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ISSN 0005-3945
- BAHÁ'Í-BRIEFE
HEFT 48 13. JAHRGANG NOVEMBER 1984
- FRIEDO ZÖLZER
- 140 JAHRE BEDRÄNGNIS
- AMIN BANANI
- DIE BAHAIIM IRAN — RELIGION ODER KOMPLOTT DER KOLONIALMÄCHTE?
- SOHRAB FARIDANI
- STANDHAFT IN GOTTES NAMEN
- BESPRECHUNGEN UND HINWEISE
Die Bahá’í-Briefe wollen eine intensive Auseinandersetzung mit den Lehren und der Geschichte der Bahá’í-Religion fördern und zu einem Dialog mit allen beitragen, die sich auf der Grundlage zeitgemäßen religiösen Denkens aufrichtig um die Lösung der Weltprobleme mühen.
BAHÁ'Í-BRIEFE
Heft 48, November 1984
13. Jahrgang
- Inhalt
- Leserforum 34
- Friedo Zölzer
- 140 Jahre Bedrängnis 35
- Amin Banani
- Die Bahá’í im Iran — Religion oder Komplott der Kolonialmächte? 48
- Sohrab Faridani
- Standhaft in Gottes Namen 59
- Besprechungen
- und Hinweise 65
Herausgeber: Der Nationale Geistige Rat der Bahá’í in Deutschland e.V., Hofheim-Langenhain. Redaktion: Dr. Klaus Franken, Ulrich Gollmer, Christopher Sprung. Redaktionsanschrift: Bahá’í-Briefe, Redaktion, Eppsteiner Straße 89, D-6238 Hofheim-6. Namentlich gezeichnete Beiträge stellen nicht notwendig die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers dar. Die Bahá’í-Briefe erscheinen halbjährlich. Abonnementpreis für vier Ausgaben 20,- DM. Einzelpreis 6,- DM. Vertrieb und Bestellungen: Bahá’í-Verlag, Eppsteiner Straße 89, D-6238 Hofheim-6.
© Bahá’í-Verlag GmbH. ISSN 0005-3945
GEWALT UND TERROR OHNE ENDE[Bearbeiten]
Die Verfolgungsmaßnahmen gegen die Bahá’í im Iran, von den Verantwortlichen dort nicht nur geduldet, sondern offen unterstützt und in vielen Fällen auch geplant und durchgeführt, können kaum noch in faßbaren Worten geschildert werden. Wer von uns vermag die Gefühle jener Mutter aus Yazd nachzuvollziehen, von der die Revolutionswächter verlangten, die Kugel zu bezahlen, mit der ihr Sohn hingerichtet wurde? Wer von uns könnte Ruhe bewahren, wenn er vom Lehrer seiner 14jährigen Tochter erfahren müßte, dieser habe sie entführt, um sie zum »rechten Glauben« umzuerziehen? Für die Verfolgten ist es Trost und Hoffnung zu wissen, daß ihr Schicksal nicht unbekannt bleibt. Die hingerichteten Bahá’í hätten ihr Leben retten können, wenn sie — kurz vor der Todesstunde vor die Wahl gestellt — ihrem Glauben abgeschworen hätten und zum Islam übergetreten wären. Was die Folter nicht erreichte, soll die Todesdrohung bewirken. Hierbei befremdet besonders, daß iranische Diplomaten und Politiker, von westlichen Diplomaten auf die Bahá’í-Pogrome angesprochen, mit kaltschnäuziger Seelenruhe behaupten, die Bahá’í seien im Iran keine religiöse, sondern eine politische Gruppierung, eine religiöse Verfolgung finde demnach nicht statt, die Inhaftierten und Hingerichteten seien allein krimineller Delikte schuldig. Doch wo sind die fairen Prozesse, die gerichtlich dokumentierten Urkunden und Beweise für die abstrusen Vorwürfe der Spionage für Amerika und den Zionismus, des Rauschgifthandels und der Prostitution? Könnte man von den iranischen Behörden nicht erwarten, daß sie der Weltöffentlichkeit schon längst den Beweis für ihre Anschuldigungen gegen die Bahá’í hätten vorlegen müssen? Welcher iranische Diplomat, welcher islamische Geistliche hat den Mut, auf die Frage zu antworten, wie es kommt, daß ein Bahá’í seiner Bestrafung für die ihm vorgeworfenen kriminellen Delikte entgehen kann, wenn er seinem Glauben abschwört?
Es ist an der Zeit, in klaren Worten und anhand der verfügbaren Dokumente deutlich zu machen, daß die Geschehnisse im Iran von langer Hand geplant sind und ihren Ursprung in religiösem Haß und Fanatismus haben. Dieser Zielsetzung dienen vor allem die umfangreichen Dokumentationen, die von der Internationalen Bahá’í-Gemeinde in New York und dem Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í in Deutschland herausgegeben wurden. Die vorliegende Ausgabe der Bahá’í-Briefe will hierzu eine sinnvolle Ergänzung geben.
- Die Redaktion
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LESERFORUM[Bearbeiten]
Endlich ist sie wieder da — die Bahá’í-Zeitschrift, auf deren Einband in altvertrautem, etwas schief wirkendem Schriftzug BAHÁ'Í-BRIEFE leuchtet. Bereits in 46 Nummern hat diese Zeitschrift bis zur Unterbrechung ihres Erscheinens wesentlich zur Entfaltung der Bahá’í-Kultur im deutschsprachigen Raum beigetragen. Entsprechend groß sind jetzt die Erwartungen an die neue Folge. Ihr Anfang ist gelungen und verspricht eine Vielzahl anregender Artikel in den noch kommenden Heften.
Ich bin sicher, daß die qualifizierte Redaktion ihren Teil dazu beitragen wird, daß die neue Folge den in sie gesetzten Erwartungen gerecht wird. Damit allein aber wird es nicht getan sein. Um eine Zeitschrift zu entwickeln, sie am Leben zu halten und voll zur Entfaltung zu bringen, bedarf es auch eines sie tragenden Publikums. Ein interessiertes Publikum, Leser, die mit Spannung auf jede neue Nummer warten, die sich über ein gelungenes Heft freuen und es herumzeigen und über eine schwächere Ausgabe enttäuscht und traurig sind, die sich ab und zu zu Wort melden, ein solches Publikum ist das Lebensblut einer periodisch erscheinenden Zeitschrift.
Der neuen Folge der Bahá’í-Briefe wünsche ich von Herzen neben qualifizierten Autoren eine große, interessierte und engagierte Leserschaft, auf daß sie getreu ihrem Motto vielfältige Wege zum tieferen Verständnis der Lehren und der Geschichte der Bahá’í-Religion eröffne und den Dialog um die Lösung der Menschheitsprobleme »auf der Grundlage zeitgemäßen religiösen Denkens« fördern möge.
- Foad Kazemzadeh, Garbsen
Über das Erscheinen der Bahá’í-Briefe freue ich mich sehr. Das Motto des
lebendigen Dialogs über unsere Religion hätte ich lieber im 1. Artikel des
Prof. Chouleur wörtlich verwirklicht gesehen, z.B. in Form eines Interviews.
Wir dürfen die ungefestigten Herzen in unseren Reihen nicht vergessen, die sich bei den aufgezählten »Klippen« bestätigt sehen, oder darauf aufmerksam gemacht werden. Ein Interview hätte den Vorteil, daß solche Behauptungen nicht unwidersprochen stehen bleiben.
Außerdem finde ich es als langjähriger Bahá’í langweilig, wenn über viele Spalten hinweg ein Nicht-Bahá’í eine Einführung gibt. Diese kostbaren Seiten hätte ich lieber für eine ermutigende Vertiefung gesehen. Ich wünsche den Bahá’í-Briefen herzlich einen erfolgreichen Start.
- Klara Meyer, Deisenhofen
Mit großem Interesse habe ich das Heft 47 der Bahá’í-Briefe gelesen. Die
Zielsetzung dieser Zeitschrift erlaubt eine wertvolle Auseinandersetzung
mit Themen, die uns als Weltbürgern ganz besonders am Herzen liegen. Als
zukünftige Weltkultur ist die Bahá’í-Religion in der einzigartigen Lage,
alle Kulturerben der Menschheit in sich zu vereinigen.
- Bharati Banerjee, Heidenheim
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Friedo Zölzer
140 JAHRE BEDRÄNGNIS[Bearbeiten]
Ein Abriß der Bahá’í-Geschichte im Iran
Um die geschichtlichen Hintergründe dessen verstehen zu können, was den
Bahá’í im Iran zur Zeit widerfährt, kommt man nicht umhin, die Entwicklung
dieser Gemeinschaft und ihrer Lehre um mehr als ein Jahrhundert
zurückzuverfolgen.
Allen Weltreligionen ist die Erwartung gemeinsam, daß eines nicht allzu fernen Tages das Jüngste Gericht über die Welt hereinbrechen, daß das Gute endgültig über das Böse siegen und daß das Reich Gottes auf Erden beginnen werde. Diese Überzeugung war sowohl im Christentum als auch im Islam während des vorigen Jahrhunderts besonders lebendig — nicht in der Menge der Gläubigen, sondern in einigen recht unterschiedlichen Gemeinschaften an deren Rande.
Für das Jahr 1843 sagte der Amerikaner William Miller das Jüngste Gericht voraus und wurde damit zum Begründer der Adventisten-Gemeinde. Wenig später rief der Deutsche Christoph Hoffmann die Gesellschaft der Templer ins Leben, die sich zum Ziel setzte, das Heilige Land für die Wiederkehr Christi vorzubereiten. Ihre erste Siedlung entstand 1868 in Haifa. Der Amerikaner Charles I. Russell schließlich, auf den die Zeugen Jehovas zurückgehen, kündigte das Reich Gottes für das Jahr 1914 an.
Ganz ähnliche Bewegungen gab es etwa zur gleichen Zeit im Osten. Deutlicher als im Westen bestand dort die Vorstellung, daß es zwei Gottesboten sein müßten, durch die das Ende herbeigeführt werde. Im sunnitischen Islam erwartete man das Erscheinen des Mahdí (oder Mihdí), des »Rechtgeleiteten«, und die Wiederkehr Jesu Christi. Im schiitischen Islam richtete sich die Hoffnung auf zwei Imáme, Nachfolger des Propheten in der Führung der Gemeinde. Zunächst sollte Muḥammad al-Mahdí, der zwölfte und letzte Imám, von dem man glaubte, er sei entrückt worden, lebe aber im Verborgenen weiter, erscheinen. Er sollte der Qá’im, »Er, der sich erhebt«, sein. Später sollte Ḥusayn, der dritte Imám, der wegen seines Märtyrertodes besondere Verehrung genoß, wiederkehren.
Mahdí und verheißener Messias zugleich zu sein, beanspruchte um 1890 der Inder Mirzá Ghulám Aḥmad. Die von ihm gegründete Ahmadiyya-Bewegung versteht sich als eine Erneuerung des Islam für die nun anbrechenden Letzten Tage. Ebenfalls um 1890 gab sich im Sudan ein gewisser Muḥammad Aḥmad als der Mahdí aus. Er zettelte einen Aufstand gegen die ägyptische Regierung an, der erst mit Hilfe der Engländer niedergeschlagen werden konnte.
Wesentlich früher, um 1820, hatten im Irag Shaykh Aḥmad-i-Aḥsá'í und sein Nachfolger Siyyid Káẓim-i-Rashtí verkündet, das Erscheinen das Qá'im stehe unmittelbar bevor. Sie hatten viele der Verheißungen über das Jüngste Gericht und die Wiederkehr der Gottesboten sinnbildlich gedeutet und sich damit den Zorn weiter Teile der Geistlichkeit zugezogen. Die Shaykhí, ihre Anhänger, waren nichtsdestoweniger im Iraq und im Iran recht zahlreich.
Am 23. Mai 1844 erklärte nun ein junger Mann namens Siyyid Alí Muḥammad in
Shíráz im Iran, er sei der Verheißene, auf dessen Kommen Shaykh
Aḥmad und Siyyid Káẓim hingewiesen
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hatten. Er nannte sich »Báb«, »das Tor«. Dieser Titel schien zunächst nur darauf
hinzudeuten, daß Er sich als ein Mittler zwischen dem verborgenen Imám und
den Gläubigen betrachtete. Später jedoch erhob Er in aller Öffentlichkeit
den Anspruch, Er selbst sei der Qá’im. In Seinen Schriften bezeichnete Er sich
darüber hinaus als »den Ersten Punkt, aus dem alles Erschaffene gezeugt ward«
und »das Antlitz Gottes, dessen Glanz sich nie verdunkeln läßt«.1)
Seine Aufgabe aber sah Er vor allem darin, Wegbereiter zu sein für jenen
anderen Verheißenen: »Ihn, den Gott offenbaren wird«. Und in diesem Sinne
verstand Er sich als »Báb«, »das Tor«.
Schon bald wurden die weltlichen und geistlichen Mächte mißtrauisch. Die Zahl der Bábí, Seiner Anhänger, nahm überall im Land rasch zu. Es schien, als habe man es mit einem Aufruhr zu tun, den es so schnell wie möglich zu ersticken galt. So kam es bereits im Sommer 1845 zu Ausschreitungen. Die »Times« berichtete in ihrer Ausgabe vom 1. November jenes Jahres: »Man beehrte uns mit dem folgenden Brief, datiert Búshir, den 10. August: Ein persischer Kaufmann, der kürzlich von einer Pilgerreise nach Mekka zurückkehrte, hatte hier eine Zeitlang versucht zu beweisen, daß er einer der Nachfolger Muḥammads sei und daher das Recht in Anspruch nehmen könne, als solcher von allen wahren Muslimen in ihrem Ruf zum Gebet erwähnt zu werden. Er hatte schon eine beträchtliche Zahl von Anhängern um sich geschart, die ihm heimlich halfen, seine Lehre zu verbreiten. Am Abend des vergangenen 23. Juni wurde ich aus verläßlicher Quelle informiert, daß in Shíráz vier Personen den Ruf zum Gebet in der Form gebraucht hätten, die von jenem Hochstapler vorgeschrieben worden war. Sie wurden verhört, der unverzeihlichen Blasphemie für schuldig befunden und dazu verurteilt, ihre Bärte durch Abbrennen derselben zu verlieren. Dieser Urteilsspruch wurde mit all dem Eifer und Fanatismus ausgeführt, der den muhammadanischen Gläubigen zu eigen ist. Da man den Verlust der Bärte nicht als eine ausreichende Strafe für die Anhänger des Hochstaplers empfand, wurden sie des weiteren dazu verurteilt, am nächsten Tag mit geschwärzten Gesichtern in der Stadt zur Schau gestellt zu werden. Jeder von ihnen wurde von einem Scharfrichter geführt, der ihm ein Loch in die Nase gebohrt und durch dieses einen Strick gezogen hatte, an dem er manchmal mit solcher Gewalt zerrte, daß das unglückliche Opfer bald um die Gnade des Scharfrichters, bald um die Rache des Himmels flehte. Es ist Brauch in Persien, daß bei solchen Gelegenheiten die Scharfrichter bei den Zuschauern Geld sammeln, insbesondere bei den Geschäftsleuten im Basar. Am Abend, als die Taschen der Scharfrichter wohlgefüllt waren, führten sie ihre unglücklichen Opfer zum Stadttor und sagten zu ihnen: »Offen liegt die Welt vor ihnen, sie sind frei zu wählen, wo ihr Obdach sei, und Gott lenkt ihre Schritte.« Danach sandten die Mullás von Shíráz einige Männer nach Búshir mit dem Auftrag, den Hochstapler zu ergreifen und nach Shíráz zu bringen, wo er, als man ihn verhörte, sehr klug die Ketzerei, die man ihm vorwarf, leugnete und so der Bestrafung entging.«2)
Nun, der Báb hatte keineswegs Seinen Anspruch widerrufen, sondern sich
lediglich gegen einige Mißverständnisse
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gewandt. Und so blieb Er vor weiteren Nachstellungen nicht lange verschont.
Im September 1846 mußte Er auf Geheiß von Gouverneur Ḥusayn Khán
Shíráz verlassen. Er wurde zunächst in Iṣfahán freundlich aufgenommen und
verbrachte dort mehrere Monate im Hause des Gouverneurs Manúchihr
Khán unter dessen persönlichem Schutz. Als Sein Gönner jedoch im März 1847
starb, befahl Muḥammad Sháh, Ihn nach Teheran zu bringen. Und der König
schien durchaus bereit, Ihm Gelegenheit zur Verteidigung Seines Anspruchs zu geben.
Es war der Großwesir, Hájí Mirzá Áqásí, der eine Begegnung zwischen dem Báb und Muḥammad Sháh verhinderte und bewirkte, daß der vermeintliche Aufrührer zunächst in die Festung Máh-Kú nahe der persisch-russischen Grenze und neun Monate später in die Festung Chihriq nahe Urúmíyyih verbannt wurde. Die Ehrerbietung jedoch, die Ihm selbst an diesen entlegenen Orten nicht nur von Seinen Anhängern, sondern auch von der Bevölkerung erwiesen wurde, ließ strengere Maßnahmen unumgänglich erscheinen. Im Juli 1848 wurde Er nach Tabríz beordert und dort in Gegenwart des Thronfolgers, des späteren Náṣiri’d-Dín Sháh, von führenden Geistlichen der Stadt einem Verhör unterzogen. Daß man Ihn der Ketzerei für schuldig befinden würde, hatte von vornherein festgestanden. Nun erhob der Báb unmißverständlich den Anspruch, Er sei der Qá’im, doch konnte man sich nicht einig werden, wie weiter mit Ihm verfahren werden sollte. Dr. William McCormick, ein britischer Arzt, der sich zu jener Zeit in Tabríz aufhielt, schrieb später an einen Bekannten:
»Sie fragen mich nach Einzelheiten meiner Begegnung mit dem Begründer
jener Sekte der Bábí. Nichts von Bedeutung trug sich während dieser Begegnung
zu, denn der Báb war sich bewußt, daß man mich mit zwei anderen, persischen
Ärzten geschickt hatte, um zu prüfen, ober geistig gesund oder irre sei;
danach sollte die Frage entschieden werden, ob er zum Tode verurteilt würde
oder nicht. Da er dies wußte, war er nicht geneigt, irgendwelche Fragen zu
beantworten, die man ihm stellte. So sehr wir auch in ihn zu dringen versuchten,
betrachtete er uns lediglich mit sanftem Blick und sang mit tiefer, melodischer
Stimme Lobpreisungen Gottes, wie ich annehme. Zwei andere siyyids3),
seine engsten Freunde, waren auch zugegen, ebenso wie ein paar Regierungsbeamte.
Nur einmal geruhte er, mir zu antworten, als ich nämlich sagte, ich sei
kein Muslim und bereit, etwas über seine Religion zu erfahren, da ich vielleicht
geneigt sein könnte, sie anzunehmen. Er betrachtete mich sehr eingehend, als ich
das sagte, und antwortete, er habe keinen Zweifel, daß alle Europäer seine Religion
annehmen würden. Unser Bericht an den Sháh zu jener Zeit empfahl, sein
Leben zu schonen ...Er erhielt lediglich die Bastonade, wobei man einmal, ob
nun absichtlich oder nicht, ihn mit dem Stock, der eigentlich für die Füße bestimmt
war, ins Gesicht schlug. Es entstand eine große Wunde und das Gesicht schwoll stark
an. Als man ihn fragte, ob ein persischer Arzt zu seiner Behandlung gerufen werden
solle, gab er dem Wunsch Ausdruck, man möge nach mir schicken. Ich behandelte ihn
einige Tage lang, aber bei diesen Begegnungen konnte ich ihn niemals dazu bringen,
ein vertrauliches Gespräch mit mir zu führen, da immer einige Regierungsbeamte
anwesend waren, denn er war ja ein Gefangener. Er bedankte sich
sehr für meine Bemühungen. Er war ein sanft und zart aussehender Mann, recht
klein an Gestalt und sehr hell für einen
[Seite 38]
Perser, mit einer melodischen, weichen Stimme, die mich tief berührte. Da er
ein siyyid war, kleidete er sich nach dem Brauch dieser Leute, ebenso wie seine
Gefährten. In der Tat waren sein Äußeres wie sein Verhalten sehr dazu angetan,
den Besucher für ihn einzunehmen. Über seine Lehren hörte ich nichts von
ihm selbst, obwohl man allgemein der Meinung ist, daß sie eine gewisse Nähe
zum Christentum aufweisen. Einige armenische Schreiner, die Reparaturen in
seinem Gefängnis auszuführen hatten, sahen ihn in der Bibel lesen und er
versuchte nicht, dies zu verbergen, sondern erzählte ihnen im Gegenteil davon.
Mit Sicherheit gibt es den muslimischen Fanatismus in seiner Religion nicht,
noch jene Unterdrückung der Frau, wie sie zur Zeit üblich ist.«4)
Die Ereignisse in Tabríz unterbrachen die Gefangenschaft des Báb in der Festung Chihríq für weniger als zwei Monate.
Etwa zur gleichen Zeit trafen sich in Badasht einundachtzig Seiner Anhänger, um ihr Verhältnis zur Vergangenheit neu zu bestimmen. Sie erklärten die Gesetze des Islam für aufgehoben und stellten mit Nachdruck die Unabhängigkeit ihrer eigenen Religion fest. Bald darauf begannen Verfolgungen ungeahnten Ausmaßes, in denen die Bábí mancherorts mutig zu den Waffen griffen, um sich zu verteidigen.
Im Oktober 1848 wurden etwa 300 von ihnen in Bárfurúsh angegriffen und zogen sich zum nahegelegenen Schrein von Shaykh-Ṭabarsí zurück. Dort leisteten sie 7 Monate lang einer Übermacht an Regierungstruppen Widerstand, bis sie fast vollständig aufgerieben waren. Im Mai 1850 sahen sich in Nayríz etwa 70 ihrer Glaubensgenossen gezwungen, in einem Fort außerhalb des Ortes Zuflucht zu nehmen, wo sie vier Wochen lang belagert wurden. Zur gleichen Zeit schlossen Regierungstruppen 3.000 Einwohner von Zanján, die den neuen Glauben angenommen hatten, in der östlichen Hälfte der Stadt ein. 1.800 Männer, Frauen und Kinder kamen in den 9 Monate dauernden Kämpfen ums Leben. In allen drei Fällen versprach man den Bábí schließlich freien Abzug, doch wurden die meisten von ihnen, sobald sie den Schutz der jeweiligen Befestigung verließen, erbarmungslos niedergemetzelt.
Muḥammad Sháh war im September 1848 gestorben, und Náṣiri’d-Dín Sháh hatte seine Nachfolge angetreten. Der mächtigste Mann im Staate aber war der neue Großwesir, Mirzá Taqí Khán. Ihm schien das einzige Mittel, der Lage im Land Herr zu werden, die Auslöschung des Mittelpunkts jener Gemeinschaft, des Báb selbst. Er ordnete an, den Gefangenen nach Tabríz zu bringen und Ihn dort öffentlich hinzurichten. Drei der führenden Geistlichen der Stadt unterzeichneten das Todesurteil und am 9. Juli 1850 wurde der Báb auf dem Platz vor der Zitadelle erschossen.
Einige Seiner Anhänger waren verwirrt und verzweifelt und zwei von ihnen unternahmen im August 1852 ein Attentat auf Náṣiri’d-Dín Sháh, das jedoch fehlschlug. Obwohl die Mehrheit der Bábí die Tat mißbilligte, brach erneut eine Welle von Verfolgungen über sie herein. Der »Österreichische Soldatenfreund« veröffentlichte am 12. Oktober 1852 den folgenden Brief des Hauptmanns Alfred von Gumoens, der sich damals in Teheran aufhielt:
»... Aber folge mir, Freund, der Du Herz und europäische Sitte Dein nennst,
folge mir zu den Beklagenswerthen, die mit ausgestochenen Augen die eigenen
abgeschnittenen Ohren am Orte der Tat und ohne Bereitung verzehren müssen;
oder zu denen, deren Zähne von der Hand der Schergen mit entmenschter
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Gewalt ausgebrochen wurden, und denen nun der kahle Schädel durch die
Kraft der Hammerschläge zermalmt wird; — oder dorthin wo man den
Bazar mit Unglücklichen beleuchtet, indem man recht- und linkseitig tiefe
Löcher in die Brust und Schulter gräbt, und brennende Kerzen in die Wunden
birgt. Ich sah deren, die an Ketten durch den Bazar — eine Militärmusik an der
Spitze — gezerrt wurden, deren Kerzen tief abgebrannt waren, und nun Unschlitt
gleich einer verlöschenden Lampe in der Wunde zuckend flammte.
Nicht selten begibt sich, daß die nie ermattende Fantasie der Orientalen zu neuen Erscheinungen schreitet. Man zieht den Babis die Haut der Sohlen ab, labt die blutende Wunde mit siedendem Öl, beschlägt den Fuß gleich dem Hufe des Pferdes und zwingt das Opfer nun zum Laufe. Kein Laut war der Brust entstiegen, finster schweigend war die Qual an dem eiserstarrten Gefühle des Fanatikers vorübergezogen; — nun soll er laufen — der Körper kann nicht ertragen, was die Seele ertrug — er sinkt; gebt ihm den erlösenden Stoß, endet seine Pein! Nein, der Scherge schwingt seine Peitsche, und — ich mußte es selbst sehen — der hundertfach Gequälte läuft. Das ist der Anfang vom Ende. Das Ende selbst: Man hängt den durchbohrten, versengten Körper bei Hand und Fuß an einen Baum, den Kopf der Erde zugeneigt, und nun mag jeder Perser von einer bestimmten nicht allzu nahen Distanz aus das Vergnügen haben, auf das edle gelieferte Wild die Schußfertigkeit zu erproben...
Das Gericht beschenkt zuweilen einzelne Würdenträger mit den unglücklichen Babis ... Ein Babi wurde dem löblichen Offizierscorps der Garnison verehrt; der General en chef führte den ersten Hieb, und sodann jeder, wie es der Rang gestattete. Die persischen Truppen sind Schlächter und nicht Krieger. Einen Babi bekam auch der Imam Giume, auch er mordete. Der Islam weiß nichts von Liebe.
Wenn ich jetzt das Geschriebene wieder lese, überkommt mich der Gedanke, daß man bei Euch im lieben theueren Österreich an der vollen Wahrheit des Geschilderten zweifeln, mir eine Übertreibung zur Last legen könnte. — Gäbe es Gott, daß ich es nicht erlebt hätte, nicht erlebte. Aber durch das Gebot meines Berufes war ich leider oft, sehr oft Zeuge der Greuel. Zur Stunde verlasse ich gar nicht mehr mein Haus, um nicht erneuerten Schreckens-Scenen zu begegnen ...«5)
In den Strudel der Ereignisse geriet auch Mírzá Ḥusayn Alí, einer der führenden Anhänger des Báb. Náṣiri’d-Dín Sháh ordnete noch im August 1852 Seine Verhaftung an. Er wurde daraufhin in Teheran eingekerkert, unter erniedrigenden Umständen vier Monate lang gefangengehalten und erst auf Vermittlung des russischen Gesandten Dolgorukij wieder aus der Haft entlassen. Es war Ihm jedoch nur eine kurze Zeit der Ruhe vergönnt. Von Náṣiri’d-Dín Sháh des Landes verwiesen, machte Er sich auf den Weg nach Bagdad, wo Er im April 1853 ankam.
Und doch war Er es, dem sich die Anhänger des Báb nach den schweren Schlägen der letzten Jahre zuwandten. Nicht die Verfolgungen hatten den Fortschritt der Sache gehemmt, sondern der innere Zustand der Gemeinde. Zu wenig waren die Gläubigen mit dem vertraut gewesen, was die Lehre des Báb von ihnen forderte. In dieser Hinsicht trat nun unter der Führung Mírzá Ḥusayn Alís ein grundlegender Wandel ein.
Obwohl man Ihn des Landes verwiesen hatte, schien Sein Einfluß größer
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denn je. Die Geistlichen waren zutiefst beunruhigt. Einige sprachen von der
Notwendigkeit eines Heiligen Krieges gegen Ihn und Seine Gefährten, stießen
aber auf Widerstand aus den eigenen Reihen. Immerhin sah sich die persische
Regierung veranlaßt, auf Seine Verbannung an einen möglichst weit entfernten
Ort hinzuwirken. Die osmanische Regierung gab schließlich dem Drängen
nach und lud Ihn ein, als ihr Gast nach Konstantinopel zu kommen.
Unmittelbar vor Seiner Abreise — vom 22. April bis zum 3. Mai 1863 — begab Er sich in einen Garten am Ufer des Tigris, der später »Riḍvàn«, »Garten des Paradieses« genannt wurde. Dort erklärte Er, derjenige zu sein, auf dessen Kommen der Báb hingewiesen hatte. Das war kein geringer Anspruch. »Er, den Gott offenbaren wird« sollte der Verheißene aller Religionen, Richter und Erlöser der Menschheit und der Gestalter des neuen Zeitalters sein. Und Er sollte einen Titel tragen, der diesen Anspruch deutlich machte: »Bahá’u’lláh«, »die Herrlichkeit Gottes«.
Zu einer Begegnung zwischen Ihm und dem Sulṭán ‘Abdu’l-’Azíz kam es nicht, als Er sich vom August bis zum Dezember 1863 in Konstantinopel aufhielt. Die Intrigen am Hofe, an denen auch die persische Regierung einen nicht unerheblichen Anteil hatte, machten es unmöglich. Er wurde schließlich auf Befehl des Herrschers und seiner ersten Minister, ‘Alí Páshá und Fu’äd Páshá, nach Adrianopel, dem heutigen Edirne, verbannt.
In Seiner Heimat war es um die Anhänger des Báb still geworden. Mehrere Jahre lang hatten sie keine Verfolgungen erlitten, und es schien, als habe sich der Zorn ihrer Gegner gelegt. Am 3. Mai 1864 jedoch berichtete der französische Geschäftsträger, M. le Comte de Rochechouart, aus Iṣfahán: »Es scheint, daß einige Bábí, ungefähr ein Dutzend, in der Stadt Iṣfahán ergriffen und hierher (nach Najaf-Ábád) gebracht wurden, um allen möglichen Foltern unterzogen zu werden. Ich hoffe immer noch, daß diese Nachricht sich als falsch herausstellen wird, denn das Volk, weiter fortgeschritten als die Regierung, betrachtet diese Massaker mit Abscheu und Widerwillen, zumal sie völlig unnötig sind: die Bábí sind eine harmlose Sekte — sie predigen, das ist wahr, gegen Fehlverhalten der Regierungsmitglieder und vor allem gegen Korruption; sie sind den Europäern im allgemeinen und uns im besonderen sehr freundlich gesonnen. Sollten die erwähnten Dinge entgegen meinen Erwartungen zutreffen, so werde ich jede Anstrengung unternehmen, ein Massaker zu vermeiden, für das nicht einmal die Entschuldigung vorgebracht werden könnte, sie (die Bábí) hätten zuerst mit dem Ärger begonnen. Ich werde den Standpunkt vertreten, daß man sich erhebliche Vorwürfe gefallen lassen müßte und völlig mit der zivilisierten Welt brechen würde, wenn man ein solches Unrecht zuließe.«6)
Diese Mitteilung ist in zweierlei Hinsicht interessant. Zum einen fällt auf,
daß die Verfolgten immer noch als Bábí bezeichnet werden. Erst nach und nach
erfuhren sie von dem Anspruch Bahá’u’lláhs und es vergingen einige Jahre,
bevor sie in ihrer Mehrzahl zu Bahá’í, Seinen Anhängern, geworden waren.
Zum anderen zeigt der Bericht, daß sie sich nicht mehr gegen Übergriffe zur
Wehr setzten, sondern die Unterdrückung geduldig ertrugen. Sie folgten
damit einem Gebot Bahá’u’lláhs — oder vielmehr Mírzá Ḥusayn Alís, ihres
Oberhauptes. Dennoch kam es auch in den folgenden Jahren immer wieder zu
Ausschreitungen. Urheber waren jetzt
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meist die Geistlichen, während die Regierung es mitunter ablehnte, sich an
ihren Machenschaften zu beteiligen. Bemerkenswert ist außerdem, daß die
Vertreter Englands und Rußlands in einigen Fällen intervenierten, es ihnen
allerdings nur selten gelang, die Lage der Verfolgten zu bessern.
Bahá’u’lláh selbst wurde erneut das Opfer von Intrigen. Sultán Abdu’l-Azíz verbannte Ihn nach ‘Akká in Palästina, einer Strafkolonie des osmanischen Reiches. Dort traf Er im August 1868 ein und wurde zunächst zwei Jahre und zwei Monate in der Zitadelle gefangengehalten. Später wies man Ihm ein Haus zu, doch stand Er weiterhin unter mehr oder weniger strengem Arrest. Erst 1877 konnte Er die Stadt verlassen und in ein nahegelegenes Landhaus umziehen. Sowohl von Adrianopel als auch von ‘Akká aus wandte Er sich an die weltlichen und geistlichen Führer Seiner Zeit, unter Ihnen Sultán Abdu’l-Azíz, Náṣiri’d-Dín Sháh, Kaiser Napoleon III., Königin Viktoria, Zar Alexander II., Kaiser Wilhelm I., Kaiser Franz Joseph und Papst Pius IX. Im April 1890 besuchte Ihn Prof. E.G. Browne, ein bekannter englischer Orientalist. Er schrieb später im Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen Buch »A Travellers Narrative«:
»Mein Führer stand einen Augenblick stille, während ich meine Schuhe ablegte. Mit einem raschen Griff zog er den Vorhang zurück, und ich betrat ein großes Zimmer, an dessen oberem Ende ein Diwan und der Türe gegenüber zwei oder drei Stühle standen. Obschon ich dunkel ahnte, wohin ich jetzt ging und wen ich sehen sollte (eine bestimmte Andeutung war mir nicht gemacht worden), stand ich doch einige Sekunden mit Herzklopfen und voll Ehrfurcht da, bevor ich mir endlich bewußt wurde, daß der Raum nicht leer war. In der Ecke, wo der Diwan an die Wand stieß, saß eine hoheitsvolle, ehrwürdige Gestalt mit jener Kopfbedeckung, wie sie bei den Derwischen Táj genannt wird (aber von ungewöhnlicher Höhe und Form), und um deren unteren Teil ein kleiner weißer Turban gewunden war. Das Antlitz, in das ich nun blickte, kann ich nie vergessen, obgleich ich nicht imstande bin, es zu beschreiben. Diese durchdringenden Augen schienen auf dem Grunde der Seele zu lesen. Macht und Würde lagen über diesen breiten Augenbrauen; die tiefen Falten auf Seiner Stirne und Seinem Gesicht verrieten ein Alter, das Sein tiefschwarzes Haar und der in üppiger Fülle bis zur Leibesmitte herabwallende Bart Lügen zu strafen schienen. Unnötig zu fragen, in wessen Gegenwart ich stand, als ich mich vor Dem verneigte, der das Ziel einer Verehrung und Liebe ist, um die Ihn Könige beneiden könnten und nach der sich Kaiser vergeblich sehnen.
Eine milde, würdevolle Stimme bat mich, Platz zu nehmen, und sprach sodann:
›Gelobt sei Gott, daß du es erreicht hast! ... Du bist gekommen, um
einen Gefangenen und Verbannten zu sehen ... Wir wünschen nur das Wohl
der Welt und das Glück der Völker; dennoch hält man Uns für Anstifter von
Streit und Aufruhr, die Gefangenschaft und Verbannung verdienen ... Wir
wünschen, daß alle Völker in einem Glauben vereint und alle Menschen
Brüder werden; daß das Band der Liebe und Einigkeit zwischen den Menschenkindern
gestärkt werde; daß Religionsverschiedenheit aufhöre und die Unterschiede,
welche zwischen den Rassen gemacht werden, aufhören — was ist
nun Schlimmes hieran? ... Aber trotz all dem wird es dahin kommen; diese
fruchtlosen Kämpfe, diese zerstörenden Kriege werden aufhören und der
»Größte Friede« wird kommen ... Habt ihr dies in Europa nicht auch nötig?
Ist dies nicht das, was Christus verhieß? ...
[Seite 42]
Aber dennoch sehen Wir eure Könige und Regenten die Schätze ihrer Länder
mehr auf die Zerstörung der menschlichen Rasse verschwenden als darauf,
was zum Glück der Menschheit führen würde... Diese Kämpfe, dieses
Blutvergießen und diese Zwietracht müssen aufhören, alle Menschen müssen sein,
als ob sie einem Geschlecht und einer Familie angehörten. Es rühme sich kein
Mensch dessen, daß er sein Land liebt, sondern eher dessen, daß er das ganze
Menschengeschlecht liebt ...‹
Solcher Art waren, soweit ich sie aus dem Gedächtnis wiedergeben kann, die Worte, die ich, neben vielen anderen, von Bahá hörte. Mögen die, die sie lesen, sie gut daraufhin ansehen, ob solche Lehren Tod und Ketten verdienen, und ob die Welt von ihrer Verbreitung nicht vielleicht mehr gewinnen als verlieren würde.«7)
Bahá’u’lláh verschied am 29. Mai 1892. Sein Sohn ‘Abbás Effendi war von Ihm zum »Mittelpunkt des Bündnisses« und zum »Ausleger des Wortes Gottes«8) bestimmt worden, zog es aber vor, 'Abdu'l-Bahá, »Diener der Herrlichkeit«, genannt zu werden. In Seinen Händen lag nun die Führung der Gemeinde. Er hatte Bahá’u’lláh während der 40 Jahre Seiner Verbannung begleitet, und jener Erlaß des Sulṭáns Abdu’l-Azíz, der strenggenommen noch immer nicht aufgehoben worden war, galt auch Ihm. Er konnte sich jedoch mehr oder weniger frei bewegen. Einen großen Teil Seiner Zeit verbrachte Er in Haifa, wo Er im Sommer 1899 mit dem Bau eines Grabmals für den Báb begann, dessen sterbliche Überreste jahrzehntelang an verschiedenen Orten Persiens versteckt gehalten worden waren. Seine Gegner behaupteten, das neue Gebäude sei eine Festung, die Ihm zur Vorbereitung eines Aufstandes diene. Sulṭán 'Abdu'l-Ḥamíd setzte daraufhin im August 1901 den Erlaß seines Vorgängers erneut in Kraft und 'Abdu'l-Bahá konnte mehrere Jahre lang ‘Akká nicht mehr verlassen. Zweimal, im Sommer 1905 und im Winter 1907, erschien eine Untersuchungskommission, um die gegen Ihn erhobenen Vorwürfe an Ort und Stelle zu prüfen. Sie hatte jedoch kaum ihren Bericht vorgelegt, als 1908 Sulṭán 'Abdu'l-Ḥamíd durch die jungtürkische Revolution zu einer Amnestie für religiöse und politische Gefangene gezwungen wurde.
'Abdu'l-Bahá war nun endgültig frei. Ein Jahr später konnte Er die sterblichen Überreste des Báb in dem dafür vorgesehenen Grabmal beisetzen und verlegte auch Seinen ständigen Wohnsitz nach Haifa. In den Jahren 1911—1913 unternahm Er ausgedehnte Reisen nach Europa und Nordamerika, die der Sache Seines Vaters dort zu einem bemerkenswerten Grad der Bekanntheit verhalfen.
Die Verfolgungen der Bahá’í im Iran flammten auch während Seiner
Amtszeit immer wieder auf, insbesondere im Sommer 1903. Der amerikanische
Missionar Napier Malcolm, der damals in Yazd lebte, gab später in seinem Buch
»Five Years in a Persian Town« die folgende Schilderung: »Die Bahá’í wurden
zu jener Zeit nicht von dem mujtahid9) verurteilt und hingerichtet,
sondern vom Pöbel in Stücke gerissen. Was die Menge erregt hatte, war nicht in
erster Linie religiöser Eifer. Es war vielmehr die Erklärung der geistlichen
Autoritäten, daß das Eigentum der Bahá’í für jeden »rechtmäßig« sei, daß also jeder,
der wollte, sie ausplündern dürfe. Die Angriffe wurden häufig von Männern
unternommen, die lange Zeit in enger Nachbarschaft mit den Bahá’í gelebt
[Seite 43]
hatten, die allezeit gewußt hatten, daß diese Mitglieder der Sekte waren, und
die doch mit ihnen ganz selbstverständlich Umgang gepflegt hatten. Löcher
wurden in die Köpfe einiger dieser armen Teufel gebohrt, dann wurde Öl
hineingegossen und angezündet; andere Formen der Folter wurden angewandt,
die man nicht beschreiben kann. Frauen und Kinder wurden selten getötet, aber
schrecklich mißhandelt und manchmal dem Tode durch Verhungern preisgegeben. Es
wird berichtet, daß an einem Ort Bábí-Kinder in Sichtweite der Dorfbewohner
starben, nachdem sie tagelang unter den Bäumen gewartet hatten,
unter denen sie von ihren Eltern, die man ermordet hatte, zurückgelassen
worden waren ... Ein Soldat traf auf einen Yazdí, der einen anderen Mann
hinter sich her zog und herauszufinden versuchte, ob er tatsächlich ein Bahá’í
sei. ›Sehen Sie‹, sagte er, ›ich bin mein ganzes Leben lang ein schlechter
Mensch gewesen, und ich habe nie meine Gebete gesagt oder andere savabs10)
verrichtet, deshalb werde ich sicher in die Hölle kommen, falls ich nicht etwas
Großes vollbringe. Sollte dieser Mensch ein Bábí sein, so darf ich ihn nicht
loslassen, denn wenn ich einen Ungläubigen töte, werde ich geradewegs in
den Himmel aufsteigen.‹ «11)
'Abdu'l-Bahá starb am 28. November 1921 und Sein Enkel Shoghi Effendi, den Er zum »Hüter der Sache Gottes« eingesetzt hatte, folgte Ihm als Oberhaupt der Gemeinde. Auch er lebte und wirkte in Haifa. Unter seiner Führung begann der Aufbau örtlicher und nationaler Bahá’í-Institutionen in aller Welt — der Fundamente einer Verwaltungsordnung, wie sie Bahá’u’lláh selbst umrissen hatte.
Im Iran wurden diese Gremien bald zur Zielscheibe für die Angriffe der weltlichen und geistlichen Mächte. Man schränkte ihre Arbeit weitgehend ein, beschlagnahmte mancherorts ihr Eigentum und schloß alle ihre Schulen. Die Gemeinde wandte sich in wachsendem Maße an Behörden und Gerichte des Landes sowie an internationale Organisationen, um gegen die Übergriffe zu protestieren, doch führte das natürlich nur selten zu einem greifbaren Ergebnis. Immerhin ist festzustellen, daß für Leib und Leben der Gläubigen kaum noch Gefahr bestand, wenn es auch vereinzelt immer noch zu Ausschreitungen kam.
Als Shoghi Effendi am 4. November 1957 starb, hinterließ er keine Nachkommen. Die Verantwortung lag nun vorübergehend bei einigen hervorragenden Gläubigen, die von ihm zu »Händen der Sache Gottes« ernannt und als »Hauptsachwalter der Weltgemeinschaft Bahá’u’lláhs«12) bezeichnet worden waren.
Am 21. April 1963 konnte dann zum ersten Mal das »Universale Haus der Gerechtigkeit«, die höchste Institution der Bahá’í-Verwaltungsordnung, gewählt werden. Es leitet seither die Geschicke der Gemeinde. Daß es eines Tages die traurige Pflicht haben würde, die Gläubigen auf der ganzen Welt von erneuten Verfolgungen ihrer Schwestern und Brüder im Iran zu unterrichten, war noch vor wenigen Jahren kaum vorstellbar.
Betrachtet man nun die geschichtliche Entwicklung, wie sie hier dargestellt
wurde, so bleibt die Frage nach den Gründen zunächst weiterhin offen.
Mag sein, daß in den Tagen des Báb das Mißverständnis aufkam, man habe es
mit dem Versuch eines politischen Umsturzes zu tun. Mag sein, daß dieses
Mißverständnis dadurch gefördert wurde,
[Seite 44]
daß sich Seine Anhänger verteidigten, wo sie bedrängt wurden. Aber spätestens
als Bahá’u’lláh ihnen verbot, von der Waffe Gebrauch zu machen, und sie
dazu aufrief, sich gegenüber der Staatsgewalt loyal zu verhalten, hätten sich
doch die Wogen glätten müssen. Auch westlichen Beobachtern scheinen die
Motive der Verfolgungen nicht recht einsichtig gewesen zu sein. Der britische
Diplomat Lord Curzon of Kedleston, der sich 1889 im Iran aufhielt, schrieb
später in seinem Buch »Persia and the Persian Question«: »Aus der Tatsache,
daß der Babismus sich anfänglich im Konflikt mit den weltlichen Mächten
befand und daß einige Babi einen Anschlag auf das Leben des Schah unternahmen,
ist fälschlicherweise der Schluß gezogen worden, daß die Bewegung
in ihrem Ursprung politisch und von nihilistischem Charakter sei. Was
die Schriften des Bab und seiner Nachfolger betrifft, so enthalten sie nichts,
was diesen Verdacht erhärten könnte. Die Verfolgung durch die Regierung
trieb die Anhänger des neuen Glaubens sehr früh in eine Widerstandshaltung,
und angesichts der Erbitterung, die der Kampf hervorrief, sowie der grausamen
Brutalität, mit der die Sieger ihre Rechte geltend machten, war es nicht
verwunderlich, daß sich fanatische Elemente fanden, die dem Herrscher nach dem
Leben trachteten. Zur Zeit sind die Babi ebenso loyale Untertanen der Krone wie
andere... Im großen und ganzen könnte man den Babismus als eine Religion
der Nächstenliebe und ganz allgemein der Liebe zur Menschheit bezeichnen.
Brüderlichkeit, Freundlichkeit gegenüber Kindern, Höflichkeit verbunden
mit Würde, Geselligkeit, Gastfreundschaft, keine Frömmelei, freundschaftlicher
Umgang sogar mit Christen gehören zu seinen Lehren. Zu behaupten,
jeder Babi halte sich an diese Vorschriften, wäre unsinnig. Aber ein Prophet
sollte, wenn seine Botschaft in Frage steht, nach seinen eigenen Worten
beurteilt werden.«13)
So bleibt als Grund letztlich nur eines: religiöser Fanatismus. Aber war nicht gerade im Islam die Erwartung zweier Gottesboten lebendig? Und bezogen sich nicht der Báb und Bahá’u’lláh ausdrücklich auf jene Erwartung? Nun, es ging Ihnen nicht anders als Christus, den man kreuzigte, weil Er nicht dem überlieferten Bild des Messias entsprach. Auch über die beiden Verheißenen des Islam hatten sich im Laufe der Jahrhunderte ganz bestimmte Vorstellungen herausgebildet. Muḥammad war nach eigenem Bekunden das »Siegel der Propheten« gewesen. Gottesboten wie Ihn, so glaubte man, werde es deshalb nicht mehr geben. Der Mahdí und der wiederkehrende Christus oder der Qá’im und der wiederkehrende Imám Ḥusayn sollten den Islam und nichts als den Islam verkünden. Sowohl der Báb als auch Bahá’u’lláh jedoch erhoben einen weitergehenden Anspruch.
Beide sahen sich als Träger einer neuen, eigenständigen Offenbarung und Sie nannten Ihre Schriften »Heilige Verse« (áyát). Diese Bezeichnung war dem Qur’án vorbehalten gewesen und nicht einmal auf die mündlich überlieferten Aussprüche Muḥammads, geschweige denn auf die Worte der Imáme, angewandt worden. Der Báb aber erklärte unzweideutig: »Wahrlich, Wir machten die Offenbarung von Versen (áyát) zu einem Beweis Unserer Botschaft an euch. Könnt ihr einen einzigen Buchstaben hervorbringen, der diesen Versen gleichkommt?«14)
Er bekundete allerdings auch Seine Demut vor Dem, der nach Ihm kommen
sollte: »Wie schwach und armselig
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erscheint Mein Wort und alles, was Mir zugehört, es sei denn, daß es Beziehung
zu Deiner großen Herrlichkeit besitze.«15)
Und Bahá’u’lláh schrieb: »O ihr Menschen, wenn ihr diese Verse leugnet, auf welchen Beweis hin glaubt ihr dann an Gott?«16)
Beide lehrten darüber hinaus, Gottesoffenbarung sei fortschreitend. Die verschiedenen Religionen enthielten einerseits Grundsätze, die ewig und unveränderlich seien, andererseits aber Richtlinien für das Leben des einzelnen und der Gesellschaft, die der Zeit und ihren Umständen entsprächen. Dieser zweite Teil der Offenbarung sei somit einem ständigen Wandel unterworfen, und die Gesetze des Islam könnten nicht in der Form bestehen bleiben, in der sie Jahrhunderte lang gegolten hatten. Der Báb ergänzte sie zunächst durch einige neue Vorschriften, darunter die Erwähnung Seines eigenen Namens im Ruf zum Gebet. Das allein reichte aus, Ihn der Blasphemie zu beschuldigen und erste Übergriffe zu rechtfertigen. Später hob Er die Bestimmungen des Qur’án ausdrücklich auf und ersetzte sie durch andere. Diesen Bruch mit der Vergangenheit spiegelte dann auch die Entscheidung Seiner in Badasht versammelten Anhänger wider. Welche der Neuerungen von Dauer sein würden, machte Er abhängig vom Wohlgefallen Dessen, der nach Ihm kommen sollte. Bahá’u’lláh bestätigte einige Seiner Gesetze, setzte andere außer Kraft und fügte wiederum neue hinzu.
Beide schließlich waren davon überzeugt, daß Ihr Wirken das Reich Gottes auf Erden herbeiführen werde. Muḥammad habe sich das »Siegel der Propheten« genannt, weil Er der letzte Gottesbote vor jenem großen Umbruch gewesen sei. Nun war allerdings das endzeitliche Geschehen im Qur’án als der »Tag Gottes« und die »Begegnung mit Gott« bezeichnet worden. Damit schienen der Báb und Bahá’u’lláh den Anspruch zu erheben, Gott selbst zu sein, und in der Tat finden sich in Ihren Schriften entsprechende Andeutungen. Es ist jedoch unmißverständlich klar, daß sie nicht sich selbst, die Person Siyyid ‘Alí-Muḥammad oder die Person Mírzá Ḥusayn ‘Alí, sondern die in Ihnen sichtbar werdende göttliche Wirklichkeit meinten. So schrieb der Báb: »O Meine Diener! Dies ist Gottes festgesetzter Tag, den der Herr der Gnade euch in Seinem Buch verheißen hat.«17) »Die Erkenntnis dessen, der der Träger der göttlichen Wahrheit ist, ist keine andere als die Erkenntnis Gottes, und die Liebe zu Ihm ist keine andere als die Liebe zu Gott. Ich schwöre jedoch bei dem erhabenen Wesen Gottes — gepriesen und verherrlicht sei Er — daß Ich nicht wünschte, Meine Person bekannt zu machen.«17)
Immer wieder betonte Er Seine Ehrerbietung für den, der nach Ihm kommen sollte: »O Du Spur Gottes! Ich habe Mich ganz für Dich geopfert; Ich habe um Deinetwillen Verfluchungen auf Mich genommen und nach nichts verlangt als nach dem Märtyrertode auf dem Pfade Deiner Liebe.«19)
Bahá’u’lláh selbst erklärte: »Dies ist der König der Tage, der Tag, welcher
den Heißgeliebten hat kommen sehen, Ihn, nach dem die Sehnsucht der Welt
seit aller Ewigkeit gegangen.«20) »Wenn Ich, o Gott, der Verwandtschaft
nachsinne, die Mich mit Dir verbindet, so fühle Ich Mich bewogen, allen
erschaffenen Dingen zu verkünden: ›Wahrlich,
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Ich bin Gott‹ und wenn Ich Mein eigenes Selbst betrachte, so finde Ich, daß es
geringer als der Staub ist.«21)
Das alles mußte den Geistlichen des vorigen Jahrhunderts als Ketzerei erscheinen. Und doch hat die Verfolgung der Bahá’í mit dem Islam ebenso wenig zu tun wie die Kreuzzüge oder die Inquisition mit dem Christentum. Von ihrem Ursprung her ist die Religion Muḥammads ausgesprochen tolerant. »Laßt keinen Zwang im Glauben sein«22), heißt es im Qur’án, und der Prophet selbst gab immer wieder Beispiele dieser Haltung.
Seine Gemeinde sah sich allerdings in der Frühzeit einer ständigen Bedrohung durch die heidnischen Araber, die »Götzendiener« (mushrikún), ausgesetzt. Gegen sie war denn auch unter gewissen Umständen der Kampf erlaubt: »Und kämpfet für die Sache Gottes gegen jene, die euch bekämpfen, doch überschreitet das Maß nicht. Wahrlich, Gott liebt nicht die Maßlosen. Und tötet sie, wo immer ihr auf sie stoßt, und vertreibt sie von dort, von wo sie euch vertreiben; denn Verfolgung ist ärger als Totschlag... Wenn sie jedoch ablassen, dann, wahrlich, Gott ist der Allvergebende, der Barmherzige, und bekämpfet sie, bis die Verfolgung aufgehört hat und der Glaube an Gott frei ist. Wenn sie jedoch ablassen, dann wisset, daß keine Feindschaft erlaubt ist.«23)
So war die Ausbreitung des neu entstehenden Reiches kein religiöses, sondern ein politisches Geschehen. Die unterworfenen Völker wurden nicht gezwungen, den Islam anzunehmen, und jahrhundertelang lebten die Anhänger verschiedener Religionen in Frieden miteinander. Juden und Christen, die »Völker des Buches« (ahl-i-kitáb), galten als Schutzbefohlene (dhimmi): »Wahrlich, die da glauben, und die Juden und die Christen... Wer immer von diesen an Gott und den Jüngsten Tag glaubt und tut, was recht ist: über sie soll weder Furcht noch Kummer kommen.«24)
Selbst in der Verfassung der Islamischen Republik Iran werden den Juden, den Christen und auch den Zarathustriern gewisse Rechte als religiösen Minderheiten eingeräumt. Daß man sich weigert, Gleiches den Bahá’í zuzugestehen, entspricht dem fundamentalistischen Verständnis des Qur’án: Offenbarung nach Muhammad kann es nicht geben, also auch keine weiteren Schutzbefohlenen. Folglich sind die Bahá’í nichts weiter als Ketzer (murtadd) und ihr Glaube — oder Unglaube — ist keine Religion (dín níst).
Nun gibt es eine mündliche Überlieferung, nach der Muḥammad gesagt haben
soll: »Wer seine Religion wechselt, den tötet.«25) Das klingt nicht
sehr glaubwürdig angesichts der Tatsache, daß im Qur’án nur von jenseitiger Strafe
für ein solches Vergehen die Rede ist. Dennoch stimmen alle islamischen
Rechtsschulen darin überein, daß Ketzer den Tod verdient haben und jedermann
ihr Blut ungestraft vergießen darf (mahdúru’l-damm). Umstritten ist
lediglich, ob ihnen Gelegenheit zur Reue gegeben werden soll. Die schiitischen
Geistlichen vertreten in der Regel den Standpunkt, daß solche Milde nur bei
denen angebracht ist, die den Islam aus freien Stücken angenommen und sich
dann wieder von ihm abgewandt haben. Das freilich traf auf die ersten Bábí und
Bahá’í nicht zu, denn die meisten von ihnen waren zeit ihres Lebens Muslim
gewesen. Allerdings gab es andere, die aus jüdischen und
zarathustrischen Familien
[Seite 47]
stammten und ebenso gnadenlos verfolgt wurden. Heute sind die Bahá’í
der zweiten, dritten und vierten Generation in einer ähnlichen Lage. Ohne je
Muslim gewesen zu sein, gelten auch sie als Ketzer. In mancher Hinsicht nimmt
man es eben mit der Überlieferung nicht so genau.
Was die Gelegenheit zur Reue betrifft, so könnten die Bahá’í tatsächlich der Verfolgung entgehen, wenn sie ihren Glauben verleugneten. Sie tun es nicht, denn es würde für sie einen Rückschritt bedeuten. Sie verehren Muḥammad als Gesandten Gottes und anerkennen den Qur’án als Gottes Wort. Und sie sind der festen Überzeugung, daß die Verheißungen des Islam im Báb und in Bahá’u’lláh ihre Erfüllung gefunden haben.
- 1) Aus einem Brief an Muḥammad Sháh, Der Báb, Kleine Auswahl aus Seinen Schriften, Hofheim-Langenhain 1980, S. 7; vgl. Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá’u’lláhs, Hofheim-Langenhain 1977, S. 187
- 2) M. Momen (Hrsg.), The Bábí and Bahá’í Religions, S. 69
- 3) Nachkommen Muḥammads
- 4) a.a.0., S. 74f
- 5) M. v. Najmájer, Gurret-ül-Eyn. Ein Bild aus Persiens Neuzeit (mit Biographie, Vorwort und historischem Abriß), Wien 1981, S. XXXf
- 6) M. Momen (Hrsg.), The Bábí and Bahá’í Religions, S. 268f
- 7) J.E. Esslemont, Bahá’u’lláh und das neue Zeitalter, Hofheim-Langenhain 1976, S. 56f
- 8) Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá’u’lláhs, S. 199
- 9) Religiöse Richter
- 10) Fromme Werke
- 11) M. Momen (Hrsg.), The Bábí and Bahá’í Religions, S. 390f
- 12) The Bahá’í World. An International Record, Vol. XVII, Haifa 1981, S. 319
- 13) M. Momen (Hrsg.), The Bábí and Bahá’í Religions, S. 46f
- 14) Selections from the Writings of the Báb, Haifa 1976, S. 43
- 15) Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá’u’lláhs, S. 153
- 16) Tablet an Ahmad, Bahá’í-Gebete, Hofheim-Langenhain 1984, S. 330
- 17) Selections from the Writings of the Báb, S. 72
- 18) a.a.O., S. 121
- 19) Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá’u’lláhs, S. 154
- 20) a.a.O., S. 161
- 21) a.a.O., S. 172
- 22) Qur’án 2:257
- 23) Qur’án 2:191-194
- 24) Qur’án 5:70
- 25) A.J. Wensinck und J.H. Kramers (Hrsg.), Handwörterbuch des Islám, S. 545
Quellen
'Abdu'l-Bahá, A Travellers Narrative, Wilmette 1980
H.M. Balyuzi, 'Abdu'l-Bahá, 2 Bde., Hofheim-Langenhain 1983/1984
H.M. Balyuzi, The Báb, Oxford 1973
H.M. Balyuzi, Bahá’u’lláh. The King of Glory, Oxford 1980
R. Cooper, The Bahá’ís of Irán (Minority Rights Group, Report No. 51), London 1982
R. Mehrabkhani, Some Words on the Principles, unveröffentlicht
M. Momen (Hrsg.), The Bábi and Bahá’í Religions, 1844—1944. Some Contemporary Western Accounts, Oxford 1981
U. Schaefer, Die mißverstandene Religion. Das Abendland und die nachbiblischen Religionen, Frankfurt 1968
Shoghi Effendi, Gott geht vorüber, Hofheim-Langenhain 21974
Shoghi Effendi (Hrsg.), The Dawn-Breakers. Nabíls Narrative of the Early Days of the Bahá’í Revelation, Wilmette 51974; dt.: Nabíls Bericht. Aus den frühen Tagen der Bahá’í-Offenbarung, 3 Bde., Hofheim-Langenhain 1975/1982, Bd. 3 in Vorbereitung
A.J. Wensinck und J.H. Kramers (Hrsg.), Handwörterbuch des Islám, Leiden 1941
- Im Bazar von Teheran (Ṭihrán), um 1873
Amin Banani
DIE BAHÁ’Í IM IRAN - RELIGION ODER KOMPLOTT DER KOLONIALMÄCHTE?[Bearbeiten]
- Vortrag auf dem 31. Internationalen Kongreß für Humanwissenschaft in Asien und Nordafrika, Tokio, vom 1. September 1983. Amin Banani ist Professor für Islamwissenschaft an der Universität von Kalifornien, Los Angeles. Die Übersetzung aus dem Englischen besorgte Heidemarie Lakshman.
Es geschieht nicht oft, daß der Gegenstand einer historischen Untersuchung
entscheidende Konsequenzen für Leben oder Tod eines nicht unbedeutenden
Teils der Menschheit hat. Schon der Begriff »Krise« läßt auf Konflikt und
Streit schließen, Umstände, die sich einer leidenschaftslosen
wissenschaftlichen Methodik widersetzen. Die Kontroverse, die in diesem Vortrag
behandelt wird, ist jedoch von einer Art, die am ehesten durch Anwendung rigoroser
wissenschaftlicher Objektivität beigelegt werden kann. Nur eine sorgfältige
Analyse, frei von Leidenschaft und vorgefaßten Meinungen und unter strenger
Beachtung anerkannter Tatsachen, kann hoffen, den Konflikt zu lösen.
Gemeint ist der Vernichtungsfeldzug gegen die Bahá’í im Iran, eine Gemeinde von etwa 350.000 Menschen und somit die größte religiöse Minderheit des Landes. Es ist ein systematischer und umfassender Prozeß, der in rasch zunehmendem Tempo alle Möglichkeiten des physischen und psychologischen Terrors einsetzt. Hierzu gehört, daß in vielen Orten aktive Führer dieser Gemeinde hingerichtet werden, daß allen Bahá’í grundlegende Menschenrechte versagt werden, daß sie aus dem öffentlichen Dienst entlassen werden, daß ihre Privatunternehmen wirtschaftlich boykottiert werden, ihr Besitz enteignet wird, ihre Kinder keine Schulbildung erhalten, die Altersrente der Pensionäre nicht bezahlt wird, ihre Heiligen Stätten und Friedhöfe geschändet und zerstört werden, daß Bahá’í-Kinder entführt und junge Mädchen zur Heirat mit Muslimen gezwungen werden. Dies sind die auffälligsten Merkmale eines umfassend und vollständig dokumentierten Unterdrückungssystems, dem die Bahá’í des Iran ausgesetzt sind. Die psychologische Belastung, fortwährendem Terror ausgesetzt zu sein, die völlige Unsicherheit der Lebensumstände, der Druck, ihren Glaubensgrundsätzen abzuschwören und sich zum Islam zu bekennen (was man irshád — geistige Führung — nennt), und insbesondere die Flut entwürdigender Mißhandlungen, Beschuldigungen und Beleidigungen sind das tägliche Los der iranischen Bahá’í und einer der nachhaltigsten Fälle von Menschenrechtsverletzungen in unserer Zeit. Dies ist umso verwerflicher, als die Verfolgung der Bahá’í allein der Unterdrückung eines religiösen Glaubens gilt, da die Bahá’í die Sicherheit des iranischen Staates nicht bedrohen.
Für das Verständnis dieser Krise ist es notwendig, sich wenigstens kurz den
Ursprung und die geschichtliche Rolle der Bahá’í im Iran zu vergegenwärtigen.
Es ist möglich, im Entstehen der Bábí-Bahá’í-Bewegungen des 19. Jahrhunderts
den Wandlungsprozeß eines heterodoxen und scheinbar unbedeutenden
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Zweiges der Shaykhi-Schule innerhalb der Zwölferschia des Islam zu
einer unabhängigen Weltreligion zu sehen. Dieser Prozeß wurde von bedeutenden
Historikern1) als hervorragendes Beispiel für die Erwartungen des
tausendjährigen Reiches im schiitischen Islam beschrieben, die im 19. Jahrhundert
verstärkt auftraten. Für die vergleichende Religionsgeschichte ist dieser Vorgang
nicht einmalig. Die Geburt eines neuen religiösen Systems innerhalb der Traditionen
einer älteren Religion und dessen schließliche Emanzipation als unabhängige Religion
kann in der historischen Verbindung von Christentum und Judentum oder von Buddhismus
und Hinduismus beobachtet werden. Auch Ablehnung und Verfolgung der Anhänger
einer neuen Bewegung aufgrund der wohlbegründeten Rechte der älteren Religion sind
soziale Stereotypen und nicht auf die Geschichte der Bábí-Bahá’í-Bewegungen begrenzt.
Eigentümlich am derzeitigen Vernichtungsfeldzug gegen die Bahá’í im Iran sind
jedoch die ständig wechselnden Rechtfertigungen, die die Behörden der Islamischen
Republik dafür vorbringen. Von Anfang an in ihrem Geburtsland
schweren Verfolgungen ausgesetzt, wurden die Bábí und Bahá’í in den ersten
hundert Jahren vorwiegend aus dogmatischen Gründen angegriffen. Die Bábí,
und später die Bahá’í, wurden als Häretiker gebrandmarkt und getötet oder als
Abtrünnige verfolgt. In den letzten 40 Jahren, als die iranische Politik mehr
und mehr zum Kampfplatz importierter Ideologien und globaler Machtpolitik
wurde, sind den alten dogmatischen Polemiken eine Vielzahl politischer
Anschuldigungen hinzugefügt worden. Während man der religiösen Polemik,
die in dem absoluten und ausschließlich dogmatischen Standpunkt der
schiitischen Geistlichkeit gründet, eine gewisse Ehrlichkeit nicht absprechen kann,
muß man die neueren politischen Angriffe mit ihren ungereimten Machwerken,
ihren unbelegten Behauptungen und ihren widersprüchlichen Argumenten als
bestenfalls bizarr bezeichnen. Gemeinsam ist ihnen die Behauptung,
die Bahá’í-Religion sei ein Instrument imperialistischer Verschwörung, das
nur für die Schwächung des Islam geschaffen wurde. Diese Anschuldigungen
durch hochrangige Vertreter der Islamischen Republik werden häufig
genug wiederholt, sind wohldokumentiert, weit verbreitet und leicht
zugänglich, angefangen mit einer Erklärung Khomeynis, die er vor seiner Rückkehr
nach Iran in Paris2) abgegeben und im Juni 1983 wiederholt und bekräftigt hat.
In zwei Stellungnahmen vor der Menschenrechtskommission der Vereinten
Nationen in Genf wurden diese Beschuldigungen im März 1982 in allen Einzelheiten
und mit dem Gewicht offizieller Verlautbarung vom Sprecher der Delegation der
Islamischen Republik, Herrn Sabzalian, vorgebracht, im Januar und
Februar 1983 wiederholt und im April 1983 von Ḥujjatu’l-Islám Khosrowshahi,
dem Botschafter Khomeynis im Vatikan, noch erweitert. Schließlich
wurden sämtliche Anschuldigungen mit vorgeblichen Beweisdokumenten
versehen in einer Broschüre in englischer Sprache unter dem Titel
»Bahaism, its origins and its role«3) von einem Organ
der Islamischen Republik für die »Verbreitung der Kultur der Islamischen
Revolution« veröffentlicht.
Mit diesem Beitrag will ich Anschuldigungen und Beweisführung dieser
Schrift einer eingehenden Prüfung
[Seite 50]
unterziehen, in der Hoffnung, daß wissenschaftliche Objektivität und Fairness
die Haltlosigkeit dieser Behauptungen aufdecken und die Ungeheuerlichkeit
der Verbrechen, die damit sanktioniert werden sollen, erkennen lassen wird.
Daß derartige Erklärungen vor einer internationalen Körperschaft durch
offizielle Vertreter der Islamischen Republik abgegeben werden, die sich
der schwerwiegenden Konsequenzen grundloser Beschuldigungen und reiner
Erfindungen für ihre eigene Glaubwürdigkeit bewußt sein müßten, ist in sich
ein erstaunliches Phänomen, das einer genauen Untersuchung bedarf. Ohne
gründliches Studium der Geschichte der öffentlichen Angriffe auf die Bahá’í im
Iran ist es unmöglich, die Denkweise zu begreifen, die solchen Erklärungen
zugrunde liegt. Seit über 140 Jahren ist eine Flut von Anschuldigungen und
Verleumdungen schonungslos über die Bahá’í hingegangen, während man ihnen
gleichzeitig jede Möglichkeit der Erwiderung und der Verteidigung genommen
hat. Ihrer Bürgerrechte beraubt, war den Bahá’í der Zugang zur Presse
und jede Veröffentlichung verboten. Es ist leicht ersichtlich, daß auch die
aufrichtiggesinnte Mehrheit des iranischen Volkes nach fast anderthalb
Jahrhunderten einseitiger Beeinflussung Opfer dieser Falschdarstellungen,
Verzerrungen und durchsichtigen Erfindungen werden mußte. Die von den offiziellen
Vertretern der Islamischen Republik gegen die Bahá’í vorgebrachten Behauptungen
sind derart an den Haaren herbeigezogen, so offenkundig anfechtbar
in Beweisführung und Dokumentation, daß nur Menschen bereit sein können,
solche Erklärungen einer unparteiischen Überprüfung auszusetzen, die
selbst unfreiwillige Opfer jahrzehntelanger Falschinformationen sind.
Der alleinige Grund dafür, daß den Bahá’í im Iran ihre Rechte versagt werden, ist die Behauptung, ihr Ursprung und ihre Funktion seien politischer Natur. Dabei kann es keine klarere und konsequentere Ermahnung geben, sich politischer Aktivitäten, der Parteimitgliedschaft und des Parteigeists zu enthalten, als dies der Wortlaut der Bahá’í-Lehren den Bahá’í auferlegt. Diese Aussagen reichen von den heiligsten Worten des Stifters des Glaubens und den Erklärungen jeder Person und Institution, die mit höchster Autorität der weltweiten Bahá’í-Gemeinde betraut sind, bis zu den vielfach wiederholten Weisungen der Bahá’í-Institutionen auf nationaler und örtlicher Ebene. Im Iran sind die Akten und Archive der Bahá’í-Institutionen von den Beamten der Islamischen Republik beschlagnahmt worden und stehen ihrer Überprüfung uneingeschränkt offen. Sie sind ein Beweis des sorgsamen Bemühens der Bahá’í, sich aller Verstrickung in die Politik zu enthalten.
Hinter den weitverbreiteten Vorwürfen, die den Ursprung der Bábí- und
Bahá’í-Bewegungen ausländischen Intrigen zuschreiben, steht eine grobe
Fälschung, die als
J’tiráfát-i-Síyásí yá Yáddáshtháy-i-Kinyáz Dalqúrkí4)
bekannt ist. Anfänglich wurde sie in Teheran in den späten 30er Jahren in
verschiedenen Manuskriptformen in Umlauf gebracht und 1943 in Mashhad
zum erstenmal als eine historische Ergänzung des Khurásán-Jahrbuches
veröffentlicht. 1944 wurden sie in Teheran mit bedeutsamen Veränderungen
gegenüber der Mashhad-Ausgabe in Bezug auf Satzbau, Beschreibung von
Ereignissen und Chronologie nachgedruckt. In den vergangenen vierzig Jahren sind
sie verschiedentlich neu aufgelegt worden, Auszüge daraus kamen als
[Seite 51]
Sensationsmeldungen in der Presse. Eine arabische Übersetzung wurde in den späten
70er Jahren von einem gewissen Siyyid Aḥmad Fálí in Karbilá, Irak, veröffentlicht.
Diese sogenannten Memoiren werden in jeder offiziellen Stellungnahme der Islamischen
Republik, so auch in der oben erwähnten Broschüre von 1983, als Schuldbeweis
gegen die Bahá’í angeführt.
Selbst eine rudimentäre Anwendung der Prinzipien wissenschaftlicher Methodik wird dieses Dokument als Fälschung entlarven, die durch unbegründete Annahmen, Anachronismen, unglaubwürdige Darstellungen von Ereignissen und vor allem durch den Grad der Unkenntnis allgemein bekannter historischer Tatsachen geradezu absurd ist. Die sogenannten »Politischen Geständnisse« geben vor, die Memoiren des Fürsten Dolgorukij zu sein, der von 1845 bis 1854 bevollmächtigter Gesandter Rußlands am Hof der Qájáren war. Darin wird behauptet, daß er während seiner vier- oder fünfjährigen Amtszeit in Persien, die dem Zweck diente, die russischen imperialistischen Interessen in jenem Lande voranzutreiben, selbst Muslim geworden sei und den Namen Shaykh ’Isá Lankarání angenommen habe. Ferner, daß er Mírzá Ḥusayn-‘Alí Núrí und dessen jüngeren Bruder Mírzá Yaḥyá, die später als Bahá’u’lláh und Ṣubḥ-i-Azal bekannt wurden, als russische Spione in seine Dienste genommen habe. Nach seiner Rückkehr nach Persien als leitender Gesandter habe er Siyyid ‘Alí-Muḥammad von Shíráz, bekannt als Báb, durch massiven Einsatz von Drogen dazu gebracht, den Anspruch zu erheben, der erwartete Zwölfte Imám zu sein.
Schon die kürzeste Auflistung der grundsätzlichen Widersprüche und Ungereimtheiten dieses Dokuments genügt, es keiner weiteren ernsthaften Untersuchung mehr zu würdigen:
1. In keiner der wiederholten Auflagen dieser Memoiren gibt es irgendeine Information über den Originaltext. Weder in russischen Publikationen noch in Katalogen der in russischen Archiven befindlichen Manuskripte existiert auch nur irgendetwas Ähnliches.
2. Da Dolgorukij Russe war, gibt es guten Grund anzunehmen, daß er seine Memoiren auf russisch geschrieben hätte. Da zudem das einzige Thema dieser Memoiren die geplante Subversion des Islam, die Unterminierung der Staatshoheit Persiens und das Vorantreiben imperialistischer Interessen Rußlands in jenem Land ist, ist es jedenfalls unwahrscheinlich, daß der Autor sie auf persisch niedergeschrieben hat. Trotzdem gibt es in keiner der persischen Ausgaben einen Hinweis auf den oder die Übersetzer.
3. Hätten derartige Memoiren eines russischen Gesandten in Persien aus den frühen Jahren der Bábí-Bewegung existiert, so würde dies der Aufmerksamkeit zahlreicher europäischer Wissenschaftler, die den Ursprung und die Geschichte dieser Bewegung sehr sorgfältig studiert haben, nicht entgangen sein. Keiner von ihnen hat sie in irgendeiner seiner Arbeiten erwähnt.5)
4. Es gibt krasse Unterschiede zwischen der ersten Mashhad-Ausgabe von
1943 und den darauffolgenden Ausgaben. In der Mashhad-Ausgabe nennt
»Dalqúrkí« als Datum seiner ersten Ankunft in Teheran den Januar 1838. In
den späteren Auflagen ist es auf 1834 vorverlegt. Der wirkliche Dolgorukij
war 1831 für ein Jahr in Teheran. Der Grund der Datumsänderung war wohl,
daß der ungenannte Herausgeber der späteren Ausgaben den Anachronismus
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in der Datierung der in den Memoiren beschriebenen Ereignisse entdeckt hat.
Aber das Zurückdatieren auf 1834 hat eine Reihe weiterer Diskrepanzen und
Unglaubwürdigkeiten geschaffen, von denen die eklatantesten das Alter von
Mírzá Ḥusayn-‘Alí (Bahá’u’lláh), der als »ungeschlachter alter Mann« bezeichnet
wird, und Mírzá Yaḥyás (Ṣubḥ-i-Azal ) sind, die zum Zeitpunkt, als sie angeblich
von »Dalqúrki« als Spione für Rußland in Dienst genommen wurden, 17 bzw. 5
Jahre alt waren. Es gibt noch weitere Ungereimtheiten in Bezug auf
Daten, Orte und Familienumstände im Leben des Báb und Bahá’u’lláhs in diesen
angeblichen Memoiren.
5. Die Memoiren weisen eine Unzahl von Beispielen völliger Unkenntnis über leicht feststellbare historische Tatsachen auf. Der Autor schreibt von einer Audienz bei Zar Alexander im Juli 1838. Zar Alexander II. sollte den Thron erst 1855 besteigen. Der Autor beschreibt, wie er den Báb mittels Drogen veranlaßt habe, seinen Anspruch zu verkünden, kurz nachdem er (Dolgorukij) als russischer Gesandter im Dezember 1845 in Teheran angekommen war. Der Báb hatte sich bereits im Mai 1844 in Shíráz erklärt. Der Autor spricht von seinen späteren Bemühungen als russischer Gesandter in Persien um die Weiterverbannung Bahá’u’lláhs nach Konstantinopel, Adrianopel und ‘Akká. Dolgorukijs Amtszeit in Persien endete 1854; er kehrte damals nach Rußland zurück. Die Verbannung Bahá’u’lláhs nach Konstantinopel, Adrianopel und Akká ereignete sich erst in den Jahren zwischen 1863 und 1867.
6. Abgesehen von diesen groben Tatsachenfehlern sind die sogenannten »Memoiren des Dalqúrki« ein fadenscheiniger Mischmasch widersprüchlicher Standpunkte und Ziele. Der Autor stellt sich einerseits als aufrichtiger Konvertit zum Islam dar, der das politische Potential des Islam zur Weltherrschaft erkennt und die Vorteile der Bekehrung des Zaren zu dieser Religion erwägt, und andererseits als teuflischer Intrigant, der insgeheim die Spaltung und den Niedergang des Islam betreibt.
7. In der in Karbilá veröffentlichten arabischen Ausgabe macht der Übersetzer geltend, daß die Originalfassung im al-Sharq, einer Zeitschrift des Instituts für Orientalische Studien der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften, erschienen sei. Anscheinend hat er keine Hemmungen, dieser offenkundigen Fälschung noch eine weitere leicht widerlegbare Unwahrheit hinzuzufügen.
Die Mitteilungen des wirklichen Fürsten Dolgorukij, russischer Gesandter in Teheran, die er an das Auswärtige Amt in St. Petersburg geschickt hat und in denen die Bábí-Unruhen in Persien in den Jahren 1848-1852 erwähnt sind, sind erhalten und wurden als Anhang in Babijskie vosstania v Irane6) von M.S. Ivanov veröffentlicht. Sie sind geprägt von wachsender Unruhe über die nachteiligen Folgen, die ein derartiger Aufbruch in Persien für die imperialistischen Interessen Rußlands dort haben würde.
Das Vorstehende macht nur zu deutlich, daß diese primitive Fälschung geschrieben wurde, um die ungebildeten und fanatischen Elemente der iranischen Gesellschaft zu beeinflussen und ihre eingefleischten Vorurteile gegen die Bahá’í zu schüren.
Zuverlässige iranische Historiker wie ’Abbás 'Iqbál, Mujtabá Mínuví und
Aḥmad Kasraví haben die »Memoiren des Dalqúrkí« als dreiste Fälschung
entlarvt. Trotzdem konnten sich diese Vorstellungen auch unter iranischen
Intellektuellen so festsetzen, daß sie die paranoide Verschwörungsthese über den
Ursprung der Bábí- und
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Bahá’í-Bewegungen akzeptieren, ohne sich überhaupt die Mühe einer objektiven
Untersuchung zu machen. Nichts könnte besser den drückenden Tribut
verdeutlichen, den Unterdrückung und Unwissenheit dem Denkvermögen der
iranischen Gesellschaft auferlegt haben.
Ein weiterer »Beweis« des russischen Ursprungs der Bahá’í-Bewegung in dem von der Islamischen Republik verbreiteten Dokument ist die bewußte Verfälschung einer geschichtlichen Tatsache. Auf Fürsprache des russischen Gesandten in Teheran wurde Bahá’u’lláh 1853 aus dem Gefängnis entlassen und aus Persien verbannt. Der einfache Tatbestand ist, daß der Ehemann einer Schwester Bahá’u’lláhs, ein angesehener Muslim von hohem Rang namens Mírzá Majíd ‘Ahí, persischer Sekretär in der russischen Gesandtschaft war. Auf seine Bitte hat der russische Gesandte um die Entlassung Bahá’u’lláhs ersucht — ob lediglich seinem Sekretär zuliebe, oder ob er die Gelegenheit begrüßte, um unter Beweis zu stellen, daß er Druck auf den persischen Hof ausüben konnte, steht hier nicht zur Debatte. Tatsache ist, daß er dafür keinerlei politische Vorteile erhoffen konnte und auch nicht erhalten hat.
Nachdem die russische Patenschaft an den Bábí und Bahá’í mit solch unhaltbaren Aussagen begründet wurde, wird weiter behauptet, die Bahá’í seien gleichzeitig ein Instrument des britischen Imperialismus. Der Widersinn dieser Beschuldigung stellt die Leichtgläubigkeit eines jeden, der einigermaßen unterrichtet ist, hart auf die Probe. Es ist bekannt, daß Rußland und England im 19. Jahrhundert erbitterte Rivalen um die Vorherrschaft in Persien waren. Dennoch behaupten die Sprecher der Islamischen Republik, bar jeder Logik, daß Rußland und Großbritannien gemeinsam — oder gar jeder für sich — dieselbe Bewegung »gründeten«. Die Beschuldigung, daß der Bahá’í-Glaube von britischer Seite unterstützt wird, basiert auf noch fadenscheinigeren »Beweisen«. Im Zentrum steht die Tatsache, daß die britische Regierung durch ihre örtlichen Repräsentanten in Palästina im Jahre 1919 ‘Abdu’l-Bahá, den Sohn Bahá’u’lláhs, in Anerkennung seiner weithin bekannten humanitären Dienste in den Jahren des Ersten Weltkrieges in den Ritterstand erhoben hat. Er hatte vor allem eine große Zahl armer Menschen in Palästina, von denen die überwiegende Mehrheit Muslime waren, vor dem Hungerstod bewahrt. Diese Ehrung entsprach übrigens dem allgemeinen Wunsch nach Anerkennung der altruistischen, menschenfreundlichen Taten Abdu’l-Bahás. Lebten die Vertreter der Islamischen Republik nicht in solcher Unkenntnis über die übrige Welt, so wüßten sie, daß die alljährliche britische Ritterschaftsliste oft Männer und Frauen von Bedeutung aufweist, die nicht britischer Staatsbürgerschaft oder Herkunft sind — Künstler, Wissenschaftler und Menschenfreunde. Der Titel hat keinerlei politische Bedeutung. Jedenfalls war Abdu’l-Bahás zurückhaltende Annahme dieser öffentlichen Ehrung lediglich ein Ausdruck guten orientalischen Benehmens. Sie abzulehnen, wäre unhöflich gewesen. Er hat den Titel nie benutzt.
Die Akten der verschiedenen britischen Archive sind der Öffentlichkeit zugänglich. Es gibt darin viele Beispiele für britische Sorgen über die potentielle Gefährdung ihrer Interessen, auch über Zahlungen an einzelne Mitglieder der schiitischen Geistlichkeit, aber nicht einen Hinweis für die britische Unterstützung der Bahá’í.
Als weiteres Zeugnis des betrügerischen Einvernehmens zwischen den
Bahá’í und dem Britischen Imperialismus zitiert besagte Broschüre vom April
1983 der Islamischen Republik aus einer
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1964er Nummer der Bahá’í News7) wie folgt: »Zum Gedenken an den
verstorbenen indischen Premierminister Jawahar La’al Nehru wurde in der Albert Hall
eine Gedenkfeier abgehalten, an der der Britische Premierminister, Kabinettsmitglieder
und eine Anzahl von Diplomaten und Repräsentanten aus aller Welt teilnahmen. Ein
Mitglied der britischen Bahá’í-Gemeinde las Bahá’í-Gebete.« Es würde schwer halten, einem
objektiven und gebildeten Publikum den Grad geistiger Beschränktheit und
pervertierter Geschichtsauffassung jener zu vermitteln, die gegen die Bahá’í
Verbrechen begehen und sie so rechtfertigen, wenn sie nicht selbst mit ihren
Verdrehungen an die Öffentlichkeit getreten wären.
Die wohl lächerlichste Beschuldigung gegen die Bahá’í ist ihre angebliche »Zugehörigkeit und Verbindung zum internationalen Zionismus«. Dies ist ein Vorwurf, der bei den bösartigen Angriffen auf die Bahá’í im heutigen Iran immer wieder auftaucht. Spionage für den Zionismus ist eine gängige Anklage, sei es gegen einen 84jährigen Bauern oder gegen 17jährige Schulmädchen und dient als Vorwand für ihre Hinrichtung. Diese völlig unbegründete Unterstellung kann nur auf dem Umstand beruhen, daß sich das Weltzentrum der Bahá’í-Religion im Heiligen Land befindet. Die historischen Ereignisse, die dazu führten, sind so eindeutig und unanfechtbar, daß jeder der dazu Willens ist, sie verstehen kann. Die erbarmungslose Unterdrückung und Verfolgung der Bahá’í durch zwei islamische Staaten des Mittleren Ostens im 19. Jahrhundert, durch Persien und die Osmanische Türkei, hatte Bahá’u’lláh, dem Stifter der Bahá’í-Religion, ein Leben in Exil und Gefangenschaft aufgezwungen. Die letzte Etappe dieser Verbannung war die Gefängnisstadt ’Akká, damals Teil der syrischen Provinz des Osmanischen Reiches, wo Bahá’u’lláh seit dem Jahre 1867 gefangengehalten wurde; also zwei Jahrzehnte, ehe noch die zionistische Bewegung in Europa überhaupt gegründet werden sollte. Er starb im Jahre 1892, und seine Grabstätte gilt seither den Bahá’í der ganzen Welt als heilig. Untrennbar von diesem geistigen Mittelpunkt des Glaubens hat sich auch das administrative Zentrum seit der Ankunft Bahá’u’lláhs im Heiligen Land entwickelt. Aufgrund dieser historischen Umstände, die nicht in der Hand der Bahá’í lagen, haben die Bahá’í heute mit drei anderen großen Weltreligionen teil an der geistigen Bestimmung des Heiligen Landes. Weder der Zeitpunkt noch die Umstände der Ankunft der Bahá’í im Heiligen Land hatten irgendetwas mit der internationalen zionistischen Bewegung zu tun, genausowenig wie die geistigen Beziehungen der anderen Weltreligionen zum Heiligen Land etwas damit zu tun haben.
Bahá’í aus allen Teilen der Welt machen Pilgerfahrten ins Heilige Land, um ihre heiligen Stätten zu besuchen, und sie spenden für den Unterhalt ihres dortigen Weltzentrums. Mit eigenartiger Unlogik brandmarken die Behörden der Islamischen Republik dies als »Kooperation mit Israel« und als »Diebstahl am muslimischen Staatsschatz, zugunsten der Regierung, die Jerusalem besetzt hält«. Wer mit den Vorschriften des islamischen Gesetzes vertraut ist, sollte diese eifrigen Verteidiger der Reinheit des Islam fragen, nach welcher muslimischen Rechtsschule das Privatvermögen einzelner als Teil des muslimischen Staatsschatzes angesehen werden kann. Und was soll man, an derselben Logik gemessen, von der Flut schiitischer Pilger und Gelder halten, die ihren Weg in den Irak der Ba’th-Partei gefunden haben?
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In dieser Litanei von Anschuldigungen in der die Unterscheidung zwischen
Wahrheit und Falschbehauptung aufgehoben ist, gibt es einige, die komisch
wären, würden durch sie nicht Tragödien ausgelöst und gerechtfertigt. Der
Nationale Geistige Rat der Bahá’í im Iran wurde beschuldigt, in den 70er
Jahren regelmäßig militärische Geheimnisse der iranischen Armee gesammelt und
an Israel weitergegeben zu haben. Dies zu einer Zeit, als es nach Angabe des
gleichen Sprechers der Islamischen Republik über 40.000 amerikanische und
israelische Agenten und Militärberater im Iran gegeben hat, die mit den
gesamten iranischen Verteidigungseinrichtungen vertraut waren.
Ebenso unbegründet und allen Tatsachen zum Trotz ist die Behauptung, die Bahá’í seien ein Werkzeug des amerikanischen Imperialismus. Die Bahá’í-Gemeinde ist eine Weltgemeinde, die fast überall in der sogenannten ersten, zweiten und dritten Welt etabliert ist. Die Bahá’í werden in diesen Ländern als loyale, fortschrittliche und unparteiische Bürger anerkannt. Es ist natürlich wahr, daß in Amerika seit fast einem Jahrhundert eine große, aktive Bahá’í-Gemeinde besteht; und es ist auch wahr, daß sie um das Wohlergehen ihrer Mitgläubigen in der ganzen Welt sehr besorgt ist, und ebenso, daß sie eine besondere Liebe zu Iran, der Wiege ihres Glaubens, empfindet.
Die Bahá’í werden auch beschuldigt, eine zentrale Rolle in der Staatsführung der früheren iranischen Regierung gespielt zu haben, und die Namen einiger Prominenter wie Amir Abbas Hoveyda, Premierminister von 1964—1977, und General Nasiri, Leiter von SAVAK, werden als Beispiele angeführt. Die Mitgliederlisten der iranischen Bahá’í-Gemeinde und alle Verwaltungsakten und Korrespondenzunterlagen sind von den Behörden der Islamischen Republik beschlagnahmt worden. Die Statistiken von 1971, in denen alle Bahá’í namentlich aufgeführt sind, stehen ihnen ebenfalls zur Verfügung. Sie wissen daher, daß keine der genannten Personen Bahá’í war. Trotzdem wiederholen sie ungehindert diese Unwahrheiten. Es sollte ihnen auch bekannt sein, daß die Bahá’í, im Gegensatz zu den schiitischen Muslimen, kein taqíyyih praktizieren, d.h., daß sie ihre religiöse Überzeugung nicht verleugnen, um sich selbst zu schützen. Leugnet irgendjemand, Bahá’í zu sein, so kann er hinfort nicht mehr als solcher angesehen werden. Und jeder Bahá’í, der eine politische Stellung annimmt, verliert seinen Status als Mitglied der Bahá’í-Gemeinde.8) Es scheint, der schiitische Klerus gebraucht in der Stunde seines Triumphes in der Islamischen Republik die Lüge als eine willkommene Waffe in seiner Vernichtungskampagne gegen die Bahá’í, nachdem er tausend Jahre lang die Lüge als Mittel zum Überleben religiös gerechtfertigt hat.
Die vielleicht traurigste, unwahrste und undankbarste aller Anklagen gegen
die Bahá’í ist, daß sie sich islamfeindlich betätigten. Wer offenen Auges die
Heiligen Schriften der Bahá’í liest, kann sich selbst von der Liebe und Verehrung
überzeugen, die Muḥammad und seinem Glauben von den Bahá’í entgegengebracht wird.
Wer sich die Mühe macht nachzulesen, wird erkennen, mit welchem Mut ‘Abdu’l-Bahá
in den Jahren 1911—139) in den Kirchen und Synagogen
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des Westens den göttlichen Ursprung des Islam bekräftigte — zu einer
Zeit, als die Muslime von den Völkern des Westens tief verachtet wurden.
Sicherlich ist jedem unparteiischen Beobachter inzwischen klar geworden, daß dieser agitatorische Schwall falscher Anschuldigungen und Bezichtigungen politischer Verbrechen sehr wenig mit dem wahren Grund der Verfolgung der Bahá’í im Iran zu tun hat. Um ihn zu finden, brauchen wir nur auf die Erklärungen und Aktionen der Behörden der Islamischen Republik selbst zu schauen: Firq-i-zállih, übersetzt »Irrglaube«10), ist die Bezeichnung, die sie der Bahá’í-Bewegung geben. Selbst in besagter Erklärung, die zusammengebraut wurde, um der Welt zu beweisen, daß die Bahá’í-Religion keine Religion ist, und um die Verfolgung der Bahá’í als gefährliche politische Dissidenten zu rechtfertigen, vermögen sie nicht, konsistent zu bleiben. Sie greifen zum Vokabular der Ketzerei. Ayatollah Sadduqi, ranghohe Shí’ah-Autorität in Yazd, war da direkter. Er veröffentlichte ein Rechtsgutachten, nach dem die Bahá’í murtadd, Abtrünnige, und mahdúru’l-damm sind, d.h., daß ihr Blut vergossen werden darf. Aber auch die fundamentalistische Grausamkeit eines Sadduqi und Konsorten stimmt nicht mit dem muslimischen Gesetz überein. Unter den Bahá’í, die im Iran hingerichtet wurden, waren viele von zoroastrischer und jüdischer Herkunft und weder sie noch ihre Vorfahren waren je Muslime. Die meisten anderen Bahá’í entstammen Familien, die vor vier, fünf oder sechs Generationen aus dem Islam konvertiert sind. In keiner muslimischen Rechtsschule wird Abtrünnigkeit als erbliches Kapitalverbrechen aufgeführt.
Drei angesehene Ayatollahs in Shíráz, Rabbani-Shírází, Mahallati und Dast-e Gheyb, haben gemeinsam eine fatvá11) abgegeben, wonach die Zahlung von Geldern aus öffentlichen Mitteln der Muslime an die Bahá’í gesetzwidrig ist; damit haben sie die Entlassung der Bahá’í aus ihren Arbeitsstellen und die Einbehaltung aller Altersrenten an die im Ruhestand befindlichen Bahá’í sanktioniert.
Es gibt eine unübersehbare Fülle dokumentarischen Beweismaterials für die nicht zu verschleiernde Tatsache, daß die grundlegenden Menschen- und Bürgerrechte der Bahá’í im Iran lediglich aufgrund des »Verbrechens« ihrer religiösen Überzeugung mit Füßen getreten werden. Sogar jenen, die vorgeblich wegen Spionage für ausländische Mächte angeklagt und zum Tode verurteilt werden, wird — oft unterstützt durch Folter — die Möglichkeit gegeben, ihrem Glauben abzuschwören, um alsbald freigelassen zu werden. Die wenigen, die das tun, werden dann als Helden gefeiert. Kein Beweis kann besser die Grundlosigkeit der Anklagen wegen politischer Verbrechen und die Heuchelei der Ankläger verdeutlichen. Hier ein typisches Beispiel des islamischen irshád, »geistige Führung«, wie es heute im Iran verstanden und angewendet wird: Im August 1981 wurden in Vadeqán, einem Dorf in der Nähe von Káshán, die Bahá’í in einen Stall getrieben, in den dann Rauch geleitet wurde. Als sie dem Tode nahe waren, wurden sie in eine Moschee geschleppt und gezwungen, ihrem Glauben abzuschwören.
Und falls noch irgendwelche Zweifel über die wahre Natur der Verfolgungen
der Bahá’í im Iran vorhanden sind, Hojjat-ol-Islam Qaza’i (Ḥujjatu’l-Islám
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Qaḍa’í) der Vorsitzende des Religiösen Gerichtshofs in Shíráz, hat
laut Khabar-i-Junúb, Ausgabe vom 22. Februar 1983, gesagt:
»Die iranische Nation ist entschlossen, die Regierung Gottes auf
Erden zu errichten. Deshalb kann sie die pervertierten Bahá’í, diese Werkzeuge
Satans und Anhänger des Teufels, nicht dulden. Es gibt in der Islamischen
Republik keinen Platz für Bahá’í und den Bahá’ísmus«. Und dies im Namen des
Islam, der »Zwang in der Religion«12) verdammt.
Wessen wir Zeuge sind — und als Zeugen können wir nicht mit moralischer Gleichgültigkeit reagieren — ist ein aufkommender Sturm atavistischen religiösen Fanatismus. Die Elemente, die heute in der Islamischen Republik herrschen und die ihre Herrschaft zu erweitern suchen, indem sie die rückschrittlichen Elemente der Gesellschaft ermutigen, die Bahá’í zu Sündenböcken all ihrer Nöte zu machen, -— sie können die Existenz der Bahá’í in ihrer Mitte nicht dulden. Die Bahá’í glauben an religiösen Fortschritt, Weltfrieden und an die Einheit der Menschheit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau, an die Harmonie zwischen Wissenschaft und Religion, an allgemeine Schulbildung und — vor allem — an die unabhängige Suche nach Wahrheit in einer Gemeinde ohne Geistlichkeit — und dies sind die wahren Gründe der grausamen Unterdrückung, der die Bahá’í in der mittelalterlichen Theokratie, die die Islamische Republik heute darstellt, ausgeliefert sind.
Die Standhaftigkeit so vieler Bahá’í unter diesen unmenschlichen Gegebenheiten erinnert uns alle an die Wahrheit der Worte Mahatma Gandhis: »Das bereitwillige Opfer des Unschuldigen ist die machtvollste Antwort auf anmaßende Tyrannei, die je von Gott und Mensch ersonnen wurde«.
- 1) Wie J. A. Gobineau, A. L. M. Nicolas, E.G. Browne, V. Rosen, V. A. Zhukowski, A. Tumanski, A. Bausani, A. H. Avareh, A. Amanat.
- 2) In einem Interview mit James D. Cockcroft, einem amerikanischen Soziologen, New York Times vom 16.1.1979
- 3) Bahaismus, sein Ursprung und seine Rolle
- 4) Politische Geständnisse oder die Memoiren des Prinzen Dolgorukij
- 5) Zusammenfassend zu diesen Studien siehe Moojan Momen (Hrsg.), The Bábí and Bahá’í Religions, 1844—1944. Some Contemporary Western Accounts, Oxford 1981. (Anm. der Redaktion)
- 6) Die Bábí-Erhebung im Iran, Moskau 1939
- 7) Ein Bahá’í-internes Nachrichtenblatt
- 8) Folgendes soll beispielhaft angemerkt werden: Hoveydas Großvater war Bahá’í, sein Vater schied aus der Gemeinde aus, als er eine Berufung ins Außenministerium annahm. Hoveyda selbst war nie Bahá’í, und er war sehr bemüht, den »Makel« seiner Abstammung durch zahlreiche Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Bahá’í wettzumachen. (Anm. der Redaktion)
- 9) Nach seiner Entlassung aus türkischer Haft im Jahre 1908 hat 'Abdu'l-Bahá, knapp siebzigjährig, am Vorabend des Ersten Weltkriegs Europa und Nordamerika bereist, um dort für den Frieden und ein vertieftes Verständnis aller Religionen zu wirken. (Anm. der Redaktion)
- 10) Siehe S. 3 von Bahaism: Its origins and its role, Den Haag 1983
- 11) Religiöses Rechtsgutachten. (Anm. der Redaktion)
- 12) Qur’án 10:99
- Basar in Shíráz
Sohrab Faridani
STANDHAFT IN GOTTES NAMEN[Bearbeiten]
»Streitet nicht mit dem Volk des Buches, es sei denn in der besten Art; außer mit enen, die ungerecht sind. Und sprecht: Wir glauben an das, was zu uns herabgesandt ward und was zu euch herabgesandt ward; und unser Gott und euer Gott ist einer; und Ihm sind wir ergeben.«1)
»Rufe auf zum Wege deines Herrn mit Weisheit und schöner Ermahnung, und streite mit ihnen auf die beste Art. Wahrlich, dein Herr weiß am besten, wer von Seinem Wege abgeirrt ist; und Er kennt am besten jene, die rechtgeleitet sind.«2)
»Wahrlich, Gott ist mit denen, die rechtschaffen sind und die Gutes tun.«3)
»Es geschieht um Gottes Barmherzigkeit willen, daß du zu ihnen milde bist: und wärest du schroff, hartherzig gewesen, sie wären gewiß rings um dich zerstoben. So verzeih ihnen und erbitte Vergebung für sie... .«4)
»Wir entsandten dich nur als eine Barmherzigkeit für alle Welten. «5)
Die obigen Verse aus dem Qur’án verdeutlichen den wahren Geist des Islam. Muḥammad ermahnt Seine Anhänger zu Liebe und Toleranz gegenüber Andersgläubigen und schreibt ihnen vor, mit den anderen Menschen, besonders mit denen, die an Gott und Seine Einheit glauben, friedlich umzugehen und die Glaubensunterschiede nicht zum Anlaß von Streitigkeiten zu nehmen. Er ruft Seine Anhänger zu Rechtschaffenheit, Geduld, edlen Taten, Vergebung, Großmut und Gerechtigkeit auf.
Dieser Geist vereinigte jahrhundertelang Millionen von Menschen aus verschiedenen Erdteilen, unterschiedlichen Sprachen und Kulturen, schuf eine neue, weltweite Kultur und trieb die Menschheit in ihrer Entwicklung einen beachtlichen Schritt voran. Aus diesem Geist gingen zahlreiche berühmte Theologen, Mystiker, Dichter und Wissenschaftler als Vorbilder der Weisheit, Barmherzigkeit, Liebe und Demut hervor. In allen ihren Werken und Schriften verurteilen sie Unterdrückung, religiöse Intoleranz, Fanatismus und Ungerechtigkeit sehr und bezeichnen diese als tierische Eigenschaften.
In diesem Artikel wird ein Bruchteil der Taten geschildert, die im Namen der Religion und zum Schutz des Islam in den letzten Jahren gegen die Anhänger der Bahá’í-Religion im Iran verübt wurden und zur Zeit noch in voller Stärke anhalten. Jeder Leser möge selbst beurteilen, ob diese Art von Handlungen und diese absolute Mißachtung der Menschenrechte tatsächlich im Sinne der islamischen Lehre ist oder von purem Fanatismus herrührt. Es ist nicht unsere Absicht, gewisse Personen oder Institutionen anzugreifen, sondern wir möchten die Aufmerksamkeit aller Menschen in der freien Welt auf das Schicksal der dreihunderttausend unschuldigen und hilflosen Bahá’í lenken, damit sie vielleicht vor einem noch größeren Unheil bewahrt bleiben.
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Was geschah und was geschieht?
Die Geschichte der Bahá’í-Religion, der jüngsten monotheistischen Religion, die Mitte des 19. Jahrhunderts in Persien entstand, ist von Anfang an durch blutige Verfolgungen, grausame Hinrichtungen, Verhaftungen und Verbannungen gekennzeichnet. Die Intensität dieser Feindseligkeiten war von Zeit zu Zeit und sogar von Ort zu Ort verschieden. Die Lehre und die Ziele der Bahá’í-Religion wurden von Anfang an im Iran verleumdet. Zu keiner Zeit wurde der Bahá’í-Glaube von einer Regierung oder Verfassung des Iran als selbständige Religion anerkannt, obwohl seine Anhänger die größte religiöse Minderheit im Lande darstellen. Während der Herrschaft der Qájár-Dynastie waren die Verfolgungen allgemein und oft außerordentlich brutal. Gemessen daran ließen die blutigen Ereignisse in der Zeit der Pahlawi-Dynastie nach, aber Diskriminierung und Unterdrückung bestanden weiterhin. Alle Bahá’í-Schulen wurden geschlossen. Falsche Anschuldigungen, Sachbeschädigungen, Verhaftungen und sogar Tötungen waren nicht selten. Ich erinnere mich sehr gut an die grundlose Verhaftung sämtlicher Mitglieder des Geistigen Rates und anderer unschuldiger Bahá’í in meiner Heimatstadt, einmal Anfang der vierziger und einmal Anfang der fünfziger Jahre. Diese Männer, alle ehrwürdig und fromm, manche in hohem Alter, wurden beide Male fälschlich und arglistig beschuldigt, Mordtaten geplant und durchgeführt zu haben. Sie blieben viele Jahre in Haft, zuletzt in Teheran (Tihrán). Einige starben im Gefängnis, und manche starben kurz nach der Entlassung infolge der langen Gefängnishaft. Ebenfalls denke ich an das brutale und barbarische Massaker, das eine aufgebrachte Menge an einer siebenköpfigen Bahá’í-Familie in einem Dorf in der Nähe meiner Heimatstadt verübte. Der hinterhältige Mord an einem sehr beliebten und als Bahá’í bekannten Arzt in Káshán und die Ermordung einiger Bahá’í in Sháhrúd sind allgemein bekannt. Ich erinnere mich an die massive Hetzkampagne der Geistlichen im Jahre 1955, insbesondere in Teheran, die vier Wochen lang von Radio Teheran verbreitet wurde und das ganze Land in einen äußerst gespannten und explosiven Zustand versetzte. Unmittelbare Folgen davon waren die Beschlagnahme und Zerstörung des nationalen Bahá’í-Zentrums in Teheran durch die Geistlichkeit und auch durch militärische Kräfte, sowie unschätzbare materielle Schäden durch Zerstörung und Plünderungen von Bahá’í-Gemeindeeigentum im ganzen Land. Die Einzelheiten wurden damals in einer Reihe führender europäischer und amerikanischer Zeitungen veröffentlicht.
Ich erinnere mich an die Entlassung zahlreicher Bahá’í-Lehrer und Dozenten von ihren Posten. Noch nie hat der iranische Staat die Gültigkeit der Bahá’í-Ehen und die Bahá’í-Feiertage anerkannt. Wenn die fanatischen Gegner keine Möglichkeit hatten, die Bahá’í von außen anzugreifen, versuchten sie mit List und Tücke, Zugang in die Gemeinden zu finden und die innere Struktur der Bahá’í-Administration zu zerstören.
Wenn heute behauptet wird, daß die Bahá’í im Iran in der Zeit des Sháh irgendeine Freiheit oder Vergünstigung genossen hätten, ist diese Behauptung freierfunden, böswillig und absurd. Die gegnerische und ablehnende Haltung der Allgemeinheit blieb kontinuierlich vorhanden und äußerte sich von Zeit zu Zeit je nach der politischen Situation des Landes stärker oder schwächer.
Nach der Machtübernahme durch die islamische Revolution flammten die
Verfolgungen der ohnehin unterdrückten Bahá’í im ganzen Land mit stärkerer
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Kraft auf. Die Rechte der Bahá’í wurden auch in der neuen Verfassung nicht
anerkannt. Zunächst wurden alle Gemeinden enteignet, die Bahá’í-Friedhöfe
verwüstet und geschlossen, die sozialen Bahá’í-Einrichtungen wie Krankenhäuser
und Altersheime entweder zerstört oder beschlagnahmt. Tausende unschuldiger
Menschen, darunter auch Alte und Kranke, wurden obdachlos
gemacht, aus ihren Städten und Dörfern vertrieben und Hunderte von
Wohnhäusern in Brand gesetzt. Die heiligste Stätte der Bahá’í im Iran,
das Haus des Báb in Shíráz, wurde im November 1979 dem Erdboden
gleichgemacht. Viele Bahá’í in verschiedenen Städten,
darunter der damalige Sekretär des Nationalen Geistigen Rates,
wurden entführt.
Am 21. August 1980 wurden alle Mitglieder des Nationalen Geistigen Rates und zwei andere Bahá’í in einer Privatwohnung verhaftet. Bis heute sind alle diese Personen verschollen.
Nachdem schon einzelne Bahá’í exekutiert worden waren, wurden am 8. September 1980 sieben Bahá’í als erste Gruppe in meiner Heimatstadt hingerichtet. Mein Bruder war einer davon. Manche waren meine besten Jugendfreunde. Der Älteste in dieser Gruppe war ein 86jähriger Mann. Ich war fassungslos, als ich diese entsetzliche Nachricht an demselben Morgen aus dem Munde meiner alten Mutter telefonisch erfuhr. Diese sieben Männer waren bei der Bevölkerung wegen ihrer menschlichen Tugenden und ihres tadellosen Charakters sehr beliebt. Die Bevölkerung verhielt sich aber gegenüber einer Gruppe fanatischer Machthaber stumm und zurückhaltend.
Die Leichen waren nach der Hinrichtung auf ein Ödland, einige Kilometer außerhalb der Stadt, gebracht worden. Dann wurde den ahnungslosen Angehörigen, die noch am Vorabend die Inhaftierten hatten besuchen dürfen, telefonisch mitgeteilt, wo sich die Leichen dieser Personen befänden. In dieser Wüste gibt es kein Wasser. Die jugendlichen Freunde brachten es eimerweise aus der Stadt, um die Körper der Märtyrer zu waschen. Die Söhne und Bekannten der Märtyrer mußten mit Mühe die Gräber vorbereiten. Niemand von der Behörde half ihnen. Herzlose Gardisten standen da und amüsierten sich. Sie wollten die Angehörigen und Freunde der Hingerichteten jammern und weinen sehen. Aber keiner weinte. Alle, sogar die Kinder, waren Vorbilder der Geduld und Standhaftigkeit. Diese ungewöhnlich starke Haltung der Bahá’í-Freunde verstärkte den Haß und Zorn der Feinde. Sie verlangten von manchen Familien die Kosten für die Hinrichtung, sie durchsuchten ständig die Häuser und nahmen alles mit, was sie wollten. Sie beschlagnahmten endlich sämtliche Häuser und Besitztümer der Angehörigen ihrer Opfer und versteigerten alle ihre Sachen im Bazar. Der Druck der Tyrannen nahm von Tag zu Tag derartig zu, daß alle Angehörigen fliehen mußten. Sie leben noch versteckt in verschiedenen Orten in Persien und wagen nicht, am hellen Tag auf die Straße zu gehen. In allen Teilen des Landes erleiden die Angehörigen der Märtyrer und der Inhaftierten das gleiche Schicksal. Alle sind heimatlos, arbeitslos, enteignet und auf Hilfe von Bekannten oder auf Spenden angewiesen. Es ist sehr imponierend, daß sie in ihren Briefen nie klagen, sondern uns bitten, für sie zu beten, um diesen Schwierigkeiten standhalten zu können. Ohne Gottes Trost und Beistand und ohne eine starke Liebe zu ihrem Glauben könnten sie niemals solche Demütigungen, Entbehrungen und Unterdrückungen hinnehmen.
Die Hinrichtungen am 8. September 1980 kamen sehr unerwartet. Die Empörung
der Weltöffentlichkeit und
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natürlich der Bahá’í in der ganzen Welt war sehr groß. Die Reaktionen der Presse,
der Politiker und der Parlamentarier, vieler namhafter Persönlichkeiten,
zahlreicher religiöser und humanitärer Organisationen waren diesmal sehr heftig.
Man hoffte, daß diese abscheulichen Taten sich nicht schnell wiederholen
würden. Dieses Ereignis war aber leider nur der Beginn einer Reihe von
Hinrichtungen und Verhaftungen, die nacheinander in vielen Städten und Dörfern
Persiens vollzogen wurden und weiter in einer heftigeren und unmenschlicheren
Form vollzogen werden. Als die Leichen von sieben Märtyrern in Hamadán
schwerste Körperverletzungen aufwiesen, die auf Folterungen vor der Hinrichtung
hindeuteten, war die Bevölkerung sehr erregt und voller Mitleid.
Diese barbarischen Mißhandlungen wurden in der ganzen Stadt und Umgebung scharf
kritisiert. Da die Kritik anhielt, sah sich der maßgebende Geistliche gezwungen,
der Bevölkerung unter Androhung hoher Strafen jede weitere
Äußerung über diese Vorgänge zu verbieten. Nach diesen und ähnlichen
Vorkommnissen werden die gefolterten und hingerichteten Körper der Märtyrer
grundsätzlich nicht mehr den Angehörigen zur Beerdigung überlassen. Die
Angehörigen werden von der Hinrichtung nicht einmal benachrichtigt. Besuch
und Kontakt mit den Inhaftierten wird nicht gestattet. Man erfährt viel
später und sehr kaltblütig von den Verantwortlichen, daß die betreffende
Person nicht mehr lebt. Manche Leichen, die durch Zufall entdeckt wurden,
zeugten von schweren Verletzungen und Mißhandlungen. Es ist heute kein
Geheimnis mehr, daß die inhaftierten Bahá’í mit Drahtpeitschen gefoltert
werden, damit sie ihrem Glauben abschwören oder ein vorbereitetes Geständnis
unterschreiben, in dem sie sich hochverräterischer Taten bezichtigen, die sie
aber nie begangen haben. Das Schicksal dieser standhaften und tapferen Bahá’í
ist ein grausames Sterben. Die psychischen Belastungen während der Haft,
die unmenschlichen und rechtswidrigen Verhöre, die Unmöglichkeit, sich zu
verteidigen, der monatelange Aufenthalt in einer sehr kleinen, dunklen und
isolierten Zelle mit ungenügender Versorgung, die Brutalität und der Haß der Wächter
zeigen uns einigermaßen, welche starke Seele, welche felsenfeste Überzeugung
und welche unerschütterliche Liebe zu ihrem Glauben diese Menschen haben
müssen, um bereit zu sein, sich von allen Bequemlichkeiten zu lösen und einen
grausamen Foltertod in Kauf zu nehmen. Die Zahl dieser Helden ist inzwischen
auf über 180 angewachsen. Sie kamen aus allen Bevölkerungsschichten, aus
verschiedenen Altersstufen (17 bis 86 Jahre) und waren beiderlei Geschlechts.
Die Berichte über die Hinrichtungen, soweit man sie anfangs noch erfahren
konnte, sind einerseits erschütternd, andererseits rufen sie Bewunderung
hervor. Die Testamente und die Briefe zahlreicher Märtyrer sind Beweise für
ihre völlige Hingabe und für ihren Stolz, auf dem Pfade Gottes sterben zu dürfen.
Diese Personen baten ihre Angehörigen, nicht um sie zu trauern, sondern zu feiern,
sie küßten die Hände ihrer herzlosen Mörder und beteten um Vergebung
für sie. Acht junge Frauen und Mädchen zwischen 17 und 24 Jahren, die vor
einem Jahr in Shíráz erhängt wurden, waren Vorbilder der Standhaftigkeit
und Loslösung. Eine von diesen jungen Frauen bat ihren Henker, ihr zu gestatten,
vor der Hinrichtung zum letzten Mal auf dieser Erde ein Gebet zu sprechen und
ihren Schöpfer zu preisen. Manche nahmen mit solcher Ruhe und
Gelassenheit und manche erregt vor Freude und Begeisterung Abschied von
dieser Welt, um die Wahrheit der Sache,
[Seite 63]
an die sie glauben, zu beweisen und zu bezeugen.
Der heutige Zustand der Bahá’í und der Bahá’í-Gemeinden im Iran
Abgesehen davon, daß zur Zeit über 750 Männer, Frauen und sogar kleine Kinder in verschiedenen Städten inhaftiert sind, manche von ihnen gefoltert werden, und abgesehen davon, daß eine beachtliche Zahl nach abgelegenen Gebieten verbannt worden ist, leben die dreihunderttausend Mitglieder dieser größten religiösen Minderheit in Persien in direkter Gefahr. Es besteht keinerlei Schutz für sie, und sie haben keinerlei Rechte. Nicht nur die Erwachsenen, sondern auch die Kinder und die Jugendlichen sind betroffen. Die Kinder werden im allgemeinen von den Schulen verwiesen, sobald bekannt wird, daß sie Bahá’í sind. Bahá’í-Studenten werden in den Hochschulen nicht zugelassen. Alle Bahá’í-Beamten und Angestellten sind ausnahmslos entlassen worden. Die Rentner und Pensionäre bekommen längst kein Geld mehr. Die Revolutionsgardisten haben uneingeschränkte Freiheit, Bahá’í-Häuser zu durchsuchen, zu beschlagnahmen und nach Belieben Personen zu inhaftieren, Taten, die die Menschenrechte schwer verletzen und absolut mißachten und nicht im geringsten mit der islamischen Lehre übereinstimmen.
Am 29.8.83 wurden sämtliche Bahá’í-Verwaltungsgremien im Iran verboten. Da ein Prinzip der Bahá’í-Religion die Loyalität gegenüber jeder Regierung ist,TT hat der Nationale Geistige Rat der Bahá’í- im Iran sich selbst und alle lokalen Geistigen Räte, etwa 500 an der Zahl, aufgelöst. Durch dieses offizielle Verbot sind die Bahá’í im Iran ihrer geistigen Führung beraubt worden. Versammlungen sind streng verboten. Bei der Eheschließung tauchen große Probleme auf, da die Bahá’í-Trauung nicht rechtlich anerkannt wird und es keine standesamtliche Trauung gibt. Auch bei den Beerdigungen bereiten die Verantwortlichen den Angehörigen der Verstorbenen oft große Schwierigkeiten. Kein Bahá’í darf zur Zeit das Land verlassen.
Es ist zu befürchten, daß ein Plan für die systematische Verfolgung und Ausrottung der gesamten Bahá’í im Iran besteht. Die klare Aussage des Hojjatol-Islam Qazai (Ḥujjatu’l-Islám Qaḍa’i), Präsident des Revolutionsgerichts in Schiras, am 22.2.83: »Es ist absolut sicher, daß in der islamischen Republik Iran für die Bahá’í und den Bahá’ísmus kein Platz ist«6), und die Äußerung von Ajatollah Tehrani gegenüber einem Reporter des Spiegel: »Es gibt zum Beispiel eine Gruppe, welche die Angehörigen des Bahai-Glaubens gnadenlos eliminieren möchte«7), geben Anlaß zu größter Besorgnis.
Die Gnadenlosigkeit und die Härte der Fanatiker werden von Jahr zu Jahr deutlicher. Nachdem die Bahá’í-Verwaltungsorgane aufgelöst worden sind, versuchen sie, die einzelnen Bahá’í durch Gewalt und Unterdrückung zu zwingen, ihrem Glauben abzuschwören. Sie glauben, die Bahá’í-Sache dadurch vernichten zu können. Aber die Vergangenheit hat gezeigt, daß auch die vereinigten Kräfte der persischen und türkischen Herrscher, unterstützt von den religiösen Führern und deren fanatischen Anhängern, mit all ihren grausamen und blutigen Verfolgungen nicht imstande waren, die Entwicklung und Ausbreitung dieses Glaubens zu verhindern. Das Blut der Märtyrer ist zu allen Zeiten der Same jeder neuen Religion gewesen.
[Seite 64]
Der Märtyrertod der unschuldigen Gläubigen gibt der Sache, die sie vertreten,
einen neuen Impuls. Die Tatsache, daß sich die Menschen für ihren Glauben
opfern und sich standhaft ihren Unterdrückern entgegenstellen, beweist,
daß es einen Geist gibt, der stärker ist als die Gewalt und letzten Endes über den
blinden Fanatismus siegt. Die Herrschaft des Geistes ist ein geheimnisvolles
Ergebnis des Opfers und kann durch Gewalt nicht besiegt werden. Im Gegenteil,
die religiösen Verfolgungen setzen ungeahnte geistige Kräfte frei, die die
bekämpfte Sache rasch vorantreiben. Wir sind heute selbst die Zeugen dieser
geistigen Impulse, die in allen Teilen der Welt fühlbar sind. In Seinem
Sendschreiben an den persischen Herrscher schreibt Bahá’u’lláh ».... Wahrlich, Gott
machte das Leid zum Morgentau auf Seiner grünen Au und zum Docht für
Seine Lampe, die Erde und Himmel erleuchtet.«8)
Ich möchte, wie ich begonnen habe, auch mit einem Vers aus dem Qur’án abschließen, mit einem Vers, den die Unterdrücker überdenken sollten: »Sie möchten Gottes Licht auslöschen mit ihren Mündern, doch Gott wird Sein Licht vollkommen machen, auch wenn die Ungläubigen es hassen.«9)
- 1) Qur’án 29:46
- 2) Qur’án 16:125
- 3) Qur’án 16:128
- 4) Qur’án 3:159
- 5) Qur’án 21:107
- 6) Khabar-i-Junúb vom 22.2.1983
- 7) Nr. 23 vom 4. Juni 1984, $. 113
- 8) Sendschreiben Bahá’u’lláhs an Násiri’d-dín Sháh
- 9) Qur’án 60:8
Wähne nicht,
die allgenügende Kraft Gottes
sei leerer Trug.
Sie ist der wahre Glaube,
den du für die Manifestation Gottes
in jeder Sendung hegst.
Sie ist ein Glaube, der mehr genügt
als alles, was auf Erden ist,
während nichts, was auf Erden erschaffen wurde,
außer dem Glauben
dir genügen kann.
Der Báb
Dalá’il-i-Sab’ih
BESPRECHUNGEN UND HINWEISE[Bearbeiten]
Liebe statt Gegengewalt
Christine Hakim: Die Bahá’í — oder der Sieg über die Gewalt, 240 Seiten, Panorama Verlag, Altstätten 1984. Das französische Original erschien unter dem Titel »Les Bahá’ís ou victoire sur la violence« 1982 im Verlag Favre, Lausanne.
Ein Blick auf den Umschlag, und man ist gewiß: Dies ist ein persönliches Buch,
ein Buch, das ganz offensichtlich auch das Herz ansprechen will, denn es bildet
groß das Gesicht der Autorin ab: Christine Hakim — strahlend, voll Wärme,
jung, aktiv, aber gleichzeitig eine Güte vermittelnd, die man erst nach einem
lang gereiften Leben erwarten würde.
Liest man nun den Text auf der Umschlagkappe, das Inhaltsverzeichnis oder eine Rezension, wie sie am 19. Juli dieses Jahres in der Neuen Zürcher Zeitung erschien, so steht dem positiven Umschlag ein um so tragischerer Inhalt gegenüber: »Die Bahai, die Angehörigen einer Religionsgemeinschaft, werden in Iran offensichtlich systematisch geächtet, verfolgt und oft auch ermordet... Das Schicksal von Christine Hakim ist, obwohl sie als Soziologin und Ethnologin in der Schweiz lebt, aufs engste mit der Tragödie in Iran verknüpft. Ihr Vater, Professor Manuchihr Hakim, war am 12. Januar 1981 in Iran als überzeugter Bahai und Arzt ermordet worden...«
Doch sehr schnell löst sich dieser anscheinende Widerspruch durch eine Botschaft, die ebenso überrascht wie ergreift: Das schuldlose Leiden der Bahá’í ruft nicht Haß und Gegengewalt hervor, sondern entfacht Liebe.
Es ist dieser Geist, der das Buch von Christine Hakim auszeichnet: »Wenden wir uns, in diesem so kritischen Augenblick unserer Geschichte, an das Herz und den Verstand des Menschen, damit er — bevor es zu spät ist — zur Solidarität der Welt und zur Einheit der Menschheit beitrage. Wer wir auch seien, wir leben auf derselben Erde, und wir brauchen einander. Diese Erde — auf der alles Leben nur der Widerschein unseres Herzens ist. Dieses Herz — so weit wie ein Ozean, Schatzkammer so vieler Geheimnisse — das allein die Macht besitzt, das Antlitz der Welt durch die Kraft seiner Liebe zu verwandeln, wenn es ihm gelingt, diese Liebe wachsen zu lassen.«
Aber so sehr dieses Gefühl der universalen Verbundenheit jede Zeile des Buches durchpulst, so sehr ist es auch nach intellektuellen Kriterien ein ganz hervorragendes Buch. Mit sprachlicher Wärme und wissenschaftlicher Nüchternheit verfolgt Christine Hakim den Pfad des Leidens von den aktuellen Geschehnissen in der Islamischen Republik über die Zeit der Pahlevi-Dynastie bis zu den Bábí-Pogromen zurück, um von dort die Geschichte einer neuen Gottesoffenbarung zu berichten.
Sie erzählt, wie die Herzen der frühen Gläubigen in der neu entdeckten Liebe dahinschmolzen, wie geistige Größen des Westens mit dem neuen Glauben in Berührung kamen, wie selbst jene, die nur aus der Ferne beobachten konnten, in der Botschaft des Bahá’í-Glaubens den »Trost der Menschheit« (Gandhi) erkannten.
Sie erzählt in kurzen Abrissen — vielleicht zum erstenmal dem deutschen
Leser zugänglich — die Geschichte der
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sozialen und kulturellen Entwicklung der iranischen Bahá’í-Gemeinde und
beschreibt wie die unterschiedlichsten Völker von Südamerika bis Ostasien
auf die neue Lehre und neue Ordnung reagierten.
- Peter Spiegel
Stationen politischer Theologie im schiitischen Islam
Juan R. Cole: Imami Jurisprudence and the Role of the Ulama: Mortaza Ansari on Emulating the Supreme Exemplar, in: Nikki R. Keddie (Hrsg. ), Religion and Politics in Iran. Shi’ism from Quietism to Revolution, Yale University Press, New Haven/London 1983, S. 33—46
Der durchschnittliche westliche Beobachter steht den Denkmustern der
iranischen Revolution recht hilflos gegenüber. Eine ähnliche Fremdheit
empfindet der Leser von »Nabíls Bericht. Aus den frühen Tagen der
Bahá’í-Offenbarung«1); nicht gegenüber dem dort geschilderten
eschatologischen Geschehen — dafür bietet die christliche Religion
genügend Parallelen — aber gegenüber dem religiösen Umfeld dieser Ereignisse,
dem theologisch-gesellschaftlichen Hintergrund, den Nabíl als bekannt
voraussetzt.
Eine Reihe neuerer Publikationen zu Geschichte und Denken des schiitischen Islam bieten hier einigen Aufschluß.2) An dieser Stelle soll kurz eine Studie vorgestellt werden, deren Gegenstand »für die Geschichte des modernen Schiismus ebenso bedeutsam ist wie der Triumph päpstlicher Macht auf dem Vaticanum I für den modernen Katholizismus«3) und der gleichermaßen die Frühgeschichte der Bábí- und Bahá’í-Religionen wie das derzeitige Geschehen im Iran beleuchtet. Gemeint ist die Entwicklung der Institution des Mujtahid in der imamitischen Schia, eines rechtlich-religiösen Amtes, das sich erst im 18. und 19. Jahrhundert durchsetzen konnte und dessen Funktionen als Vorbild und autoritativer Interpret im bemerkenswerten Kontrast zur früheren imamitischen Lehre stehen. Zum Zweck dieser Besprechung gilt es aber zuvor etwas auszuholen.
Die westliche Unterscheidung von Kirche und Staat, Religion und Gesellschaft, kennt der Islam nicht. Der Qur’án ist Gottes Wort, allumfassende Lebensordnung, Wegweiser persönlichen Heils und Grundgesetz der Gesellschaft, ewig und unveränderlich.
Diese Prämisse hat erheblichen Anteil an der Glaubensvitalität der muslimischen
Gemeinde, an ihrer bemerkenswerten Resistenz gegen Säkularisierungsbestrebungen.
Sie war und ist allerdings auch der Anlaß für zahlreiche interne Konflikte:
Jede politisch-soziale Veränderung tendiert zum Glaubensstreit; abweichende
religiöse Anschauungen werden leicht als Gefahr für die politische und
gesellschaftliche Ordnung empfunden und entsprechend
[Seite 67]
bekämpft. Die religiöse Legitimation begünstigte autokratische Herrschaftsformen;
Reformbestrebungen und sachlich berechtigte Kritik wurden zu gern als
häretisch abgetan. Reformbewegungen verwandelten sich allzu leicht in
gewalttätige, unduldsame Kreuzzüge.
Dieses Problem wurde sehr früh durch zwei Umstände verschärft. Der Qur’án bietet keine explizite Methode zur Entscheidung von Fragen, die nicht ausdrücklich und eindeutig durch seinen Wortlaut geregelt sind, oder die in der Folge eines unausweichlichen gesellschaftlichen Wandels entstehen. Viel hängt unter dieser Voraussetzung vom Führer der Gemeinde ab. Muḥammads absolute Souveränität als religiöse Autorität und als Staatsmann war fraglos. Seine Auslegung, Sein Verhalten, Seine Entscheidung waren den Gläubigen Maßstab. Aber wer Ihm — und mit welcher Befugnis — in diesen Funktionen nachfolgen sollte, darüber herrschte keine Einigkeit. Diese offenen Fragen führten zur Ermordung ‘Umars, ‘Uthmáns und ‘Alís, des zweiten, dritten und vierten Kalifen, zu Schisma und Bürgerkrieg.
Der schiitische Zweig des Islam, die Shí’at ‘Alí, bietet für diese Probleme eine Lösung an, die allerdings von der Mehrheit der Muslime nicht akzeptiert wird. Nach schiitischer Überzeugung hat Muḥammad zur Rechtleitung der Gemeinde nicht nur den Qur’án hinterlassen, sondern auch Seine Familie als Heilsträger. Von dem jeweils vorangegangenen eingesetzt, sollte immer einer Seiner Nachkommen als Oberhaupt der Gemeinde, als der Imám, wirken. Der Imám ist politischer Führer und Erklärer der Gottesworte. Seine Funktion umfaßt Auslegung, Anwendung und Adaption der Lehren des Qur‘án entsprechend den jeweiligen Zeiterfordernissen. ‘Alí ibn Abu-Ṭálib, Muḥammads Neffe und Schwiegersohn, war von Ihm zum ersten Imám designiert worden. Einer Tradition zufolge hatte Muḥammad erklärt, »Ich bin die Stadt des Wissens und ‘Alí ist mein Tor.« ‘Alí sollte jedoch erst der vierte Kalif werden, zu einer Zeit, da sich bereits beträchtlicher sozialer, politischer und religiöser Zündstoff angesammelt hatte. Zeit seiner Regierung war ‘Alí gezwungen, um die Einheit und Unversehrtheit der Gemeinde zu kämpfen.
Nach der Ermordung ‘Alís bemächtigte sich Mu’áwíyah, sein hartnäckigster Gegner, des Kalifats und begründete die Dynastie der Umayyaden. Ḥusayn, Sohn ‘Alís und der dritte Imám, weigerte sich, öffentlich auf die politisch-religiöse Führerrolle seines Amtes zu verzichten und fand dafür im Jahre 680 zusammen mit einer kleinen Schar von Getreuen den Tod.
Die Zeit der Umayyaden war begleitet von zahlreichen schiitisch inspirierten oder zumindest begründeten Aufständen sehr unterschiedlicher Sekten und Gruppen, was schließlich im Jahre 750 zur Vernichtung der Dynastie der Umayyaden führte, allerdings ohne Imamat und Kalifat wieder zu versöhnen und ohne die Schia (Shí’ah), die Partei ‘Alís und seiner Nachkommen, zum Sieg zu führen.
Es ist nötig festzuhalten, daß der Begriff Shí’ah für eine große Zahl sehr
unterschiedlicher Sekten steht, die sich sowohl theologisch als auch in der jeweils
vertretenen Deszendenzlinie beträchtlich unterscheiden.4) Hier interessiert
uns weiter lediglich die imamitische oder Zwölferschia, die heutige
Staatsreligion des Iran, auf deren Boden die Shaykhi-Schule und
die Religion
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des Báb und Bahá’u’lláhs entstanden sind. Der Name dieser Richtung verweist auf die
hier vertretene Reihe von zwölf als rechtmäßig anerkannten Imámen, deren letzter,
Muḥammad al Mahdí, etwa im Jahre 874 im frühen Kindesalter verschwand. Zunächst
beanspruchten noch vier seiner Anhänger nacheinander als seine Mittler zu wirken.
Im Jahre 940 endete diese Zeit der „kleinen Verborgenheit«, der indirekte
Zugang zum Imám war verstummt, die »große Verborgenheit« hatte begonnen.
Nach schiitischem Glauben lebte und lebt der zwölfte Imám jedoch in der
Verborgenheit weiter und wird am Ende der Zeiten wiederkehren, alle Abtrünnigen
und Ungläubigen strafen, den wahren Glauben wiederherstellen und eine gerechte
Gottesherrschaft errichten.
Außer ‘Alí hatte keiner der Imáme den religiös-politischen Führungsanspruch des Amtes auch nur zeitweise realisieren können. Nach dem tragischen Ende Ḥusayns, des dritten Imáms, bei Karbilá trat keiner der Imáme mehr mit diesem Anspruch an die Öffentlichkeit. Die aktuellen Machtverhältnisse und die andauernde latente Gefährdung des Imáms und seiner Gemeinde nötigten zu einer quietistischen Haltung. Wahrscheinlich der sechste Imám, Ja’far aṣ-Ṣádiq, führte zum Schutz der Gemeinde die Praxis der taqíyyah ein, der Verschleierung der tatsächlichen Glaubensinhalte gegenüber allen, die nicht zur Gemeinde gehören: »Fürchtet um euere Religion und schützt sie durch taqíyyah, denn ohne taqíyyah wird es keinen Glauben mehr geben.«5) Für die verfolgte Minderheit, die ihrem Oberhaupt, dem jeweiligen Imám, uneingeschränkte religiöse Autorität zumaß, mußte es allein um den Schutz dieser Quelle der Führung und um die interne Bewahrung des »wahren Islam« gehen. Der politische Anspruch wurde darum nicht aufgegeben, seine Realisierung aber wurde vertagt. De facto bedeutete dies eine Trennung von Religion und Staat. Die »große Verborgenheit« und damit die endgültige Abwesenheit des Imám stärkte zuerst für lange Zeit diese quietistische Tendenz und vertagte jeden politischen Anspruch der Schia bis zur Wiederkunft des Imám Mahdí. Für alle schiitischen Gelehrten dieser Zeit wäre die Vorstellung eines schiitischen Staats, der in Abwesenheit des Imám von den schiitischen ’Ulamá6) geleitet wird, eine undenkbare Häresie gewesen.
Doch die »große Verborgenheit« bedeutete für die Gemeinde einen tiefen
Einschnitt. Das Amt des Imám und seine inspirierte charismatische Führerrolle
hatte die Herausbildung einer eigenen schiitischen Rechtsschule und Theologie
unnötig gemacht. Jetzt war die Gemeinde ihres göttlich inspirierten Führers
beraubt und völlig unvorbereitet. Wie konnten Einheit und Rechtleitung
der Gemeinde gesichert werden, wenn alle Interpretation und Adaption der
Gesetze des Qur’án und der Traditionen allein dem Imám zustand? Wie sollte
später, als unter den Ṣafaviden und den Qájáren die Schia zur beherrschenden
Religion des Landes geworden war, ein schiitisch orientierter Staat
funktionieren, wo doch nach ursprünglicher imamitischer Lehre alle zentralen
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Aufgaben der Staatslenkung, darunter auch das alleinige Recht, den »heiligen
Krieg« (jihád) auszurufen und zu führen, ausschließlich dem Imám vorbehalten
waren? Wie konnten schiitische Geistliche tausend Jahre nach Beginn
der »großen Verborgenheit« im Iran eine klerikal beherrschte Republik etablieren?
Wie konnten sie dort die faktische Trennung von Religion und Politik
rückgängig machen, selber die Staatsgeschäfte übernehmen, auch den »heiligen
Krieg« erklären, und damit zentrale Funktionen des Imám Mahdí für sich
reklamieren?
Coles Studie bietet am Beispiel von Stellung und Lehre Mortaza Ansaris (Murtaḍá Ansárí) einigen Aufschluß zu diesen Fragen. Wesentlich für die weitere Entwicklung der imamitischen Schia war der Sieg der Mujtahidí- oder Uṣúlí-Rechtsschule im 18. und 19. Jahrhundert. Charakteristisch für diese Schule ist eine strenge Trennung der Gläubigen in Laien und Experten des religiösen Rechts, die ’Ulamá und an deren Spitze die Mujtahids. Nur wenn der Laie dem Vorbild eines lebenden Muijtahids folgt, können seine religiösen Bemühungen (wie Gebet, Fasten usw.) Annahme finden. Der Laie hat die Pflicht, von allen lebenden Mujtahids dem gelehrtesten nachzueifern; um diesen zu finden, muß er jedoch dem Expertenrat folgen. Dieser gelehrteste Muijtahid ist allen Gläubigen das »erhabenste Beispiel«. Damit tritt an die Stelle des inspirierten, durch seine Abkunft aus der Familie des Propheten ausgezeichneten und von seinem Vorgänger designierten Imám der Experte religiösen Rechts als unbedingter Führer der Gemeinde. Der qualifizierte Gelehrte wird vermöge seines Wissens zum Sprecher des Verborgenen Imám. Dennoch bringt die Uṣúlí-Schule keine vollständige Verrechtlichung des imamitischen Charismas: Innerhalb der Gruppe der Mujtahids, vor allem für die Führungsrolle des »erhabensten Beispiels«, gibt es keine formal definierte Hierarchie. Allgemeine Anerkennung durch die übrigen Experten definiert die jeweilige Position; der Schlüssel für diese Anerkennung ist neben dem Wissen nicht zuletzt das persönliche Charisma.7)
Nur langsam hatte sich die Institution des Mujtahid in der Schia durchgesetzt. Die schiitische Tradition wendet sich entschieden gegen jede Rechtsfindung durch bloße Meinung, egal wie diese begründet sei. Vom 10. bis zum 13. Jahrhundert lehnten schiitische Gelehrte einhellig ijtihád, die persönliche Rechtsfindung durch den Experten, und damit die Institution des Mujtahid ab. Noch die dominierende Rechtsschule des 17. und 18. Jahrhunderts, die Akhbárís (von akhbár-Tradition), lehnte die Institution des Mujtahid strikt ab. Nach dieser Schule sollten die Gläubigen allein Muḥammad, dem Qur’án und den Imámen, nicht aber fehlbaren Mujtahids folgen.
Für die äußeren Bedingungen des Sieges der Uṣúlí-Schule müssen wir uns
wieder anderweitig orientieren.8) Im 16. Jahrhundert hatten
die Ṣafaviden die Zwölferschia zur Staatsreligion gemacht. Von ihnen
gefördert bildete sich eine Schicht geistlicher Rechtsgelehrter
heraus, mit häufig engen Beziehungen zur Krone. Da die safavidischen
Herrscher für sich in Anspruch nahmen,
[Seite 70]
Stellvertreter des Verborgenen Imám zu sein, waren sie gleichzeitig ein
religiös-politisches Gegengewicht zu diesen schiitischen Rechtslehrern. Zur
Blütezeit der Ṣafaviden war darum eine unabhängige Stellung der ‘Ulamá nicht
möglich. Kritik am Herrscher — etwa als Hinweis auf die grundsätzliche
Illegitimität aller weltlichen Herrschaft während der Abwesenheit des
Imám — wurde, wenn überhaupt, nur sehr verhalten laut. Doch noch während der
Ṣafavidenzeit lösten sich die schiitischen ‘Ulamá aus der Abhängigkeit
von der herrschenden Dynastie. Das 18. Jahrhundert brachte indes einschneidende
politische und soziale Umwälzungen. Nach dem Sturz der Ṣafaviden anfangs des
18. Jahrhunderts, in einem ihrer Konfession feindlichen Klima sunnitischer
Eroberer, nach dem Versuch des Nádir Sháh, die Schia als lediglich
eine fünfte Rechtsschule wieder in den sunnitischen Islam einzugliedern, sahen
sich die schiitischen ’Ulamá gezwungen, aus eigener Kraft den Fortbestand ihrer
Stellung und Lehre zu sichern.
Die Herrschaft der schiitischen Qájáren brachte zunächst gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine gewisse Konsolidierung. Ungleich den Ṣafaviden hatten die Qájáren selbst keinen religiösen Anspruch und suchten nicht, die Entwicklung der Zwölferschia zu beeinflussen; entsprechend stärker war die Stellung der selbstbewußt gewordenen ‘Ulamá. Bald ließen Mißwirtschaft, außen- und innenpolitische Schwäche wieder ein Machtvakuum entstehen. Diese Konstellation bildete eine günstige Voraussetzung für die Lehren der Uṣúlí-Schule und für die Durchsetzung des religiösen Führungsanspruchs der Muijtahids.
Der gestärkten Position entsprach zunehmend ein verändertes Verhältnis zur
staatlichen Gewalt. Die ‘Ulamá verfügten inzwischen über eigene Verwaltungs- und
Steuersysteme, waren finanziell unabhängig, ihnen oblag die gesamte
Rechtsprechung — mit Ausnahme des Strafrechts — und die Versorgung der Armen,
sie kontrollierten das Bildungswesen und hatten eigene Polizeitruppen.
Zunehmend erwarteten die Muijtahids, daß die Herrscher ihrem religiösen
Expertenrat entsprechen. Im Konfliktfall zwischen Mujtahid und
staatlicher Gewalt hatten die Gläubigen ihrem religiösen Führer zu folgen. In
den Konflikten zwischen politischer Gewalt und religiöser Autorität, vor allem
in den neunziger Jahren des vorigen und der zweiten Hälfte des ersten Jahrzehnts
in diesem Jahrhundert, verstanden sich die ‘Ulamá, insbesondere aber die führenden
Muijtahids, als legitime Sachwalter des göttlichen Rechts, auch in politischen
Fragen. Trotzdem sollte es noch bis in die sechziger Jahre unseres Jahrhunderts
dauern, daß sie die politische Herrschaft unmittelbar für sich fordern
würden. Noch Ajatolláh Muḥammad Ḥusain Náíní (gestorben 1936), der
entschieden für eine tagespolitische Einflußnahme der ‘Ulamá eintrat,
schreckte indes in seinem Kampf um eine islamische Staatsform — in einem
inzwischen mehr säkular orientierten Gemeinwesen — davor zurück, die
Herrschaft unmittelbar für die Spezialisten des religiösen Rechts zu
reklamieren.9) Erst für Khomeini sind endgültig die Befugnisse der
Rechtsgelehrten im islamischen Gemeinwesen gleich denen des Propheten und
der Imáme: »Die Regierung ist notwendig, und wenn Gott niemanden für die
Regierung in der Zeit der Entrücktheit bestimmt hat, so hat er
doch das Charakteristikum der Regierung, das vom Beginn des Islams bis
zum Zwölften Imám vorhanden war,
[Seite 71]
auch für die Zeit nach der Entrückung (als verbindlich) festgesetzt. Dieses
Charakteristikum, nämlich die Kenntnis des göttlichen Gesetzes und die Unbescholtenheit, findet sich in einer unzähligen Menge von Rechtsgelehrten
unserer Epoche. Wenn diese zusammenkommen, können sie eine Regierung
umfassender Gerechtigkeit in der Welt
bilden. Wenn ein fähiger Mann, der diese beiden Charakteristika besitzt, sich
erhebt und eine Regierung bildet, besitzt er die gleiche Amtsbefugnis, die der
Prophet bei der Verwaltung der Gemeinde hatte, und es ist die Pflicht aller
Menschen, ihm zu gehorchen.«!10)
Noch ohne die islamische Republik an diesem Anspruch auf umfassende Gerechtigkeit zu messen und abgesehen von der grundsätzlichen Skepsis gegen die Anmaßung völliger Schuldlosigkeit eingedenk Johannes 8,7, muß hier die radikale Umwertung der früheren schiitischen Lehre auffallen. An die Stelle der transzendenten, verliehenen Sündlosigkeit des Imám tritt die formale Werk- und Gesetzesgerechtigkeit des religiösen Experten; an die Stelle der Legitimation durch Abstammung und Berufung in ununterbrochener Linie tritt die Anerkennung durch die gelehrten Kollegen; inspirierte Führung, Auslegung und Adaption des qur’ánischen Gesetzes durch den allein dazu legitimierten Imám wird abgelöst durch Expertenmeinung und tagespolitisches Kalkül. Trotz allem für den Abendländer verblüffenden Auflodern religiöser Massenbegeisterung: Für die religiösen Rechtsgelehrten des Iran ist unverkennbar »religiöser Alltag«, die eschatologische Erwartung des Imám Mahdí ist dem Bedürfnis nach Etablierung und Sicherung der eigenen klerikalen Macht gewichen. Kein Wunder, daß die Bábí und Bahá’í, die nicht nur an der ursprünglichen Erwartung und ihren Implikationen festhalten, sondern sie bereits eingelöst sehen, mit der unversöhnlichen Härte religiös verbrämter ideologischer Todfeindschaft verfolgt wurden und werden.
- Ulrich Gollmer
- 1) 1 Shoghi Effendi (Hrsg.), Hofheim-Langenhain, 2 Bde., 1975/1982; Bd. 3 in Vorbereitung.
- 2) Mangol Bayat, Mysticism and Dissent. Socioreligious Thought in Qajar Iran, New York 1982; Edmund Bosworth/Carole Hillenbrand (Hrsg.), Qajar Iran. Political, social and cultural change 1800—1925, Edinburgh 1983; Nikki R. Keddie (Hrsg.), Religions and Politics in Iran. Shi’ism from Quietism to Revolution, New Haven/London 1983; ders., Roots of Revolution. An interpretative History of Modern Iran, New Haven/London 1981; Abdulaziz Abdulhussein Sachedina, Islamic Messianism. The Idea of the Mahdi in Twelver Shi’ism, Albany 1981
- 3) Juan R. Cole, in: Keddie, Religion, S. 3
- 4) Vgl. W. Montgomery Watt, The Significance of the Early Stages of Imami Shi’ism, in: Keddie, Religion, S. 21ff; Sachedina, Islamic Messianism; Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. 1, Zürich/München 1981, S. 131ff
- 5) Zitiert nach Bayat, Mysticism, S. 4
- 6) Plural von ‘álim = einer, der in hohem Maße die Eigenschaft des 'ilm (Wissen, Gelehrsamkeit im weitesten Sinne) besitzt. ’Ulamá sind gleichermaßen die Gelehrten des religiösen Rechts, der sharí’ah, wie systematisch orientierte Theologen (im Gegensatz zum Mystiker). Es muß angemerkt werden, daß der Islam keine Geistlichen im Sinne einer zur Sakramentsverwaltung befugten Körperschaft kennt. Allerdings weist Cole (S. 43) darauf hin, daß die ’Ulamá der Uṣúlí-Schule (siehe S. 69) durch die strikte Trennung in Laien und Religionsexperten, sowie deren geistlichen Leitanspruch, der Funktion des Geistlichen am nächsten kommen.
- 7) Vgl. dazu auch Denis MacEoin, Changes in charismatic authority in Qajar Shi’ism, in: Bosworth/Hillenbrand (Hrsg.), Qajar Iran, S. 148ff
- 8) Vgl. etwa Hamid Algar, Religion and State in Iran, 1785—1906: The Role of the Ulama in the Qajar Period, Berkeley/Los Angeles 1969; Nikki R. Keddie, Einführung zu ders., Religion, S. 5ff; ders., Iran und Afghanistan, in: Gustave E. von Grunebaum (Hrsg.), Der Islam II, Fischer Weltgeschichte Bd. 15, Frankfurt 1971, S. 160ff; Keddie, Roots; Azar Tabari, The Role of the Clergy in Modern Iranian Politics, in: Keddie, Religion, S. 47ff
- 9) Tilman Nagel, Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam, Bd. 2, Zürich/München 1981, S. 305f
- 10) Khomeini, Wilájat-i faqíh (Die Herrschaft des Rechtsgelehrten), Najaf 1389(1970), S. 62f, zitiert nach Nagel, Staat, Bd. 2, S. 314
Vorurteils- und Friedensforschung[Bearbeiten]
Internationale Zeitschrift für Friedens- und Vorurteilsforschung, Verlag für interdisziplinäre Forschungen (ViF), Nürnberg
Überall in der Welt, wo vorurteilslos und unparteiisch Gedanken über Frieden
und Einheit erörtert und gepflegt werden, sind die Bahá’í bemüht, das zu
unterstützen. Wenn diese Gedanken in wissenschaftlicher und neutraler Weise
geäußert werden, finden sich Bahá’í immer mehr in dem bestätigt, was in
den Lehren Bahá’u’lláhs zu finden ist und zum Kernthema der Bahá’í-Religion
gehört.
Die Bahá’í wissen sehr wohl, daß allen wissenschaftlichen Erörterungen die
göttliche Weisheit und Segenskraft von Offenbarungstexten fehlt. Doch der
Offenbarer selbst und ‘Abdu’l-Bahá haben unmißverständlich zu erkennen gegeben,
daß gute und ernsthafte Bemühungen geschätzt und unterstützt werden
sollen. In der Bundesrepublik Deutschland gehört die Internationale
Gesellschaft für Vorurteils- und
[Seite 72]
Friedensforschung eV. (IASP — International Association for the Study of Peace and
Prejudice Inc. Assoc.) zur Zeit zu den wenigen Institutionen, die in Zielsetzung
und Finanzierung völlig unabhängig und neutral die Vorurteils- und Friedensforschung
betreiben kann. Sie wurde 1980 von über 70 Wissenschaftlern
sehr unterschiedlicher Fachgebiete aus 25 Ländern gegründet. Sie arbeitet rein
wissenschaftlich und ist durch die Satzung zu politischer und weltanschaulicher
Neutralität verpflichtet. Das Sprachrohr der Gesellschaft ist die »Internationale
Zeitschrift für Friedens- und Vorurteilsforschung«. Die Texte
sind in Deutsch und Englisch. Die satzungsgemäßen Ziele sind: 1. Bestehende
Vorurteile in der Welt durch empirische Untersuchungen zu erforschen;
2. Konzepte auf wissenschaftlicher Basis zu erarbeiten, die zum Abbau von
Vorurteilen geeignet sind; 3. einen Beitrag zur Erreichung des Weltfriedens
zu leisten; 4. Förderung der Zusammenarbeit und des Meinungsaustausches von
Wissenschaftlern, die bereits auf dem Gebiet der Vorurteils- und Friedensforschung
tätig sind; 5. allen Interessierten die Möglichkeit zu bieten, sich durch Seminare
und Publikationen über den neuesten Stand der theoretischen und angewandten
Vorurteils- und Friedensforschung zu informieren.
Zu den Mitbegründern der Gesellschaft und der Zeitschrift zählt auch der bekannte amerikanische Gelehrte Prof. Jordan, der vielen Bahá’í durch zahlreiche erziehungswissenschaftliche Arbeiten und Modelle — z.B. das ANISA-Modell — bekannt geworden ist. Nach seinem tragischen Tod wurde das Leben und die Leistung dieses bedeutenden Bahá’í schon in der ersten Nummer dieser Zeitschrift gewürdigt.
Herausgeber der Zeitschrift ist Dr. Badi Panahi. Er beschreibt auch in der Einführungsnummer 1/1983, wie tief verwurzelte rassische, nationale, religiöse, politische und wirtschaftliche Vorurteile die meisten Krankheiten und Kriege der menschlichen Gesellschaft verursacht haben. Die auf sorgfältigen Befragungen beruhenden Aussagen zeigen einige wichtige Zusammenhänge auf: Menschen mit Vorurteilen lehnen nicht nur die Möglichkeit der Einheit der Menschheit oder des Weltfriedens ab, sondern neigen auch dazu, Kriege für unausweichlich zu halten. Jede Form von Zwist und Krieg beginnt in den Köpfen der Menschen und ist keine Naturnotwendigkeit. Trotz der bestehenden Probleme gibt es, so Panahi, einen unaufhaltsamen Weg zu einer neuen Weltordnung.
In einem weiteren Artikel der ersten Nummer wird das menschliche Sozialverhalten analysiert und festgestellt, daß ein Leben ohne Konfrontation und Aggression möglich ist. In einem Aufruf an die Regierungen der Welt wird dazu aufgefordert, alles zu tun, um die bestehenden Vorurteile abzubauen.
In der demnächst erscheinenden zweiten Nummer werden folgende Themen behandelt: Prof. Dr. Jahn, Universität Speyer: Kann der Mensch verbessert werden?; Dr. Panahi: Einheit der Menschheit oder permanenter Krieg; Prof. Dr. Windisch, Universität Genf: Tiefere Struktur der Fremdenfeindlichkeit; Dr. Bostock, Universität Tasmania (Australien): Vorurteile über die australischen Ureinwohner.
Die bisher erkennbare Linie der Zeitschrift erscheint doch sehr ermutigend positiv, eine Eigenschaft, die gerade Bahá’í begrüßen werden.
- Adolf Kärcher