf eine Art Zusammenbruch, denn ich sehe keine Möglichkeit, eine neue, eine bessere Welt zu schaffen, wenn nicht die gegenwärtigen Institutionen einen derartigen Zerfall erleiden. Ich glaube nicht, daß man eine neue Welt bauen kann, bevor die alte verschwunden ist.
Lassen Sie mich Ihnen jetzt dieses knappe Szenario entwickeln: Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in den späten 80er Jahren. Sie sehen, daß eine Reihe von lateinamerikanischen Staaten — sagen wir Brasilien, Argentinien, Chile, Mexiko, Venezuela — ihre Schulden nicht mehr zurückzahlen können. Sie haben beschlossen, ihre Schulden nicht anzuerkennen. Sie schließen sich zusammen, sie bilden eine gemeinsame Front — das steht bereits zur Diskussion — und sie sagen, daß sie als souveräne Nationen das Recht dazu haben. Sie haben so große innenpolitische Probleme, daß sie es sich einfach nicht leisten können, Kapital zu exportieren. Menschen strömen in die Städte, die schon zum Bersten überfüllt sind. Sie kennen die Berechnungen für die größten Städte: Mexiko City 31 Millionen Menschen im Jahre 2000; jetzt sind es wahrscheinlich etwa 15 Millionen. Es gibt keine Möglichkeit, daß Mexiko City Wasser und sanitäre Anlagen für mehr als 18 oder 20 Millionen bereitstellen kann; ganz zu schweigen von Elektrizität, Arbeitsmöglichkeiten und anderen Dienstleistungen; und so weit ist es schon in ein paar Jahren.
Sao Paulo, Buenos Aires — alle diese Städte wachsen zu erschreckenden Ausmaßen, und anderswo in der Welt geschieht dasselbe. Aber zurück zu unserem Szenario: Die ländlichen Gebiete verarmen, schlimmer noch als heute. Die Regierungen, die ja ihre Haut retten wollen, jedenfalls noch auf ein paar Jahre, müssen einige Sofortmaßnahmen ergreifen. Das erste und einzige, was sie versuchen können, ist die Verwendung alles vorhandenen Kapitals für Investitionen im eigenen Land, um die innenpolitische Unruhe zu ersticken, statt eines Kapitalexports für die Rückzahlung ihrer aus der Vergangenheit stammenden Schulden.
Geschieht dies, dann werden es die anderen Länder wahrscheinlich genauso machen. Und es gibt mehrere Dutzend Länder in der Welt, die vor dem finanziellen Zusammenbruch stehen, auch in Osteuropa; aber die Mehrzahl ist in Asien und Afrika, und das alles kommt natürlich noch zu den Staaten aus Lateinamerika dazu.
Es ist nicht wahrscheinlich, daß sie sich Streitkräften gegenübersehen, die sie zur Rückzahlung ihrer Schulden zwingen sollen. Warum? Weil man in ein Land eine Invasion vornehmen kann — oder, um es genauer auszudrücken, man kann eine Bergungsaktion durchführen — aber das kann man nicht mit zwei Dutzend, drei Dutzend oder vier Dutzend Ländern machen. Marineinfanterie hilft da nicht.
Und so ist es ganz gut vorstellbar, daß wir in den frühen 90er Jahren weltweit
einen massiven finanziellen Zusammenbruch erleben werden. Das wird in den
betroffenen Ländern ernsthafte politische Konsequenzen haben. Es wird
ernsthafte politische Konsequenzen in
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den kreditgewährenden Ländern haben — und nicht die geringsten in den
USA — weil enorme Geldsummen auf dem Spiel stehen. Die Banken werden
verlangen, daß die Regierung für ihre Verluste eintritt. Es ist aber nicht
wahrscheinlich, daß die Regierung die öffentlichen Ausgaben so weit steigert,
daß sie Chase Manhattan und Morgan Guaranty Trust aus der Klemme hilft.
Statt dessen wird sie sagen, »ihr habt ihnen schließlich das Geld gegeben und
nun müßt ihr auch die Konsequenzen tragen«.
... Die Mittel, die dem Internationalen Währungsfonds zur Verfügung stehen, ungeachtet dessen, was Sie in den Zeitungen lesen, werden nur die nächsten zwei Jahre ausreichen, sogar wenn sie aufgestockt werden. Werden sie verdoppelt, dann reichen sie für die kommenden drei Jahre aus. Die benötigten Summen sind so immens und steigern sich so rasch, daß einfach nicht genügend vorhanden ist, um den Bedarf zu decken. Wir müßten die OPEC in einen humanitären Verein verwandeln, damit sie nur einen Teil der nötigen Gelder zur Verfügung stellt.
Ich besuche häufig den Mittleren Osten. Vor kurzem war ich zum Beispiel in Kuwait, und in allen unseren Diskussionen dort habe ich keine Anzeichen dafür erkennen können, daß die OPEC sich in einen humanitären Verein verwandelt. Eigentlich wissen sie dort wohl, daß sie in einer sehr schwierigen und kritischen Situation stecken. Sie haben zwar das höchste Pro-Kopf-Einkommen der Welt, aber sie sagen, ganz so ist das nicht, weil wir ja einen nichterneuerbaren Rohstoff verkaufen, von dem es irgendwann in Kürze nichts mehr gibt, und was wird dann aus uns? Und das ist eigentlich eine sehr gute Frage. Was wird aus ihnen? Es gibt nämlich in der Tat einen Unterschied zwischen Entwicklung und ökonomischem Wachstum. Sie haben zwar ökonomisches Wachstum, aber keine Entwicklung. Sobald die Geldquelle versiegt, werden sie wieder dort sein, wo sie waren, bevor das Geld anfing zu fließen.
Deshalb glaube ich nicht, daß die OPEC helfen wird; ich denke eher, daß die Einheit der OPEC in dieser Entwicklung leidet. Ich glaube nicht, daß die Europäische Gemeinschaft helfen kann; ich glaube nicht, daß die USA helfen wird; die Sowjetunion wird sicherlich nicht helfen. Es wird also eine erhebliche politische Verunsicherung geben, in der sich das politische Spektrum rasch von links nach rechts verschieben kann. Neue Führer werden auftauchen, sie werden nationale Einheit predigen, möglicherweise indem sie sich von den Ländern zu distanzieren suchen, von denen sie abhängig waren. Man kann dazu Dutzende von Szenarien entwickeln; keines davon wird in dieser Hinsicht sehr verheißungsvoll sein.
Die wechselseitige Abhängigkeit innerhalb des Systems bewirkt jedoch, daß dieser Zusammenbruch eine Krise weltweiten Ausmaßes heraufbeschwören wird. In fast allen Währungen wird es wahrscheinlich eine galoppierende Inflation geben. Die meisten Länder halten ihre gesamte Vorratswährung, ihre Geldreserve, in Dollar. Druckt die USA mehr Geld, um ihren Bedarf abzudecken, wird der Wert des Dollars fallen. Er nimmt jetzt schon ab, aber noch nicht auf Grund der Situation, die ich Ihnen eben schilderte.
Extremismus der verschiedensten Art könnte herrschen. Wenn wir Glück haben, ... wird kein Krieg ausbrechen. Ein Krieg würde unter solchen Umständen vollkommen nutzlos sein. Man kann Armut nicht mit Bomben bekämpfen.
Die Situation wäre chaotisch. Es würde massenhafte Völkerwanderungen [Seite 83]
geben wie die, von der sie aus Westafrika gehört haben, wo vor kurzem ein Land
alle Einwohner auswies, die nicht Staatsbürger waren. Das würde woanders auch
passieren — in Asien, in Afrika und Lateinamerika. Es könnten Millionen von
Menschen über die Grenzen wandern. Es ist nicht wahrscheinlich,
daß irgendeine Friedenstruppe für Ordnung sorgen könnte. Wir sehen ja, was
in einem kleinen Land wie dem Libanon passiert, wenn wir versuchen, dort
Ordnung zu schaffen, wo innere Unruhe, wo innere Spaltung herrscht. Und
innere Spaltungen werden zunehmen.
Also erreichen wir einen Punkt, wahrscheinlich in den späten 90er Jahren, an dem das politische System, das technisch-industrielle System, das Finanzsystem, wie wir es kennen, ruiniert ist. Wer sich mit diesen Fragen befaßt, wird, wenn er ehrlich ist, Ihnen bestätigen, daß diese Entwicklung sehr wahrscheinlich ist. Wenn man es nicht zugibt, dann darum, weil es klingt wie die Ankündigung des Jüngsten Gerichts, wie das Ende der Welt. Aber ich sage Ihnen — und ich denke, besonders den hier Versammelten kann ich es mit Zuversicht sagen — dies ist nur das Ende einer Welt. Es ist voraussichtlich und sehr wahrscheinlich der Anfang einer neuen Welt, einer Welt, die von Ideen getragen wird, wie Sie sie haben. Es könnte eine viel bessere Welt sein als die, in der wir jetzt leben.
Es ist auch interessant, daß ein derartiger Zusammenbruch, wenn Sie lineare Hochrechnungen von der Gegenwart in die Zukunft anstellen, ungefähr am Wendepunkt des Jahrhunderts, vielmehr des Jahrtausends, eintreten wird. Auch hier ist ein psychologisches Moment enthalten. Sie wissen, wie gern wir zu Neujahr gute Vorsätze fassen — aber nur für ein Jahr. Wenn ein neues Jahrzehnt kommt, erliegt die internationale Gemeinschaft einer ähnlichen — wenn Sie wollen — Selbsttäuschung. Ich muß sagen, daß nicht alle Vorsätze auch durchgeführt werden, aber ich glaube, viele doch. Doch wir haben internationale Entwicklungsstrategien verabschiedet, angefangen in den 60er und den 70er Jahren, und wir haben nun die dritte Entwicklungsstrategie in den 80er Jahren. Jede wird mehr zum Trugbild als die vorherige.
Es ist daher sehr wahrscheinlich, daß in den späten 90er Jahren, wenn wir der psychologischen Wasserscheide des Jahres 2000 zusteuern und die Spannungen dann einen Höhepunkt erreichen, dies Wandel und Veränderung beschleunigen wird, allem voran die Auflösung des vorhandenen Systems.
... Die Kosten an Menschen könnten sehr hoch sein, und ich werde gleich darüber sprechen, wie wir sie verringern könnten. Aber die Spannungen werden heftig sein; wenn wir Glück haben, werden wir uns dabei nicht umbringen. Sicherlich aber werden viele Menschen Entbehrungen leiden müssen.
Und was wird dann passieren? Dafür habe ich keine Theorie des Unabwendbaren; an dieser Stelle können wir wählen, und die Wahl hängt von uns ab... Ich würde nur gern zwei Szenarios für Sie ausmalen, und Ihnen dann einige Vorstellungen mitteilen, einige Gedanken über das, was wir heute tun könnten, um das bessere der beiden Szenarios zu wählen.
Um es interessanter zu machen, werde ich eines davon das Szenario der Apokalypse und das andere das Szenario des Phoenix nennen.
Nehmen wir zunächst das Szenario der Apokalypse. Wir befinden uns an
der Wende des Jahrhunderts. Wir haben jetzt kleine Kolonien, weil
die Menschen aus ihren großen Städten ausgewandert sind; sie haben
keine Möglichkeit mehr, dort Dienstleistungen, Arbeit
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oder Lebensmittel zu bekommen. Sie ziehen dorthin, wo es für sie eine
Möglichkeit gibt, sich zu ernähren und Gemeinschaften zu bilden, in
denen wenigstens ein gewisses Maß an Lebenserhaltung und Zuversicht
möglich ist. Dort sind sie nun. Sie können miteinander
kommunizieren. Einer der bemerkenswertesten Aspekte unserer
Kommunikationstechnologien ist, daß sie nicht
viel Energie verbrauchen. Und wahrscheinlich werden, sogar wenn sich alles
zum Schlechten hin entwickelt, die Nachrichtensatelliten erhalten bleiben,
wir werden noch Radios haben, und wir werden miteinander kommunizieren
können. So werden die Kontaktbedürfnisse, die die Menschen haben, sogar
über größere Entfernungen hinweg befriedigt werden können — immer
vorausgesetzt, wie ich schon sagte, daß es nicht zu einer nuklearen Katastrophe
kommt.
Also kommen sie zusammen und beratschlagen. Es könnte sich zeigen, daß einige dieser Kolonien ganze Lager voll tödlicher Waffen besitzen. Es könnte sich herausstellen, daß andere keine haben. Manche könnten hervorragende Fachleute haben, auch Menschen ohne Skrupel, andere nicht. Vielleicht sind diese auch aufrichtiger, ehrlicher, menschlicher.
Unter diesen Voraussetzungen beginnt das Pokern um die Macht. Es ist möglich, daß die besser organisierten, machthungrigen, die Situation ausnützen, um neue Macht- und Abhängigkeitsstrukturen zu schaffen. Man kann detaillierte Szenarios ausmalen; in meinem neuen Buch, das bald erscheinen wird, tue ich das.
Tatsache ist, daß wir durch Zwangsmaßnahmen, durch Rhetorik, mit Hilfe der Kommunikationsmittel — was ja eine neutrale Technologie ist und wie alle Technologien zum Guten wie zum Bösen verwendet werden kann — eine Welt des Terrors schaffen könnten, eine Welt, in der von Machtzentren aus regiert und die Mehrheit der Menschen unterjocht wird. Diese Welt, der Traum des »Tausendjährigen Reiches«, könnte verwirklicht werden — wenn wir es zulassen, wenn wir uns nicht vorbereiten. Ein Zurück wäre dann sehr schwierig. Sind wir erst an dem Punkt angelangt, wo größere Machtzentren existieren, wo die Menschen gezwungen werden, gehorsam zu sein, ist es schwierig, aus dieser Situation wieder auszubrechen.
Wir kennen die neueren terroristischen Regime; sie bleiben erhalten, wenn sie Waffen und Geld haben. Wenn wir Pech haben und unklug sind, könnte die Welt nach diesem Schema neu aufgebaut werden. Das wäre katastrophal; es wäre tragisch.
Aber lassen Sie mich Ihnen auch dieses andere Bild aufzeigen, das Szenario des Phoenix. Ich glaube, es steht der Bahá’í-Sicht sehr nahe. Eine Kommunikation ist möglich; die Menschen kommen zusammen. Sie kommen zu einer Einsicht, die nach Katastrophen ebenfalls sehr häufig ist — daß es besser ist zusammenzuhalten, es besser ist, gemeinsame Ziele zu verfolgen; daß wir aus den Fehlern der Vergangenheit lernen sollten, daß wir zusammenarbeiten sollten, daß wir nicht machthungrig sein sollten bis zu dem Punkt, wo wir uns selbst und die Welt zerstören.
Wir könnten unabhängige Gemeinden gründen, die ihre eigene Nahrung
produzieren, die Arbeit für ihre Mitglieder schaffen, die ihre eigenen
Entscheidungen treffen. Ich glaube, die Bahá’í-Gemeinden sind Prototypen dieser
Art von Szenarios. Diese könnten auf der Basis der Selbstversorgung Beziehungen
zueinander aufbauen. Der berühmte Begriff »wechselseitige Abhängigkeit«,
der so oft in sogenannten progressiven Kreisen mit sehr positiver Bedeutung
genannt wird, ist, muß ich sagen, ein
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sehr gefährliches Konzept, denn wechselseitige Abhängigkeit ist nur bei
Gleichberechtigten möglich. Dann sind es gleichberechtigte und gutwillige
Menschen. Ist der wechselseitig Abhängige dein Feind, mußt du aufpassen.
Und ist dein Feind stärker als du, heißt wechselseitige Abhängigkeit
Versklavung.
Darum glaube ich, daß diese neue Welt sehr viel unabhängiger, auf lokaler Ebene unabhängiger, sein muß als die, die wir jetzt aufgebaut haben. Wir haben diese Welt zu schnell gebaut. Wir haben sie nach unseren technologisch-industriellen Kapazitäten zugeschnitten, auf globale Dimensionen hin, und wir sind psychisch und geistig auf diese globale Welt nicht vorbereitet.
Wir könnten in dieser Welt, in diesem neuen Szenario, uns dazu entschließen, die meisten und gefährlichsten Waffen zu begraben, zu demontieren, sie zu entschärfen. Wir könnten uns stattdessen dazu entscheiden, den höchsten Wert auf die Erfüllung von Bedürfnissen zu legen — auf soziale, geistige und leibliche Bedürfnisse. Wir könnten uns dazu entscheiden, die Kommunikation und den Kontakt zu Menschen, denen wir kein Vertrauen schenken können, nicht so eng werden zu lassen, daß wir von ihnen abhängig werden. Wir könnten uns dafür entscheiden, Menschen guten Willens zusammenarbeiten zu lassen, und könnten versuchen, die eigenen unbotmäßigen Elemente zu kontrollieren.
Das alles könnten wir tun, weil es ein neues Denken gäbe. Man kann nicht durch eine Krise gehen und sich dabei nicht verändern. Es ist eine der großen, gefährlichen Illusionen dieser Epoche, wenn wir denken, man könne einen Umbruch durchmachen — einen sozialen, persönlichen, ökonomischen oder politischen Umbruch — und dabei so bleiben, wie man war. Das ist ein Irrtum. Die Menschen haben sich verändert; das habe ich nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa gesehen, ich habe das als Kind durchgemacht, und Menschen können nicht gleichgültig bleiben. Für mein Land, Ungarn, war es eine große Tragödie, daß es keine Möglichkeit hatte, zu werden, was es werden wollte, sondern unter eine andere Vorherrschaft geriet.
Ich glaube, es gibt realistische Möglichkeiten für die Verwirklichung dieses Bildes vom Phoenix, und aufgrund aller mir zur Verfügung stehenden theoretischen Einsicht kann ich Ihnen sagen, daß alle Gruppen, die jetzt verfolgt werden, die jetzt klein, jetzt machtlos sind, ihre Chance bekommen werden, weil alle Zentren, die diese Gruppen unterdrücken, nicht mehr existieren werden. Die Kräfte der Unterdrückung werden nicht mehr da sein, die schwere Hand der Vergangenheit wird weggenommen werden. Und ich sehe nicht, daß eine Veränderung zu unseren Lebzeiten stattfinden könnte ohne eine solche Situation.
Aber um das Bild vom Phoenix ein wenig wahrscheinlicher zu machen als das von der Apokalypse, werden wir noch einiges tun müssen — es ist nicht notwendig, daß alle Menschen dies tun, nur daß einige Zentren des Bewußtseinswandels in der Welt erwachsen. Ich glaube, daß die Bahá’í-Gemeinde ein ideales Bewußtseinszentrum für diese Art von Initiative ist, die überall in der Welt ihre Verbreitung hat.
Lassen Sie mich nur einige Dinge aufzählen, die wir tun müssen. Erstens: Wir
müssen die Fähigkeit entwickeln zu überleben. Das bezieht sich nicht nur
auf körperliches Überleben, das heißt nicht, daß man sich mit Gewehren und
Handgranaten ausrüstet. Es heißt, daß man die Fähigkeit besitzt, Gemeinden
zu bilden, die nicht vom System abhängig sind, die ihre eigene Nahrung
produzieren
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können, die die medizinischen und sozialen Bedürfnisse ihrer Mitglieder
befriedigen können, auch die geistigen Bedürfnisse, und die sich selbst
behaupten können. Ich glaube, es gibt viele Experimente dieser Art, es
ist sehr erstaunlich, daß diese Art des Experimentierens weltweit verbreitet
ist. Wir müssen das bewußt pflegen: die Fähigkeiten, die Kenntnisse, die
Information, was immer notwendig ist, um sich nur auf sich selbst verlassen
zu können und, wenn nötig, auch autark zu sein.
Zweitens: Wir müssen für die nächste Generation mitsorgen ... Die menschliche Natur ist nicht unveränderlich; sie ist sehr stark von politischen, ökonomischen und kulturellen Gegebenheiten geprägt, und es wäre ein tragischer Fehler, wenn wir heute unsere Kinder einer Gehirnwäsche unterziehen würden, wie es die Erziehung manchmal macht, und ihnen dabei das aufzwingen würden, was soeben veraltet. Etwa, wenn wir sie auf Wettbewerb hin schulten, dazu, den unmittelbaren Rivalen zu übertrumpfen, auf Materialismus hin, auf Besitzgier oder auf Intoleranz hin — dabei wird kein Kind mit diesen Eigenschaften geboren; Kinder sind von Natur aus egalitär. Wir erziehen sie; wie unterziehen sie einer Gehirnwäsche, die der von uns geschaffenen Zivilisation entspricht.
Es wäre tragisch, wenn diese neue Generation, die heute geboren wird, die sich jetzt in der Kindheit befindet, wenn diese Generation eine Erziehung bekäme, die es für sie schwierig machte, in eine andere Welt hineinzuwachsen, die sie vorbereiten würde auf ein konkurrenz- und machtorientiertes, apokalyptisches Szenario, statt auf eines der Kooperation und Solidarität. Also müssen wir unsere Kinder sehr bewußt erziehen; oder lassen wir sie einfach ihre natürlichen Neigungen zur Solidarität entwickeln, zu ihrer Gewaltlosigkeit — und der Experte hierfür ist Professor Hossain Danesh, aber ich ersehe aus seinen Formulierungen, daß es keine ererbte, keine genetische, sondern vielmehr eine erlernte Eigenschaft ist, ein kultureller Faktor.4)
Es gibt auch noch eine Anzahl anderer Dinge, zusätzlich zu den menschlichen Aspekten. Wir müssen aufpassen, daß die Rohstoffe der Erde nicht zerstört werden, die unsere Erhaltung als Gattung ermöglichen. Und, meine Damen und Herren, es ist eine reale Gefahr, daß sie zerstört werden, und dabei meine ich nicht durch nuklearen Schlagabtausch. Wir könnten die Ackerkrume zerstören, wie wir es jetzt tun. Große Bestände an Ackerkrume werden Jahr für Jahr zerstört; sie verschwinden weltweit. Die Gewässer werden trotz gelegentlicher Anstrengungen und trotz Erfolgsmeldungen beständig verschmutzt; wir gefährden unsere Wasserwege. Die Luft wird schlechter; natürlich kennen Sie das in den großen Städten — ganz zu schweigen vom sauren Regen oder anderen Dingen, die unseren Freunden hier aus Kanada bekannt sind.
Alle von uns nutzbaren Rohstoffe müssen bewahrt werden, nicht nur die
nicht-erneuerbaren, sondern auch die erneuerbaren Rohstoffe. Es wird
vielleicht nur selten darüber gesprochen, daß die Wüsten der Welt sich jedes Jahr
etwa um eine Fläche vergrößern, die sich mit der Fläche von Holland vergleichen
läßt. Das ist das Resultat der Entwaldung; die Armen holzen die Wälder
ab und verbrennen sie als Brennholz. Wir können auch Land überweiden; die
Regenwälder dieser Welt könnten wohl bis zur Wende des Jahrhunderts
verschwinden, wenn wir sie weiter so abholzen und für die Landwirtschaft
roden, wie wir es jetzt tun. Dabei ergibt
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dieses Land noch nicht einmal fruchtbaren Boden, weil die ungeschützte Erde
weggespült wird, wir kennen das schon vom Amazonas her. Die ökologischen
Probleme sind sehr ernst, weil wir noch nicht einmal mit den besten Motiven,
mit dem besten Bewußtsein eine Welt schaffen können, in der sechseinhalb
Milliarden Menschen leben und ihre vorhandenen physischen Bedürfnisse
befriedigen können, wenn wir die Rohstoffe zerstören, die sie dazu brauchen.
Außerdem müssen wir etwas tun, um die nukleare Bedrohung zu entschärfen, selbst wenn es keinen nuklearen Krieg gibt — und das ist die Frage. Aber sogar wenn wir davon verschont bleiben, ist das bloße Vorhandensein von nuklearen Waffen, von Waffenlagern, eine ständige Versuchung, eine dauernde Bedrohung des Wohlergehens aller. Es genügt nicht, die Entwicklung von immer mehr Waffen dieser Art zu stoppen; wir müßten anfangen, sie zu vernichten. Dies könnte ein Aspekt sein, der an Bedeutung gewinnt, wenn sich herausstellt, daß es keine militärischen Lösungen für die Probleme gibt, mit denen wir konfrontiert werden — wenn diese Probleme nicht die befürchtete Drohung von seiten der Großmächte, sondern die handgreiflichen Bedrohungen durch vier oder fünf Milliarden Menschen sind, die einfach nicht wissen, wie sie überleben sollen, denen die Mittel zum Überleben fehlen. Und vielleicht könnten wir unter solchen Umständen einige Schritte in dieser Richtung unternehmen; wir müßten es tun.
Und schließlich — und das ist vielleicht das Wichtigste, da ich alles andere für weniger wichtig halte — müßten wir uns auf das vorbereiten, was Sie in Ihrem Glauben als das Alter der Reife der Menschheit kennen. Wir müßten anfangen, so wie Sie das bereits tun, uns darauf vorzubereiten; wir müßten Zugang zu den öffentlichen Medien schaffen. Wir müßten Gemeinschaftsformen schaffen, die wahrscheinlich auch noch weiteres von dem tun müßten, was Sie bereits tun — aber vergessen Sie nicht, daß andere es eben nicht tun. Und ob sie sich nun zum selben Glauben bekennen oder nicht, wir müßten bei ihnen dieses Bewußtsein wecken, wenn wir wissen, was die Alternative ist.
Wir könnten versuchen, diese neue Welt einzuüben. Man kann das auf verschiedene Weise tun. Wir könnten Rollenspiele spielen; wir könnten eine neue Science Fiction entwickeln; aber diese Science Fiction würde nicht von intergalaktischen Kriegen handeln, sondern das Management der Welt zum Thema haben, die aus dieser Erschütterung der Krise ersteht; sie würde eine neue Welt schaffen. Wir könnten das Leben in neuen Gemeinschaften erproben, wir könnten neue Formen menschlicher Interaktion üben, wir könnten neue Technologien schaffen, welche insofern einfache Technologien wären, als sie nicht kapitalintensiv sind, weder viel Geld noch viel Hardware erfordern. Wir haben jetzt Technologien, die für fast jeden benutzbar sind. Wir müßten uns darauf vorbereiten, und unsere Jugend könnte hier sehr wohl einbezogen werden.
Ich glaube, es ist viel aufregender, sich vorzustellen, wie eine Welt nach dieser beschaffen sein würde, eine Welt, die sehr bald kommen wird, vielleicht in 20, vielleicht in 15 Jahren, als sich in die Phantastereien der heute so beliebten Science Fiction zu flüchten.
All das kann getan werden, und auf vielerlei Art tun wir es auch. Aber einen
letzten Punkt möchte ich gern wiederholen — ich habe ihn schon erwähnt — daß
nämlich alle empirischen und theoretischen Belege und Folgerungen auf
eine Tatsache hinweisen: Bei einer bedeutenden Umwälzung kann jede kleine
Veränderung, jede kleine Abwandlung innerhalb des Systems, die bis dahin
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behindert oder unterdrückt wurde, um ein Vielfaches verstärkt werden; wie es
steht, werden eine oder mehrere sich erheblich ausbreiten. So entwickeln sich
Gattungen nun einmal ... Das passiert in physikalisch-chemischen Systemen, wenn
eine kleine innere Fluktuation sich verstärkt und das System danach beherrscht.
Das ist, wie ich meine, auf die menschliche Gesellschaft übertragbar und auf diese in wechselseitiger Abhängigkeit stehende Weltgesellschaft, in der wir nicht mehr lange zu leben haben: Es wird sich eine neue Mutation ereignen, wenn die Dominanz des Systems aufhört und jene kleinen Gruppen, die bereit stehen, um eine Welt globaler Einheit zu schaffen, zum Zuge kommen. Ich bin sicher, das wird Ihre große Stunde sein, und ich hoffe, es wird eine große Stunde für uns alle sein. Ich danke Ihnen.
- 1) Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá’u’lláhs, Hofheim-Langenhain 1977, S. 70 f
- 2) In: Farzin Dusthar (Hrsg.), Das Modell des Friedens. Ausweg aus der Krise, Wien 1985
- 3) Weltordnung, S. 295
- 4) Siehe Anmerkung 2
Die von den gelehrten Größen
der Kunst und der Wissenschaft
so oft gepriesene Zivilisation
wird, wenn man ihr gestattet,
die Grenzen der Mäßigung zu überschreiten,
großes Unheil
über die Menschen bringen.
So warnt euch der Allwissende.
Ins Übermaß gesteigert,
wird sich die Zivilisation
als eine ebenso ergiebige Quelle des Übels erweisen,
wie sie, in den Schranken der Mäßigung gehalten,
eine Quelle des Guten war.
Denkt darüber nach, o Menschen,
und gehört nicht zu denen,
die verwirrt
durch die Öden des Irrtums streifen.
Bahá’u’lláh
Ährenlese 163:2
Ingo Hofmann
FRIEDEN IST MEHR ALS KEINE WAFFEN[Bearbeiten]
- Dieser Beitrag erscheint gleichzeitig mit kleinen Veränderungen in dem Sammelband von Farzin Dustdar (Hrsg.), Das Modell des Friedens. Ausweg aus der Krise, Horizonte Verlag in Poseidon Press, Wien
Seit jeher ist das friedvolle Zusammenleben von Menschen durch die Androhung
militärischer Gewalt gefährdet gewesen. Die heute von immer mehr
Menschen als ernsthaft, wenn nicht hoffnungslos empfundene Bedrohung
des Weltfriedens unterscheidet sich jedoch wesentlich von allen Erfahrungen,
die die Menschheit im Verlauf ihrer Geschichte gemacht hat. Das eigentlich
Neue am Friedensproblem muß in der weltweiten Dimension und der latenten
Gefahr einer Selbstvernichtung der Menschheit gesehen werden. Obwohl
das Gesamtarsenal atomarer Waffen derzeit pro Kopf eine Sprengwirkung
entsprechend 5 Tonnen TNT aufweist — insgesamt also über 20 Mrd.
Tonnen — bestehen Pläne, die eine Erhöhung der Zahl nuklearer Sprengkörper
von derzeit 50000 auf etwa 80000 bis zum Ende des nächsten Jahrzehnts
vorsehen. Die Bedrohung, die von dieser quantitativen Ausweitung ausgeht,
wird noch wesentlich verschärft durch die geplante Einführung neuer
Waffensysteme. Nach derzeitigen Plänen soll noch in diesem Jahrhundert
mit einem Gesamtaufwand von 100 Mrd. Dollar mittels Strahlenwaffen der
Weltraum strategisch erschlossen werden. Durch solche Anti-Raketenwaffen kann
die Möglichkeit geschaffen werden — sofern sie nicht bereits heute
besteht — einen Nuklearkrieg militärtechnisch gewinnbar zu machen. Der
Wahnsinn einer solchen Entwicklung, die zu neuem Wettrüsten führen muß, darf
nicht unwidersprochen bleiben. Erschüttern muß die in ihr liegende
Menschenverachtung: alle 2 Sekunden stirbt in der Welt ein Kind an
Hunger, während in der gleichen Zeit für 50000 Dollar neue Waffen
gebaut werden.
Der Friede ist heute nicht regional gefährdet, sondern weltweit, da politische und wirtschaftliche Interessenverflechtungen den gesamten Erdball umspannen. In dem Maße, wie die Anhäufung atomaren Vernichtungspotentials den Mythos vom Untergang der Menschheit zur realen Möglichkeit werden läßt, stellt sich die Frage, ob nicht hierin zugleich eine einzigartige Herausforderung an die Menschheit herantritt: den in vergangenen Zeiten utopischen Wunsch nach einem universalen Frieden zur Realität werden zu lassen. Heute scheint eher die Vorstellung utopisch, die Menschheit könne ohne einen universalen Friedensschluß einer Zukunft entgegensehen.
Die Notwendigkeit eines Weltfriedens wird heute von immer mehr Menschen
gesehen; dies genügt jedoch nicht, um ihn auch Wirklichkeit werden zu
lassen. Die Einsicht der Notwendigkeit kann aber den entscheidenden Anstoß
dazu liefern, unsere Situation grundlegend zu überdenken, das gewohnte
Denken zu überprüfen und Wege zu finden, die die Menschheit aus ihrer heutigen
Ohnmacht herausführen. Im folgenden wird der am Frieden interessierte
[Seite 90]
Mensch anhand der Lehren der Bahá’í-Religion auf neue Wege und Perspektiven
hingewiesen. Der verbreiteten Resignation des Bürgers angesichts des
neuen Wettrüstens der achtziger Jahre und des Scheiterns der Friedensinitiativen,
diesem Einhalt zu gebieten, wird eine neue Hoffnung gegenübergestellt:
Frieden kann möglich werden, wenn die tieferen Ursachen, die das Gleichgewicht
der heutigen Welt stören, erkannt und der breiten Öffentlichkeit bewußt
gemacht werden. Wer in der Friedensfrage bisher vor allem ein Problem der
Rüstungskontrolle und der Abrüstung sah, mag hier die Frage einwerfen, mit
welchem Recht eine Religion den Anspruch erheben darf, hierzu Wesentliches
beitragen zu können. Die Bahá’í-Religion vermag hier auf folgende
Gründe zu verweisen, die zugleich zu einem Überdenken traditioneller
Vorstellungen über Religion auffordern:
1. Die Lösung der Friedensfrage angesichts der latenten Gefahr der Selbstvernichtung, zugleich aber auch der totalen Herrschaft materialistischer Ideologien und Lebensweisen macht es erforderlich, daß der Mensch Kräfte erweckt, die der Wurzel seines Seins entspringen. Dies war in der Geschichte der Menschheit immer den Religionen vorbehalten, die die Frage des Woher und Wohin in einer Weise erhellten, durch die die schöpferischen Kräfte des Menschen entfaltet wurden. Religion ist hier nicht mit ihrer Institutionalisierung in Kirchen oder vergleichbaren Machtträgern gleichzusetzen, welche in den geschichtlichen Religionen zum Schauplatz der Entfremdung von der ursprünglich geoffenbarten Lehre des Stifters wurden. Die Bahá’í sehen in allen Religionsstiftern Erzieher der Menschheit, Brücken zwischen dem absoluten Sein Gottes und dem sich entwickelnden Sein des Menschen.1) Kulturen sind der sichtbare Ausdruck der Religionen; in dem Maße, wie sich die Lebensweisen und Bedürfnisse der Völker zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen geographischen Gegenden voneinander unterschieden, mußten auch die Religionen voneinander abweichen, obwohl sie alle auf eine gemeinsame Quelle zurückgehen und einen gemeinsamen Kern besitzen.
2. Die Lebensbedingungen haben sich mit dem Eintritt in das technisch-naturwissenschaftliche Zeitalter auf eine so grundlegende Weise gewandelt, daß das starre Festhalten am Denken der Vergangenheit zu einer zunehmenden Verschärfung der Menschheitskrise führen muß. So mahnte Albert Einstein: »Die entfesselte Macht des Atoms hat alles verändert, nur unser Denken nicht«. Die Bahá’í-Religion, als jüngste Weltreligion vor über 130 Jahren an der Wende zum technischen Zeitalter von Bahá’u’lláh (»Herrlichkeit Gottes«) begründet, versteht sich als Offenbarungsreligion für unsere Zeit — dem gleichen Prinzip folgend, das den Religionen der Vergangenheit zugrundeliegt.
Entsprechend der Universalität der Friedensfrage in unserer Zeit wendet sich die Bahá’í-Religion an alle Menschen, gleich welcher religiösen, rassischen, sozialen oder nationalen Herkunft.
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3. Bahá’u’lláh hat in unmißverständlichen Worten bereits in den Jahren
1867-70 die bedeutendsten politischen und religiösen Führer Europas und des
Osmanischen wie auch des Persischen Reichs in einer Reihe von Sendschreiben
zur Abrüstung und Errichtung eines weltweiten Friedens aufgefordert.2)
Diesen historischen Auftrag, der damals weitgehend unbeachtet blieb, nimmt
heute die Bahá’í-Weltgemeinschaft wiederum wahr, indem sie sich an maßgebliche
Persönlichkeiten und Staatsführer, aber auch an jeden einzelnen wendet.3)
In diesem Zusammenhang sei auch auf die Erklärungen der »Bahá’í International
Community« verwiesen, die als nichtstaatliche Organisation die Bahá’í-Weltgemeinschaft
bei den Vereinten Nationen vertritt.4)
Prinzipien des Weltfriedens
Die Frage der Abrüstung steht heute im Mittelpunkt der Friedensdiskussion. Dabei wird der Mensch von zwei Seiten von Ängsten bedrängt, die sich nach keiner einfachen Formel auf einen Nenner bringen lassen. Auf der einen Seite die Angst, daß das »Gleichgewicht des Schreckens« nur ein labiles Gleichgewicht ist: Ein mit Mitteln der heutigen Politik nicht lösbarer Machtkonflikt in einem Spannungsgebiet auf der Erde, oder auch ein denkbares technisches Versagen könnten den Einsatz eines Vernichtungspotentials auslösen, dessen Stärke vielleicht dem Naturwissenschaftler noch ein Begriff ist, das jedoch in seiner verheerend zerstörerischen Wirkung auf das Leben und die Bedingungen des Lebens auf dieser Erde letztlich unvorstellbar bleiben muß. Eine einzige Wasserstoffbombe vermag die gesamte Sprengkraft aller im Zweiten Weltkrieg eingesetzter Bomben (etwa 6 Mio. Tonnen TNT) aufzubringen.
Die Wirkung von Nuklearbomben geht jedoch weit über ihre Sprengwirkung hinaus.5) Angesichts dieser Situation sagte Einstein: »Ich weiß nicht, welche Waffen im nächsten Krieg zur Anwendung kommen, wohl aber, welche im übernächsten: Pfeil und Bogen.«
Auf der anderen Seite steht die Angst des heutigen Menschen, er könne durch
eine Verringerung der militärischen Stärke die Freiheit verlieren. Beide Ängste
müssen gesehen und überwunden werden. Angesichts der jederzeit möglichen
Katastrophe genügt es nicht, Angst zu beschwichtigen oder durch die
Androhung der Gefahr des Verlusts der Freiheit erträglich zu machen.
Die Freiheit des Bürgers zu demokratischer Selbstbestimmung muß erhalten
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bleiben, nicht aber die Freiheit, alles zu tun, was dem Verlangen nach größerer
eigener politischer und wirtschaftlicher Macht dienlich ist. Die Verteidigung
einer eigennützigen Freiheit und des Egoismus der Konsumgesellschaft ist zu
einem bedrohlichen Vorwand geworden, mit dem allzu bequem die Zustimmung des
Bürgers zur Rüstungspolitik erkauft wird. Die neue Situation macht
es erforderlich, das überlieferte Denken hinsichtlich Mensch und Gesellschaft zu
überwinden und gefährliche Klischees zu durchschauen. Als erstes muß das
Zusammenleben der Nationen neu gestaltet werden, derart, daß dem Wohlergehen
der ganzen Menschheit Rechnung getragen wird.
Recht und Gesetz dürfen nicht an den Grenzen der eigenen Nation Halt machen und jenseits dieser Grenzen durch das Recht des Stärkeren ersetzt werden. Angesichts des immer mehr sichtbaren Verfalls persönlicher und politischer Moral ist zugleich die Frage nach dem letzten Ziel und Sinn aufzuwerfen und mit dem Anliegen des Weltfriedens und einer neuen Ordnung in der Welt in Einklang zu bringen. Dies muß auf eine Weise geschehen, die als tragfähiges Fundament für einen neuen Menschen und eine neue Weltordnung gesehen werden kann. In den Worten Bahá’u’lláhs: »Der ist wirklich ein Mensch, der sich heute dem Dienst am ganzen Menschengeschlecht hingibt«6), ferner, »Die Wohlfahrt der Menschheit, ihr Friede und ihre Sicherheit sind unerreichbar, wenn und ehe nicht ihre Einheit fest begründet ist«7), ist der Aufruf der Bahá’í-Religion zur Errichtung eines solchen Fundamentes kurz umrissen. Dieses besteht aus drei Hauptprinzipien, die in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit gesehen werden müssen:
Abrüstung ⟷ Neue Weltordnung | ||
⬉ | ⬈ | |
Neuer Mensch |
Keines dieser Prinzipien kann für sich alleine Aussicht auf dauerhaften Erfolg bieten. So genügt es beispielsweise nicht, von Abrüstung alleine zu sprechen, denn diese kann nur wirksam sein in einer Welt, in der zugleich verläßliche und von allen anerkannte Wege der gewaltfreien Lösung von Konflikten geschaffen werden; dies berührt die neue Weltordnung und den neuen Menschen. Andererseits bleibt das Ideal eines neuen Menschen — gewaltfrei und der Wahrheit verpflichtet — ein bloßes Wunschbild, wenn nicht die Strukturen des Zusammenlebens der Völker erneuert werden. Der Aufruf der Bergpredigt: »Selig sind die, die Frieden stiften« bleibt — so sehr er auch heute noch wahr ist — unwirksam, wenn die Bereitschaft zum Frieden nicht im konkreten Bild einer neuen Weltordnung, die der heutigen Situation Rechnung trägt, zur Tat werden kann. Frieden ist heute eben weit mehr als der Aufruf zu Friedfertigkeit, der durch Jesus, aber auch bereits durch andere Religionsstifter vor ihm in die Welt kam. Erst der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt hat durch die »Vernichtung der Entfernung« (im Sinne Arnold Toynbees), die weltweite wirtschaftliche Abhängigkeit, aber auch die Bedrohung der Existenz der Menschheit durch ein nukleares Inferno oder den biologischen Tod der Erde der Friedensfrage die heutige Mehrdimensionalität verliehen: die Wandlung des einzelnen ist untrennbar von der Dimension der Abrüstung und der Dimension einer neuen Weltordnung.
Abrüstung
Der Standpunkt der Bahá’í-Religion zur Abrüstung ist eindeutig und kompromißlos. So sagte 'Abdu'l-Bahá, der Sohn Bahá’u’lláhs, vor einem dreiviertel Jahrhundert: »Alle Regierungen der Welt müssen durch ein allgemeines Übereinkommen gleichzeitig abrüsten. Es hilft nichts, wenn einer die Waffen niederlegt und die anderen sich weigern, dasselbe zu tun. Die Nationen der Welt müssen in dieser lebenswichtigen Angelegenheit übereinstimmen und zusammen die Mordwaffen endgültig niederlegen. Solange ein Volk seinen Rüstungsetat zu Wasser und Lande vergrößert, werden andere Nationen durch natürliche und vermeintliche Interessen in diesen irren Wettbewerb hineingezwungen.«8) Der vollständige Verzicht auf (nationale) Rüstung ist letztlich unentbehrlich. Eine bloße Beschränkung der Rüstung nach Quantität und Qualität — so zum Beispiel das Verbot von Nuklearwaffen — kann hingegen nur als Zwischenschritt gesehen werden. Das Wissen über Nuklearwaffen und ihre Herstellung läßt sich nicht auslöschen; in einer ansonsten unverändert gebliebenen Welt könnten sie in Konfliktsituationen in kürzester Zeit wieder hergestellt werden. Zudem darf nicht übersehen werden, daß die neuere Entwicklung auf dem Gebiet konventioneller, biologischer und chemischer Waffen die alleinige Ächtung von Nuklearwaffen als unzureichend erscheinen läßt. Neben der Bedrohung für das Leben der Völker dieser Erde müssen auch die weltwirtschaftlichen Folgen der Rüstungspolitik gesehen werden. Nach den Feststellungen der Brandt-Kommission (1983) ist — entgegen landläufiger Meinungen — ein direkter Zusammenhang zwischen hohen Rüstungsausgaben und hoher Arbeitslosigkeit bzw. Inflation feststellbar. Demnach kann sich die Welt »zu Tode rüsten«, ohne daß ein Krieg tatsächlich ausbricht. Eine Umstellung auf konventionelle Rüstung könnte diesen Trend sogar verstärken. Die Forderung nach völliger Abrüstung steht auch im Einklang mit der abschließenden Erklärung der Vereinten Nationen über Abrüstung und Entwicklung aus dem Jahre 1978, ungeachtet der Tatsache, wie wenig die feierlich angenommene Erklärung von den Mitgliedsstaaten seitdem beachtet wurde. Unter den gegebenen Umständen sind alle Bemühungen um kleine Erfolge zu bejahen, da sie dazu dienen können, eine Atmosphäre des Vertrauens und der Bereitschaft zu Verhandlungen aufzubauen. Hierzu gehört auch das Verbot der Entwicklung bzw. des Tests von Nuklearwaffen jeder Größe (nur Tests ab einer bestimmten Größe sind heute durch ein Abkommen verboten), da die Eigendynamik der Militärforschung mit zum Wettrüsten beiträgt. Es ist bekannt, daß fast die Hälfte der weltweit in der Forschung eingesetzten Arbeitskräfte und Sachmittel der Rüstung dienen. Der Naturwissenschaftler kann sich heute der Verantwortung nicht mehr entziehen, die er mitträgt — in einem Maße wie nie zuvor in der Geschichte der Naturwissenschaft.
Dennoch muß gesehen werden, daß die Forderung nach Abrüstung in der heutigen Welt nur realistisch bleibt, wenn sie von nicht weniger ernsthaften Anstrengungen begleitet wird, an die Stelle der Gewalt als letztes Mittel der Konfliktlösung ein weltweit verbindliches Recht zu setzen. Hierin besteht derzeit der größte Mangel, vielleicht aber liegt hierin auch die größte Hoffnung, wenn dieses zu einer Weltordnung führende Prinzip in das Bewußtsein der Verantwortlichen dringt.
Die neue Weltordnung
Allein das Ziel der Errichtung eines weltweiten Bundes durch vertragliche Anerkennung eines globalen Rechtszustandes zwischen den Nationen vermag Abrüstung auf Dauer wirkungsvoll und glaubhaft zu machen. Ein derartiger Bund macht es erforderlich, die absolute Souveränität, auf der die heutigen Nationen noch fest beharren, einzuschränken. Dies ist in allen Bereichen berechtigter überregionaler oder übernationaler Interessen notwendig. Hierzu gehören die Sicherheit, aber auch die Frage eines weltweit soliden Finanz- und Währungssystems, der Rohstoffmarkt, der Schutz der Umwelt nach globalen Maßstäben, die Beseitigung des Hungers und weltweite Sicherstellung eines menschenwürdigen Daseins. Während das Nationalbewußtsein nach innen den Zusammenhalt eines Volkes fördern und den Ausgleich der verschiedenartigen Interessen erleichtern kann, ist seine Wirkung nach außen eher aggressiv und vorurteilsfördernd. Das heutige System von souveränen Nationalstaaten begünstigt letztlich die Willkür und Ungesetzlichkeit im Zusammenleben der Völker, da der Nationalstaat keine höhere Bindung anerkennt, es sei denn die eines regionalen Bündnissystems. Er gibt sich selbst die Freiheit, die Mittel zum Durchsetzen seiner Machtinteressen zu bestimmen — notfalls Gewalt. Ein Novum in der Geschichte der Religionen ist der in der Bahá’í-Religion bestehende Plan einer Weltordnung, in deren Mittelpunkt die Errichtung eines Weltbundesstaates steht. Diese Weltordnung, die auf Bahá’u’lláh selbst zurückgeht, kann als der eigentliche Kern der von ihm begründeten Religion bezeichnet werden. Shoghi Effendi erklärt hierzu: »Ein Welt-Überstaat, an den alle Nationen der Erde willig den Anspruch, Krieg zu führen, gewisse Rechte der Erhebung von Steuern und alle Rechte auf Kriegsrüstung außer zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung in ihren Gebieten abtreten — ein solcher Staat muß notwendigerweise in irgendeiner Form entwickelt werden. Sein Organisationsrahmen wird eine internationale Exekutive einschließen müssen, die jedem widerspenstigen Mitglied der Gemeinschaft ihre höchste und unantastbare Autorität aufzwingen kann; ein Weltparlament, dessen Mitglieder durch das Volk aller Länder gewählt werden und in ihrer Amtsübernahme von den jeweiligen Regierungen bestätigt werden, sowie einen Obersten Gerichtshof, dessen Urteil bindende Gültigkeit haben wird, selbst in Fällen, in denen die Parteien ihren Streit nicht freiwillig seiner Rechtsfindung unterwerfen.«9)
Eine solche zukünftige Weltordnung baut damit auf den demokratischen
Institutionen Weltregierung, Weltparlament und Oberster Gerichtshof auf. Sie
fordert zugleich menschliche Freiheit, die jedoch durch ein für alle bindendes
Recht eingegrenzt wird. Sie sieht das in der bisherigen Staatenbildung bewährte
Prinzip des Föderalismus als geeignetes Mittel vor, um die zentrale Machtkonzentration
auf der Seite der Weltinstitutionen zugunsten der weiterhin verbleibenden nationalen
Gremien auf ein unumgängliches Maß zu begrenzen.
Damit wird den berechtigten Ängsten gegenüber einer totalen Machtkonzentration
in den Händen eines zentralistischen Weltstaates begegnet. Der hier
vorgeschlagene Weltbundesstaat entspricht nicht einem Verlangen nach
mehr zentraler Macht, vielmehr der Realität, daß die heutigen nationalen
Regierungen zu klein für die großen Belange und zu groß für die kleinen
Belange der Menschheit sind — wie der
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Begründer des Club of Rome, Aurelio Peccei, treffend bemerkte. Hinsichtlich der
zu den »großen Belangen« zählenden Sicherheit der Völker fordert die
Bahá’í-Weltordnung zugleich einen durch alle Völker zu unterzeichnenden bindenden
Friedenspakt,10) dessen Einhaltung durch eine internationale Schutztruppe
gewährleistet werden muß. Dieses Prinzip einer von der Mehrheit der Völker
getragenen »kollektiven Sicherheit« kann alleine dem Wahnsinn des
Wettrüstens Einhalt gebieten.
Die Vereinten Nationen sind in dieser Frage mit der Einführung des Vetorechts gleich zu Anfang gescheitert. Über ein Jahrzehnt vor der Gründung der Vereinten Nationen wurde in den Bahá’í-Schriften durch Shoghi Effendi festgehalten: »Der Aufbau von Nationalstaaten ist zu einem Ende gekommen. Die Anarchie, die der nationalstaatlichen Souveränität anhaftet, nähert sich heute einem Höhepunkt. Eine Welt, die zur Reife heranwächst, muß diesen Fetisch aufgeben, die Einheit und Ganzheit der menschlichen Beziehungen erkennen und ein für allemal den Apparat aufrichten, der diesen Leitgrundsatz ihres Daseins am besten zu verkörpern vermag.«11) In dieser Erkenntnis der »Einheit und Ganzheit der menschlichen Beziehungen« über die heutigen Grenzen engen nationalen, sozialen, rassischen oder religiösen Denkens hinaus liegt der treibende Impuls in der Bahá’í-Weltordnung. In dem Wort Bahá’u’lláhs »Die Erde ist nur ein Land, und alle Menschen sind seine Bürger«12) wird die Forderung umrissen, daß die Menschheit in allen wesentlichen Angelegenheiten geeint vorgehen muß. Die heutige Weltpolitik scheint noch dem umgekehrten Prinzip ihren Schwur zu leisten: Was dir nicht schadet, kann mir nicht nützen! Die Beschwörungsformeln Freiheit und Wachstum dürfen niemanden mehr über die versteckten Maximen hinwegtäuschen, derer sich die heutige Politik noch bedient. Erst die Einsicht, daß die Menschheit ein Organismus ist, dessen einzelne Teile einer globalen Steuerung und weltweit verbindlichen Rechtsprechung bedürfen, kann einer neuen Politik zum Durchbruch verhelfen, der von Bahá’u’lláh vor über 100 Jahren begründeten Politik der Einheit der Menschheit.
Die Umwandlung des bestehenden Systems souveräner Nationalstaaten in
die neue Weltordnung wird dadurch erschwert, daß von der gegenwärtigen
nationalen Politik, ihren Institutionen, Praktiken und Zielsetzungen ausgegangen
werden muß. Ein gewaltsamer Bruch mit der bestehenden Ordnung
stünde im Widerspruch zu den Prinzipien der Freiheit und Gerechtigkeit, die
die neue Ordnung tragen sollen. Anarchie oder Gewaltherrschaft könnten
allzuschnell das Ergebnis eines solchen Umsturzes sein, so daß nur der Weg
einer evolutionären Umwandlung bleibt. Unsere Hoffnung kann jedoch
nicht auf beliebig langsamen Veränderungen gründen. Die Geschwindigkeit,
mit der sich die Menschheitskrise auf allen Gebieten vertieft, läßt immer
weniger Zeit für eine Lösung übrig. Die Evolution in der Natur kennt Phasen
langsamer Änderung, dann aber auch
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spontanes Umschlagen in einen neuen Zustand des Wachstums. Solche Phasenübergänge
treten plötzlich auf: Die Erhöhung der Konzentration in einer
Salzlösung führt ab einem gewissen Wert abrupt zu Kristallbildung — einer
neuen Ordnungsstruktur — die zunächst aber punktuell von wenigen einzelnen
Kristallisationskeimen ausgeht. Das Studium von Systemen in der belebten und
unbelebten Natur, in denen »Chaos« abrupt in einen stabileren Zustand der
Ordnung übergeht, hat in den letzten Jahren in der Wissenschaft der
Synergetik Bedeutung erlangt. Weit davon entfernt, Erfahrungen mit
»überschaubaren« Systemen einfach auf das komplexe System menschlichen
Zusammenwirkens anwenden zu wollen, können uns diese Vergleiche zumindest
darin ermutigen, die Entstehung einer neuen Weltordnung als Ergebnis einer
inneren Umwandlung zu erwarten, die sich in einem Zeittempo ergibt, das in
der Vergangenheit nicht seinesgleichen hatte. Diese
Erwartung wird durch die folgenden Einsichten gestärkt, zu deren
Überprüfung die Bahá’í-Lehren auffordern:
1. Die Erneuerung der bestehenden Ordnung ist notwendig, um die Menschheit aus der Gefahr der Selbstvernichtung herauszuführen.
2. Die von Bahá’u’lláh vorgeschlagene Weltordnung auf der Grundlage eines Weltbundesstaates stellt eine reale Möglichkeit der dauerhaften Friedenssicherung nach dem Prinzip der kollektiven (statt nationalen oder bündnisgebundenen) Sicherheit dar.
3. Der Weltbundesstaat ist der konsequente Abschluß der Staatenbildung im Verlauf der Geschichte.
4. Der Mensch ist nicht von Natur aus unfähig, das Zusammenleben in der neuen Weltordnung zu verwirklichen. Er wird dazu fähig durch das Bewußtsein, Bürger einer Welt zu sein, und durch den Verzicht auf die Politik der Macht im bisherigen Sinne.
Der neue Mensch
Die dritte Dimension des Bahá’í-Friedenswegs liegt schließlich in der Umwandlung des Menschen selbst, die als langfristiger Prozeß zu sehen ist. Sie ist unumgänglich, da sie untrennbar verbunden ist mit den Prinzipien der Abrüstung und der neuen Weltordnung. Ohne sie wären jene letztlich zum Scheitern verurteilt, bestenfalls von nur vorübergehendem Erfolg. Der neue Mensch ist in seinem Denken und Tun geleitet von einem neuen Bewußtsein, dem Weltbewußtsein an Stelle des Nationalbewußtseins: »Es rühme sich nicht, wer sein Vaterland liebt, sondern wer die ganze Welt liebt«13); ihn kennzeichnet die Bereitschaft zur Kooperation an Stelle von Konfrontation und Gewalt, Solidarität anstatt der Feindschaft, Dienen (für die Belange der Menschheit) an Stelle des Herrschens, geistige Orientierung an Stelle materieller Konsumbefriedigung; die Erkenntnis Gottes als Wurzel des Daseins, jedoch in einer Weise, die Vernunft und religiöse Einsicht nicht als antagonistisch hinnimmt, sondern als grundsätzlich in Übereinstimmung befindlich. Die wohl tiefste Ursache für die heutige Krise liegt in der Entseelung des modernen Menschen und in dem zunehmenden Sinnverlust, die im Gefolge der Entthronung der alten Religionen und der Herrschaftsübernahme durch die Konsumgesellschaft auftraten.
Die Forderung der Umkehr zu einem neuen Menschen setzt nicht voraus, daß
der bisher immer als recht unvollkommen erlebte Mensch nun plötzlich vollkommen
werden soll. Dies wäre
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unglaubhaft. Die Bahá’í-Religion geht hier vielmehr von zwei Vorstellungen aus:
1. Jede der Religionen in der Geschichte der Menschheit hat gezeigt, daß eine
geistige und sittliche Neuorientierung des Menschen möglich ist. 2. Aus der
Tatsache, daß nicht schon die Religionen der Vergangenheit (z.B. das Christentum)
die für den heutigen Menschen geforderten Tugenden in ausreichendem
Maße verwirklicht haben, folgt nicht die Unerreichbarkeit dieses Ziels, sondern
höchstens, daß jede Religion nur eine begrenzte Wirkung hat; was für den
Weltfrieden heute notwendig erscheint, war für den vor 2000 Jahren in einer
Hirten- und Bauerngesellschaft lebenden Menschen im Grunde entbehrlich.
Der Lehre Christi kann nicht der Vorwurf gemacht werden, sie habe nicht
den Menschen hervorgebracht, den wir heute fordern, da dies auch nicht ihre
Aufgabe war.
Die Erneuerung des Menschen ist erst durch das Wirken des Zeitfaktors glaubwürdig: Die heutige Zeit bedingt sowohl die Notwendigkeit als auch die reale Möglichkeit zu Weltfrieden und Weltordnung und damit zu einem neuen Menschen. Die Notwendigkeit, weil damit die Katastrophe der Selbstzerstörung gebannt wird; die reale Möglichkeit, weil sowohl die Mittel der Kommunikation als auch die Gemeinsamkeit der Interessen in ausreichendem Maße vorhanden sind.
Ansätze zu einer Friedenserziehung
Den Weltfrieden ernst zu nehmen, bedeutet zu akzeptieren, daß sich der Mensch selbst ändern muß. Manipulation oder Gewalt können dabei nicht erlaubt sein, da sie den hier beschriebenen Prinzipien der Weltordnung und des Weltfriedens entgegengesetzt sind. Da die Änderung des Menschen auch nicht durch ein kosmisches oder mystisches Ereignis erwartet wird,14) verbleibt der Weg der Erziehung. Die Bahá’í-Religion sieht diesen Weg in zweifacher Hinsicht:
1. Erziehung setzt einen Erzieher voraus. Die Religionsstifter werden als »Erzieher der Menschheit« verstanden. Ihr Wirken ist fortschreitend, aufeinander aufbauend, was mit dem Begriff »fortschreitende Gottesoffenbarung« umschrieben wird. Bahá’u’lláh gilt als Erzieher zum Weltfrieden und zur Einheit der Menschheit.
2. Die eigentliche Umwandlung des Menschen an Hand der von Bahá’u’lláh aufgestellten Maßstäbe geschieht durch die aktive Mitwirkung in einer Weltgemeinschaft, die bereits die Strukturen einer geeinten Menschheit aufweist. Im Felde der praktischen Erfahrung in der Gemeinschaft und durch Selbsterziehung können neue Qualitäten im Menschen verwirklicht werden.
Im folgenden werden einige Aspekte dieser Friedenserziehung geschildert, die als konkreter Beitrag der Bahá’í-Religion zur Friedensfrage verstanden sein wollen. Naturgemäß kann es sich hier nur um einen Überblick handeln, der die von den Bahá’í-Lehren ausgehenden Impulse für eine Friedenserziehung15) umreißt.
Eines der gefährlichsten Klischees verbirgt sich hinter der verbreiteten
Vorstellung, daß Kriege letztlich eine Folge der aggressiven und egoistischen Natur
des Menschen seien: Es hat in der
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Vergangenheit immer Kriege gegeben, daher müsse es auch in der Zukunft weiterhin
Kriege geben, da sich die Natur des Menschen nicht ändere. Wer an
einen eigenständigen Aggressionstrieb glaubt, wird bezweifeln, daß der Krieg
vom Angesicht der Erde verbannt werden kann. Freud und mit ihm viele moderne
Verhaltensforscher lehren die Existenz eines solchen Triebes. Wäre dies
wahr, dann verbliebe nur die unbefriedigende Hoffnung darauf, daß ein Krieg
bestenfalls aufschiebbar ist. Dem stehen aber anthropologische Forschungen
entgegen, die zeigen, daß es Kulturen gibt, in denen nur friedliche Konfliktlösungen
bekannt sind. Demnach sind die eigentlichen Voraussetzungen für Kriege in der
Existenz von Vorurteilen nationaler, rassischer, sozialer und religiöser
Natur zu sehen.16) Die Kreuzzüge und die Glaubenskriege der Neuzeit legen
dafür Zeugnis ab. Die Massenkriege des 20. Jahrhunderts wären — ungeachtet
der unmittelbar auslösenden Momente — undenkbar ohne die von nationalen
und rassischen Vorurteilen bewegten Massen.
Die Beseitigung von Vorurteilen jeder Art ist ein Grundziel der Bahá’í-Erziehung
und nach den Bahá’í-Lehren eine wesentliche Voraussetzung für die
Verbannung des Krieges. Der Weg hierzu liegt in der Erkenntnis der Gleichwertigkeit
aller Menschen auf der Grundlage der Einsicht, daß alle Geschöpfe eines
Gottes sind, der sich allen Völkern und Kulturen in größeren Zeitabständen
geoffenbart hat. Es mag die Meinung bestehen, daß die Gleichwertigkeit auch
auf der Basis einer allgemeinen Humanität verwirklichbar sei. Dieses Jahrhundert
hat nicht nur einmal gezeigt, wie leicht Humanität dem Eigennutz
zum Opfer fallen kann. Die Rassendiskriminierung durch den Nationalsozialismus
ist mit der Forderung nach Reinhaltung der eigenen Rasse und ihrem
Schutz vor Verfremdung und Verweichlichung durch Rassenmischung verteidigt
worden. Der in den Abgrund führende Ruf nach »höherer rassischer
Qualität« mag Vergangenheit scheinen. Dennoch gibt es keinen Schutz davor,
daß das Ideal der Humanität nicht auf neue Art mißbraucht wird. Könnte
nicht die an sich humane Forderung nach Erhaltung der materiellen Lebensqualität
in den Industrieländern gegen die Menschen in der Dritten Welt gerichtet
werden — oder ist das etwa schon der Fall? Für die Bahá’í liegt die
Wende in einer Neuorientierung zu Gott hin: Die »vertikale Dimension« muß
mit neuem Inhalt gefüllt werden. Der technisch-wissenschaftliche Fortschritt
hat sich in der »horizontalen Dimension« maßlos ausgewirkt und ist heute
an ungewollte, aber unabänderliche Grenzen gestoßen, die mit technischen
Mitteln alleine nicht beherrschbar sind. Eine neue Hinwendung zu Gott kann
nur auf eine Weise geschehen, die für alle Menschen gleichermaßen annehmbar
ist, die frei ist vom Ballast obskurer Traditionen und von Vernunftfeindlichkeit.
Gott ist der Vater aller Menschen, der sich im Verlauf der Geschichte von Zeit
zu Zeit den verschiedenen Völkern gleichwertig offenbarte, während er
sich in unserer Zeit in der Bahá’í-Offenbarung der gesamten Menschheit
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zuwendet. Mit dieser fundamentalen Einsicht, die weit mehr als Toleranz ist,
beginnt bereits die Erziehung der Kinder. Der allgemeine Toleranzbegriff ist
eher ein bequemes Alibi: Man »duldet« Andersdenkende oder Andersgläubige,
kümmert sich weiter nicht um sie und ist letztlich allein von der eigenen Wahrheit
überzeugt. Die Bahá’í-Erziehung geht davon aus, daß es keine bessere Vorbereitung
für den Frieden gibt, als die gegenseitige Anerkennung fundamentaler
Wahrheiten — auf gleicher Ebene — und die Bereitschaft, das Gemeinsame
an Stelle des Trennenden zu sehen. Das positive Denken gilt auch für die
Beziehung der Religion zur Wissenschaft. Die in der christlichen Theologie — nicht
von Jesus selbst — verteidigte Unverträglichkeit von Glauben und Vernunft
ist dem Bahá’í-Denken fremd: Wahre Religion kann keinen Widerspruch zwischen
Glauben und Vernunft lehren, vielmehr sind beide aufeinander angewiesen.
'Abdu'l-Bahá vergleicht die Menschheit mit einem Vogel, der zwei
Flügel besitzt, den des Glaubens und den der Vernunft. Benützt sie nur ersteren,
dann ist sie in Gefahr, in Aberglauben und Fanatismus zu versinken; der
zweite Flügel allein bringt die Gefahr des Absturzes in den Materialismus. Beide
Extreme sind uns bekannt — jetzt liegt unsere Chance in einem neuen Gleichgewicht.
Keine Nation kann bestehen ohne die Loyalität des Bürgers zu dieser Nation und ihren Einrichtungen. Diese Loyalität ist niemandem angeboren, sondern Ergebnis eines geschichtlichen Prozesses. Der Fortbestand der Menschheit erfordert gleichermaßen die Entwicklung eines neuen Bewußtseins der Loyalität zur ganzen Menschheit. Das haben sich die Bahá’í zum Ziel gemacht. Sie sind hierin ohne Zweifel eine Minderheit in einer Welt, in der — wie widersinnig es auch sein mag — immer mehr der Ruf nach Rückbesinnung auf nationales Selbstgefühl hörbar wird.
Wie kann die Einstellung, die zu einer friedvollen Menschheit führen soll,
praktisch verwirklicht werden? Unsere Einstellungen und Verhaltensweisen
werden immer wesentlich durch die Struktur der Gruppe bestimmt, in der
wir uns bewegen, sei es Familie, Wohngemeinde, Kollegenkreis bis zur — im
allgemeinen nur noch indirekt erlebten — Weltöffentlichkeit. Die Resignation
des modernen Menschen gegenüber der Möglichkeit einer friedvollen Gesellschaft
rührt nicht nur von seiner negativen Einstellung zur Weltpolitik her, sondern
auch davon, daß er in der Regel die unmittelbare menschliche Umgebung
nicht als kreativ für neue Verhaltensweisen erlebt. Am Modell der
Bahá’í-Weltgemeinschaft sei ein praktisch erfolgreicher Weg kurz beschrieben.
Ihre Strukturen gehen auf den Religionsstifter Bahá’u’lláh selbst zurück, der die
Einrichtung eines Priesterstandes aufgehoben hat, da dieser der selbständigen
Erkenntnisfähigkeit des modernen Menschen nicht mehr entsprechen würde. Die
Keimzellen dieser Weltgemeinschaft sind »Geistige Räte«, aus neun erwachsenen
Bahá’í bestehende Gremien, die in jedem Ort mit über neun Bahá’í
durch demokratische Wahlen in jährlichem Abstand gebildet werden (derzeit
bestehen etwa 30000 solcher Geistiger Räte in aller Welt). Auf der nächst höheren
Ebene werden »Nationale Geistige Räte« gewählt (derzeit etwa 140 weltweit),
während auf Weltebene das »Universale Haus der Gerechtigkeit« die
höchste Körperschaft ist, die im Abstand von fünf Jahren gewählt wird. Die
örtliche Gemeinde mit ihrem Geistigen Rat ist die eigentliche Basis, auf der mit
hoher Eigenständigkeit das Prinzip der Selbstverwaltung praktiziert wird. Der
einzelne wird dabei in seinen Überlegungen durch die Lehren Bahá’u’lláhs
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geleitet. In allen Bahá’í-Gremien werden Entscheidungen auf dem Weg der Beratung
und anschließenden Abstimmung gefunden. Die eigentliche Kunst wird in
der Beratung gesehen, deren Ziel die optimale Wahrheitsfindung ist, ohne
Parteienbildung und Interessenkämpfe. In den Beratungsprozeß ist im Grunde die
gesamte Bahá’í-Gemeinde mit einbezogen. Als Richtschnur gilt, bei der Lösung
der lokalen Probleme die regionalen und nationalen Belange im Auge zu
behalten, während bei der Lösung nationaler Probleme weltweite Maßstäbe
angelegt werden müssen. Damit besteht eine direkte Brücke zwischen der
örtlichen Gemeinde und der durch das Universale Haus der Gerechtigkeit
geführten Weltgemeinde. Auf dem Wege der Beratung in der örtlichen Gemeinde
kann der Vorschlag eines einzelnen Bahá’í über die nationale Ebene für die
gesamte Bahá’í-Welt Gültigkeit erlangen. Dabei ist von praktischer Bedeutung,
daß örtliche Gemeinden mit Angehörigen verschiedener Rassen bzw.
nationaler oder religiöser Herkunft eher die Regel als eine Ausnahme sind. Diese
Struktur kommt dem Abbau von Vorurteilen in der tätigen Gemeinschaft
zugute. Sie erweist sich auch als sehr geeignet bei dem derzeit weltweit von
den Bahá’í begonnenen Aufbau von Projekten zur sozialen und wirtschaftlichen
Entwicklung zum Nutzen der Allgemeinheit. Hierzu gehören für die Länder der
Dritten Welt Projekte auf dem Gebiet der Landwirtschaft, Hygiene, Erziehung,
des Schutzes von Minderheiten, der Verständigung zwischen verschiedenen
einander ablehnenden Gruppierungen und andere mehr. Friedensdienst ist
heute weit mehr, als gegen Krieg zu sein. Während in der
Vergangenheit Friede immer dann war, wenn kein Krieg herrschte, sehnen wir
uns heute nach Frieden, obwohl — zumindest in unserem Teil der Welt — kein
Krieg ist. Die Hoffnung auf Frieden ist zugleich die Hoffnung auf eine bessere
Welt. 'Abdu'l-Bahá sagte im Jahre 1911: »Ich heiße euch alle und jeden von euch,
all euer Denken und Fühlen auf Liebe und Einigkeit zu richten. Wenn ein
Kriegsgedanke kommt, so widersteht ihm mit einem stärkeren Gedanken des
Friedens. Ein Haßgedanke muß durch einen mächtigeren Gedanken der Liebe
vernichtet werden. Kriegsgedanken zerstören alle Eintracht, Wohlfahrt, Ruhe
und Freude ... Haltet den Frieden der Welt nicht für ein unerreichbares
Idealbild!«17)
- 1) Gott gilt als die unabhängige Ursache allen Seins; der Mensch verkörpert im Laufe der Evolution zunehmend göttliche Eigenschaften, zumindest über größere Zeitabschnitte hinweg. Hierzu gehört die Fähigkeit zu Erkenntnis, Liebe und Gerechtigkeit, die sich nach Bahá’í-Vorstellung im sozialen Gefüge niederschlagen muß. Die dem Judentum, Christentum oder Islam eigene Vorstellung eines »Reiches Gottes« wird in der Bahá’í-Religion gesellschaftsimmanent interpretiert. In seiner Verwirklichung als gerechte, friedvolle und von zerstörerischen Gegensätzen befreite Weltordnung liegt die eigentliche Herausforderung der Menschheit.
- 2) Vgl. Ährenlese, Hofheim-Langenhain 31980, 101-120; Die Verkündigung Bahá’u’lláhs, Frankfurt 1967.
- 3) So wurden die historisch bedeutsamen Sendschreiben Bahá’u’lláhs im Jahre 1967 (siehe Anm. 2) allen Staatsführern der Erde als Aufruf zum Frieden übergeben.
- 4) Bahá’í International Community (BIC), New York City, UN Plaza. Zur Beziehungsgeschichte zwischen der BIC und den Vereinten Nationen siehe The Bahá’í World XVII, Haifa 1981, S. 229-245.
- 5) Bei der Explosion einer 20-Megatonnen-Bombe (20 Mio. Tonnen Explosivkraft, entsprechend dem 1600fachen der Hiroshimabombe) würde ein Feuerball von 5 Kilometer Durchmesser entstehen, falls die Bombe in etwa 10 Kilometer Höhe gezündet wird. Im Umkreis von 30 Kilometern fallen alle Menschen, die sich im Freien aufhalten, der Hitze zum Opfer. Im Umkreis von 20 Kilometern werden durch die Druckwelle alle Gebäude völlig zerstört. Bei einer Bodenexplosion ist der Feuerball doppelt so groß: die meisten Gegenstände und sämtliche Menschen verdampfen und steigen mit dem Feuerball hoch, der zu einem gewaltigen, die Sonne verfinsternden Atompilz wird. Der radioaktive Niederschlag aus der Pilzwolke verseucht Tausende von Quadratkilometern mit einer tödlichen Strahlendosis.
- 6) Ährenlese 117
- 7) Ährenlese 131:2
- 8) Zitiert in Abrüstung und Weltfrieden. Eine Erklärung der Internationalen Bahá’í-Gemeinde, Hofheim-Langenhain 1980, S. 29
- 9) Die Weltordnung Bahá’u’lláhs, Hofheim-Langenhain 1977, S. 66
- 10) In den Bahá’í-Schriften wird der von den Nationen zu unterzeichnende weltweite Friedensvertrag, der die Voraussetzung für die Herstellung des Gleichgewichts in der Ordnung der Welt ist, als »geringerer Friede« bezeichnet, der noch in diesem Jahrhundert erreichbar ist. Unter dem Begriff »Größter Friede« wird eine längerfristige Verwandlung der menschlichen Gesellschaft verstanden, die zu einer endgültigen, anhaltenden Verbannung des Krieges vom Angesicht der Erde führt.
- 11) Weltordnung, S. 295f
- 12) Botschaften aus ’Akká, Hofheim-Langenhain 1982, 11:13
- 13) Bahá’u’lláh, Botschaften aus ’Akká 7:13
- 14) Der allen Religionen vertraute Begriff »Endzeit« wird durch Bahá’u’lláh nicht als kosmische Umwandlung der Erde, sondern als Umbruch zu einem neuen Zeitalter, dem der Einheit der Menschheit, interpretiert; auch Begriffe wie Himmel und Hölle werden nur als symbolische Bezeichnungen für Gottnähe und Gottferne verstanden.
- 15) Vgl. hierzu Hossain Danesh, Die gewaltlose Gesellschaft: ein Geschenk für unsere Kinder, in: Farzin Dustdar (Hrsg.), Ausweg aus der Krise
- 16) Diese These wird von Badi Panahi (Vorurteile: Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus in der Bundesrepublik heute, Frankfurt 1980) durch empirische soziologische Untersuchungen erhärtet. So findet Panahi, daß Menschen mit rassischen oder nationalen Vorurteilen überwiegend die Möglichkeit einer friedvollen Gesellschaft ablehnen. Es bestehen auch sehr deutliche Korrelationen zwischen verschiedenen Arten von Vorurteilen, wonach beispielsweise religiös vorurteilshafte Personen zugleich starke rassische oder nationale Vorurteile besitzen.
- 17) Ansprachen in Paris, Oberkalbach 61973, S. 18; zitiert nach H.M. Balyuzi, 'Abdu'l-Bahá, Bd. 1, Hofheim-Langenhain 1983, 5. 232
Badi Panahi
VORURTEILE UND WELTFRIEDEN[Bearbeiten]
- Überarbeitete Fassung eines Radiovortrags am 28. Juni 1981 im Südwestfunk in der Sendereihe »Die Aula«. Der Beitrag basiert auf den Ergebnissen einer empirischen Untersuchung des Autors über Vorurteile in der Bundesrepublik Deutschland: Vorurteile. Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus ... in der Bundesrepublik heute, S. Fischer Verlag, Frankfurt 1980.
In seinem am 30. Juli 1932 an Sigmund Freud gerichteten Brief stellt Albert Einstein
die Frage: »Gibt es eine Möglichkeit, die psychische Entwicklung der Menschen
so zu leiten, daß sie den Psychosen des Hasses und des Vernichtens gegenüber
widerstandsfähiger werden?«1) Auf diese Frage gibt Freud die Antwort:
»Wenn die Bereitwilligkeit zum Krieg ein Ausfluß des Destruktionstriebs ist,
so liegt es nahe, gegen sie den Gegenspieler dieses Triebes, den Eros, anzurufen.
Alles, was Gefühlsbindungen unter den Menschen herstellt, muß dem Krieg
entgegenwirken... Die Psychoanalyse braucht sich nicht zu schämen, wenn sie
hier von Liebe spricht, denn die Religion sagt dasselbe: Liebe deinen Nächsten
wie dich selbst. Das ist nun leicht gefordert, aber schwer zu erfüllen.«2)
Wenn aber die Bereitwilligkeit zum Krieg ein Ausfluß potentieller Aggression ist, dann ist jede Aussicht auf die Realisierung der Welteinheit oder des Weltfriedens illusorisch. Die menschliche Aggressivität muß nicht unbedingt auf einen selbständigen Destruktionstrieb zurückgeführt werden, wenn die erzieherischen und gesellschaftlichen Einflüsse bei der Entstehung von Feindseligkeit die wichtigste Rolle spielen. Wer von der Existenz einer primären Aggressivität überzeugt ist, die nur besänftigt werden kann, der muß zwangsläufig auch den Krieg rechtfertigen.
Der Postulierung eines eigenständigen Todes- oder Destruktionstriebes steht entgegen, daß einige Völker der Welt ihre Streitigkeiten und Konflikte auf friedliche Weise beilegen können. Die Hypothese, daß der Krieg ein unvermeidliches Ereignis des menschlichen Kulturlebens sei, wird durch eine Reihe ethnologischer und anthropologischer Untersuchungen widerlegt. Diese Forschungen haben ergeben, daß es Kulturen gab, die den Krieg nicht kannten.
Sigmund Freud, Konrad Lorenz und viele andere Exponenten der modernen Verhaltensforschung vertreten die Ansicht, daß der Mensch kein sanftes und liebebedürftiges Wesen sei. Sie argumentieren folgenderweise: Da aggressives Verhalten ein durch alle Zeiten und alle Bevölkerungsschichten immer wieder auftauchendes Phänomen ist, liegt einem solchen Verhalten ein selbständiges Potential zugrunde. »Homo homini lupus: wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten?«3) Dieser Satz stammt von Freud.
Die Kräfte und Faktoren, die hemmend auf die Verwirklichung der Einheit
der Menschheit oder einer einigen Welt wirken, liegen nicht in einem
eigenständigen Aggressionstrieb, sondern in tiefverwurzelten, aber erworbenen
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sozialen Vorurteilen, die durch das Leben der Völker wie eine Erbkrankheit
von Generation zu Generation fortgeschleppt werden.
Die tiefverwurzelten sozialen Stereotype sind nichts anderes als rassische, antisemitische, ethnozentrische, nationale, religiöse, politische und wirtschaftliche Vorurteile, die die Krankheiten der menschlichen Gesellschaften verursacht haben. Die traurigen Kriege der Weltgeschichte wurden durch das eine oder das andere dieser Vorurteile hervorgerufen. Beispiele dafür sind die religiösen Kriege (Kreuzzüge) zwischen den islamischen und christlichen Nationen, die vom Ende des 11. bis zum Ende des 13. Jahrhunderts dauerten und große Blutopfer forderten. Religiöse Vorurteile, eine der schwer zu beseitigenden seelischen Krankheiten der menschlichen Rasse, treten immer wieder in Erscheinung. Der französische Historiker und Religionsphilosoph Ernest Renan berichtet in seinem Buch »Die Apostel« über jene tragischen Ereignisse, die sich im 19. Jahrhundert in Persien abspielten. Renan schreibt: »Ein Tag ohnegleichen in der Weltgeschichte ist vielleicht der, an welchem in Teheran die große Metzelei an den Babisten begangen wurde. Man sah an diesem Tage in den Straßen und Bazaren von Teheran ein Schauspiel, das die Bevölkerung wohl nie vergessen wird. Heute noch, wenn davon die Rede ist, kann man die mit Entsetzen vermischte Bewunderung wahrnehmen, welche die Menge empfand und welche mit den Jahren nicht verringert wurde.«4) Die grausamen Verfolgungen und Hinrichtungen finden heute noch statt. Tausende Anhänger der Bahá’í-Religion sind jetzt in Persien von der Todesstrafe bedroht. Die Regierungen der Welt und die Weltöffentlichkeit sollten davon Kenntnis nehmen. Soviel über religiöse Vorurteile.
Das größte Hindernis, das heute wie in früheren Zeiten die Verwirklichung
einer universalen Friedensordnung unterbindet und auf die internationalen
Beziehungen der Einzelstaaten zueinander einen schädlichen Einfluß ausübt,
ist ein ins Ungeheuerliche gesteigerter Nationalismus, der die Nation über die
Menschheit erheben will. Die schlimmsten Götzenbilder, die die Geschichte
der Menschheit während des 19. und 20. Jahrhunderts beherrschten und unter
den Nationen und Völkern der Welt Haß, Zwietracht, Rivalität und Feindseligkeit
erzeugten, sind Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus. Es bedarf
keiner Erklärung, daß die Verherrlichung dieser Götzen den Aufstieg
heuchlerischer, demagogischer, grausamer und unglaublich verbrecherischer
Regime verursacht hat. Historisch betrachtet, liegen die Ursprünge dieser
Götzenbilder im Anfang des 18. Jahrhunderts, als der führende Rassentheoretiker
dieser Zeit, Comte de Boulainvilliers, seine Frankenlegende über die Entstehung
des französischen Volkes aufstellte. Zur Zeit der Französischen Revolution war
die Rassenlehre wissenschaftlich erledigt. Während der Revolution stellten sich
einige Schriftsteller Frankreichs die Aufgabe, die Idee einer
zweigeteilten französischen Nation (Franken und Gallier), die auf Boulainvilliers
zurückgeht, weiter auszubauen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erschien
in Frankreich eine Reihe von Büchern, die sich wie frühere Publikationen mit
den Legitimationsproblemen der französischen Aristokratie befaßten. Der
Gedanke einer allgemeinen Überlegenheit der französischen Aristokratie,
bedingt durch deren Abstammung von den Germanen, wurde von zahlreichen
Repräsentanten der Rassentheorie während des 19. Jahrhunderts leidenschaftlich
vertreten. Diese sahen in der Revolution von 1789 einen Aufstand der [Seite 103]
gallischen Plebejer gegen ihre germanischen Eroberer. Es entstand allmählich
eine besondere Art von Germanophilie. In seinem 1853 erschienenen Werk
„Essai sur l'inégalité des races humaines« vertritt Comte Joseph Arthur de
Gobineau eine pessimistische Geschichtsauffassung, die auf die Situation
der entmachteten französischen Aristokratie zurückzuführen ist. Trotz
der restaurativen Bemühungen der Rassenideologen Frankreichs befand sich
die Aristokratie nach Gobineau im Niedergang. Für ihn war die Französische
Revolution nichts anderes als der Ausdruck einer ungerechtfertigten Empörung
der Plebs gegen die höhere Rasse. Der Begriff Arier stand bei ihm im
Mittelpunkt seiner rassentheoretischen Analysen.
Die Idee von der Großartigkeit der arischen Rasse wurde also im 19. Jahrhundert systematisch entwickelt. Sie erlangte später durch den Nationalsozialismus eine ungeheuerliche Bedeutung. In Rosenbergs »Der Mythus des 20. Jahrhunderts« und in Hitlers »Mein Kampf« wurde diese Idee zum Fundament der nationalsozialistischen Weltanschauung. Im Arier fand Hitler den Übermenschen, von dem Nietzsche das Heil der menschlichen Gesellschaft erwartet hatte. Der Rassenmystizismus Hitlers richtete sich vor allem gegen die Juden. Sein paranoider Judenhaß zieht sich wie ein roter Faden durch die Seiten seines Buches.
Die Judenfrage gehörte wesensmäßig zur nationalsozialistischen Herrschaft und Ideologie. Ohne antisemitische Gesinnung wäre das ganze Gebäude der nationalsozialistischen Weltanschauung in sich zusammengebrochen. Der Antisemitismus hing also mit dem Faschismus sehr eng zusammen. Beide haben einige unmittelbare geistige Ahnen gehabt. Neben Lagarde gilt Chamberlain als das wichtigste ideologische Verbindungsglied zwischen den alten Rassentheorien und dem späteren Faschismus. In seinem Buch »Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts« betrachtet Chamberlain die Juden als ein fremdes Element in der abendländischen Geschichte und Kultur. Chamberlain und Wagner sorgten vor allem dafür, daß sich die Rassenlehre Gobineaus in Deutschland weit verbreitete.
Soweit über einige geschichtliche Betrachtungen des Rassenvorurteils. Die Frage, ob es in der modernen Industriegesellschaft noch rassische und antisemitische Vorurteile gibt, muß mit ja beantwortet werden. In einer sorgfältigen Untersuchung der von mir in Auftrag gegebenen Repräsentativumfrage bei der erwachsenen Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1977/78 kam ich zu dem Ergebnis, daß in der Bundesrepublik rassische, antisemitische, ethnozentrische und nationale Stereotype nicht nur stark ausgeprägt sind, sondern daß überdies zwischen diesen Vorurteilen ein enger Zusammenhang besteht. Das heißt: Die Menschen, die gegenüber einer bestimmten Fremdgruppe vorurteilsvoll sind, müßten auch gegenüber den anderen voreingenommen sein. Personen, die beispielsweise Neger als Vorgesetzte von Weißen ablehnen, neigen sehr wahrscheinlich auch dazu, Gastarbeiter als Schwiegersöhne abzulehnen. Oder, die Individuen, die den Negern negative Charaktereigenschaften wie grausam, streitsüchtig und träge zuschreiben, tendieren sehr wahrscheinlich auch dazu, Gastarbeiter als Vorgesetzte abzulehnen.
Die Vorurteile gegen Fremdgruppen ergänzen sich also wechselseitig. Meine
empirische Untersuchung hat eindeutig gezeigt, daß Personen mit ethnozentrischen
Einstellungen sehr wahrscheinlich auch mit rassischen und antisemitischen
Vorurteilen behaftet sind. Menschen,
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die beispielsweise der Überzeugung sind, daß die Juden einen schädlichen
Einfluß auf die christlich-abendländische Kultur ausüben, sind mit großer
Wahrscheinlichkeit auch gegen bestimmte soziale Rollen und Funktionen
der Neger und Gastarbeiter (z.B. als Vorgesetzte). Personen, die der Auffassung
sind, daß einige Rassen ihrer Veranlagung nach unmoralischer oder kriegerischer
sind als die anderen Rassen, tendieren mit großer Wahrscheinlichkeit auch dazu,
gegenüber den Juden negative Einstellungen und feindselige Gefühle zu entwickeln.
Die rassischen, antisemitischen, Anti-Neger- und -Gastarbeiter-Stereotype
ergänzen sich wechselseitig.
Eines der wichtigsten Resultate, das ich in der Repräsentativumfrage von 1977/78 erzielt habe, bezieht sich auf den Zusammenhang zwischen rassischen, antisemitischen, ethnozentrischen Vorurteilen und dem Glauben an eine einige Welt oder an den Weltfrieden. Es konnte nachgewiesen werden, daß zwischen Rassismus, Antisemitismus, Ethnozentrismus und Ablehnung des Pazifismus eine positive Korrelation besteht. Das heißt: Je mehr die Menschen in rassischen und antisemitischen Kategorien denken und den fremden Völkern negative Eigenschaften zuschreiben, desto mehr neigen sie auch dazu, die Möglichkeit der Einheit der Menschheit oder einer einigen Welt abzulehnen. Während 24 Prozent der Versuchspersonen von der natürlichen Aggressivität fremder Völker überzeugt sind und gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit einer einigen Welt nicht ausschließen, bejahen 76 Prozent der Befragten ebenfalls die angeborene Aggressivität anderer Völker, lehnen aber die Möglichkeit der Einheit der menschlichen Rasse völlig ab. Diejenigen Befragten, die überzeugt sind, daß einige Völker von Natur aus kriegerischer als andere Völker oder einige Rassen ihrer Veranlagung nach unmoralischer als die anderen sind, entwickeln gegenüber Fremdgruppen, wie Gastarbeitern, Negern und Juden negative Einstellungen und feindliche Impulse. Probanden mit dieser Einstellung neigen gleichzeitig dazu, die Wahrscheinlichkeit einer einigen Welt oder eines dauerhaften Friedens unter allen Nationen irgendwann in Zukunft auszuschließen. Die Korrelation der rassischen, antisemitischen, der Anti-Neger- und -Gastarbeiter-Haltung mit der Einstellung zu Welteinheit und Weltfrieden ergibt ein Resultat, das für die internationale Vorurteils- und Friedensforschung von fundamentaler Bedeutung ist.
Was zum Beispiel die Korrelation zwischen Antisemitismus und Ablehnung des Pazifismus anbetrifft, so habe ich in meinen empirischen Untersuchungen die Reaktion der Bevölkerung auf die Frage: »Glauben Sie, daß es für alle Nationen der Welt irgendwann in Zukunft möglich sein wird, in Harmonie und Frieden zusammenzuleben?« mit der Reaktion auf das folgende Item »Die Juden sollten doch untereinander bleiben und sich nicht so viel in christliche Angelegenheiten und Organisationen einmischen.« in Verbindung gebracht. Mit 99,9%iger Wahrscheinlichkeit konnte nachgewiesen werden, daß die beiden Variablen (Antisemitismus und Verneinung des Pazifismus) in einem Zusammenhang stehen. Die beobachteten Häufigkeiten haben folgendes Bild vermittelt:
Es gibt Menschen, die keine antisemitischen Vorurteile haben und auch in
bezug auf den Weltfrieden optimistisch eingestellt sind (40 Prozent). Wir finden
auch Menschen, die ebenfalls keine Vorurteile gegen Juden haben, die aber
hinsichtlich der Möglichkeit des Weltfriedens pessimistisch sind (60 Prozent).
Während 27 Prozent der befragten
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Personen mit antisemitischen Tendenzen die Wahrscheinlichkeit eines dauerhaften
Friedens aller Nationen nicht ablehnen, halten dagegen 73 Prozent der Befragten
mit ebenfalls antisemitischen Gefühlen den Pazifismus nicht für möglich.
Menschen mit Vorurteilen lehnen nicht nur die Möglichkeit der Einheit der Menschheit oder des Weltfriedens ab, sondern äußern sich auch zynisch destruktiv über alle Bemühungen für die Abschaffung des Krieges. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Antipazifismus und Antiinternationalismus. Um diese Beziehung nachweisen zu können, habe ich die folgenden im Fragebogen enthaltenen Items miteinander in Verbindung gebracht. Die Bevölkerung wurde einmal befragt: »Ist die Einheit der Menschheit oder eine einige Welt Ihrer Meinung nach möglich?« und zum anderen: »Manche Leute meinen, es solle eine Weltregierung geben, die imstande ist, die politischen und sozialen Probleme zwischen den Nationen zu lösen und den Weltfrieden zu ermöglichen. Soll es nun eine solche Regierung geben oder nicht?« Die Ergebnisse dieser Korrelation sind statistisch hochsignifikant. Aus den Antworten läßt sich eine deutliche Korrelation ablesen: Je mehr die Menschen gegen die Errichtung einer Weltregierung eingestellt sind, um so stärker neigen sie auch dazu, die Möglichkeit einer einigen Welt zu verneinen. Während 17 Prozent der befragten Personen die Errichtung einer Weltregierung nicht für notwendig halten und gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit der Einheit der Menschheit nicht ausschließen, sind es dagegen 83 Prozent der Befragten, die weder eine einige Welt für möglich halten noch die Notwendigkeit einer Weltregierung postulieren. Der Antiinternationalismus schließt nicht nur negative Einstellungen zur Welteinheit oder zur künftigen Weltregierung, sondern auch Oppositionen gegen die Vereinten Nationen und gegen alle sonstigen internationalen Organisationen ein, die sich um die Verständigung und Zusammenarbeit der Völker der Welt bemühen.
Menschen, die gegenüber allen Bemühungen für die Abschaffung des
Krieges gleichgültig sind und sich zynisch destruktiv über Welteinheit und
Weltfrieden äußern, neigen auch dazu, die Kriege für unausweichlich zu halten.
In der Repräsentativerhebung von 1977/78 habe ich der Bevölkerung folgende
Fragen gestellt: »Glauben Sie, daß der Mensch von Natur aus aggressiv und
kriegerisch ist?« und »Glauben Sie, daß Kriege auf die menschliche Natur
zurückzuführen sind?«. 39,4 Prozent der Befragten sind der Überzeugung,
der Mensch sei von Natur aus aggressiv. 52,5 Prozent der Befragten teilen diese
Auffassung aber nicht. 8,1 Prozent haben keinerlei Meinung darüber. Während
30,6 Prozent der befragten Bevölkerung die Kriege nicht als Ausfluß der
menschlichen Natur betrachten, sind es dagegen 59,6 Prozent der Bevölkerung,
die in entgegengesetzter Richtung denken. 9,7 Prozent äußern keine Meinung.
Es ist wenig ergiebig, wenn wir eine Anzahl von Variablen unabhängig
voneinander betrachten. Bei diesen eindimensionalen Prozentwerten handelt es sich
zunächst um Feststellungen. Statistisch gesprochen, müssen die Ergebnisse der
univarianten Analysen durch bivariante Untersuchungen zu weitreichenden
theoretischen Aussagen zusammengefaßt werden. Wenn wir nun die beiden
Dimensionen (Aggressivität des Menschen und Zurückführung der Kriege auf
menschliche Natur) miteinander in Beziehung setzen, so erhalten wir Resultate,
die für die internationale Friedens- und Konfliktforschung äußerst wichtig
sind. Auch hier sind die Ergebnisse statistisch hochsignifikant. Mit 99,9 %iger
[Seite 106]
Sicherheit können wir nachweisen, daß zwischen beiden Dimensionen eine positive
Korrelation besteht. Während 4 Prozent der Probanden die natürliche
Aggressivität des Menschen bejahen und die Kriege nicht als Ausfluß
menschlicher Natur betrachten, sind es dagegen 96 Prozent der Befragten, die
ebenfalls von einer primären Feindseligkeit des Menschen überzeugt sind und
gleichzeitig die menschliche Natur für die Entstehung der Kriege verantwortlich
machen. Diese bivariablen Häufigkeiten erlauben uns, folgende Aussage
zu machen: Menschen, die von der Existenz einer primären Feindseligkeit
überzeugt sind, die nur besänftigt werden kann, müssen logischerweise auch
den Krieg rechtfertigen. Mit anderen Worten, Personen, die in menschlicher
Aggressivität nicht ein reaktives, sondern ein endogen-spontanes Verhalten
erblicken, müssen zwangsläufig auch den Krieg als Ausfluß der menschlichen
Natur betrachten. Die Auffassung über die Unvermeidbarkeit des Krieges hängt
also mit der Überzeugung von der Bösartigkeit der menschlichen Natur eng
zusammen.
Die weiteren statistischen Analysen haben erkennen lassen, daß die Einstellung zum Krieg mit der Auffassung über die Möglichkeit einer einigen Welt positiv korreliert. Das heißt: Menschen, die Kriege auf die menschliche Natur zurückführen, müssen logischerweise auch die Wahrscheinlichkeit der Einheit der Menschheit ausschließen.
Aus den bisherigen Überlegungen möchte ich folgende Schlußfolgerungen für die Wahrscheinlichkeit des Weltfriedens ziehen: Die Kräfte und Faktoren, die destruktiv auf die Verwirklichung der Einheit des Menschengeschlechts wirken, liegen nicht in einem eigenständigen Aggressionstrieb, sondern in den erworbenen sozialen Stereotypen, d.h. in religiösen, rassischen, antisemitischen, ethnozentrischen, politischen, wirtschaftlichen und nationalen Vorurteilen.
Die ungeheuren Kräfte und Vernichtungspotentiale dieser Stereotype müssen durch wirksame erzieherische Maßnahmen sowie langfristige Aufklärungsstrategien auf nationaler und internationaler Ebene bekämpft werden. In diesem Zusammenhang soll auf die Bedeutung des folgenden von der UNESCO aufgestellten Präambelsatzes hingewiesen werden: »Da Kriege in den Köpfen der Menschen beginnen, muß in den Köpfen der Menschen Vorsorge für den Frieden getroffen werden.« Wenn die Abschaffung des Krieges in den Köpfen, mit anderen Worten, wenn die Überwindung nationaler, rassischer, religiöser, wirtschaftlicher und politischer Vorurteile gelingt, dann kann ein Weltgemeinwesen entstehen, in dem alle Nationen, Rassen, Klassen und Glaubensbekenntnisse dauerhaft vereint zusammenleben können.
Die Einschränkung der nationalen Souveränität der Einzelstaaten zugunsten der
Souveränität der Menschheit ist heute die Grundvoraussetzung für die
Schaffung dieses Weltgemeinwesens. Der Verzicht auf uneingeschränkte nationale
Macht und Souveränität entspringt den Idealen eines kommenden
Humanismus, der den Frieden durch eine mittels Verhandlung entstehende
Ordnung garantieren will. Wenn Staaten zum Zweck der friedlichen Beilegung
ihrer Streitfragen und der Lösung des Friedensproblems zusammenkommen, dann
gilt zwischen ihnen der Vertrag, dem sich alle bedingungslos unterwerfen
müssen. Historisch betrachtet, konnten die Staaten Nordamerikas im
18. Jahrhundert nur durch Verhandeln und gemeinsamen Beschluß sowie
durch Verzicht auf einen wesentlichen Teil ihrer nationalstaatlichen
Souveränität zugunsten der Souveränität des
[Seite 107]
Ganzen zu einer höheren übernationalen Einheit gelangen.
Es besteht eine frappante Ähnlichkeit zwischen dem Zusammenschluß von Stadtstaaten zu einer Nation und der Vereinigung von Nationalstaaten in einem größeren einheitlichen Gesellschaftssystem. Der Weg scheint heute von den Nationalstaaten über die großen kontinentalen Führungsräume zur Weltgesellschaft zu gehen; diese benötigt eine Weltordnung. Der Weg zu dieser Weltordnung führt über den Verzicht aller Staaten auf einige wichtige Souveränitätsrechte zugunsten der übergeordneten Souveränität eines Weltgemeinwesens, das die Voraussetzung für die Freiheit aller Menschen im Atomzeitalter ist.
Bahá’u’lláh, der Begründer der Bahá’í-Religion, hat diese Entwicklung bereits vor hundert Jahren als notwendig vorhergesagt. Nachdem die Einheit der Familie, der Sippe, des Stadtstaats und der Nation in der Geschichte der Menschheit nacheinander versucht und verwirklicht wurden, ist die Einheit der Nationen das Kennzeichen der Stufe, der sich die menschlichen Gesellschaften allmählich nähern.
- 1) Albert Einstein, Brief an Sigmund Freud, Zürich 1972, S. 20
- 2) Sigmund Freud, Warum Krieg. Brief an Albert Einstein (September 1932), Zürich 1972, S. 41f
- 3) Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, G.W. Bd. XIV, Frankfurt 1968, S. 470
- 4) Ernest Renan, Die Apostel, Leipzig 1935, S. 305
Alle Vorurteile,
mögen sie solche der Religion,
der Rasse, der Politik oder der Nation sein,
müssen fallen,
denn diese Vorurteile
haben die Krankheit der Welt verursacht.
Es ist eine schwere Krankheit,
die, wenn ihr nicht Einhalt geboten wird,
die ganze Menschheit vernichten kann.
Alle verderblichen Kriege
mit ihrem furchtbaren Blutvergießen und Elend
wurden durch eines dieser Vorurteile
hervorgerufen.
'Abdu'l-Bahá
Ansprachen in Paris, S. 116
Huschmand Sabet
FRIEDEN, FRUCHT DER EINHEIT[Bearbeiten]
- Ansprache anläßlich der Präsentation seines Buches »Der Weg aus der Ausweglosigkeit« durch den Seewald Verlag am 29. März 1985 im Weißen Saal des Neuen Schlosses in Stuttgart vor etwa 600 Gästen. Das Koreferat hielt Franz Alt.
Die Konfrontation des Menschen mit dem zweiten Tod, mit der Möglichkeit
des kollektiven Todes der Menschheit, gibt nicht nur dem Krieg eine neue
Dimension, sondern auch dem Frieden. Frühere Friedensverträge waren kurzlebig.
In seltenen Fällen hielten sie Jahrzehnte oder eine Generation. Heute ist
die Menschheit gefordert, den ewigen Frieden zu schaffen. Die Völker, Nationen,
Rassen und Religionen müssen sich auf diesen Größten Frieden hinbewegen. Dies
bedeutet zugleich, daß ein weltweiter Prozeß der Befriedung den
Menschen ergreifen muß, der ganz allmählich zur Genesung des schwerkranken
Körpers der Menschheit führen wird. Universale Liebe muß im Rahmen
einer gerechten Weltordnung ständig an Intensität gewinnen und bewirken, daß
die Menschen mehr und mehr ein Weltgewissen entfalten, welches den Krieg
undenkbar macht. Dadurch können Konflikte geschlichtet und gelöst werden,
bevor sie die Menschheit in Lebensgefahr bringen.
Diese universale Befriedung muß alle Bereiche des politischen, wirtschaftlichen, sozialen und religiösen Lebens der Menschheit umfassen und dem fundamentalen Glaubenssatz von der Einheit der Menschheit gerecht werden.
Um des Friedens teilhaftig zu werden, müssen wir einige heilige Kühe schlachten. Auf politischem Gebiet müssen Teile der nationalen Souveränität einem Weltbundesstaat übertragen werden. Die Organisation der UNO kann dabei als Keimzelle des kommenden Weltbundesstaates angesehen werden. Es ist ein großer Irrtum zu glauben, daß jede der 150 Nationen der Welt durch eigene Initiative den Platz innerhalb des internationalen Wettbewerbs erobern kann, der ihren Fähigkeiten, ihrem Stellenwert entspricht. Hier funktioniert kein Markt. Märkte können funktionieren, wenn die Rahmenbedingungen stimmen, beispielsweise, wenn die Mitbewerber ähnliche Startbedingungen haben.
Es ist nicht möglich, die Welt zu befrieden, wenn die Nationen nach national-egoistischen Interessen handeln dürfen. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist es kaum einem Land der Dritten Welt gelungen, seinen Status zu verbessern, obwohl mit verschiedenen Regierungsformen experimentiert wurde und es auch an blutigen Revolutionen nicht gefehlt hat. Insgesamt ist die Kluft zwischen reichen und armen Ländern sogar von Jahrzehnt zu Jahrzehnt größer geworden. Bei dieser ungesunden Entwicklung läßt selbst die Bereitschaft zur Entwicklungshilfe in den reichen Ländern nach. Instinktiv fühlen viele, daß die bisherigen Wege nicht zur Befriedung der Welt führen, weil sie nicht von einer einheitlichen Welt ausgehen.
Im religiösen Bereich ist die heilige Kuh, die es zu schlachten gilt, die
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religiöse Abgrenzung. Theologen der verschiedenen Religionen haben nichts
unversucht gelassen und jede gedankliche Möglichkeit genutzt, um die Anhänger
von der Wiege an zu erziehen, im eigenen Glauben den gottgefälligsten, im
eigenen Gottesboten den ranghöchsten zu sehen. Selbst innerhalb der
Konfessionen und Sekten ist jeder Gläubige davon überzeugt, daß sein Weg
und sein Glaube der beste sei. Daß heute Gott durch Bahá’u’lláh eine
universelle Versöhnung angeboten hat, in der wir die anderen bedingungslos
als »Brüder in der Wahrheit« erkennen können, erzeugt bei Theologen aller
Religionen und Provenienzen Ablehnung statt erleichterter Freude. Wir
brauchen aber heute universelle Liebe, die mehr ist als
Nächstenliebe und Feindesliebe.
Viele glauben, daß es allein die Politiker in der Hand haben, Frieden zu schaffen. Wären die Politiker nur ein bißchen menschlicher, ein bißchen verständiger, sie würden sich an einen Tisch setzen und Verträge schließen, die der Menschheit Ruhe und Befriedigung geben. Dies ist nach meiner Ansicht ein Irrglaube. Die ganze Menschheit ist gefordert, am Bau des Weltfriedens mitzuwirken. Jeder von uns ist bewußt oder unbewußt ein Amalgam von ererbten oder erworbenen Vorurteilen: religiöse Vorurteile, nationale Vorurteile, rassische Vorurteile u. a. Aus bleiernem Herzen wird man kein goldenes Zeitalter bauen können.
Selbst die Grundmuster unseres Denkens, selbst die Menschenbilder, die heute in den verschiedenen Religionen vorherrschen, sind alles andere als auf die kommende friedliche Welt zugeschnitten. Tag für Tag appellieren Geistliche und Kirchenfürsten verschiedener Rangordnung an die Politiker, Frieden zu schaffen — sicherlich eine notwendige, ja lebensnotwendige Aufforderung. Nur muß man wünschen, daß die angesprochenen Politiker nicht zu den Kirchenbesuchern zählen. In den Kirchen nämlich erfahren sie oft bei der Predigt, daß der Mensch an der Wurzel gebrochen sei, unfähig, dem Zwang der Sünde zu entgehen. Deshalb sei auch der Friede nicht für das Diesseits, sondern erst für das Jenseits vorgesehen.
Wenn man bedenkt, wieviele Jahrhunderte hindurch dieses Menschenbild den Gläubigen vermittelt wurde, dann nimmt es nicht Wunder, daß im christlichen Abendland starke seelische Vorbehalte gegen den Frieden vorhanden sind. Skepsis und Pessimismus sind unbeschreiblich groß. Sie gehen soweit, daß viele Denker die Idee einer Einheit der Menschheit in Bausch und Bogen verwerfen. Andere konstatieren für jegliche Art einer Weltregierung eine Weltdiktatur. Wieder andere sehen in der Einführung einer Weltsprache eine Gleichschaltung aller Menschen. Noch andere erblicken in der universellen Versöhnung die Möglichkeit eines Identitätsverlustes.
Dazu darf ich an die Damen und Herren, die heute abend hier anwesend
sind, eine Frage richten: Die meisten von Ihnen sind aus Deutschland oder dem
deutschsprachigen, deutschstämmigen Ausland. Wissen Sie, welchem deutschen
Stamm Sie jeweils angehören? Gehören Sie zu den Kimbern oder Teutonen, zu
den Rugiern oder Herulern, zu den Franken oder Gepiden, zu den
Chauken oder Sachsen, zu den Goten oder gar zu den Vandalen? Die meisten
werden es wohl nicht wissen. Ist damit für Sie ein Identitätsverlust verbunden?
Wohl kaum. Denn was man häufig als Identitätsverlust befürchtet, ist in
Wirklichkeit ein erweitertes Selbstverständnis, eine neue Identität.
Identitätsverlust ist, was uns von unserer Zukunft abschneidet. Heute
müssen wir zu unserer neuen Identität finden, diesen Planeten als
Vaterland aller erleben und einrichten. Nicht »Vandale«, »Kannibale«
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oder »Jäger und Sammler« sind unsere wahre Identität, sondern »Träger einer
künftigen Weltkultur«. Wir dürfen auch nicht Menschen, die jenseits eines
Flusses oder eines Berges leben, als Fremde, als Gegner oder als Feinde erleben. Dies
ist eine wichtige Voraussetzung für die Schaffung des Friedens, weil dafür
nicht nur unser Verstand, sondern auch unser Herz und unser Gemüt gefordert
sind.
Nicht nur die Christen, auch die Anhänger anderer Religionen haben ihre spezifischen Schwierigkeiten, unter das neue Zelt der Einheit der Menschheit und somit bewußt in eine neue Ära einzutreten. Die Hindus sehen die Menschheit durch die Brille des Kastenwesens, jener intelligenten Alternative zur Sklaverei. Die Juden sind religiös tief geprägt von der Differenzierung zwischen den Juden — dem auserwählten Gottesvolk — und den Nicht-Juden. Die Muslime haben über die Differenzierung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, über die daraus abgeleiteten Rechtsansprüche hinaus das Gebot des Heiligen Krieges zu überwinden. Nach muslimischem Verständnis ist die Welt geteilt in das Land des Islam (dár al-Islám) und das Land des Krieges (dár al-Ḥarb). Von diesem Denkansatz her wird deutlich, daß eine Welt, die in zwei Teile zerfällt, niemals die eine Welt sein kann. Der Heilige Krieg ist die Konsequenz dieser Einteilung.
Die Kriege der Vergangenheit waren durch die Wahrnehmung sogenannter nationaler, völkischer, rassischer, religiöser, machtpolitischer und, nicht zu vergessen, wirtschaftlicher Interessen gekennzeichnet. Die Mächtigen schürten aus ihrer Interessenlage heraus die Vorurteile der Ohnmächtigen, die in diese Kriege getrieben wurden. Ausgehend vom Ziel eines befriedeten geeinten Weltgemeinwesens, können wir somit Vorurteile als die wesentlichen Ursachen der Kriege ausmachen: rassische Vorurteile, nationale und völkische Vorurteile, religiöse Vorurteile, Vorurteile im wirtschaftlichen Bereich, die bewußt oder unbewußt den Reichtum und die Unabhängigkeit der eigenen Nation, aber die wirtschaftliche Abhängigkeit und Schwäche der anderen Nationen zum Ziel hatten. Viele Menschen, Millionen Soldaten wurden in der Vergangenheit so erzogen und werden leider auch heute in manchen Ländern noch so erzogen, daß sie für diese Götzen willig ihr Leben hingeben, vom Hinschlachten des Gegners ganz zu schweigen.
Wir und unsere Friedenspartner müssen erzieherisch und bewußtseinsmäßig einen Sprung machen vom Nationalstaat zum Weltstaat. Solche Sprünge hat die Menschheit in der Vergangenheit vollzogen. Sie hat in den hinter uns liegenden Jahrtausenden die Einheit der Familie, der Sippe, des Volkes und der Nation nacheinander versucht und verwirklicht. Es gibt keinen Grund, weshalb ihr verwehrt sein sollte, zur Welteinheit zu finden, zumal wenn ihr Überleben davon abhängt.
Daß dieser Gedanke nicht abwegig ist, kann man am Beispiel der Vereinigten Staaten von Amerika aufzeigen. Menschen verschiedener Nationalitäten und Rassen aus Europa, Asien und Afrika wanderten freiwillig oder unter Zwang nach Amerika aus. Sie bilden heute trotz — vielleicht sogar wegen — dieser ungeheueren Vermischung eine starke Nation. Warum sollten die Daheimgebliebenen, also die nicht nach den Vereinigten Staaten ausgewanderten Teile der einzelnen Nationen, niemals zu einer Einheit finden können?
Es gibt eine Kraft, die stärker auf die Menschenseele wirkt als jedwedes
Vorurteil: der reine Geist religiöser Wahrheit. In dieser Kraft liegt die
Lösung des Menschheitsproblems. Parallel zur
[Seite 111]
politischen Entwicklung von der Einheit der Familie bis hin zur
Einheit der gesamten Menschheit auf dem Planeten haben wir
Menschen bewußtseinsmäßig und religiös eine Entwicklung durchgemacht.
Nach der Kulturphilosophie von Jean Gebser haben wir im Verlauf der Entwicklung das archaische Bewußtsein durch das magische, dieses wiederum durch das mythische Bewußtsein ersetzt bzw. ergänzt und erweitert. Später haben wir uns durch das mentale Bewußtsein einen großen Schatz an Wissen und Technologie angeeignet. Nun sind wir nach Gebser dabei, das integrale Bewußtsein zu entwickeln, ein Weltbewußtsein, das für die Entstehung einer Weltzivilisation und Weltkultur unerläßlich ist.
Im Grund ist die Entstehung der Friedensbewegungen in der ganzen Welt ein Zeichen des heraufkommenden integralen Bewußtseins. Nicht allein Furcht vor dem totalen Untergang ist das Motiv dieser Bewegungen. Vielfach ist ihnen Frieden ein existentielles Bedürfnis geworden. Mancher ist sogar bereit, sein Leben dafür einzusetzen. Ob die angebotenen Wege und Vorschläge zum Ziel führen, spielt in diesem Rahmen keine Rolle.
Im religiösen Bereich können wir das Licht der Religion zunächst in den sogenannten archaischen und primitiven Kulturkreisen ausmachen. Später können wir das Aufgehen des Lichtes der Religion in den sich bildenden Stämmen beobachten — heute noch existieren Stammesreligionen in verschiedenen Teilen der Welt — dann in der Stiftung von Volksreligionen; das Judentum war zu Beginn eine solche Volksreligion. Erst später kamen die Hochreligionen auf, die heute das religiöse Bild der Welt im wesentlichen bestimmen. Den Religionen ist gemeinsam, daß sie das Kommen oder die Wiederkunft eines Offenbarers »in der Fülle der Zeit« verkünden. Dieser hat die Aufgabe, den Frieden auf Erden in Gerechtigkeit zu verwirklichen.
Dieser Friedensfürst läutet zugleich das Zeitalter einer Weltreligion ein, in der Gott der Hirte und die ganze Menschheit eine Herde sein wird.
Bahá’u’lláh, der Begründer der Bahá’í-Religion, erhebt den Anspruch, der Verheißene aller Religionen und der Friedensfürst zu sein. Durch ihn, durch seine Lehren und die Weltordnung, die seinen Namen trägt, erhalten wir die psychische Ausstattung, die für den Frieden notwendig ist, das Rüstzeug für eine zielkonforme Lebensführung sowie eine administrative Ordnung zur Verwirklichung des Friedens.
Unsere wahre Identität ist geistiger Natur, nicht geographisch-irdischer
Natur. Wir dürfen die Menschen nicht einteilen, wie ein Wollhändler Schafe
einteilt: hier Merinoschafe vom Flachland Australiens, dort Karakulbergschafe
vom Kaukasus. Wir müssen unser Licht am Licht des Friedensfürsten
anzünden. Dann werden wir keinen Erdenbewohner mehr als Fremden wahrnehmen
können. Unsere wahre Identität ist nicht auf die Vergangenheit bezogen,
sondern auf die Zukunft. Wir gehen nicht von den Wurzeln über die
Äste zu den Blättern, sondern sind unterwegs von der Peripherie zum
Zentrum. Im materiellen Bereich kommt erst der Vater, später der Sohn. Im
geistig-religiösen Bereich jedoch kam erst der Sohn und heute kommt der Vater.
Wir haben das Vorrecht, am Tage Gottes zu leben, und das ist unsere Zeit,
wie sie in den Heiligen Schriften aller Hochreligionen beschrieben wird. Wir
haben das Vorrecht, zu unserer planetarischen, universellen Identität zu finden
und darauf das Gebäude der Einheit der Menschheit zu errichten. Der politische
Frieden ist nur ein Aspekt dieser Einheit. 'Abdu'l-Bahá, der Sohn des Begründers
der Bahá’í-Religion, zählt
[Seite 112]
sieben Lichtstrahlen, sieben Teilbereiche der Einheit auf:1)
- 1. Einheit auf politischem Gebiet
- 2. Einheit des Denkens in Weltangelegenheiten
- 3. Einheit der Freiheit
- 4. Einheit auf dem Gebiet der Religion
- 5. Einheit der Völker
- 6. Einheit der Rassen
- 7. Einheit der Sprache
Mit Nachdruck darf ich darauf hinweisen, daß die Einheit der Menschheit immer im Sinne der Einheit in der Vielfalt, Einheit in der Mannigfaltigkeit gemeint ist.
Ich darf mit einem Wort Bahá’u’lláhs schließen: »Jeder Mensch, der darüber nachsinnt, was die aus dem Himmel des heiligen Willen Gottes herabgesandten Schriften offenbart haben, wird leicht erkennen, wie es ihr Ziel ist, daß alle Menschen als eine Seele betrachtet werden sollen, damit das Siegel mit den Worten »Das Reich wird Gottes sein« jedem Herzen aufgeprägt werde und das Licht göttlicher Großmut, Gnade und Barmherzigkeit die ganze Menschheit umhülle. Der eine, wahre Gott — gepriesen sei Seine Herrlichkeit — wünscht nichts für sich selbst. Ihm nützt weder die Untertanentreue der Menschheit, noch schadet Ihm ihre Verderbtheit. Der Vogel aus dem Reiche der Äußerung erhebt unaufhörlich diesen Ruf: ›Alle Dinge habe Ich für dich gewollt, und auch dich um deiner selbst willen<...O ihr Vielgeliebten! Das Heiligtum der Einheit ist errichtet; betrachtet einander nicht als Fremde. Ihr seid die Früchte eines Baumes, die Blätter eines Zweiges.«2)
- 1) Vgl. Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá’u’lláhs, Hofheim-Langenhain 1977, S. 64. Shoghi Effendi kommentiert an anderer Stelle: »Die sieben Lichtstrahlen der Einheit müssen nicht unbedingt in dieser Reihenfolge aufscheinen. Eine Frucht des zweiten mag durchaus eine Weltkultur sein.« Directives from the Guardian, New Delhi 1973, S. 67
- 2) Botschaften aus ’Akká 11:3,6
BESPRECHUNGEN UND HINWEISE[Bearbeiten]
Die vernachlässigten Einflußmöglichkeiten von Minderheiten
- Serge Moscovici: Sozialer Wandel durch Minoritäten, 273 Seiten, Urban & Schwarzenberg, München 1979. Das englische Original ist unter dem Titel »Social Influence and Social Change« 1976 bei Academic Press, London erschienen.
Wie ist es zu erklären, daß Verhaltens- und Normenänderungen in der Gesellschaft
stattfinden, und zwar nicht nur dann, wenn die Verbindlichkeit bestehender
Normen nachläßt, sondern entgegen sehr wirksamem sozialem Druck — daß trotz
Konformitätsdruck nicht alles beim alten bleibt, sondern Innovationen
stattfinden? Wie kommt es z.B., daß trotz der dem modernen Mitteleuropäer
unvorstellbaren Strenge, mit der Mitte des 19. Jahrhunderts im Iran
»Rechtgläubigkeit« definiert, gehütet und verbindlich vorgeschrieben wurde,
die Babí- und Bahá’í-Religion Anhänger gewinnen und sich trotz grausamer
Verfolgung und Unterdrückung verbreiten konnte? Es ist doch geradezu ein
unwandelbarer Zug der Frühgeschichte der Religionen, fast schon ein Gesetz,
daß die Wahrheit der Offenbarung nicht durch die Mächtigen, sondern
gegen sie, durch die Schwachen verbreitet wird. Hat nicht der Báb das
Angebot des Ihm wohlgesonnenen, mächtigen und reichen Gouverneurs von Iṣfáhán
Manúchihr Khán, Seiner Sache mit Geld und Einfluß den Weg zu ebnen,
abgelehnt mit der Begründung, daß Seine Botschaft durch die Armen und Schwachen
verbreitet werden muß? Wie aber ist es möglich, daß die wenigen Armen und
Schwachen sich gegen die Reichen und Mächtigen durchsetzen können?
Solche Fragen verweisen natürlich in erster Linie auf eine übernatürliche
Kraft als Wirkmoment der Gottesoffenbarung, und insofern ist die Quelle
dieser Kraft menschlichem Begriffsvermögen enthoben. Damit ist aber nicht
schon die Frage verneint, ob der Mechanismus, die Art und Weise, wie diese
größte schöpferische Kraft ihre Wirkung in der Menschenwelt entfaltet,
nicht doch dem Forschergeist zugänglich bleibt. Sind die Vorgänge, die auf
der Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen dazu führen, daß neue Religionen
sich allmählich durchsetzen, also Gedanken, Ideen, Wertvorstellungen und
Verhaltensweisen einer Minderheit von der Mehrheit übernommen
werden, nicht magischer Natur, dann sind sie auch grundsätzlich der
Erforschung und Erklärung mit wissenschaftlichen Methoden zugänglich.
Untersuchungen des französischen Sozialpsychologen Serge Moscovici über sozialen Einfluß haben Ergebnisse erbracht, die auch auf den Prozeß gesellschaftlicher Durchsetzung religiöser Wahrheit hin interpretiert werden können. Interessant sind diese Ergebnisse für den Bahá’í allerdings nicht deshalb, weil sich daran etwa die Erfolgsmöglichkeit der Sache Bahá’u’lláhs messen ließe, sondern weil sie ihm helfen können, seinen Blick für vorhandene Abläufe und Interaktionen zu schulen. Nicht ohne Interesse sind die Untersuchungen auch für ein bewußteres Gestalten des öffentlichen Erscheinungsbildes.
Ausgangsbasis für die Untersuchungen Moscovicis ist seine Unzufriedenheit
mit den Grundannahmen
[Seite 114]
sozialpsychologischer Forschung über das Verhältnis von Minderheits- und
Mehrheitsgruppen zueinander. Er beanstandet an dieser Forschungstradition ihre
einseitige Auffassung von Minderheiten als Randgruppen der Gesellschaft. In
dieser Auffassung ist das Verhältnis der Mehrheit zu den Minderheiten entweder
durch Nichtbeachtung oder durch Ausübung von Druck zur »Bekehrung«
der Minderheiten, zu ihrer Einschwörung auf herrschende Normen, zu konformem
Verhalten bestimmt. Damit ist den Untersuchungen über die Wirkungsweise von
Beeinflussungsprozessen von vornherein ein prinzipiell ungleiches Verhältnis,
eine asymetrische Beziehung zwischen der Mehrheit und
den Minderheiten vorausgesetzt. Die Minderheit kann im Rahmen eines solchen
Forschungskonzeptes immer nur als Adressat, als Objekt des sozialen
Einflusses untersucht werden, nicht aber als Einflußquelle.
Moscovici bezweifelt die generelle Gültigkeit der Annahme über die asymmetrische Beziehung zwischen der Mehrheit und den Minderheiten und meint, die Zeit sei reif für eine neue Orientierung, »... eine Orientierung auf die Psychologie des sozialen Einflusses hin, die auch eine Psychologie der Innovation ist, ... eine Psychologie, die von den Standpunkten der Minderheit, des abweichenden Individuums und der sozialen Veränderung her ausgedacht und gestaltet wird.« Nicht auf die einseitige, sondern die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Individuum und Gruppe, der Minderheit und der Mehrheit richtet Moscovici sein Augenmerk. Dem kritisierten sogenannten »funktionalistischen« Theoriemodell setzt Moscovici sein eigenes, das er das »genetische« Modell nennt, gegenüber. Die soziale Situation, in der Individuen und Gruppen aufeinander treffen und aufeinander bezogen handeln, ist in seinem Modell nicht so sehr, wie häufig angenommen wird, durch unveränderliche Gegebenheiten (z.B. unverrückbare Wertmuster, eindeutig definierte soziale Rollen, absolut gültige Wahrheiten) bestimmt; vielmehr wird die soziale Situation durch die Handlung der agierenden Individuen und Gruppen erst aktiviert und hervorgebracht. Natürlich erfordert jeder Ablauf sozialen Handelns Anpassung der Individuen und Gruppen an das System und die Umwelt. Diese Anpassung ist jedoch »nur das Gegenstück der vom System und der Umwelt geleisteten Anpassung an Individuen und Gruppen«. Die Offenheit der Situation ist Voraussetzung dafür, daß Veränderung und Innovation stattfinden können. Mehr noch: Jedes soziale System ist auf Innovation genauso angewiesen wie auf Konformität.
Obwohl es eine bekannte Tatsache ist, daß Innovation nichts mit dem sozialen Status ihrer Träger zu tun hat — man denke nur an die größten Erneuerer der Menschheitsgeschichte, die Religionsstifter — haben sich Sozialwissenschaft und Psychologie traditionell auf Innovationen konzentriert, die von oben kommen. Dies beanstandet Moscovici, der selbst der Frage nachgeht, unter welchen Bedingungen es den Minderheiten gelingt, Innovation zu bewirken und Denk- und Verhaltensweisen der Mehrheit in ihrem Sinne zu beeinflussen. Zur Klärung dieser Frage zitiert Moscovici Ergebnisse empirischer Untersuchungen mit Versuchspersonen, auf deren Aufbau und Durchführung hier nicht näher eingegangen werden soll. Nur einige, in bezug auf die eingangs formulierte Fragestellung interessante Schlußfolgerungen seien hier wiedergegeben:
1) Für die Durchsetzung einer Gruppenmeinung ist die Zahl der Gruppenmitglieder
von untergeordneter Bedeutung, während es entscheidend auf die
[Seite 115]
Einigkeit in der Gruppe ankommt. Eine kleine Gruppe, die als Einheit auftritt,
ist einflußreicher als eine große Gruppe, deren Mitglieder uneinig sind.
Wichtig ist, daß die Einheit nicht nur vorgeblich ist und daß unterschiedliche
Standpunkte geklärt werden.
2) Einfluß ist ein wechselseitiger Prozeß und wird in zwei Richtungen ausgeübt: »von der Mehrheit auf die Minderheit und von der Minderheit auf die Mehrheit«. Diese Feststellung könnte, angewandt auf die Frühgeschichte der Religionen, die in der Regel geprägt ist durch grausame Verfolgungen der Anhänger der neuen Religion, also der Minderheit durch die Mehrheit, zu einer interessanten Schlußfolgerung führen: Faßt man diese Verfolgungen als Beeinflussung der Minderheit durch die Mehrheit auf — eine Beeinflussung, die vom Versuch, die »Häretiker« zum Abschwören zu bewegen, bis zu deren physischer Vernichtung reicht — dann muß gemäß dieser Feststellung Moscovicis angenommen werden, daß dabei gleichzeitig eine Beeinflussung von Seiten der äußerlich so ohnmächtigen Unterdrückten in umgekehrter Richtung stattfindet, und zwar umso stärker je gravierender die Unterdrückungsmaßnahme ist. Dabei braucht das Zielfeld der umgekehrten Beeinflussung nicht auf die unmittelbar Beteiligten, also die Peiniger begrenzt zu sein. Vielleicht liefert dieser Befund einen Teil der Erklärung dafür, daß die Unterdrückung der Bahá’í im Iran in Vergangenheit und Gegenwart nicht zur Auslöschung ihres Glaubens geführt hat, sondern umgekehrt die Ausbreitung dieser Religion entscheidend gefördert hat.
3) Minderheiten können allein aufgrund ihres Andersseins eine beträchtliche Attraktion ausüben. Während die Verhaltensweisen und Vorstellungen der Mehrheit häufig vom grauen Dunst des Alltäglichen, Mechanischen und Vorhersehbaren eingehüllt sind, zeichnen sich Verhalten und Denkweisen der Minderheiten häufig durch Spontaneität aus »und sie bieten noch dazu Zugang zum Unbekannten, Neuen und Überraschenden an«.
4) Moscovici unterscheidet zwischen »nomischen« und »anomischen« Mehrheiten bzw. Minderheiten. Der Unterschied besteht darin, daß nomische Gruppen über eigene Grundsätze, Regeln und Normen verfügen und ein klares Selbstverständnis besitzen — also Merkmale, die auf religiöse Gruppen zutreffen — während letztere keine eigenständigen Konzepte vorzuweisen haben. Es ist festzustellen, daß anomische Minderheiten keinerlei Einflußmöglichkeiten besitzen, während nomische Minderheiten beträchtlichen Einfluß ausüben können. Ob eine Minderheit Quelle oder Objekt von Beeinflussung wird, bestimmt sich »durch die An- oder Abwesenheit einer klar umrissenen Position, eines kohärenten Standpunkts, einer eigenständigen Norm.«
5) Für Minderheiten ist es leichter, die verdeckten Einstellungen der Mehrheit zu beeinflussen als ihre sozialen Verhaltensweisen, während der Einfluß der Mehrheit sich stärker auf sichtbare Handlungen auswirkt als auf innere Einstellungen. Dies erklärt vielleicht die Beobachtung, daß Menschen, die z.B. einer neuen Religion gegenüber sympathisch eingestellt sind, sich vor der Konsequenz der offenen Reaktion scheuen und der Gemeinschaft der religiösen Minderheit nicht beitreten. Minderheiten müssen daher einen Großteil ihrer Bemühungen darauf richten, »private Einstellungen und Überzeugungen in öffentliches Verhalten umzuwandeln, während Mehrheiten ihre Energien auf den Versuch konzentrieren, öffentliches Verhalten und öffentliche Erklärungen in private Einstellungen umzuwandeln«.
6) Wenn Minderheiten in ihrem Standpunkt
[Seite 116]
unerschütterlich sind, machen sie sich dadurch nicht immer beliebt (so
z.B. die Bahá’í aus der Sicht des Regimes im Iran), doch wenn die Standhaftigkeit
fehlt, ist es aussichtslos, Minderheitspositionen durchzusetzen. Standhaftigkeit
heißt allerdings nicht soziale Isolation. Offenheit und Gesprächsbereitschaft
gehören dazu, und das schließt eine gute Kenntnis der »gegnerischen« Gedankenwelt
mit ein. Wer sich seinem Gesprächspartner aufdrängt, ihn schulmeistert
oder wer sich abkapselt wird zur uninterressanten Sekte.
Wissenschaftliche Untersuchungen, die trotz Originalität und dem Mut zur
Abkehr von eingefahrenen Bahnen immer noch von Theorien geleitet werden,
die wesentliche Momente der Realität oder des menschlichen Daseins ausblenden,
können nur Ergebnisse von begrenzter Aussagekraft hervorbringen.
So liefern die Schlußfolgerungen Moscovicis — so hilfreich sie für die Strategie
von Minderheiten sind — bei weitem keine hinreichenden Erklärungen für das
Phänomen der Wandlung einer religiösen Idee vom gesellschaftlich verachteten
»Irrglauben« bis zum Gesellschaften und Kulturen hervorbringenden und
diese prägenden Wertsystem. Dennoch erscheint es nicht abwegig, in den
Bemühungen, die zu solchen Einsichten geführt haben, einen Schritt in die
Richtung zu sehen, die Wissenschaft einschlagen muß, will sie eines Tages,
befreit vom realitätsfernen Ballast des Materialismus, zu den Erkenntnissen
über den Menschen durchdringen, die ihr heute noch weitgehend verschlossen
sind.
- Foad Kazemzadeh
Für Frieden und Einheit: Texte und Diskussionen zum Bahá’í-Modell
Farzin Dustdar (Hrsg.): Das Modell des Friedens. Ausweg aus der Krise, 355 Seiten, Horizonte Verlag, Wien 1985. Anthony A. Lee (Hrsg.): Circle of Unity. Bahá’í Approaches to Current Social Issues, 258 Seiten, Kalimát Press, Los Angeles 1984. Huschmand Sabet: Der Weg aus der Ausweglosigkeit. Ein Plädoyer für den Frieden, 204 Seiten, Seewald Verlag, Stuttgart / Herford 1985. Peter Spiegel (Hrsg.): Gedanken des Friedens. Die Reden und Schriften von 'Abdu'l-Bahá für eine neue Kultur des Friedens, 127 Seiten, Horizonte Verlag, Wien 1985.
Vier neue Beiträge zur Funktion der Bahá’í-Religion in der modernen Gesellschaft:
daß davon drei den Begriff »Frieden« im Titel führen, ist mehr als ein
modischer Zufall; sind doch Frieden und Einheit die wesentlichsten Impulse
einer sich entfaltenden Bahá’í-Gemeinde für ihre Mitmenschen in aller
Welt. Das Büchlein von Peter SPIEGEL ist zugleich Materialsammlung und
Meditationstext über Aspekte des Friedens. Die historisch ausgerichtete Einleitung
von Kent Beveridge ist eine Orientierungshilfe für alle, die noch nicht mit
der Person 'Abdu'l-Bahás und Seinen Lehren vertraut sind. Huschmand SABET
stellt atomaren Ängsten und der Fixierung auf militärisches Sicherheitsdenken
in der bisherigen Friedensdiskussion den Gesamtentwurf eines Friedens durch
Welteinheit im Offenbarungsmodell Bahá’u’lláhs entgegen. Einige Aspekte dieses
Modells stellt der Sammelband von Farzin DUSTDAR näher vor. Durchaus keine Einführung
ist Circle of Unity, herausgegeben von Anthony LEE. Hier wird — teilweise
kontrovers — die Beziehung der Bahá’í-Gemeinde zu wichtigen gesellschaftlichen
Fragestellungen und Denkrichtungen diskutiert: Friedensbewegung, Rassenproblem,
soziale Unterschiede, wirtschaftliche Entwicklung, Frauenbewegung, Marxismus.