Bahai Briefe/Heft 47/Text

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ISSN 0005-3945


BAHÁ'Í-BRIEFE



HEFT 47 13. JAHRGANG APRIL 1984



VORWORT
ZIELSETZUNG DER NEUEN FOLGE


JACQUES CHOULEUR
DER BAHÁ'Í-GLAUBE: WELTRELIGION DER ZUKUNFT?


PETER MÜHLSCHLEGEL
DER FETISCH SOUVERÄNITÄT


CHRISTOPHER SPRUNG
BAHÁ'Í-HAUS DER ANDACHT 1964-1984


BUCHBESPRECHUNG


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Die Bahá’í-Briefe wollen eine intensive Auseinandersetzung mit den Lehren und der Geschichte der Bahá’í-Religion fördern und zu einem Dialog mit allen beitragen, die sich auf der Grundlage zeitgemäßen religiösen Denkens aufrichtig um die Lösung der Weltprobleme mühen.


BAHÁ'Í-BRIEFE
Heft 47, April 1984
13. Jahrgang
 
Inhalt
 
Zum Geleit 2
 
Jacques Chouleur
Der Bahá’í-Glaube:
Weltreligion der Zukunft?
4
 
Peter Mühlschlegel
Der Fetisch Souveränität
15
 
Christopher Sprung
Bahá’í-Haus der Andacht
1964—1984
21
 
Buchbesprechung 29


Herausgeber: Der Nationale Geistige Rat der Bahá’í in Deutschland e.V., Hofheim-Langenhain. Redaktion: Dr. Klaus Franken, Ulrich Gollmer, Christopher Sprung. Redaktionsanschrift: Bahá’í-Briefe, Redaktion, Eppsteiner Straße 89, D-6238 Hofheim-6. Namentlich gezeichnete Beiträge stellen nicht notwendig die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers dar. Die Bahá’í-Briefe erscheinen halbjährlich. Abonnementpreis für vier Ausgaben 20,- DM. Einzelpreis 6,- DM. Vertrieb und Bestellungen: Bahá’í-Verlag, Eppsteiner Straße 89, D-6238 Hofheim-6.

© Bahá’í-Verlag GmbH. ISSN 0005-3945


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AN UNSERE LESER[Bearbeiten]

»Befaßt euch gründlich mit den Nöten der Zeit, in der ihr lebt, und legt den Schwerpunkt eurer Überlegungen auf ihre Bedürfnisse und Forderungen.«
Baha’u’llah


»Das Bestreben, ein besseres Verständnis für die Bedeutung der überwältigenden Offenbarung Bahá’u’lláhs zu erlangen, muß nach meiner unumstößlichen Überzeugung immer erste Pflicht und Ziel des unablässigen Bemühens eines jeden ihrer getreuen Jünger bleiben.«
Shoghi Effendi


Diese Zitate umreißen die Zielsetzung dieser Zeitschrift: Sie soll den Dialog der Bahá’í nach innen und nach außen fördern, zu einer durchdachten Glaubensüberzeugung beitragen und Lösungsmuster für die drängenden Weltprobleme entwickeln helfen.

Herausgeber der Bahá’í-Briefe ist der Nationale Geistige Rat, das Führungsgremium der deutschen Bahá’í-Gemeinde. In seinem Geleitwort benennt er diese Aufgabenstellung, die einem historisch gewachsenen Bedürfnis der Bahá’í-Gemeinde entspricht.

Die Artikel dieser Nummer sind entsprechend ausgewählt: Der Beitrag von Jacques Chouleur, er ist Professor an der Universität Avignon und kein Bahá’í, wirft — bei aller Sympathie — kritische Fragen auf, denen wir Bahá’í uns stellen müssen. Peter Mühlschlegel greift in eigenständiger Weise ein Zentralproblem unserer Zeit auf, das Spannungsverhältnis zwischen nationaler Souveränität und globaler Verflechtung und Verantwortung. Die beiden weiteren Beiträge sind in gewisser Weise komplementär: ein Kapitel deutscher Bahá’í-Geschichte und zugleich Selbstdarstellung der Bahá’í-Gemeinde nach außen (Bahá’í-Haus der Andacht 1964 bis 1984); dazu ein knapper Literaturbericht über die Bahá’í-Religion im Spiegel theologischer Lexika — Reflexion auf die Fremdeinschätzung dieses Glaubens.

Die Redaktion ist bestrebt, dieser Zielsetzung auch in künftigen Ausgaben durch vielfältige Beiträge gerecht zu werden. Weitere Buchbesprechungen und ein ständiges Leserforum sind ebenfalls vorgesehen.

Die Redaktion


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ZUM GELEIT[Bearbeiten]

Mit dem erneuten Erscheinen der Bahá’í-Briefe wird nach einer Pause von dreizehn Jahren an eine jahrzehntealte Tradition deutschsprachiger Bahá’í-Zeitschriften angeknüpft.

Bereits im März des Jahres 1921 erschien, einer Anregung 'Abdu'l-Bahás folgend, die erste deutsche Bahá’í-Zeitschrift, die Sonne der Wahrheit. In dieser frühen Entwicklungsphase der deutschen Bahá’í-Gemeinde war deren hauptsächliches Ziel, das Schriftgut des Bahá’í-Glaubens in deutscher Übersetzung zugänglich zu machen und die Verbindung zwischen den Bahá’í zu fördern, was durch das Einbeziehen von Beiträgen in Englisch und Esperanto sogar über den deutschen Sprachraum hinaus gelang. Bis zum Verbot des Bahá’í-Glaubens durch das NS-Regime erreichte die Sonne der Wahrheit siebzehn Jahrgänge. Nach Kriegsende wurde sie wiederum einige Jahre herausgegeben und hat einen kleinen Ersatz für die in den Bücherverbrennungen des Dritten Reiches vernichtete Bahá’í-Literatur geschaffen.

Im Jahre 1964 wurde die Sonne der Wahrheit in die Zeitschrift Bahá’í-Briefe umgestaltet. Das damalige Motto der Bahá’í-Briefe »Blätter für Weltreligion und Weltbewußtsein« umreißt auch die Zielsetzung dieser neuen Folge: beizutragen zu einem religiös fundierten Verständnis der notwendigen Einheit aller Völker und Nationen. Der Fortschrittsoptimismus der sechziger Jahre ist inzwischen allerdings allgemeiner Besorgnis gewichen. Die Sinnkrise der Menschen und Völker, der desolate Zustand der Weltwirtschaft, Hunger, Rohstoff- und Energieknappheit, Überbevölkerung, Umweltverseuchung — um nur einige Problemkreise zu nennen — konnten nicht bewältigt [Seite 3] werden. Die Rüstungsspirale dreht sich weiter. Das Scheitern aller partiellen Lösungsversuche schreit geradezu nach einem umfassenden geistigen Neuansatz.

Zum Durchdenken der Weltprobleme, der Situation des Einzelmenschen und seiner Beziehung zur Gemeinschaft, zur Bedeutung geistiger und materieller Kräfte für den Menschen, zum Sinn des Lebens und dem Kulturziel der Menschheit und zu weiteren weltweit interessanten Themenkreisen wollen die Bahá’í-Briefe Beiträge auf der Grundlage der vielseitigen Bahá’í-Lehren vorlegen. Gegeben sein soll ein Forum für den Dialog.

In dieser Absicht wenden sich die Bahá’í-Briefe an alle, denen die Suche nach einem Zusammenhang zwischen ihrer Welterfahrung, zeitgenössischem Denken und zeitgemäßen religiösen Lehren ein Anliegen ist.

Der Nationale Geistige Rat
der Bahá’í in Deutschland e.V.



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Jacques Chouleur

DER BAHÁ'Í-GLAUBE: WELTRELIGION DER ZUKUNFT?*)[Bearbeiten]

Auf einem Planeten, den Autobahnen, Flugzeuge, Fernsehen und Nachrichtensatelliten in den letzten Jahrzehnten beträchtlich haben schrumpfen lassen, muß sich das Problem einer universellen Religion für die ganze Menschheit früher oder später zwangsläufig stellen. Gewiß, viele Menschen und philosophische Richtungen verneinen die Notwendigkeit, ja sogar die Nützlichkeit jeglicher Religion, und das trübe Bild, das die großen überlieferten Glaubensrichtungen heute abgeben, kann ein solches Urteil nur bestärken. Besonders das Christentum macht immer mehr den Eindruck, an das Ende seiner geschichtlichen Wirkungskraft gekommen zu sein, die »Altersgrenze« erreicht zu haben, nach der sich jede Bewegung in vergeblichem Andenken an vergangenen Ruhm oder in nicht weniger vergeblichen Verjüngungs- und Wiederbelebungskuren erschöpft. Die ökumenische Bewegung, so lobenswert sie auch sein mag, reift nur langsam. Überhaupt kann man sich mit Recht fragen, ob die Addition von Schwächen jemals eine erneuernde, wiederbelebende Kraft ergeben wird. Andererseits scheint das Bedürfnis nach einer Religion, nach geistiger Nahrung bei den Menschen ebenso fundamental und ewig zu sein wie das nach Luft, Wasser, Brot und Sonne. Es gibt sicherlich etwas »Religiöses« in den atheistischen und humanistischen Philosophien, den Fortschritts- und Ersatzreligionen. Sie fordern von ihren Anhängern einen reinen, festen Glauben, wie ihn die abendländische Konsumgesellschaft offenbar nicht hervorbringen kann. Auch sie erheben die Suche nach einer gerechten brüderlichen Zivilisation zu ihrem Ethos. Es gibt jedoch keine wahre Brüderlichkeit ohne gemeinsame Vaterschaft, hätte Monsieur de la Palice gesagt, und gerade das Fehlen dieses gemeinsamen Vaters ist es, was die Strukturen der humanistischen Familie gefährdet. Die Religionen geben allen Menschen eine wirkliche Brüderlichkeit, die auf der Annahme eines gemeinsamen Vaters beruht, ganz gleich, ob man ihn Jehova oder Allah oder mit einem anderen Namen anruft. Die naiv-modernistischen Kirchen, die sich bemühen, diese »vertikale Dimension« zu verniedlichen, um nur die horizontale des Dienstes am Nächsten zu behalten, scheitern an dem verhängnisvollen Widerspruch einer Brüderlichkeit ohne gemeinsamer Vaterschaft. Sie entledigen sich ihrer Kompetenzen und ihrer heiligen Merkmale, sie würdigen die Religion auf die Stufe der Politik herab, die kirchliche Gemeinschaft auf die eines Wohltätigkeitsvereins, einer Gewerkschaft oder Partei.

Es ist übrigens offensichtlich, daß es der Ökumene nicht gelingen wird, die verschiedenen Kirchen zu einer einzigen [Seite 5] Organisation zu verschmelzen. Jede Organisation, wie sehr sie sich auch im Zerfall befindet, wie verbraucht sie auch sein mag, neigt von Natur aus dazu, in ihrem Sein bestehen zu bleiben und sich in ihrer Identität zu verkrampfen. Auch leuchtet ein, daß eine vage Verbindung von Konfessionen, die durch ihre theologischen Ansichten, ihre kulturellen Traditionen, ihre Geschichte bis heute auseinanderführende Wege eingeschlagen haben, nicht eine wahre universale Religion ersetzen kann, eine Religion, die eine neue Kultur planetarischer Dimension schaffen könnte. Schließlich liegt es auf der Hand, daß keine der heutigen großen Religionen in der Lage ist, alle anderen in sich aufzunehmen. Juden, Christen, Muslime, Hindus und Buddhisten bleiben ihrem jeweiligen Milieu verhaftet, weil die anderen zu geringe Anziehungskraft für eine Konversion, die zugleich Verrat wäre, ausüben. Viel mehr als nur in der Vereinigung oder Verschmelzung der bestehenden Kirchen muß die Entstehung einer etwaigen planetarischen Religion in der dynamischen Teilnahme an einem wirklich neuen Konzept gesucht werden. Sagt nicht selbst das Evangelium, daß die alten Schläuche kaum für den neuen Wein taugen? Aber existiert diese Religion der Zukunft, diese Religion für alle Männer und Frauen von morgen denn schon? Wenn dies der Fall ist und wenn es sich, wie gesagt, nicht um eine der vorhandenen Großorganisationen handeln kann — welche lebendige Minderheit wäre denn fähig, deren Ablösung zu übernehmen? Unser Zeitalter ist gekennzeichnet durch ein erstaunliches Gewimmel von Sekten aller Art. Einige wie die Sieben-Tage-Adventisten oder Jehovas Zeugen haben ihre Wurzeln in dem anglo-amerikanischen biblischen Fundamentalismus des 19. Jahrhunderts, und es ist offensichtlich, daß ihr enger Buchstabenglaube, ihr puritanisches Erbe, ihre fast mittelalterliche Weltanschauung sie nicht zu einer geistigen Eroberung unseres Planeten befähigen, wie groß im übrigen ihre Aufrichtigkeit und der missionarische Eifer ihrer Anhänger sein mag. Andere aus dem Christentum hervorgegangene Abspaltungen, wie der Swedenborgianismus oder die Christliche Wissenschaft erscheinen a priori besser dazu qualifiziert, weil sie auf einem höheren intellektuellen Niveau stehen und eine rationale Erklärung unseres Universums anbieten; aber ihr Bekehrungseifer ist fast gleich Null. Die Mormonen, zahlreich, modern, dynamisch, straff organisiert, mit eindrucksvollen finanziellen Hilfsquellen versehen und von unbegrenztem Expansionsdrang bewegt, scheinen fähig, sich in vielen Ländern durchzusetzen. Was zu ihren Gunsten spricht, ist die Lehre von der immerwährenden Einheit der Ehepartner und der Familie als Zelle, vom ewigen Fortschritt der Seelen der Gerechten, der in einer wahrhaft göttlichen Stellung im Jenseits endet, was die Menschen nicht davon entbindet, hier auf Erden danach zu streben, das Neue Jerusalem der Redlichkeit, des Lichtes und der Gerechtigkeit zu bauen, von dem die alten Propheten träumten. Gegen sie spricht der biblische Fundamentalismus, verstärkt noch durch das Vorhandensein zusätzlicher, ausschließlich mormonischer Schriften zweifelhafter Herkunft, die Glaubensbindung an reichlich problematische Visionen und Offenbarungen der Kirchenführer, das Schreckgespenst einer kraftstrotzenden Theokratie, und sicher auch der allzu deutlich yankeehafte Charakter dieser Phalanx der Heiligen der letzten Tage. Was die zahlreichen aus Indien oder dem Fernen Osten importierten religiösen Strömungen anlangt, von der Soka Gakkai bis zur Transzendentalen Meditation des [Seite 6] Maharishi Mahesh Yogi, vom Zen-Buddhismus bis zum »Göttlichen Licht« des halbwüchsigen, steinreichen, pausbäckigen Guru Maharaj Ji, so unterscheiden sie sich beträchtlich in der tatsächlichen oder mangelnden Ernsthaftigkeit, die sie kennzeichnet. Alle sind jedoch zu sehr Gefangene einer besonderen Kultur, einer nationalen oder regionalen Folklore als daß sie Universalität beanspruchen könnten. Welchen Abendländer wird man glauben machen, daß man sich den Schädel rasieren, dabei ein langes Haarbüschel auf dem Hinterkopf stehen lassen muß, daß man safrangelbe Gewänder anlegen und endlos »Hare Krishna, Hare Rama« vor sich hinleiern und gleichzeitig eine Trommel schlagen und Glöckchen zum Klingen bringen muß, um das ewige Leben zu gewinnen?

Eine »neue« Religion, die Bahá’í-Religion, scheint mir dagegen in dem Wettbewerb um die Stellung als Universalreligion der Zukunft sehr gut dazustehen. Das Wort Religion ist übrigens nicht ganz exakt in diesem Fall, weil die Verantwortlichen dieser Bewegung ihm den Begriff des Glaubens vorziehen, der weniger exklusiv und dynamischer ist. Bahá’í werden heißt auf keinen Fall, sich von seiner bisherigen Religion loszusagen. Im Gegenteil, die Bahá’í gründen ihre ganze Philosophie auf das Prinzip der Wahrheit und grundsätzlichen Übereinstimmung aller Religionen. Es handelt sich nicht einfach um »Toleranz«, sondern um eine wohlbedachte Anerkennung des göttlichen Charakters der Inspiration, die sich in Synagogen, Kirchen, Kapellen, Moscheen, Pagoden an allen Enden der Welt gleichermaßen manifestiert. Für die Bahá’í gibt es nur eine Religion, weil es nur einen Gott und nur eine Menschheit gibt. Dem Hindu, dem Buddhisten, dem Anhänger Zarathustras, dem Juden, dem Christen, dem Moslem sagt der Bahá’í nicht: »Eure Religion ist falsch, unsere ist richtig; wir müssen euch bekehren!« Er sagt ihnen: »Eure Religion ist wahr, zumindest in ihrem Kern und in ihrer ursprünglichen Form, aber sie ist jetzt überholt. Sie war gültig für einen Stamm, ein Volk, eine Kulturgemeinschaft, in einem bestimmten kulturellen Zusammenhang und zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte, aber jetzt müssen wir die Barrieren niederreißen, um zu einem globalen Verständnis der zugrundeliegenden Einheit zu gelangen. Eure Religion ist wahr, aber sie ist nicht die einzig wahre. Sie gibt nur einen Teil der Wahrheit wieder, und diese Wahrheit gilt nur für einen bestimmten Zeitraum der Geschichte der Kulturen. Schaut über die vorgefaßten Meinungen und die Grenzen hinweg! Blickt über das gegenwärtige Jahrhundert hinaus! Baut mit uns die planetarische Religion auf, die Religion der ganzen Menschheit, die Religion unserer Zeit und der Zukunft.«  Zu einer Erweiterung unseres religiösen Horizontes, nicht zu einem Abtrünnigwerden, ruft uns der Bahá’í-Glaube auf.

Wie wir bald sehen werden, hat der Bahá’í-Glaube auf islamischem Boden das Licht der Welt erblickt. Das bedeutet fürs erste wenig und zwar aus dem einfachen Grunde, daß die Bahá’í so verschiedene Erscheinungen wie Zarathustra, Abraham, Mose, Jesus, Muhammad als wahre Propheten anerkennen. Sie schließen auch Krishna und Buddha nicht aus, ohne sich jedoch mit der selben Bestimmtheit auszusprechen, und weisen auch nicht die Hypothese zurück, daß es in vergangenen Zeiten Propheten gegeben habe, deren sich die Menschheit heute nicht mehr erinnert. Für die Bahá’í sind alle diese Propheten »Manifestationen Gottes«, auserwählte Wesen, die in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen in diese Welt gesandt werden, um die Menschen die großen wesentlichen Wahrheiten zu lehren [Seite 7] oder sie wieder daran zu erinnern. Die erste dieser Wahrheiten ist die Liebe. Alle echten Religionsstifter haben Mitleid, Sanftmut, Barmherzigkeit, gegenseitige Hilfe, Verzeihung, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit verkündet. Dem ewigen Fundamentalgesetz: »Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen und von ganzem Gemüte.... Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«1) konnten die Propheten Vorschriften, die für einen Teil der Menschheit in einem bestimmten Stadium ihrer geschichtlichen Entwicklung gültig waren, hinzufügen. Die Nachfolger der Propheten, die Priester, Theologen und Kirchen konnten nach Belieben Dekrete verfassen, die die Organisation der Kirche, der Gesellschaft, der Riten und Sitten usw. betrafen, was zur Folge hatte, daß die Kluft zwischen den verschiedenen Völkern und Glaubensbekenntnissen unaufhaltsam immer tiefer wurde. So praktizieren die Juden die Beschneidung und enthalten sich des Schweinefleischs, zwei Gebote, die die Christen nicht kennen; so enthalten sich die Muslime geistiger Getränke, ein Gebot, das weder Juden noch Christen kennen; Christen werden getauft und feiern das Abendmahl, zwei Riten, die Juden und Muslimen fremd sind. Die einen beten knieend, die anderen werfen sich nieder. Die einen wenden sich beim Gebet nach Mekka, die anderen nach Jerusalem. Die einen halten am Freitag, andere am Samstag, wieder andere am Sonntag Andacht. Alle diese Unterschiede sind, wie die Bahá’í meinen, geringfügig und äußerlich. Einige haben ihren Grund, meist symbolischer Art, in einem bestimmten Zusammenhang, während andere nur sterile, lächerliche Auswüchse sind, wie sie den Baum der Religion im Laufe eines langen Wachstums mit tausend schicksalhaften Ereignissen heimgesucht haben. Man muß den Baum erhalten, nicht seine toten Zweige oder die Warzen, die seine Rinde verunstalten. Andererseits konnten die wirklichen Lehren der Propheten von den Gläubigen späterer Generationen zu einem gewissen Grade zensiert, verbogen, verändert, entstellt werden. Die Botschaft dieser aufeinanderfolgenden Manifestationen Gottes konnte verändert, deformiert, amputiert, kompliziert werden — daher die Notwendigkeit neuer Manifestationen, wenn eine Religion in ihre Winterzeit eintritt, wie es die Bahá’í nennen, wenn sie ihr goldenes Zeitalter überschritten hat und keine Früchte mehr trägt. Man denkt an die berühmten Verse der Bhagavadgita:

»Jedesmal, wenn die Rechtmäßigkeit im Schwinden ist und das Unrecht sich erhebt, lasse ich mein Selbst Fleisch werden ... Um die Guten zu beschützen, die Bösen zu vernichten und die Rechtmäßigkeit zu festigen, entstehe ich von Weltalter zu Weltalter.«2)

Und wenn die Bhagavadgita unseren kartesianischen Geistern zu exotisch oder zu esoterisch erscheint, so zitieren wir Balsac:

»Und wenn es unendlich viele Formen der Anbetung gegeben hat, so hat weder ihr Sinn noch ihr metaphysisches System sich je geändert. Letzten Endes hat der Mensch immer nur eine Religion gehabt ... Für den, der sich in diese religiösen Fluten stürzt, deren Stifter nicht alle bekannt sind, steht fest, daß Zarathustra, Mose, Buddha, Konfuzius, Jesus Christus, Swedenborg die gleichen Grundsätze gehabt und sich die gleichen Ziele gesetzt haben.«3)

Die verschiedenen Manifestationen sind zwar menschliche Wesen, aber der Heilige Geist bewohnt und erleuchtet sie. Es sind die Boten Gottes, die Erklärer [Seite 8] seines Willens unter den Menschen. Für die Bahá’í sind die beiden letzten Manifestationen in der chronologischen Reihenfolge Siyyid Mírzá ‘Alí Muḥammad, genannt der Báb (d.h. das Tor), und Mírzá Ḥusayn ‘Alí, der den Titel Bahá’u’lláh, Herrlichkeit Gottes, annahm. Beide waren Perser, in der islamischen Religion shí'itischer Richtung erzogen. Der erste der beiden war ein religiöser Reformator, kühn und voll Großmut, der sich gegen den sterilen Ritualismus und chauvinistischen Fanatismus seiner Glaubensbrüder erhob. Der Schah und die Geistlichkeit waren beunruhigt über den Aufruhr, bewirkt von den »Bábí«, wie man die Anhänger des Báb nannte. Es fanden greuliche Verfolgungen statt, in deren Verlauf Tausende von Menschen nach schrecklichen Foltern massakriert wurden. Der Báb wurde verhaftet, zum Tode verurteilt und im Jahre 1850 hingerichtet. Von Kugeln durchsiebt, erschossen von einem ganzen Bataillon der kaiserlichen Armee, starb er, nachdem er auf wunderbare Weise von einer ersten Salve unverletzt geblieben war.

In der Sicht der Bahá’í war der Báb nur Vorbote und Vorläufer dessen, »den Gott offenbaren wird«, das heißt Bahá’u’lláhs (1817—1892). Für seinen Nachfolger war der Báb das, was Johannes der Täufer für Jesus war, nämlich Wegbereiter. Bahá’u’lláh, Sohn eines hohen Beamten des Schah in Teheran, hatte offene Sympathie für die Person und die Tätigkeit des Bab an den Tag gelegt. Das brachte ihm 1852 die Verhaftung ein. Er wurde in einen schrecklichen Kerker ohne Luft und Licht geworfen, in Gesellschaft einiger Dutzend anderer Opfer, die an diesem Ort unter fürchterlichen hygienischen Bedingungen zusammengepfercht waren. Vier Monate blieb er dort. Den Hals in einem Ring an einer langen Kette, die Beine ebenfalls in Fesseln, erwartete er täglich seine Hinrichtung. Aber die Verfolgungen legten sich etwas: Bahá’u’lláh entging dem Tod und wurde verbannt. Ernest Renan hat mehrfach seine Bewunderung und sein Mitleid für die Bábí und ihre Nachfolger, die Bahá’í, geäußert. Graf Gobineau hat ähnliche Gefühle für sie zum Ausdruck gebracht.

Aus Persien vertrieben, begann Bahá’u’lláh einen langen Marsch, der ihn über Baghdad, Istanbul und Adrianopel bis nach Akká in Palästina führte, wo er 1868 ankam. In Baghdad hatte er öffentlich verkündet, daß er die neue Manifestation Gottes sei, eine Gewißheit, die ihm während seiner Gefangenschaft zuteil geworden war. Die türkischen Behörden, mißtrauisch und von den persischen vor diesem »Agitator« gewarnt, kerkerten Bahá’u’lláh, seine Familie und einige Anhänger in der Kaserne der trostlosen Stadt ‘Akká ein. Mit den Jahren wurde die Schärfe der Haft gemildert. Dem persischen Propheten wurde erlaubt, in einem Privathaus zu wohnen und praktisch frei Besuche seiner immer zahlreicheren Anhänger zu empfangen. Unter seinen Gästen ist Professor Edward Granville Browne, ein berühmter englischer Orientalist, Fellow vom Pembroke College in Cambridge, zu nennen. Er tat viel, um Bahá’u’lláh und die Bahá’í-Lehren im Abendland bekannt zu machen. Daraufhin gaben so hervorragende und verschiedenartige Persönlichkeiten wie Leo Tolstoi, Auguste Forel, Helen Keller, Präsident Masaryk und Präsident Benesch öffentlich ihrer Sympathie für den ehrfurchtgebietenden Unterdrückten und seine Sache Ausdruck. Königin Maria von Rumänien ging so weit, sich öffentlich dem Bahá’í-Glauben anzuschließen.

In seiner ihm aufgezwungenen, überwachten Residenz in Akká, nicht weit vom Berg Karmel, der in allen heiligen Schriften als Ort des kommenden Sieges [Seite 9] der Kräfte des Guten über das Dunkel gefeiert wird, sah Bahá’u’lláh die friedliche Armee derer, die an seine Sendung glaubten, wachsen und stark werden. Diese Armee führte, organisierte und inspirierte er durch zahlreiche »Tablete« (Sendschreiben) und vor allem durch das Beispiel seines eigenen Lebens voll Würde, Mäßigung und Güte. Die zahlreichen Anschläge seiner Feinde, von denen einige (und das ist sehr orientalisch) übrigens seine nahen Verwandten waren, scheiterten an seinem ruhigen Mut.

Nach seinem Tode im Jahre 1892 trat sein Sohn 'Abdu'l-Bahá seine Nachfolge als Haupt der Bahá’í-Gemeinde an. 'Abdu'l-Bahá, dem edle Gesichtszüge und ein langer, weißer Bart im Alter ein sehr biblisches, patriarchalisches Aussehen verliehen, zeigte sich in jeder Hinsicht als Führerpersönlichkeit. Auch er war ein ständiger Gefangener, dem von den Türken ‘Akká als Aufenthaltsort zugewiesen war. Während des Ersten Weltkrieges beschloß die von einer Reihe militärischer Niederlagen erschöpfte türkische Soldateska, sich des Häretikers zu entledigen und ihn mitsamt seiner Familie zu kreuzigen! Glücklicherweise hinderte das schnelle Vordringen der englischen Truppen sie an der Ausführung dieses schändlichen Planes. 'Abdu'l-Bahá wurde in Anerkennung seines wohltätigen, moralischen Einflusses als Sir 'Abdu'l in den britischen Adelsstand erhoben. Er starb 1921. In den letzten Jahren seines Wirkens hatte er seine wiedergewonnene Freiheit dazu benutzt, die frohe Botschaft persönlich nach Europa und Amerika zu tragen. Diese Saat fiel auf fruchtbaren Boden; die amerikanischen Bahá’í lagen bei der Ausbreitung der Bewegung bald an der Spitze, dank ihrer Hingabe, aber auch ihrer sehr amerikanischen Tugenden, nämlich ihrem Sinn für Organisation und Effizienz. Nach dem Tode 'Abdu'l-Bahás sollte sein Enkel Shoghi Effendi die Geschicke der Sache leiten. Er hatte bei den französischen Jesuiten in Haifa, dann am amerikanischen College in Beirut und schließlich an der Universität Oxford (Balliol College) studiert. Im Vergleich zu seinen Vorgängern war er also mehr von abendländischen Einflüssen geprägt. Unter seiner fähigen Führung breitete der Glaube sich in den meisten Ländern der Erde aus. Bald gab es Bahá’í unter den Eskimos, den Indianern und den Polynesiern. Shoghi Effendi verschied im Jahre 1957. Niemand folgte ihm; die Leitung der Bewegung geschah fortan kollektiv, sichergestellt durch das »Universale Haus der Gerechtigkeit«, das demokratisch von der ganzen internationalen Bahá’í-Gemeinde gewählt wird.

Es ist schwierig, die zahlenmäßige Stärke der Bahá’í-Bewegung genau auszumachen. Die Verantwortlichen weigern sich, Statistiken über die Zahl der Anhänger der Sache herauszugeben. Handelt es sich um Bescheidenheit, Schüchternheit, oder, was wahrscheinlicher ist, um Vorsicht? Das Zeitalter der Verfolgungen ist vielleicht noch nicht ganz abgeschlossen, und die Bahá’í dürfen sich vor allem in den meisten islamischen Ländern nicht sehen lassen. Die letzten Massaker an Bahá’í in Persien gehen nur bis 1955 zurück!4) Die Bahá’í stellen lieber Listen von »Gebieten, die dem Glauben erschlossen« sind, oder von ihren »Geistigen Räten« auf. Eine Politik universaler Anwesenheit mit mindestens einer Bahá’í-Zelle auf der kleinsten Pazifikinsel, in den verlassensten Gegenden Nordkanadas oder in den unterentwickeltsten Ländern der Sahelzone und Südostasiens scheinen sie nur punktuellen, aber massiven [Seite 10] Aktionen zur Gewinnung neuer Gläubiger vorzuziehen. Es gibt Hunderttausende, vielleicht sogar mehrere Millionen von Bahá’í, die über den ganzen Erdball verstreut sind. Die einzige Ausnahme sind die kommunistischen Länder nach der im Jahr 1928 erfolgten Schließung und Enteignung des ersten Bahá’í-Tempels von 'Ishqábád im Kaukasus auf russischem Gebiet.

Die Bahá’í-Gemeinde ist vor allem eine Gemeinde, in der viele Nationen und Rassen vertreten sind. Sie ist zutiefst antirassistisch. Bahá’u’lláh hatte zu seiner Zeit die völlige Gleichwertigkeit und unbedingte Brüderlichkeit aller Rassen verkündet. Aber statt ihren Antirassismus durch Umzüge, blutrünstige Flugblätter, feierliche Proteste und andere auffällige Verhaltensweisen zu bekunden, bemühen sich die Bahá’í ruhig, in vielrassigen Gruppen zu leben. Das Zusammenleben zu lernen, rassistische Reflexe, deren leider jeder Mensch fähig ist, abzubauen, scheint ihnen mutiger und realistischer zu sein, als mit viel Lärm auf den Rassismus der anderen zu deuten. Eine der großen Bahá’í-Tugenden liegt gerade im Fehlen von Beschuldigungen, Verurteilungen und Sarkasmen gegenüber dem Nächsten, sei er Verwandter, Freund, Nachbar, Kollege, ein Unbekannter auf der Straße oder ein Politiker, der auf dem Bildschirm erscheint. Natürlich kann man immer bestimmte Taten des anderen beklagen oder kritisieren, aber man darf es nur mit Maß und Höflichkeit tun, nur wenn es nötig ist, und man muß sich dabei immer den Spruch vom Splitter und vom Balken vergegenwärtigen. Um auf die Rassenfrage zurückzukommen, so ist zu bemerken, daß eine typische Bahá’í-Gruppe aus Menschen verschiedener ethnischer Gruppen besteht. In den Vereinigten Staaten zum Beispiel besteht die Gruppe nicht nur aus den »Kaukasiern« (d.h. der Weißen im amerikanischen administrativen Jargon) und aus den Angelsachsen, sondern auch aus Schwarzen, Puertoricanern, Japanern, Chicanos usw., je nach der örtlichen Bevölkerung. Eine absolute Gleichheit charakterisiert die Aufteilung der Aufgaben und Verantwortungsbereiche. Die Bahá’í-Zelle wird so zum Entwurf, zum leibhaften Modell des Gesellschaftstypus, den die Bewegung für die zukünftigen Jahrhunderte ins Leben rufen will. Von Ehen verschiedenrassischer Partner wird keineswegs abgeraten; sie werden vielmehr mit Sympathie betrachtet, ihre Partner zu diesem Schritt gern ermutigt. Gleichzeitig bestehen die Bahá’í darauf, daß jedes Volk seine Identität bewahren sollte, da die Mannigfaltigkeit der Beiträge für das Ganze nur günstig sein kann. Eine solche Einstellung wird sicherlich erleichtert durch den religiösen Glauben an einen gemeinsamen Vater.

Ohne Rast gegen Vorurteile ankämpfen, den Versuchungen des Hasses und der Verachtung widerstehen, das sind die ersten Pflichten eines Bahá’í. Die Bahá’í widersetzen sich der Diskriminierung aus Gründen des Besitzes und des sozialen Ranges ebenso wie aus Gründen der Rasse. Die Bahá’í lehnen es ab, in der Kontroverse Kapitalismus -- Sozialismus Partei zu ergreifen, versichern aber, daß eine gesunde Gesellschaft himmelschreiende Ungleichheiten, »extremen Reichtum und extreme Armut«, abschaffen muß. Auch weigern sie sich, an politischen Kämpfen teilzunehmen. Ein Bahá’í hat nicht das Recht, einer Partei anzugehören, weil schon das Konzept der Partei an sich notwendigerweise Spaltung, Teilung, Opposition impliziert. Die Bahá’í anerkennen die Autorität der Regierung, gleich welche Regierungsform in dem jeweiligen Land besteht, ob demokratisch oder autoritär, ob Volksregierung oder Aristokratie. Sie versuchen jedoch, ihr Ideal der Gerechtigkeit, der Toleranz und des Friedens [Seite 11] zu verkünden. Chauvinismus, aggressiver Nationalismus, kriegerische Gesinnung sind dem Bahá’í-Glauben völlig entgegengesetzt. Man rät jungen Bahá’í, ihren Militärdienst nur in der nichtkämpfenden Truppe abzuleisten, aber diese Einstellung geht nicht bis zum Ungehorsam, der im Widerspruch zu dem Prinzip des Gehorsams gegenüber der rechtmäßigen Regierung des Landes stünde. Noch auf einem anderen Gebiet arbeiten die Bahá’í für die Durchsetzung der Gleichheit aller Menschen: Sie verkünden die vollkommene Gleichberechtigung von Mann und Frau. Daß sie dies seit Mitte des 19. Jahrhunderts und in islamischen Ländern getan haben, beweist ihre Originalität, ihre Aufrichtigkeit und ihren Mut. Unter den ersten Anhängern des Báb war eine Frau, eine Dichterin mit dem Namen Tahirih (die Reine). Sie hatte als erste den Mut, mit entblößtem Gesicht, ohne den in islamischen Ländern traditionellen Schleier in einer Versammlung von Männern zu erscheinen. Diese Tat machte sie zu einer der ersten Märtyrerinnen während der Verfolgungen im Jahr 1852. Sie wurde erdrosselt, ihr Leichnam in einen Brunnen geworfen. Die Bahá’í-Frauen erfreuen sich in den Räten der Sache der gleichen Rechte und der gleichen Autorität wie die Männer. Diese wahre Gleichwertigkeit hat nichts mit der übertriebenen und zänkischen Einstellung jener Gruppe der »Women's Lib« zu tun, die den Haß gegen den Mann und gleichzeitig die Vermännlichung der Frau predigt. Die Bahá’í sehen in der Ehe eine erhabene Einrichtung und in der Gattenliebe die bewundernswerteste Sache überhaupt. Sie lassen die Scheidung zu, bedauern sie aber und auferlegen denen, die sich scheiden lassen wollen, ein Trennungsjahr zum Nachdenken. Die Erziehung der Kinder ist andererseits ein Hauptanliegen der Bahá’í-Religion, und das Recht auf eine wirkliche Erziehung für alle, Männer wie Frauen, wird stark betont.

Die Bahá’í-Theologie, sofern man überhaupt von Theologie sprechen kann, ist von großer Einfachheit. Es gibt einen einzigen Gott. Er ist der Vater aller Menschen. Er ist unerforschlich, aber, nach den Worten des Qur'án: »... dem Menschen näher als seine Halsschlagader«. Er ist der Gott Abrahams, Jakobs, Mose, Jesu, aber auch der Muhammads. Wie Allah ist er ewig, allmächtig, barmherzig und voll Weisheit. Er ist zugleich transzendent und immanent, um die christliche Terminologie zu gebrauchen, aber die Bahá’í halten sich kaum mit Diskussionen über metaphysische Probleme auf. Gott ist die geistige Sonne des Universums. Er strahlt Liebe zu allen Lebewesen aus, aber fordert seinerseits eine nicht weniger flammende Liebe von ihnen. Durch seine Manifestationen wirkt er auf die Welt ein. Die Christen wird es sicher ärgern festzustellen, daß die zweite Person ihrer Trinität bei den Bahá’í keine privilegierte Stellung einnimmt, da sie die Worte »Gottes Sohn« nur in einem übertragenen Sinn verstehen, ohne eine wundersame Geburt und Auferstehung zu erwähnen. Die Bahá’í sind wenig verlockt durch das »Wunderbare« an Wundern. Sie haben keine Mythologie. Sie glauben an die Wissenschaft. Für sie dürfen Wissenschaft und Religion nie in Konflikt geraten. Nach den Worten des Propheten der Bahá’í-Religion sind sie die beiden Flügel des menschlichen Vogels auf dem Wege des Fortschritts, und man fliegt sehr schlecht mit nur einem Flügel. Kein Aberglaube, kein Obskurantismus, kein krankhaftes Festklammern an Buchstaben der Schriften. Übrigens werden die Schriften aller Religionen in den Bahá’í-Tempeln gelesen.

Die Bahá’í sind sehr zahlreich im Iran, müssen aber vorsichtig in der Ausübung ihrer religiösen Rechte sein, die zwar [Seite 12] von der Verfassung anerkannt,5) aber oft von fanatischen Randgruppen der islamischen Bevölkerung bedroht werden, vor allem auf dem Lande. Viele ausgewanderte Perser sind Bahá’í. Sie leben in England, Frankreich, der Schweiz, Deutschland ... In Ägypten und Indien gibt es ebenfalls viele Bahá’í. Auf dem afrikanischen Kontinent sind sie vor allem in Uganda stark vertreten. In Europa noch schwach, sehen sie ihre Mitgliederzahl in Australien, Neuseeland, Kanada, Lateinamerika und vor allem in den Vereinigten Staaten ständig wachsen.

Die Bahá’í haben keinen Klerus. An jedem Ort, wo sie vertreten sind, wählen die Bahá’í einen »Geistigen Rat« von neun Mitgliedern, der jedes Jahr erneuert wird. Ähnlich wählen sie über eine Abgeordnetenversammlung die Mitglieder des Nationalen Geistigen Rates. Diese ihrerseits wählen hervorragende Mitglieder in das höchste Organ der Pyramide, das »Universale Haus der Gerechtigkeit«, Sitz Haifa im Heiligen Lande. Dieser Prozeß ist also vollkommen demokratisch, aber ohne die gewöhnlichen Fehler der Demokratie: Es gibt weder Wahlkampagnen noch Parteien, keine Rivalitäten von Richtungen oder Personen. Stattdessen gibt es: Gebete, freundschaftliche Beratung, Wahl bzw. Abstimmung und ruhige Annahme der Mehrheitsentscheidung durch alle.

Da die Bahá’í weder Kirchen noch Moscheen haben, beten sie zu Hause, ein- bis dreimal täglich obligatorisch, aber eigentlich ist ihr ganzes Leben ein Gebet. Es gibt jedoch Bahá’í-Ternpel, von denen einige außerordentlich schön sind, aber sie sind eher Brennpunkte mystischer Vereinigung, symbolisches Zeugnis der Gegenwart der Bahá’í, als Kultstätten im gewöhnlichen Sinn. Man kann sich dorthin zurückziehen (sie sind jedermann offen), still beten, meditieren, aber man hört darin weder Predigten noch Instrumentalmusik. 1975 bestanden solche Häuser der Andacht in Wilmette bei Chicago, Panama, Kampala (Uganda), Sydney (Australien) und Hofheim-Langenhain bei Frankfurt. Das erste Ziel war also offensichtlich, einen Tempel auf jedem Kontinent zu errichten, aber das ist nur der erste Schritt. Einige Tempel sind in klassischer Architektur erbaut, andere wie die in Frankfurt und Panama, ganz modern. Aber alle haben eine Kuppel, die an die islamischen Wurzeln des Glaubens erinnert, und alle sind in Form eines Kreises gebaut, der in neun gleiche Teile geteilt ist. Jeder Teil besitzt ein Tor, das jedes eine der großen Religionen der Menschheit symbolisiert. Die Gläubigen, die durch diese Tore eintreten, bewegen sich alle auf ein Zentrum zu. Der Symbolgehalt dieser in einer Religion, in einem Gott, einer vereinten Menschheit konvergierenden Bewegung ist sofort evident. Zu diesen Tempeln kommen die verschiedenen heiligen Stätten der Bahá’í in Palästina, in Haifa, hinzu. Es sind dies die berühmten, von den Reiseführern erwähnten »Persischen Gärten«, in denen sich besonders das Mausoleum des Báb und das Archivgebäude der Bahá’í, einem griechischen Tempel ähnlich, erhebt.

Das Bahá’í-Leben ist einem besonderen Rhythmus unterworfen, da diese Religion ihren eigenen Kalender besitzt. In regelmäßigem Abstand (alle neunzehn Tage) treffen sich die Bahá’í eines Ortes oder eines bestimmten Gebietes in freundschaftlicher Weise zu dem, was [Seite 13] gewöhnlich »Neunzehntagefest« genannt wird. Die Versammlung besteht aus drei Teilen: ein Teil für Gebet und Lektüre der heiligen Schriften (d.h. von Bahá’u’lláh und 'Abdu'l-Bahá), ein Teil, der der Beratung über geistige und materielle Angelegenheiten der Gemeinde dient, und schließlich ein geselliger Teil mit Gesang, Musik, Spiel, Erfrischungen. In christlichen Ländern nutzen die Bahá’í die Wochenenden zu Spaziergängen, Ausflügen, gemeinsamen Mahlzeiten oder Picknicks in freudiger, entspannter Atmosphäre. Erwähnen wir noch, daß es keine Speiseverbote gibt, daß aber alkoholische Getränke und Drogen absolut verboten sind.

Man wird Bahá’í durch einfachen Aufnahmeantrag. Man bleibt es, indem man sich bemüht, nach den Grundsätzen der Sache zu leben, und die Bewegung zeigt sich sehr tolerant denen gegenüber, die sich nur langsam der mit diesen Prinzipien angestrebten Vollkommenheit nähern. Man hört auf, Bahá’í zu sein, durch bloße Austrittserklärung. Wer die Reihen der Bahá’í verläßt, wird nicht im geringsten verfemt oder gebannt; Freunde bleiben Freunde. Der Austritt wird dem inneren Umsturz vorgezogen. Diejenigen, die sich verschwören, um die Lehren der Sache im Interesse ihrer persönlichen Ambitionen oder Wünsche zu verbiegen, werden »Bündnisbrecher« genannt und selbstverständlich ausgeschlossen.

Die Bahá’í kennen keine Sakramente. Es gibt weder Taufe noch Kommunion. Die Bahá’í-Trauung ist von großer Einfachheit. Niemand »verheiratet« die Bahá’í, die Verlobten erklären lediglich, daß sie vor Gott einander zugehören. Jedes Jahr haben die Bahá’í eine Art Ramadan, eine Fastenzeit von neunzehn Tagen nach der Art der Araber, während der sie keine feste oder flüssige Nahrung zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang zu sich nehmen. Das Ende der Fastenzeit bildet ein besonderes Fest mit einem großen Festessen und einem unterhaltenden oder festlichen Programm.

Es steht mir nicht zu, ein Werturteil über die Bahá’í-Religion abzugeben. Meine Bilanz ist eher die der Anziehungskraft, die von diesem religiösen Entwurf ausgeht, und der Klippen, die er birgt — beide werden sicherlich das Schicksal dieses Glaubens in seiner weltweiten Ausbreitung beeinflussen. Zuerst die Klippen: Eine zu einfache, zu ungenaue Theologie kann Anhänger sehr »theologischer« Glaubensrichtungen wie des römischen Katholizismus abstoßen. Einige klagen, das Geschick des Menschen nach dem Tode sei in der Bahá’í-Perspektive zu verschwommen angedeutet, weil man sich damit begnüge, die Unsterblichkeit der Seele und die Belohnung der Gerechten ohne weitere Details zu bestätigen (aber eine leibliche Auferstehung erscheint ausgeschlossen). Die Behauptung der Einheit der Religionen und der Ähnlichkeit der Lehren mag diejenigen unbefriedigt lassen, die die Worte von Jesus, Muhammad oder Gautama Buddha etwas genauer vergleichen. Christus hielt die andere Wange hin, Muhammad predigte den heiligen Krieg. Jesus war (wahrscheinlich) unverheiratet, der Prophet des Islam polygam, während Buddha riet, sich von den Frauen fernzuhalten, die nach seinen Worten niedere Wesen seien. Jesus lehrte die Auferstehung und das ewige Leben, während der Hinduismus von Reinkarnation spricht und der Buddhismus das Leben als ein Unglück betrachtet, dem die endgültige Auslöschung im Nirvana vorzuziehen sei. Die Versicherung der Gleichheit, die angeblich zwischen den verschiedenen Manifestationen Gottes besteht, kann diejenigen schockieren, die vielleicht nicht ohne Grund der Meinung sind, daß dieser oder jener der großen Religionsstifter [Seite 14] wegen der Erhabenheit seiner Lehren oder der Inbrunst seines Opfers einem anderen überlegen sei. Wenn alle »Manifestationen« dasselbe sagen, warum bis Bahá’u’lláh gehen, der nur das wiederholen konnte, was Jesus, Muhammad oder Mose gesagt haben? Wie kann man andererseits ohne Vorbehalt die Stufe als Prophet, als Bote Gottes anerkennen, die Bahá’u’lláh beansprucht? Sein Leben war von Mut und Würde, seine Persönlichkeit strahlte Güte und Großherzigkeit aus, aber sind das genügende Beweise? Wo sind seine Wundertaten? werden einige hinzufügen: aber das Fehlen von aufsehenerregenden »Wundern« scheint mir eher zugunsten Bahá’u’lláhs zu sprechen. Die Historiker können die wirkliche Verbindung zwischen der Sendung des Báb und derjenigen Bahá’u’lláhs erforschen. Die beiden sind sich tatsächlich nie begegnet, und es ist nicht unmöglich, im Wirken Bahá’u’lláhs einen illegitimen Versuch, die Bábi-Bewegung an sich zu reißen, zu sehen. Auf der anderen Seite kann der Bahá’í-Kalender, weit davon entfernt, eine Quelle der Einheit zu sein, als eine unnötige Komplikation erscheinen. Die Bahá’í-Schriften, vor allem diejenigen Bahá’u’lláhs, zeugen sicherlich von einer unleugbaren Seelengröße, aber ihr blumiger, komplizierter, feierlicher, sehr kunstvoller Stil orientalischer Art mag vielen abendländischen Lesern auf die Nerven gehen. Es ist dauernd die Rede von süßen Düften, strahlender Morgenröte, wohllautendem Gesang der Nachtigall, köstlichen Winden und dergleichen. Juden und Christen ziehen sicher die Schmucklosigkeit der biblischen Verse vor. Schließlich bleibt die Glaubwürdigkeit des Bahá’í-Glaubens als große universale Religion bestreitbar. Wird es einer Handvoll Gläubigen, von »Pionieren der Sache«, gelingen, eines Tages die Mehrheit zu bilden, oder auch nur eine starke Minderheit, die beachtlich genug wäre, um eine entsprechende Rolle in der Richtung einer höheren Kultur zu spielen?

Auf der anderen Seite ist die Aktivseite der Bilanz bemerkenswert. Die Einheit der Menschheit ist ein erhabenes Ziel. Sie ist ein Ziel, das die Begeisterung der Jugend zu entfachen vermag. Die religiöse und geistige Einheit der Völker ist ebenfalls eine dynamische Idee, die nur ein günstiges Echo finden kann. Die Idee einer Religion ohne Klerus, ohne Riten, Sakramente, Kirchen, Mythologie, Aberglauben und theologische Spitzfindigkeiten ist verführerisch. Sie trifft sich mit den Vorstellungen der Quäker, die gleichfalls das »innere Licht«, die Toleranz und die Brüderlichkeit aller Menschen zu ihrem Leitgedanken gemacht haben. Trotz ihrer Ablehnung von Dogmen und Liturgien ist die Bahá’í-Religion wirklicher Glaube an einen lebendigen, wahren Gott, an eine unsterbliche Seele, an ein Leben, das durch das Wissen um seinen tiefen Sinn verändert wird. Sie gibt dem Leben Sinn, sie verneint seine Absurdität. Daß die ganze Menschheit nur eine Familie sei und die Menschen »die Tropfen eines Ozeans, die Blätter eines Baumes«, wie es Bahá’u’lláh mit poetischen und hoffentlich auch prophetischen Worten ausgedrückt hat, das kann jeder Humanist, auch der religiös Ungläubige, mit ganzem Herzen und gutem Gewissen unterschreiben. Der Bahá’í-Weltglaube hat also eine Chance, sich eines Tages durchzusetzen. Von einem rein humanistischen Standpunkt aus müssen wir anerkennen, daß unser kleiner Planet sich dazu nur beglückwünschen könnte.


*) Dieser Beitrag erschien erstmals unter dem Titel La Foi Mondiale Baha’ie: Religion Planetaire de l’Avenir? in den Annales Universitaires, Avignon, 1. Jahrgang, Nr. 2, 1975. Der Verfasser ist Professor an der Universität Avignon, Faculté des Lettres et Sciences Humaines. Die Übersetzung aus dem Französischen besorgte Yasmin Schaefer.
1) Matth. 22:37—40
2) IV, 7 und 8
3) Louis Lambert, S. 134f, Ausgabe Broceliande, Straßburg 1959
4) Seit 1978 sind im Iran die Verfolgungen wieder aufgeflammt und haben bislang mindestens 142 Todesopfer gefordert. (Anm. der Redaktion)
5) Nicht so die Verfassung der Islamischen Republik Iran, die die Bahá’í nicht zu den schützenswerten religiösen Minderheiten des Landes zählt, obwohl sie dessen größte sind. Zu den Auswirkungen siehe »Dokumentation zur Verfolgung der Bahá’í im Iran«, herausgegeben vom Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í in Deutschland. (Anm. der Redaktion)


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Peter Mühlschlegel

DER FETISCH SOUVERÄNITÄT[Bearbeiten]

Es rühme sich nicht, wer sein Vaterland liebt, sondern wer die ganze Welt liebt.
Baha’u'llah1)


Die moderne Friedensbewegung behauptet, Frieden sei ohne Androhung und Anwendung von Gewalt möglich. Daß »Gewalt« verabscheuungswürdig ist, steht außer Zweifel, so schwer es auch fällt, klar zu definieren, wo Gewalt anfängt und wo sie aufhört. Alle Aufklärung, alle modernen Erziehungsmethoden zielen auf Gewaltlosigkeit. Nicht nur im Umgang der einzelnen Menschen miteinander, auch im Umgang der Politiker eines Landes und der Staaten gilt es mehr und mehr als sittenwidrig, gewaltsam vorzugehen.

Die Androhung und Anwendung von Gewalt generell als unnatürlich, unnötig und fortschrittshemmend zu betrachten und letztlich das Vorhandensein von Gewalt auf das Vorhandensein von Herrschaft im weitesten Sinn zurückzuführen, ist der Irrtum der Anarchisten. Von Natur aus ist der Mensch kein friedlicher Wiederkäuer wie das Rind oder das Schaf, sondern mit Sicherheit das intelligenteste Lebewesen der sichtbaren Welt. Es kann nicht ausbleiben, daß einzelne Subjekte der Spezies aller guten Erziehung zum Trotz die Gewalt als keineswegs unnatürlich, sondern als allgemeines Lebensprinzip verstehen, kämpfen doch fast alle Lebewesen einen harten Kampf ums Dasein, sind Glieder einer Nahrungskette des Fressens und Gefressenwerdens und können ohne Gewaltanwendung kaum einen Tag lang überleben. Die Versuchung, die im täglichen Daseinskampf gegen Tiere, Pflanzen und andere Sachen angewandte Gewalt auch gegen den Mitmenschen zu kehren, hat die ganze menschliche Entwicklung begleitet, seitdem Kain seinen Bruder Abel erschlug, und die Beobachtung, daß Menschen und Staaten von den gigantisch gewachsenen Freiheiten und Möglichkeiten des modernen Lebens gerade in diese Versuchung laufend geführt werden, ist wesentlich realistischer als die eingangs getroffene Feststellung, daß gewaltsames Vorgehen mehr und mehr als sittenwidrig gilt.

Gewaltlosigkeit und Friedfertigkeit gehören zu den höchsten gesellschaftlichen Werten. Das kann im ausgehenden zweiten Jahrtausend keiner bestreiten, der mit seiner politischen Meinung ernst genommen werden will. Halten wir uns an die landesübliche Unterscheidung zwischen äußerlicher Zivilisation und wahrer Kultur, und verstehen wir unter Kultur als Prozeß die fortschreitende Darstellung und Überwindung von Widersprüchen, was gleichbedeutend ist mit der fortschreitenden Darstellung und Verwirklichung von Werten, dann folgt aus dieser Definition, daß es so etwas wie einen Kulturwillen gibt, der im Gang der Weltgeschichte seine Wirkung entfaltet und in jedem Menschen als die gesellschaftliche Komponente zum Sinn seines Lebens mehr oder minder bewußt wird, aber doch unabhängig von den denkenden Subjekten vorhanden ist. Dieser Kulturwille steht im Zusammenhang mit dem Zeitgeist und sinnverwandten Konkretisierungen. Er manifestiert sich nicht nur in religiösen Geboten und [Seite 16] Verheißungen — wie etwa über die Seligkeit der Friedfertigen, die das Reich Gottes erben werden — sondern auch recht konkret in staatlichen Ordnungen, welche die natürlichen und unnatürlichen Gewalttätigkeiten in gesetzlichen Schranken halten sollten.

Sie sollten es. »Natürlich« konnte nicht ausbleiben, daß die Gewalttäter, einzeln und in ganzen Scharen, die noch so weise verfaßten staatlichen Ordnungen für ihre Zwecke mißbrauchten und nach ihren Zwecken verunstalteten. Die ganze Weltgeschichte ist Zeugnis des Ringens um immer reinere Staatlichkeit, immer klarere Bestimmung und Durchsetzung von Friedensordnungen als fortschreitende Verwirklichung jenes Kulturwillens. Dabei gab und gibt es unzählige Kämpfe und Konflikte, Angriffe und Rückschläge; aber eine Stufenfolge des administrativen Kulturfortschritts ist deutlich wahrnehmbar: »Die Einheit der Familie, des Stammes, des Stadtstaates und der Nation ist nacheinander in Angriff genommen und völlig erreicht worden.«2) Landfrieden ist ein schönes deutsches Wort für den Zustand, der auf diesem Wege alles in allem, wenn auch keineswegs immer und überall, erreicht worden ist.

Warum nur fällt es den Menschen trotz aller Krisen und Katastrophen, trotz der Drohung des totalen Untergangs so schwer, den zwingend notwendigen nächsten Denkschritt auf dem Wege der politischen Kultur zu tun? Warum setzt die Friedensbewegung dem ganzen Rüstungswahnsinn, dem absurden Konzept wechselseitiger Abschreckung großer und kleiner Atommächte nur die kaum weniger absurde Vorstellung entgegen, daß Frieden ohne Androhung oder Anwendung von Gewalt denkbar sei? Sind wirklich alle so blind, so bar jedes logischen Rechtsempfindens und jeder politischen Phantasie, daß keiner erkennt, wie absurd es ist, wenn in unserer kleingeschrumpften Welt mehr als hundertfünfzig unabhängige Nationalstaaten ihre jeweiligen Souveränitätsrechte mit Klauen und Zähnen verteidigen, statt sich zu einem Weltbundesstaat zusammenzuraufen?

»Die Weltregierung... ist ein Traum, und nicht einmal ein schöner«, schreibt ein deutscher Professor Ende 1982 im führenden deutschen Intelligenzblatt,3) und keiner widerspricht dem. Er schreibt das in einer Kritik der Friedensbewegungen und weiß sehr wohl, daß er sich mit diesen Worten an den Spruch eines erzreaktionären preußischen Generals anlehnt, der dasselbe vor gut hundert Jahren über den Frieden gesagt hat. Welch zynische Verkennung des Wesens und des Zweckes staatlicher Gewalt, Frieden auf unbegrenzte Dauer — und das bedeutet: nicht nur Landfrieden, sondern Weltfrieden — zu schaffen.

Shoghi Effendi (1897—1957), der Hüter des Bahá’í-Glaubens, schrieb 1936: »Die Vereinigung der ganzen Menschheit ist das Kennzeichen der Stufe, der sich die menschliche Gesellschaft heute nähert... Welteinheit ist das Ziel, dem eine gequälte Menschheit zustrebt. Der Aufbau von Nationalstaaten ist zu einem Ende gekommen. Die Anarchie, die der nationalstaatlichen Souveränität anhaftet, nähert sich heute einem Höhepunkt. Eine Welt, die zur Reife heranwächst, muß diesen Fetisch aufgeben, die Einheit und Ganzheit der menschlichen Beziehungen erkennen und ein für allemal den Apparat aufrichten, der diesen Leitgrundsatz ihres Daseins am besten zu verkörpern vermag.«4)

[Seite 17] Zwischen der neuen Friedensbewegung mit ihren wiederbelebten anarchistischen Vorstellungen und ewig-gestrigen Vertretern souveräner Nationalstaaten mit ihrer Theorie eines Friedens durch Abschreckung werden wir Bahá’í den schmalen Mittelweg gehen müssen, der den Ausbau der Vereinten Nationen zu einem handlungsfähigen Weltbundesstaat zum Ziel hat. Wir werden mit wachsender Deutlichkeit sagen müssen, daß dies der einzig gangbare Weg zur Sicherung des von Bahá’u’lláh vorhergesagten »Geringeren Friedens« ist, ja daß konsequenterweise jede Außenpolitik, die auf andere Ziele gerichtet ist, friedensgefährdend ist. Und wir werden die Fehlhaltung derjenigen, die die sogenannte Souveränität der hundertfünfzig Nationalstaaten verteidigen, so entlarven müssen, wie sie Shoghi Effendi schon 1936 bezeichnet hat: als Fetischismus.

Alle Welt hat es sich in den letzten Jahrzehnten gefallen lassen müssen, tiefenpsychologisch auseinandergenommen zu werden. Kein Mensch, keine gesellschaftliche Erscheinung, die nicht unter dem Bombardement psychoanalytischer Aussagen stünde. Nur ein Problemkreis bleibt, an den sich — soweit in der einschlägigen Literaturschwemme feststellbar — noch kein Tiefenpsychologe richtig herangewagt hat: das Bewußtseinsfeld der Beziehungen des erwachsenen Bürgers zum universalen Machtanspruch des souveränen Staates sowie das Feld der Vorstellungen, welche die hundertfünfzig existierenden universalen Machtansprüche in den jeweiligen Machtträgern auslösen. Die auf diesen Feldern wirkenden halbbewußten Widersprüche darzustellen und therapeutisch anzugehen, wird ein entscheidender Beitrag zur Ausformung jenes allumfassenden Kulturwillens sein; dafür den Begriff »Fetisch« zu erschließen, wie ihn Shoghi Effendi vor bald fünfzig Jahren verwandt hat, wird noch tragfähigere Aussagen liefern als die staatsphilosophische Konfrontation mit der »Anarchie, die der nationalstaatlichen Souveränität anhaftet«.

Fetisch, spätlateinisch factitius, portugiesisch feitico, »das künstlich Gemachte«, bezeichnete ursprünglich die Amulette und anderen Mittel der Magie, mit denen die Europäer im ausgehenden 15. Jahrhundert den Eingeborenen Westafrikas gegenübertraten, später die eigenen magischen Gegenstände dieser Eingeborenen. August Comte (1798—1857), der Vater der Soziologie, verwandte den Begriff auf die primitiven Religionen im allgemeinen, von denen er annahm, daß sie menschliche Eigenschaften nichtmenschlichen Körpern zuschreiben. Das beschrieb man später als Animismus. Fetischismus ist demgegenüber nach modernerem Verständnis der Glaube, daß Geister in stofflichen Gegenständen verkörpert oder sonstwie mit diesen verbunden sind und durch diese Einfluß ausüben. Die Anthropologie verwendet das Wort Fetischismus kaum mehr, weil sie heutzutage weniger die stofflichen Artifakte als vielmehr die übernatürlichen Glaubensvorstellungen beobachtet. Umso eifriger hat die Psychoanalyse dieses Wort aufgegriffen. Sie bezeichnet damit ein abnormes Sexualverhalten, nämlich die erotische Beziehung unbelebter Gegenstände oder gewöhnlich asexueller Teile des menschlichen Körpers. Interessant ist, daß Fetischismus in diesem Sinne fast ausschließlich unter Männern vorkommt — genauso wie der Fetischismus um die nationale Souveränität.

Es würde zu weit führen, hier im einzelnen darzustellen und mit Beispielen zu untermauern, wie die überwältigende Mehrheit der politisch denkenden und handelnden Menschheit heutzutage dem Fetisch der nationalen Souveränität hörig ist. Vom Stammtischredner [Seite 18] bis zum Staatspräsidenten, zum Kanzler und zum Außenminister gibt es keinen, der zu der Einsicht durchbräche, daß die hundertfünfzig Nationalstaaten in der Welt von heute genauso an die Kandare einer übergreifenden Ordnung genommen gehören wie etwa die Länder eines Bundesstaates oder die Ortsgemeinden eines Landes. Positive Ansätze einer staatsphilosophischen und staatsrechtlichen Untermauerung für die Überleitung der wichtigsten Souveränitätsrechte, vor allem der Verteidigungs- und Finanzhoheit, auf einen Weltbundesstaat — Ansätze, die etwa von Lionel George Curtis (1872—1955) und anderen zwischen den beiden Weltkriegen als die edelste Frucht des britischen Imperialismus vertreten wurden — sind heute in einer Flut neuer Staatsgründungen untergegangen, oder besser gesagt: verdrängt worden. Bei Gründung der Vereinten Nationen wurde ein Antrag, der Generalversammlung gesetzgebende Gewalt zuzusprechen, ausdrücklich abgelehnt.5) Die Weltstaat- und Weltbürger-Bewegung, die sich daraufhin in den vierziger und fünfziger Jahren vorübergehend stark entwickelte, geriet nach dem Koreakrieg und der Gründung östlicher wie westlicher Verteidigungsbündnisse — Frieden durch Abschreckung — in Vergessenheit.

Ein Kosmopolit, der zugleich Zyniker ist, könnte hier einwerfen, die Menschheit habe einen Ersten Weltkrieg benötigt, um das lockere, brüchige Gebilde des Völkerbundes zustandezubringen, und den Zweiten Weltkrieg, damit die einigermaßen verbesserte Organisation der Vereinten Nationen entstand; nun würde eben ein dritter Weltkrieg vonnöten sein, um die hundertfünfzig Nationalstaaten unverbrüchlich aneinanderzuschmieden. Schließlich ist ja selbst die Führungsnation des Westens nicht ohne einen Bürgerkrieg zu dem geworden, was sie heute ist. Und wenn dank modernster Waffen in diesem Lernprozeß die Hälfte der Menschheit draufgeht, dann sind nach Ansicht unseres Zynikers immer noch genügend da, um das endlich nachzuvollziehen, was schon seit Generationen hätte geschehen müssen.

Ist das wirklich der politischen Weisheit letzter Schluß? Können sich verantwortungsbewußte Weltbürger ausgesprochen oder unausgesprochen eine derartige Einstellung leisten? Gibt es stichhaltige Argumente, sie herunterzuspielen?

Wir Bahá’í haben hundertvierzig Jahre hindurch mit Engelszungen die Einheit der Menschheit gepredigt. Wir haben alle religiösen und rationalen Beweisgründe ins Feld geführt: die Prophezeiungen und Endzeiterwartungen, das Jüngste Gericht, die Wiederkehr in der Herrlichkeit des Vaters, das ganze System einer umfassenden religiösen Aufklärung. Zwanzigtausend Bábí und Bahá’í haben mit ihrem Märtyrerblut für den Glauben an die präexistentgeistige und real-künftige Einheit der Menschheit Zeugnis abgelegt, und viele tausend weitere werden heute und morgen allein dieses Glaubens wegen umgebracht oder aller ihrer Menschenrechte beraubt. Bahá’u’lláh, die »Gesegnete Schönheit«, hat in unzähligen Werken, mit unübertrefflicher Deutlichkeit und Eindringlichkeit die höchsten denkbaren Zielvorstellungen für die Entwicklung des einzelnen Menschen wie der ganzen menschlichen Gesellschaft entfaltet: Der eine wahre Gott hat die Welt und den Menschen erschaffen, um erkannt und geliebt zu werden; Er hat alle Menschen erschaffen, damit sie eine ständig fortschreitende Kultur vorantragen; Er spricht von Zeitalter zu Zeitalter durch Propheten, »Manifestationen Gottes«, um jeweils das Gesetz und den Impuls für den nächsten Entwicklungsabschnitt zu geben, und Er hat in [Seite 19] unserer Zeit die geistigen und rechtlichen Grundlagen für die Reife und Einheit der Menschheit niedergelegt. Wir müssen das nur zur Kenntnis nehmen, uns damit auseinandersetzen, uns dazu bekennen, es nachvollziehen und einüben.

Aber alle diese Deklarationen, Proklamationen und Demonstrationen haben den Durchbruch zum »Geringeren Frieden« nicht bewirken können, zum Zustand des weltweiten Nichtkrieges, den Bahá’u’lláh als Zwischenlösung vorausgeschaut hat.6) Wir Bahá’í sind gefordert, die Schraube unserer Überzeugungskraft einige Windungen weiter zu drehen. Zwar halten wir uns freudig an das Gebot, »Flüche und Schmähreden« zu vermeiden und »keinen Kummer, geschweige denn Zwietracht und Streit« zu verursachen. Wir werden aber nicht umhin können, eigens und gerade von unserem Standpunkt eines umfassenden, strahlenden, opferbereiten Weltbewußtseins her mit allen zu Gebote stehenden Mitteln eine Kritik an den Fehlhaltungen unserer Umwelt und an ihren staatsphilosophischen Widersprüchen zu vollziehen. Vom Bahá’í-Standpunkt aus werden wir eine Psychopathologie der nationalistischen Machtausübung entwickeln und dem Fetischismus um die nationale Souveränität in seinen tausendfältigen Ausprägungen auf den Grund gehen müssen. Das wird für Generationen von Psychologen und Soziologen eine große Aufgabe sein, aber zur Popularisierung dieser Kritik, zur Auseinandersetzung in der breiten Öffentlichkeit mit den uns gemäßen Mitteln, kann jeder Einsichtige seinen Beitrag leisten.

Die Kritik am Fetischcharakter der nationalstaatlichen Souveränität als wesentlicher Beitrag zum »Geringeren Frieden« ist eine Sache, ihre Abstimmung mit einer Reihe von Gegenstandspunkten eine andere. Da ist zunächst der Bahá’í-Grundsatz der Nichteinmischung in die Tagespolitik. Wir Bahá’í treiben keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten über die sorgfältige Ausübung unserer Bürgerpflichten hinaus. Da ist sodann ein grundlegender Etatismus: Der Staat an sich ist ein unverzichtbarer Wesensbestandteil menschlicher Kultur, und Anarchismus ist ein ebenso schlimmer Greuel wie die faktisch unbegrenzte Souveränität von hundertfünfzig Nationalstaaten. Da ist drittens das Bestreben der Bahá’í-Weltgemeinschaft, als anerkannte Nicht-Regierungs-Organisation in den Gremien der Vereinten Nationen mit den Vertretern aller Nationen gute Beziehungen zu pflegen und ihnen die Einsicht in die notwendigen Reformen Schritt für Schritt zu vermitteln. Viertens steht die Bahá’í-Lehrarbeit, nein, jedwede Bahá’í-Tätigkeit unter dem unverbrüchlichen Gebot der Gewaltlosigkeit. Nur der Staat darf Gewalt ausüben; aber er muß es — das ist das Entscheidende — widerspruchsfrei tun. Fünftens ist da der Modellcharakter der Bahá’í-Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung,7) deren Prinzipien jeden Gläubigen zur Mitwirkung und Ausgestaltung herausfordern, aber trotz aller Weltoffenheit nicht ohne weiteres in das freie Feld des Politischen übertragen werden können, weil sie auf Glaubenssätzen beruhen. Und sechstens sind mit dieser neuen Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung nicht nur vage Hoffnungen, sondern strukturierte lehrpolitische Erwartungen verbunden: »Ihr [Seite 20] Losungswort ist die Vereinigung des Menschengeschlechts, ihr Banner der »Größte Friede«, ihre Vollendung der Anbruch jenes Goldenen Zeitalters, des Tages, da die Reiche dieser Welt zum Reiche Gottes, welches das Reich Bahá’u’lláhs ist, geworden sind.«8)

Das alles darf aber nicht dazu führen, den Fetischismus um die nationale Souveränität als etwas Unabänderliches wie das schlechte Wetter hinzunehmen. Wenn wir die Ermahnungen Bahá’u’lláhs zur Weltoffenheit ernst nehmen, müssen wir dieser grassierenden Seuche mutig entgegenwirken — mit den besten Mitteln und Methoden, wie Er sie uns gewiesen hat.


1) Ährenlese 43:6, Hofheim-Langenhain 31980; Botschaften aus Akká 7:13, Hofheim-Langenhain 1982
2) Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá’u’lláhs, Hofheim-Langenhain 1977, S. 295
3) Prof. Dr. Michael Zöller, Bayreuth, in der Frankfurter Allgemeinen vom 3.11.82, S. 10.
4) Shoghi Effendi, a.a.O.
5) UN Doc 507, II/2/22,9 UNCIO Doc 70 (1945)
6) Eine Charakterisierung des »Geringeren« und des »Größten Friedens« findet sich bei Shoghi Effendi, a.a.O., S. 231
7) Die staatsrechtlichen Aspekte der Bahá’í-Verwaltungs- und Gesellschaftsordnung behandelt A. L. Lincoln, Politik des Glaubens, Hofheim-Langenhain 1973
8) Shoghi Effendi, a.a.O., S. 226



Der tiefste Sinn und der vollkommenste Ausdruck dessen, was die Völker früherer Zeiten gesagt und geschrieben haben, ist durch diese mächtigste Offenbarung aus dem Himmel des Willens des Allbesitzenden, des Immerwährenden Gottes herabgesandt. Einst wurde offenbart: »Die Liebe zum Vaterland ist ein Bestandteil des Gottesglaubens.« Die Zunge der Größe jedoch verkündet am Tage Seiner Offenbarung: »Es rühme sich nicht, wer sein Vaterland liebt, sondern wer die ganze Welt liebt.« Durch die von diesem erhabenen Wort entfesselte Kraft verleiht Er den Vögeln der Menschenherzen frischen Schwung, weist ihnen eine neue Richtung und tilgt jede Spur von Beschränkung und Begrenzung aus Gottes heiligem Buch.

Baha’u’llah


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Christopher Sprung

BAHÁ'Í-HAUS DER ANDACHT 1964—1984[Bearbeiten]

Am 4. Juli 1984 jährt sich zum zwanzigsten Mal die Einweihung des Europäischen Bahá’í-Hauses der Andacht in Langenhain/Taunus. Dies gibt willkommenen Anlaß, Rückschau zu halten, uns der Eigenart eines »Hauses der Andacht«  des Bahá’í-Glaubens zu erinnern und einen Blick auf die denkbare Entwicklung in der Zukunft zu werfen.

Das Haus der Andacht in der kleinen Taunusgemeinde Langenhain, kaum zwanzig Kilometer vom brodelnden, hektischen Stadtkern Frankfurts entfernt und doch beschaulich und ruhig in eine Landschaft von Wiesen und Wäldern eingebettet, erfüllt nicht nur die deutsche Bahá’í-Gemeinde mit Stolz. Oft wird es als »europäischer Muttertempel« bezeichnet, um zu veranschaulichen, daß es das erste und bis heute einzige Gebäude dieser Art auf dem europäischen Kontinent darstellt. Für die Bahá’í-Gemeinden in achtzehn Ländern Europas ist es »ihr« Haus der Andacht, ihr geistiger Mittelpunkt. Das Haus der Andacht gewinnt aber noch mehr an Bedeutung, wenn man sich die weltweite Entwicklung der Bahá’í-Religion vor Augen hält und sich bewußt wird, welchen Rang Langenhain für die Bahá’í in aller Welt einnimmt.

Die Bahá’í-Religion ist ein junger Glaube, vor erst 140 Jahren in Persien entstanden. Ein halbes Jahrhundert mußte vergehen, bis die Kunde von der neuen Religion zum ersten Mal in einem westlichen Land vernommen wurde.1) Doch bis zu diesem Zeitpunkt rief sie in ihrem Ursprungsland wie auch in benachbarten Ländern beachtenswerte Umwälzungen hervor. Hunderttausende bekannten sich mutig zum neuen Glauben, zwanzigtausend wurden unter grausamen Umständen von der fanatischen Orthodoxie niedergemetzelt.2) Die blutigen Verfolgungen, die leider auch in jüngster Zeit wieder aufgeflammt sind,3) konnten die Ausbreitung des modernen und weltoffenen Gedankenguts jedoch nicht hindern. Sie trugen, wie so oft in der Geschichte, eher zu ihrer Verbreitung bei. So kam es, daß bereits im Jahre 1902 mit dem Bau des ersten Hauses der Andacht der Bahá’í-Religion begonnen werden konnte — in ‘Ishqábád im damaligen Turkmenistan. Die Geschichte des Hauses der Andacht in Langenhain geht zurück auf den ersten Stein, gesetzt in ‘Ishqábád, das erste Blut, geopfert in Persien, den ersten göttlichen Ruf, erklungen am 23. Mai 1844 in Shíráz.

Die rasche Ausbreitung des Bahá’í-Glaubens im Westen wurde durch die Reisen 'Abdu'l-Bahás nach Europa und in die USA (1910—1913) eingeleitet. 1912 legte ‘Abdu’l-Bahá den Grundstein für das erste Bahá’í-Haus der Andacht des Westens in Wilmette am Michigan-See bei Chikago. Doch zwei Weltkriege und die damit verbundenen politischen und ökonomischen Wirren verzögerten die Fertigstellung bis 1953. Nun wurde [Seite 22] angestrebt, ein Haus der Andacht in jedem Kontinent zu errichten. Die Bahá’í in aller Welt trugen durch ihre Spenden dazu bei, daß dieses Ziel rasch erreicht werden konnte: die Häuser der Andacht bei Kampala/Uganda (Januar 1961), Sidney/Australien (September 1961), Frankfurt/Deutschland (Juli 1964) und Panama City/Panama (April 1972) geben ein beredtes Zeugnis von der Dynamik, der Entfaltungskraft und der globalen Ausrichtung der Bahá’í-Religion. Zwei weitere, in ihrer Architektur ebenso beeindruckende Tempel befinden sich derzeit im Bau: bei Neu-Delhi/Indien (Grundsteinlegung Oktober 1977) und Apia/West-Samoa (Grundsteinlegung Januar 1979).

Was ist es, das die Bahá’í-Gemeinden dazu antreibt, überall auf der Welt in so einzigartiger, unnachahmlicher Weise faszinierende Kuppelbauten zu errichten, manche verwurzelt in orientalischer Tradition, manche neuzeitlich anmutend, der indische Tempel in seiner der Lotusblüte angelehnten Form die offene Einladung den Hindus und Buddhisten aussprechend? Ein Verständnis hierfür kann nur gewinnen, wer die geistige Bedeutung dieser Tempel zu verstehen versucht. Dies heißt aber, herkömmliche Vorstellungen abzulegen, althergebrachte Begriffe und Bauten jüdischer Tempel, christlicher Kirchen und islamischer Moscheen zu vergessen. Das Bahá’í-Haus der Andacht eröffnet ein neues Verständnis von religiöser Anbetung und Hinwendung zum Göttlichen. Den Schlüssel gibt uns seine arabische Bezeichnung, wie sie in den Heiligen Schriften des Bahá’í-Glaubens zu finden ist: »Mashriqu’l-Adhkár« bedeutet im Wortsinne »Aufgangsort der Lobpreisung Gottes«. Im Mashriqu’l-Adhkár soll allein das göttliche Wort gesprochen werden, losgelöst, befreit und unbeschwert von menschlicher Interpretation, von Vortrag und Predigt. Kein Ritual stört den Sucher, keine überladene Kunst lenkt ihn ab. Zu sprechen erlaubt sind allein die Heiligen Schriften aller Religionen. Die göttlichen Wahrheiten, verborgen im ewigen Schatz der Menschheit — Altes Testament, Neues Testament, Qur’án, Heilige Schriften des Bahá’í-Glaubens und der anderen Religionen — geben unverfälscht ihre Kraft und ihren Trost, ihre Hoffnung und ihre Richtschnur. So ist das Haus der Andacht fähig, die Anhänger aller Religionen und Weltanschauungen vorurteilsfrei willkommen zu heißen und zu integrieren. Es gibt niemanden, der Haß, Intoleranz oder Unduldsamkeit verkündet, der für sich einen Absolutheitsanspruch erhebt und anderen Bekenntnissen deren Unwahrheit unterstellt. Im Gegenteil: die Heiligen Schriften werden akzeptiert und verehrt. Den Gläubigen jeder Religion, jeder Konfession oder Sekte mag das Haus der Andacht einen Anreiz vermitteln, zu den Ursprüngen der eigenen Religion zurückzukehren und sich auf die liebende Botschaft des Religionsstifters zurückzubesinnen. »Die Tore werden allen Nationen und Religionen offenstehen«, hat 'Abdu'l-Bahá vom Mashriqu’l-Adhkár gefordert, »es wird keine Trennungslinie gezogen werden. Ihre Tore werden dem Menschengeschlecht geöffnet sein. Vorurteile gegen niemand, Liebe für alle.«4)

Die Bürger von Langenhain haben nicht nur ein auf Deutschland begrenztes Phänomen zum Nachbarn. »Unser Tempel«, wie er im Volksmund inzwischen liebevoll genannt wird, ist wichtiger Teil und göttlich begründete Institution einer weltumspannenden Religionsgemeinschaft, die weder Sekte, Kult oder Konfession, sondern eine unabhängige und eigenständige [Seite 23] Offenbarungsreligion darstellt.5) Aber es hat lange gedauert, bis das Neue, das Ungewohnte in der benachbarten Umgebung akzeptiert und aufgenommen wurde. Als Anfang der fünfziger Jahre die ersten Absichten der Bahá’í-Gemeinde, einen Tempel in Frankfurt oder Umgebung zu bauen, in der Öffentlichkeit bekannt wurden, hat es erheblichen Widerstand gegeben. Es kann nicht unerwähnt bleiben, daß es die christlichen Kirchen waren, die gegen die Errichtung des Hauses der Andacht Sturm liefen. Die damals noch kleine Bahá’í-Gemeinde war gezwungen, in einem Spießrutenlauf von einem Bauplatz zum nächsten, von einem Ort zum andern zu ziehen. Die Odyssee dauerte elf Jahre, von 1953 bis 1964. Die Chronik der Ereignisse muß aus dem Abstand einer Generation befremdend anmuten. Das erste Baugesuch wurde von der Stadt Frankfurt abgelehnt. Als dann ein Bauplatz in Eschborn gefunden wurde, hielt die evangelische Kirche im August 1954 eine Protestversammlung ab, ließ Posaunenchöre erklingen, protestantische und katholische Geistliche traten gemeinsam auf, Flugblätter wurden ausgeteilt, Warnungen öffentlich angeschlagen, Eingaben und Resolutionen der Landesregierung überreicht. Daraufhin erklärten die Aufsichtsbehörden die bereits unterzeichneten Grundstückskaufverträge für ungültig. Der Rechtsweg bis zum Oberlandesgericht Frankfurt brachte keinen Erfolg. Anschließend abgeschlossene Kaufverträge über Grundstücke in Diedenbergen wurden ebenfalls nicht genehmigt. Schließlich konnte im Oktober 1957 ein Kaufvertrag über Grundstücke in der Gemarkung Langenhain abgeschlossen werden, aber auch hier wieder starke Proteste, Flugblätter, Versammlungen. Drei Jahre sollten vergehen, bis die erste Baugenehmigung für den Tempelbau erteilt wurde. Ein unrühmliches Kapitel in Sachen Toleranz und Religionsfreiheit fand seinen letztlich positiven Abschluß.6)

Am 20. November 1960 strömten mehr als 500 Bahá’í erleichtert und überglücklich zur Grundsteinlegung nach Langenhain. Die Redner betonten die Bedeutung dieses Tages. Der Grundstein trägt folgende Inschrift: »Haus der Andacht — Mother Temple of Europe — Mashriqu’l-Adhkár — Grundsteinlegung 20. November 1960, Bahá’í Era 17. Qudrat 117«. Die Hand der Sache Gottes Amelia Collins legte als Vertreterin des Bahá’í-Weltzentrums eine Handvoll Erde vom Heiligen Schrein Bahá’u’lláhs zusammen mit einer Urkunde folgenden Inhalts in den Grundstein: »In Anwesenheit von sieben Händen der Sache Gottes, europäischen Hilfsamtsmitgliedern und Vertretern der europäischen Nationalen Geistigen Räte wurde am heutigen Tage von unserer lieben, hochverehrten Frau Amelia Collins, als Beauftragte der Hände der Sache Gottes im Heiligen Land, der Grundstein für das Haus der Andacht Europas (Mother Temple of Europe) an diesem Ort der Gemarkung Langenhain im Taunus bei Frankfurt am Main, im Herzen Europas, gelegt. Freudig und mit tiefempfundenem Dank an Bahá’u’lláh gedenkt die Bahá’í-Weltgemeinschaft in Liebe und Verehrung des Hüters Shoghi Effendi, der diesen Platz am Vorabend seines Hinscheidens gutgeheißen hat. Frankfurt am Main, am 20. November 1960, 17. Qudrat 117«

Die Arbeiten an diesem ungewöhnlichen Kuppelbau schritten nun voran. Am 16. November 1963 wurde das Richtfest begangen. Knapp acht Monate [Seite 24]


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Das Haus der Andacht im Bau. Dreimal neun Pfeiler tragen die Kuppel, die fertiggestellt eine Höhe von 28 m erreicht. Der Kuppelraum hat einen Durchmesser von 25 m, das Kuppelinnere erhält Licht durch 570 Glasscheiben zwischen den Betonrippen.










[Seite 26] später fand die feierliche Einweihung statt. Am 4. Juli 1964 kamen rund eintausend Gäste aus allen Kontinenten zum feierlich geschmückten Haus der Andacht. In ihrer Einweihungsansprache sagte die Hand der Sache Gottes Amatul-Bahá Rúḥíyyih Khánum: »Dieses Gebäude ist den drei Wahrheiten geweiht, die dem Bahá’í-Glauben zugrundeliegen: der Einheit Gottes, der Einheit Seiner Offenbarer, der Einheit des Menschengeschlechts. Seine Tore stehen offen für Menschen aller Glaubensrichtungen, aller Rassen, aller Völker und aller Klassen. Innerhalb seiner Mauern wird man die Gebete und die Heiligen Schriften nicht nur unseres eigenen Glaubens hören, sondern der großen Offenbarungsreligionen der ganzen Welt. Wir glauben, daß diese Heiligen Schriften die Schatzkammern der ewigen Grundwahrheiten sind, die Gott in verschiedenen Zeitaltern für die Führung und die Erlösung der ganzen Menschheit geoffenbart hat. Es ist die Hoffnung der Bahá’í, daß ein jeder von Ihnen sich frei fühlen möge, in diesen Tempel zu kommen und hier zu beten und mit uns teilzunehmen an den Andachten zum Preise Gottes, Den wir alle lieben, Dem wir alle uns anbetend zuwenden, und von Dem wir alle göttliche Gnade und Segnungen erhoffen in dieser unruhigen, sorgenvollen Welt.«7)

So groß war der Andrang der Besucher, daß drei Andachten abgehalten werden mußten, um jedem die Gelegenheit eines ersten Verweilens im Haus der Andacht zu geben. Am Abend fand im Gesellschaftshaus des Zoologischen Gartens in Frankfurt ein Empfang für zahlreiche Gäste des In- und Auslands statt, an dem unter anderen der Vertreter der hessischen Landesregierung, der Bürgermeister von Langenhain und der Architekt des Hauses der Andacht teilnahmen. An den zwei folgenden Tagen versammelten sich rund 800 Teilnehmer zu einer europäischen Bahá’í-Konferenz, unter ihnen auch Amatul-Bahá Rúḥíyyih Khánum und sechs weitere Hände der Sache Gottes.

Die Öffentlichkeit nahm an diesen Ereignissen regen Anteil. Weihbischof Kampe des Bistums Limburg schrieb: »An der Geschichte der Bahá’í kann man den erregenden Vorgang des Entstehens einer neuen Religion ablesen. Am Anfang der Bewegung stehen mystisch begabte Persönlichkeiten. Durch den Eindruck, der von ihnen ausgeht, sammeln sie bald viele Anhänger um sich, die für ihren neuen Glauben in Tod und Kerker zu gehen bereit sind. . .«8)

In der Presse spiegelte sich die Einweihung in bunten Schlagzeilen wider. »Bahá’í-Iempel im Taunus eingeweiht«, »Weltreligion der Zukunft«, »Bahá’í-Tempel steht allen offen« — auch die Journalisten hatten sich erst an das Neue zu gewöhnen.

Es liegt auf der Hand, daß mit der Einweihung und Eröffnung des ersten Bahá’í-Hauses der Andacht auf dem europäischen Kontinent auch die deutsche Bahá’í-Gemeinde einen lange ersehnten Aufschwung verzeichnete. Für sie war es der erste große Schritt nach vorne nach den Jahren des Verbots unter der Hitler-Diktatur.9) Zwar kam der erste Bahá’í bereits im Jahre 1904 nach Deutschland; 1906 erschien die erste in deutsch von Bahá’í herausgegebene Schrift; 1913 konnte 'Abdu'l-Bahá eine große Schar begeisterter neuer Gläubiger [Seite 27] in die Arme schließen;10) und 1923 zählte der »Nationale Geistige Rat der Bahá’í in Deutschland und Österreich« mit denen der »Britischen Inseln« und »Indien und Birma« zu den ersten drei weltweit gebildeten Nationalen Geistigen Räten.11) Dennoch bedeuteten die Jahre des Verbots, des zweiten Weltkrieges und des Wiederaufbaus einen schweren Rückschlag für die Entwicklung des Glaubens in Deutschland. Umso höher ist es zu bewerten, daß das Haus der Andacht trotz aller Widrigkeiten errichtet und in den Jahren danach zum Brennpunkt aller Aktivitäten wurde.

In den seitdem vergangenen zwei Dekaden hat sich um das Haus der Andacht viel getan. Zunächst wurde nur wenige hundert Meter entfernt ein sogenanntes »Torhaus« errichtet, das das Hausmeisterehepaar beherbergt und inzwischen auch eine Ausstellung und eine gut sortierte Bücherstube bereithält. 1974 konnte ebenfalls in Sichtweite des Hauses der Andacht ein Verwaltungszentrum eingeweiht werden, das das Sekretariat des Nationalen Geistigen Rates, Abteilungen des Bahá’í-Verlages, Versammlungsräume, Archiv, Bibliothek und Wohnungen umfaßt. Nächste Etappe auf dem Weg zur Vervollkommnung des Mashriqu’l-Adhkár wird der Bau eines Bahá’í-Altenheimes sein, eine weitere große Herausforderung, der sich die deutsche Bahá’í-Gemeinde gegenübersieht.

Die künftige Entwicklung vermag am besten mit den Worten ‘Abdu’l-Bahás verdeutlicht werden: »Der Tempel ist die höchste Stiftung für die Menschenwelt; er hat viele Nebengebäude. Während der Tempel selbst die Stätte der Andacht ist, sind ihm ein Krankenhaus, eine Apotheke, ein Pilgerhaus, eine Schule für Waisen und eine Hochschule für das Studium der Wissenschaften angegliedert. Jeder Tempel ist mit diesen Einrichtungen verbunden. .. Das Mysterium des Baues ist groß und kann jetzt noch nicht enthüllt werden, aber seine Errichtung ist das wichtigste Werk dieses Tages. .. Im Mashriqu’l-Adhkár werden jeden Morgen Gottesdienste gehalten. Eine Orgel wird im Mashriqu’l-Adhkár nicht sein. In den Nebenbauten werden Feste, Gottesdienste, öffentliche Zusammenkünfte und geistige Versammlungen gehalten werden, aber im Tempel werden Lied und Gesang unbegleitet sein. Öffnet die Tore des Tempels allen Menschen!«12)

Die Gartenanlagen, die sich weiträumig um das Haus der Andacht in Langenhain erstrecken, werden ständig gepflegt und verschönt. Sie stehen der Bevölkerung zur Erholung offen. Viele Besucher nehmen an der Andacht teil, die jeden Sonntagnachmittag um 15.00 Uhr stattfindet und werfen einen Blick auf Ausstellung und Diavorführung im Kellergeschoß. Immer öfter werden für vorangemeldete Besuchergruppen ausführliche Führungen veranstaltet, immer öfter können Ausflügler und Wanderer, aber auch Schulklassen und Reisegruppen begrüßt werden. Im Laufe der Zeit hat das Bahá’í-Haus der Andacht einen festen Platz im Bewußtsein der Öffentlichkeit eingenommen, es wird akzeptiert und verstanden als Symbol der Einheit der Religionen, als Mahnmal der Friedfertigkeit und Toleranz, als Leuchtfeuer der Einheit der Völker und Nationen.

Manch ein Sucher findet hier aber auch die nötige Stille, den rechten Ort zu Besinnung und Einkehr, Andacht und Meditation. Im Innern des Kuppelbaus gilt nur das Heilige Wort, darf sich [Seite 28] menschliche Sprache nur durch Heilige Schriften Gehör verschaffen. »Es gibt materielle Dinge, die große geistige Impulse auslösen« sagt 'Abdu'l-Bahá zum Bau dieses ersten Hauses der Andacht in Europa, »der Mashriqu’l-Adhkár ist eine materielle Sache, die große Wirkungen auf das geistige Leben der Völker auslösen wird. Er ist ein Ausdruck der Erhöhung des Wortes Gottes. Die Gründung des Tempels wird eine Stufe sein zum Einzug des Reiches Gottes auf Erden.«13)


1) Am 23. September 1893 anläßlich eines Weltkongresses in Chicago
2) Siehe die umfangreiche Literatur zur Bahá’í-Geschichte, u.a.: Shoghi Effendi, Gott geht vorüber, Hofheim-Langenhain 21974
3) Siehe »Dokumentation zur Verfolgung der Bahá’í in Iran«, herausgegeben vom Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í in Deutschland
4) Bahá’í-Briefe, Heft 3, S. 63
5) Siehe die Besprechung der »Theologischen Real-enzyklopädie« in diesem Heft; sowie Udo Schaefer, Sekte oder Offenbarungsreligion?, Hofheim-Langenhain 1982
6) Zum ganzen vgl. Bahá’í-Briefe, Hefte 3, 9, 11, 17
7) Bahá’í-Briefe, Heft 17, S. 412
8) Bahá’í-Briefe, Heft 19, S. 473
9) Am 21. Mai 1937 wurde die Bahá’í-Religion durch einen Sonderbefehl des Reichsführers der SS, Heinrich Himmler, verboten; am 14. August 1945 konnten die Aktivitäten zunächst in der amerikanischen Zone wieder aufgenommen werden. Vgl. »Der Bahá’í-Glaube in Deutschland — Ein Rückblick«, Hofheim-Langenhain 1980, S. 33 ff
10) a.a.O., S. 8 ff
11) Eunice Braun, From Strength to Strength, Wilmette/Ill. 1978, S. 7; Bahá’í-World, Vol. XVI, S. 66
12) Bahá’í-Briefe, Heft 3, S. 63
13) Bahá’í-Briefe, Heft 17, S. 405


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BESPRECHUNG[Bearbeiten]

Zur Darstellung der Bahá’í-Religion in neueren theologischen Lexika


Selbst seriöse Lexika und Handbücher tun sich nicht immer leicht mit der Darstellung der Bahá’í-Religion. Gründe dafür gibt es genug: im theologischen Bereich das Skandalon eines nachchristlichen, nach-islamischen Offenbarungsanspruchs, der eo ipso an die Grundfesten der jeweiligen Glaubensüberzeugungen rührt; dadurch bedingt, eine emotionale Barriere, die verhindert, das Bahá’í-Modell einer periodischen Erneuerung und Weiterführung des Offenbarungsgeschehens zu verstehen, oder auch nur wertneutral zu beschreiben, und die Unfähigkeit, das neue Paradigma der Einheit aller Offenbarungsreligionen anders denn als synkretistische Verschleifung von Unvereinbarkeiten zu fassen. Bei Fachhistorikern führt der Mangel an eigenständiger Forschungsarbeit über die Bábí- und Bahá’í-Religionen leicht zur vorschnellen Übernahme ehrwürdiger Irrtümer angesehener Fachkollegen der Jahrhundertwende.1) Aber auch unvoreingenommenen Betrachtern fällt es oft schwer, diese religionsgeschichtlich noch junge Gemeinde — am 21. März begann für die Bahá’í das Jahr 141 ihrer Zeitrechnung — nach anderen als nur oberflächlichen Kriterien zu beurteilen, ihrer noch wenig differenzierten und elaborierten Erscheinungsform unter die Haut zu blicken.

So bleibt das Stichwort »Bahá’í« im jüngst erschienenen »Taschenlexikon Religion und Theologie«2) in seinem Erkenntniswert hinter den Erwartungen zurück, wobei man freilich einräumen muß, daß ein lexikalischer Artikel von solcher Kürze einem so komplexen Gebilde wie einer Offenbarungsreligion grundsätzlich nicht gerecht werden kann.

Neben einigen kleinen Fehlern — so hat etwa nicht, wie behauptet, Bahá’u’lláh, sondern der Báb den Anspruch erhoben, der Mahdí zu sein,3) was Bahá’u’lláh in Seinem Kitáb-i-Íqán ausdrücklich bestätigt — zeigt der gesamte Artikel eine gewisse Hilflosigkeit gegenüber den Grundanliegen dieser Religion. Dem heilsgeschichtlichen Grundmotiv der Einheit4) wird die dort gewählte Formulierung nicht gerecht: »Auf der Basis der Einheit Gottes... betont sie die Einheit der Menschheit sowie diejenige von → Religion und → Wissenschaft und fordert eine Einheitssprache.« Das gesellschaftliche Ziel der Bahá’í-Religion (»Einheit der Menschheit«) wird mit zwei beliebig herausgegriffenen und ihres Bedeutungskontextes beraubten Mitteln dazu (»Einheitssprache«, »Einheit von Religion und Wissenschaft«) auf die gleiche Ebene gestellt. Zudem scheint hier »Einheit von Religion und Wissenschaft« einen gegebenen Sachverhalt zu bezeichnen; diese Form der Aussage läßt nicht erkennen, [Seite 30] daß es sich dabei um ein normatives Programm handelt, das auf zentrale ethische und wissenschaftstheoretische Probleme unserer technischen Zivilisation zielt. Ein weiteres Mißverständnis sei hier noch exemplarisch angesprochen: Das Dogma der Gleichursprünglichkeit aller Religion in Gott und der Gedanke der unendlich fortschreitenden Offenbarungskette eines offenen heilsgeschichtlichen Prozesses wird in dem vorliegenden Artikel verkürzt auf einen in dieser Form nicht erhobenen Absolutheitsanspruch: Daß die Bahá’í lehrten, alle bisherigen Religionen hätten ihre Gültigkeit verloren, stimmt nur in bezug auf gewisse soziale und kultische Gesetze und für religiöse Organisationsformen. Es darf nicht übersehen werden, daß die Bahá’í-Lehren jede Offenbarung in zwei distinkte Bereiche scheiden: einen äußerlichen, der zeitbedingt ist und damit im Laufe der Geschichte obsolet wird. Der wesentliche, existentielle Aspekt der Offenbarung aber ist nicht der Historizität unterworfen. Bibel und Qur’án zeugen für den Bahá’í auch heute noch vom Wort Gottes, die Zehn Gebote und die Ethik der Bergpredigt etwa werden durchaus als gültig anerkannt. Wie wären die Bahá’í auch sonst in der Lage, den offenen freundschaftlichen Dialog mit den Anhängern anderer Religionen zu führen, der ihnen von Bahá’u’lláh aufgetragen ist!

Von völlig anderem Charakter ist der Artikel »Baha’ismus« im Band 5 der »Theologischen Realenzyklopädie« (TRE).5) Die TRE ist der ambitionierte Versuch einer Gesamtdarstellung des zeitgenössischen theologischen Wissens. Von den 25 Bänden, mit denen die Enzyklopädie in ungefähr einem Jahrzehnt abgeschlossen sein dürfte, sind bislang zwölf erschienen.

Für das Stichwort »Baha’ismus« konnten die Herausgeber Fereydun Vahman gewinnen. Was hier auf 18 Seiten vorgelegt wird, ist eine einfühlsame und in dieser Form neuartige Würdigung der Bahá’í-Religion. In der Aufbereitung der gegebenen Informationen übertrifft diese Darstellung noch die recht guten Artikel der »Encyclopaedia of Islam«6), der »Enciclopedia Cattolica«7) und der »Encyclopaedia Britannica«8).

Der erste Teil des Artikels gibt einen historischen Abriß der Entwicklung der Bábí- und Bahá’í-Religionen, gegliedert in die Abschnitte »Islamische Eschatologie«, »Shaykhí-Bewegung«, »Der Báb«, »Bahá’u’lláh«, »'Abdu'l-Bahá«, »Shoghi Effendi und die weitere Entwicklung«. Für den historisch interessierten Leser sei hier angemerkt, daß nach Publikation dieses Artikels eine Anzahl von Detailstudien zu einzelnen Gestalten, Aspekten und Zeitabschnitten der Bahá’í-Geschichte erschienen sind.9)

[Seite 31] Daß die Angaben zur Ausbreitung der Bahá’í-Religion überholt sind, liegt nicht am Autor, sondern an der expansiven Dynamik dieser Religion. Waren es 1977 noch 124 Nationale Geistige Räte (die gewählten nationalen Führungsgremien der Bahá’í), so zählte die offizielle Statistik im Januar 1983 bereits 133 Nationale Geistige Räte. Im selben Zeitraum ist auch die Zahl der Orte, an denen Bahá’í leben, von 70 000 auf etwa 115 000 gestiegen. Ein weiterer wichtiger Indikator für die Entwicklung der Bahá’í-Gemeinde, der im Artikel nicht genannt wird: Die Zahl der örtlichen Geistigen Räte (gewählte lokale Führungsgremien der Bahá’í) betrug 1983 etwa 25 000; 1973 waren es 17 000, 1964 erst 4 500. Inzwischen sehen auch zwei weitere Bahá’í-Häuser der Andacht, in Samoa und New Delhi, Indien, ihrer Vollendung entgegen.10)

Der Abschnitt zur Theologie der Bahá’í-Religion setzt seine Schwerpunkte auf die Heilsgeschichte und auf die Beziehung zwischen Gott und Mensch. Hier liegen auch die theologischen Charakteristika dieser Religion: Wie nirgends sonst wird in den heiligen Schriften der Bahá’í-Religion die notwendige Mittlerrolle des Gottgesandten und Religionsstifters betont, die Heilsgeschichte als unendliche Kette von Theophanien in Gestalt dieser Mittler gesehen.

Etwas knapp geraten sind die Bemerkungen über das gesellschaftliche Ziel der Bahá’í-Religion, zu dem, was 'Abdu'l-Bahá das »zentrale Thema«11) der Religion Seines Vaters nennt: die Einheit der Menschheit. In der Geschichtsphilosophie Shoghi Effendis wird die gesamte Menschheitsgeschichte auf dieses Ziel hin interpretiert. Es geistig, psychologisch, aber auch institutionell und technisch möglich zu machen, ist ein Hauptauftrag der Bahá’í. Allerdings entspricht bislang die intellektuelle Auseinandersetzung der Bahá’í mit diesem Thema nicht einmal entfernt seiner Bedeutung: Die Sekundärliteratur begnügt sich zumeist mit einer variierenden Wiederholung des von Bahá’u’lláh, 'Abdu'l-Bahá und Shoghi Effendi Gesagten.12)

Der Abschnitt über die Ordnung der Gemeinde verdankt offensichtlich viel der — leider noch immer unveröffentlichten — Dissertation von Udo Schaefer13). Er begnügt sich nicht mit einer bloßen Deskription der gewählten und ernannten Körperschaften des Glaubens, sondern gründet diese Institutionen in einer Offenbarungstheorie des Rechts. Daß die Bahá’í-Gemeinde grundsätzlich Rechtsgestalt hat, daß deren Quelle das schriftlich fixierte offenbarte Wort ist, gibt der Gemeinde eine eigentümliche Stellung unter den Religionssystemen.

Zum Ende des Artikels wird das Wagnis einer religionswissenschaftlichen Einordnung der Bahá’í-Religion versucht. So problematisch es mir grundsätzlich erscheint, religionswissenschaftliche Begriffe aus dem beschränkten Erfahrungshorizont des konfessionell aufgespaltenen christlichen Kulturkreises auf andere religiöse Gebilde übertragen zu wollen, so zeigt Vahman immerhin plausibel, daß der traditionelle soziologische Sektenbegriff auf die Bahá’í-Religion nicht anwendbar ist.14) [Seite 32] Sein Fazit: »Angesichts der Tatsache, daß der Baha’ismus sich an die gesamte Menschheit wendet und bereits in den meisten Ländern der Erde Fuß gefaßt hat, kann er schon heute den Weltreligionen zugerechnet werden.«

Einige weitere behandelte Aspekte betreffen Symbolik, Kult und die Eigenart des Bahá’í-Kalenders. Insgesamt ein Artikel der zuverlässig orientiert und auf die wichtigste weiterführende Literatur verweist.

Ulrich Gollmer


1) So fußen noch manche Darstellungen der letzten Jahre weitgehend auf den Arbeiten von Gobineau, Browne, Nicolas und Roemer, ohne diese anhand neueren Materials kritisch zu überprüfen.
2) Erwin Fahlbusch (Hrg.), 41983, in 5 Bänden erschienen bei Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen, Bd.1
3) Kitáb-i-Asmá’ 16:18, 17:4; Pers. Bayán 9:3, 8:17
4) Vgl. etwa Bahá’u’lláh, Botschaften aus ‘Akká, Hofheim-Langenhain 1982, 6:30, 8:58, 11:9, 11:15, 7:16, 15:4, 8:63; Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá’u’lláhs, Hofheim-Langenhain 1977, bes. S. 60-71, 295ff
5) Erschienen 1979 im Verlag Walter de Gruyter, Berlin.
6) New Edition (EI2), Leyden/London 1954ff. Deutsche Übersetzungen dieser Artikel von Alessandro Bausani finden sich in den Bahá’í-Briefen 15, S. 365ff (»Der Báb«), 16. S. 399ff (»Bahá’u’lláh«), 18, S. 445ff (»Die Bahá’í«) und 20, S. 495ff (»Die Bábí«).
7) Città del Vaticano, 1948—1954
8) Chicago/London/Toronto, seit der 15. Auflage 1974. Die deutsche Übersetzung dieses Artikels von Firuz Kazemzadeh wurde 1979 im Bahá’í-Verlag, Hofheim-Langenhain, veröffentlicht.
9) Die wichtigsten sind: H. M. Balyuzi, Bahá’u’lláh, The King of Glory, Oxford 1980; Moojan Momen (Hrsg.), The Bábí and Bahá’í-Religions, 1844-1944, Some Contemporary Western Accounts, Oxford 1981; ders. (Hrsg.), Studies in Bábí and Bahá’í History, Vol. 1, Los Angeles 1982; Gayle Morrison, To Move the World. Louis G. Gregory and the Advancement of Racial Unity in America, Wilmette 1982; David Hofman, George Townshend, Oxford 1983. Von Adib Taherzadeh sind 1977/1983 Bd. 2 (1863—1868) und Bd. 3 (1868—1877) seiner Offenbarungs- und Werkübersicht The Revelation of Bahá’u’lláh erschienen.
10) Siehe dazu Christopher Sprung, Bahá’í-Haus der Andacht 1964—1984, in diesem Heft.
11) Die Weltordnung Bahá’u’lláhs, a.a.O., S. 60
12) Zu den erfreulichen Ausnahmen gehört: Hossain Danesh, The Violence-Free Society: A Gift for our Children, Bahá’í Studies Vol. 6, 1979
13) Die Grundlagen der »Verwaltungsordnung« der Bahá’í, Heidelberg 1957
14) Dazu ausführlich: Udo Schaefer, Sekte oder Offenbarungsreligion? Zur religionswissenschaftlichen Einordnung des Bahá’í-Glaubens, Hofheim-Langenhain 1982



Religion ist der Ausdruck der göttlichen Wirklichkeit. Deshalb muß sie lebendig, kraftvoll, beweglich sein und sich entwickeln. Ermangelt ihr Bewegung und Fortschritt, so ist sie ohne das göttliche Leben; sie ist tot.
Die göttlichen Gesetze sind beständig wirksam und in Entwicklung begriffen. Deshalb muß ihre Offenbarung fortschreitend und kontinuierlich sein.
'Abdu'l-Bahá


Promulgation, S. 140