Bahai Briefe/Heft 46/Text

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BAHA'I-

BRIEFE


BLÄTTER FÜR

WELTRELIGION UND

WELTBEWUSSTSEIN




'Abdu'l-Bahá
zur 50. Wiederkehr
Seines Todestages



Heft 46 Oktober 1971


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'Abdu'l-Bahá


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Die Einheit und das Bündnis Bahá’u’lláhs[Bearbeiten]

Ansprache ‘Abdu’l-Bahás vom 16. September 1912 in Chikago


Alláh’u’Abhá! Preis sei Gott! Einige Tage habe ich nun mit Ihnen verbracht und war in duftender Liebe mit Ihnen zusammen. Preis sei Gott! Ihre Herzen sind rein, Ihre Angesichter strahlen, Ihr Geist ist beschwingt von den Frohen Botschaften Gottes. Ich bete für Sie und suche himmlische Bestätigung für Sie, auf daß jeder von Ihnen zu einer leuchtenden Kerze werde, die ihr Licht in die Menschenwelt ergießt. Möge jeder von Ihnen zur Quintessenz der Liebe werden! Mögen Sie sich als der Strahlenglanz Gottes erweisen, erfüllt von der Kraft des Heiligen Geistes, und als Quell der Einheit und der Kameradschaft in der Menschenwelt; denn die Menschheit leidet heute größten Mangel an Liebe und Übereinstimmung. Sollte die Welt so bleiben, wie sie heute ist, käme sie in schlimme Gefahr; wenn jedoch Versöhnung und Einheit festzustellen sind, wenn Sicherheit und Vertrauen fest begründet werden, wenn wir uns mit Herz und Seele Mühe geben, damit die Lehren Bahá’u’lláhs die Wirklichkeiten der menschlichen Gesellschaft kraftvoll durchdringen, damit sie Kameradschaft und Einklang bewirken, die Herzen der verschiedenen Bekenntnisse aneinanderbinden und die auseinanderstrebenden Völker vereinen — dann erlangt die Menschheit Frieden und innere Ruhe, dann wird der Wille Gottes zum Willen des Menschen, und die Erde verwandelt sich in eine Wohnstatt von Engeln. Die Seelen werden herangebildet, die Laster verbannt, die Tugenden der Menschenwelt gewinnen die Oberhand, der Materialismus verschwindet, die Religion wird gefestigt und erweist sich als diejenige Bindung, welche die Herzen der Menschen aneinanderfügt.

In der Welt des Seins gibt es verschiedene Bindungen, welche die Menschenherzen vereinen; aber keine dieser Bindungen wirkt vollkommen. Zuallererst haben wir die Bindung der Familienbeziehungen; sie führen zu keiner wirksamen Einheit, denn wie oft geschieht es doch, daß Meinungsverschiedenheiten und Abweichungen dieses enge gesellschaftliche Band zerreißen. Die Bindung der Vaterlandsliebe kann Kameradschaft und Übereinstimmung vermitteln; aber die Einheit der Abstammung schweißt Menschenherzen nicht völlig aneinander, denn wenn wir auf die Geschichte zurückblicken, stellen wir fest, daß häufig Menschen derselben Rasse und Abstammung miteinander Krieg geführt haben. In Bürgerkriegen haben sie das Blut derselben Rasse vergossen und die Habe ihrer eigenen Landsleute vernichtet. Deshalb ist diese Bindung ungenügend. Ein weiteres Mittel scheinbarer Einheit ist die Bindung von politischen Allianzen, in denen sich Regierungen und Herrscher aus Gründen des wechselseitigen Verkehrs und des gegenseitigen Schutzes zusammenschließen; solche Pakte und Vereinigungen sind jedoch späteren Veränderungen unterworfen; oft entsteht grimmiger Haß bis zum Äußersten, bis zu Krieg und Blutvergießen. Offenbar ist politische Einheit nicht ständig wirksam.

[Seite 1327] Die Quelle vollkommener Einheit und Liebe in der Welt des Seins ist die Bindung und Einheit, die von der Wirklichkeit herrührt. Wenn die göttliche, die grundlegende Wirklichkeit in das Herz und das Leben der Menschen einzieht, bewahrt und schützt sie alle Zustände und Verhältnisse der Menschheit; sie errichtet jene innere Einheit der Menschenwelt, die nur durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes ins Dasein tritt. Denn der Heilige Geist ist wie das Leben im menschlichen Körper, das alle Unterschiede der Teile und Glieder zu Einheit und Übereinstimmung verbindet. Schauen Sie nur, wie zahlreich diese Teile und Glieder sind, aber die Einheit des Lebensgeistes, der den Organismus beseelt, verbindet sie alle in vollkommener Kombination. Dieser Lebensgeist errichtet im körperlichen Organismus eine solche Einheit, daß wenn irgendein Teil verletzt oder krank wird, alle anderen Teile und Funktionen sympathetisch darauf eingehen und dank der vollkommenen Einheit, die den Körper beseelt, mitleiden. Wie nun der menschliche Lebensgeist die wechselseitige Abstimmung zwischen den verschiedenen Teilen des menschlichen Organismus bewirkt, so ist der Heilige Geist die steuernde Ursache der Einheit und des Zusammenwirkens der Menschheit. Das will besagen: Die Bindung oder Einheit der Menschheit kann auf keine andere Weise wirksam errichtet werden als durch die Macht des Heiligen Geistes; denn die Menschenwelt ist ein organisch zusammengesetzter Körper, und der Heilige Geist ist das beseelende Prinzip seines Lebens.

Deshalb müssen wir uns bemühen, daß die Macht des Heiligen Geistes in der gesamten Welt der Menschheit wirksam wird, daß sie dem Gesellschaftsorganismus der Nationen und Völker neues, erfrischendes Leben einflößt und daß alle zum Schutz und Schirm des Wortes Gottes hingeführt werden. Dann wird diese Welt des Menschen engelsgleich werden, irdisches Dunkel wird verschwinden und himmlische Erleuchtung wird die Horizonte überfluten, menschliche Fehler werden getilgt und göttliche Vollkommenheiten leuchten auf. Dies ist machbar und real, aber nur durch die Macht des Heiligen Geistes. Der dringendste Bedarf, den die Welt von heute hat, ist der Bedarf an beseelender, einender Gegenwart des Heiligen Geistes. So lange dieser Geist nicht wirksam wird, so lange er nicht unmittelbar und wechselseitig die Herzen und die Geister durchdringt, so lange nicht vollkommener, vernünftiger Glaube in das Bewußtsein der Menschen hineingepflanzt wird, kann der Gesellschaftskörper unmöglich von Sicherheit und Vertrauen in die Zukunft erfüllt sein. Nein, im Gegenteil: Feindschaft und Streit werden Tag für Tag zunehmen, die Differenzen und das Auseinanderstreben der Nationen werden schmerzhaft anwachsen. Die Rüstungen der Land- und Seestreitkräfte der Welt werden ständig erhöht, die Furcht, ja die Gewißheit eines großen, weltweiten Krieges — eines Krieges, der nicht seinesgleichen in der Geschichte kennt — wird sich steigern; denn die Rüstungen, die bislang begrenzt waren, werden jetzt in kolossalem Umfang erhöht. Die Verhältnisse spitzen sich zu und nähern sich dem Zustand, daß sich die Menschen auf den Meeren bekriegen, daß sie sich auf den Feldern bekriegen, daß sie sich sogar in der Atmosphäre bekriegen, mit einer Gewalttätigkeit, wie sie in früheren Jahrhunderten unbekannt war. Mit dem Anwachsen der Rüstungen und Vorbereitungen werden die Gefahren immer größer.

[Seite 1328] Wir müssen uns bis zum Äußersten anstrengen, damit der Heilige Geist die Gemüter und die Herzen zum Frieden hin beeinflußt, damit die Segnungen Gottes die Menschen umfangen, die göttlichen Ausstrahlungen Erfolg zeitigen, die Menschenseelen Fortschritte machen, das Bewußtsein sich zu größeren Vorstellungen erweitert, die Seelen heiliger werden und die Menschenwelt sich aus dieser großen Gefahr befreit. Für die Verbesserung der Welt hat Seine Heiligkeit Bahá’u’lláh alle Leiden, Heimsuchungen und Wechselfälle des Lebens erduldet, hat Sein ganzes Sein geopfert, hat Seinen Wohlstand, Seine Ländereien, Seinen Besitz, Seine Ehre hingegeben — alles, was zum menschlichen Dasein gehört — und das nicht ein Jahr lang, sondern fast fünfzig Jahre hindurch. In dieser langen Zeit wurde Er verfolgt und mißhandelt, in den Kerker geworfen, aus Seinem Vaterland verbannt; Er nahm Härten und Erniedrigungen auf sich und wurde viermal weitervertrieben. Zuerst wurde Er aus Persien nach Baghdad verbannt, dann nach Konstantinopel, von dort nach Rumelien und schließlich in die große Gefängnisfestung von ‘Akká in Syrien, wo Er den Rest Seines Lebens verbrachte. Jeden Tag wurde Er mit neuer Unterdrückung und Mißhandlung überhäuft, bis Er Seinen Flug aus dem Kerker in die höhere Welt nahm und zu Seinem Herrn zurückkehrte. Er erduldete diese Leiden und Schwierigkeiten, damit diese irdische Menschenwelt himmlisch werde, damit die Erleuchtung des Reiches Gottes in den Menschenherzen zur Wirklichkeit werde, damit die einzelnen Mitglieder der menschlichen Gesellschaft Fortschritte machen, damit die Macht des Heiligen Geistes stärker wirke und alles durchdringe und damit das Glück der Menschenwelt sichergestellt sei. Für alle wünschte Er äußere und innere Ruhe, und allen Nationen erwies Er Güte, ungeachtet ihrer besonderen Verhältnisse und ihrer Unterschiede. Er wandte sich an die Menschheit und sprach: „O ihr Menschenkinder! Wahrlich, ihr seid alle die Blätter und Früchte eines Baumes, ihr seid alle eins. Deshalb vereinigt euch in Freundschaft! Liebet einander! Gebt rassische Vorurteile auf! Vertreibt für immer dieses schwermütige Düster menschlicher Unwissenheit, denn das Jahrhundert des Lichtes, die Sonne der Wirklichkeit ist erschienen! Jetzt ist die Zeit der Verbrüderung, der Einheit und des Einklangs. Tausende von Jahren hindurch habt ihr euch bekriegt und gestritten. Es ist genug damit. Jetzt ist es an der Zeit für die Einheit. Legt alle selbstischen Interessen beiseite und erkennet mit Sicherheit, daß alle Menschen die Diener eines einzigen Gottes sind, der sie in Liebe und Einklang aneinander bindet.“

Da in der ganzen Vergangenheit große Unterschiede und Abweichungen bei den Glaubensbekenntnissen aufgetreten sind, weil jeder Mensch, der eine neue Idee hatte, sie Gott beilegte, hat Seine Heiligkeit Bahá’u’lláh gewünscht, es solle keine Ursache, keinen Grund für Meinungsverschiedenheiten unter den Bahá’í geben. Deshalb hat Er mit eigener Feder das Buch Seines Bündnisses geschrieben, in dem Er Seine Verwandten und alle Völker der Welt anredet mit den Worten: „Wahrlich, Ich habe Einen zum Mittelpunkt Meines Bündnisses ernannt. Alle müssen Ihm gehorchen. Alle müssen sich Ihm zuwenden. Er ist der Ausleger Meines Buches, Er weiß über Meine Absicht Bescheid. Alle müssen sich Ihm zuwenden. Was immer Er sagt, ist richtig, denn wahrlich, Er kennt die Texte Meines [Seite 1329] Buches. An Ihm vorbei kennt keiner Mein Buch.“ Der Zweck dieser Erklärung ist, daß es niemals Mißklang und Abweichungen zwischen den Bahá’í geben soll, daß sie immer einig und verträglich seien. Auch sagte Bahá’u’lláh in Seinen Gebeten: „O Gott! Wer immer Mein Bündnis verletzt, o Gott, erniedrige ihn! Wahrlich, wer immer Mein Bündnis verletzt, o Gott, lösche ihn aus und tilge ihn!“ In allen Seinen Sendschreiben, unter denen das Sendschreiben vom Zweig ist, hat Er die Kennzeichen und Eigenschaften derjenigen Persönlichkeit, auf die Er sich im Buch Seines Bündnisses bezog, erwähnt und erläutert. Er hat die Aufgabe und die Wirkkraft dieser Persönlichkeit voll dargelegt, so daß keiner sagen kann: „Ich verstehe die Schriften Bahá’u’lláhs dahingehend ...“, denn Er hat den Mittelpunkt oder Ausleger des Buches ernannt. Er sagte: „Wahrlich, Er ist der Ernannte; außer Ihm gibt es keinen“; damit beabsichtigte Er, daß keine Sekten oder Vorurteile gebildet werden, und verhinderte, daß jeder Mensch, der hier und da einen neuen Gedanken hat, Zwietracht und Widerspruch schafft. Es ist, als ob ein König einen Generalgouverneur ernannte. Wer diesem gehorcht, gehorcht dem König. Wer sein Gebot verletzt und ihm nicht gehorcht, verletzt das Gebot des Königs. Wer deshalb dem von Bahá’u’lláh ernannten Mittelpunkt des Bündnisses gehorcht, der gehorcht Bahá’u’lláh, und wer Ihm nicht gehorcht, der gehorcht Bahá’u’lláh nicht. Das hat nichts mit ihm persönlich (mit ‘Abdu’l-Bahá) zu tun; es ist wie bei dem Generalgouverneur, den der König ernannt hat: Wer dem Generalgouverneur gehorcht, gehorcht dem König, und wer dem Generalgouverneur nicht gehorcht, gehorcht dem König nicht.

Deshalb müssen Sie die Sendschreiben Bahá’u’lláhs lesen; Sie müssen das Sendschreiben vom Zweig lesen und beachten, was Er so klar feststellt. Geben Sie Acht, geben Sie Acht, damit ihnen keiner aus der Autorität seiner eigenen Gedanken spricht oder aus sich selbst heraus neue Dinge schafft! Geben Sie Acht, geben Sie Acht! Nach dem deutlichen Bündnis Bahá’u’lláhs sollen Sie sich überhaupt nicht um einen solchen Menschen kümmern. Seine Heiligkeit Bahá’u’lláh meidet solche Seelen. Ich habe Ihnen diese Dinge erklärt, damit die Lehren Bahá’u’lláhs bewahrt und geschützt bleiben, damit Sie im Bilde sind, damit nicht irgendwelche Seelen Sie täuschen und Argwohn unter Ihnen wecken. Sie müssen alle Menschen lieben; aber wenn irgendwelche Seelen Sie in Zweifel bringen wollen, müssen Sie wissen, daß Bahá’u’lláh von diesen Seelen geschieden ist. Wer immer für Einheit und Kameradschaft arbeitet, ist ein Diener Bahá’u’lláhs, und Bahá’u’lláh ist sein Beistand und Helfer. Ich bitte Gott, Er möge Sie zu den besten Werkzeugen der Übereinstimmung und der Einheit machen, Er möge Sie strahlende, barmherzige, himmlische Kinder des Reiches Gottes werden lassen. Ich bete, daß Sie Tag für Tag Fortschritte machen, daß Sie leuchten wie diese Lampen und Licht auf die ganze Menschheit ergießen. Meinen Gruß zum Abschied, leben Sie wohl!


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Abschiedsansprache im Haus von Frau Corinne True, nach Aufzeichnungen von Gertrude Buikema, aus „The Promulgation of Universal Peace“, Vol. II, Wilmette/Ill. 1922/1943, S. 314 ff.


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‘Abdu’l-Bahá


Als Er von uns geschieden, Gottes Wort,
das neue Menschen schafft und neue Zeiten,
weit klaffte da verwaistes Hier zum Dort.
So rief Er Dich, um unseren Weg zu leiten.


Dein Wesen ist dem Seinen so vermählt
als mildes Licht von Seinem ewigen Glanze,
daß Du, der Meister, von Ihm auserwählt,
ein Weiser warst für alle, für das Ganze.


Wie wär’ die Welt geworden ohne Dich?
Du lebst in uns, Du bist uns nie entschwunden.
Dein Vorbild, menschvollendet, königlich,
ist heilig unserem Innersten verbunden.


An Deinem Beispiel ringen wir uns frei.
Von Deinen Lippen trinken wir die Lehren.
Durch Deine Liebe und durch Dein Verzeih
erahnen wir des Himmels reine Sphären.


Wie danken wir, die wir von Dank beschwert,
erfüllt, erhoben und emporgerissen? —
O Freunde, laßt uns Seiner Liebe wert
das Leben leben, das wir von Ihm wissen!


Adelbert Mühlschlegel


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'Abdu'l-Bahá: Mittelpunkt des Bündnisses[Bearbeiten]

Zur fünfzigsten Wiederkehr Seines Todestages am 28. Nov. 1971


Die Bahá’í-Welt hätte zur diesjährigen Feier des „Tags des Bündnisses“ am 26. November und des Todestags ‘Abdu’l-Bahás am 28. November kaum ein größeres Geschenk erwarten können als das neue Buch von H. M. Balyuzi, Hand der Sache Gottes, über „'Abdu'l-Bahá, der Mittelpunkt des Bündnisses Bahá’u’lláhs“ 1). Auf 537 Seiten wird das Leben des „Meisters“ in einer Ausführlichkeit dargestellt, für die es im abendländischen Sprachbereich kein Vorbild gibt. Wir können uns hier einen Abriß dieses Lebenslaufes erübrigen, nachdem wir in Heft 45 / Juli 1971 der „BAHA’I-BRIEFE“ (Seite 1295 ff.) Allen L. Ward darüber eingehend haben zu Wort kommen lassen. Das Buch von Balyuzi soll uns vielmehr Anlaß sein, einige wichtige Episoden nachzuzeichnen und Schwerpunkte hervorzuheben.

Im ersten Kapitel, „Der Meister“, faßt Balyuzi die Urteile der Zeitgenossen ‘Abdu’l-Bahás wie folgt zusammen:

„Hier liegt ein Leben vor uns, das überströmend, weiträumig, unermeßlich ist. Es läßt sich nicht angemessen beschreiben; es läßt sich nicht umfassen. Es liegt jenseits unseres Urteilsvermögens, weil jedes Ereignis im Leben des Sohnes Bahá’u’lláhs von der höchsten Warte her bestimmt wird. Acht Jahre war Er alt, als Er in den Kerker von Tihrán gebracht wurde und dort Seinen geliebten Vater unter der Last der Ketten sah. Von diesem zarten Alter an bis zu der Stunde, da Er mit 77 Jahren nach vollbrachter Arbeit Seine sterbliche Hülle verließ, führte ‘Abdu’l-Bahá ein Leben völliger Selbstverleugnung, ein Leben ununterbrochenen, uneingeschränkten Dienstes an Gott und der Menschheit. Auf diesem Felde der Ehre scheute Er keine Mühe und keine Qual. Bahá’u’lláh verlieh Ihm die Titel ‚der Größte Zweig‘, ‚das Geheimnis Gottes‘, ‚der Meister‘. Als aber der Mantel der Autorität auf Seine Schultern gelegt war, zog Er vor, ‘Abdu’l-Bahá, der Diener Bahás, zu heißen.

‘Abdu’l-Bahá trauerte mit den Trauernden, den Heimgesuchten und Leidgeprüften, in tiefem Mitleid. Er freute sich mit den wahrhaft Fröhlichen. Tausende drängten zu Seiner Tür, um Hilfe zu suchen. Manche davon suchten irdische Güter. Aber viel mehr strebten nach der Hilfe, die nur die Gaben des Geistes leihen können. Ihnen allen gab ‘Abdu’l-Bahá freizügig und im Überfluß. Keiner fand Seine Tür verschlossen. Keiner wurde abgewiesen. Keiner verließ Seine Gegenwart mit leeren Händen. Er wartete nicht nur darauf, daß die Unterdrückten, die Verirrten und Gestrauchelten zu Ihm kämen. Er ging hinaus, um sie zu finden und ihnen zu helfen. Auch die Gebildeten und die Weisen kamen zu Ihm und tranken tief aus dem Brunnquell Seines Wissens. Herrscher und Potentaten, Staatsmänner und Generäle, die Mächtigen und die Großen kamen desgleichen und fanden in ‘Abdu’l-Bahá einen Ratgeber, dessen Beweggründe edelmütig und interessenfrei waren.

[Seite 1332] Man täuscht sich, wenn man diese Beschreibung für ein vollständiges, umfassendes Porträt ‘Abdu’l-Bahás hält. Was wir bis hierher von Ihm gesagt haben, läßt sich auch über die Heiligen und Propheten aller Zeitalter sagen. Keine Beschreibung reicht jedoch an das Leitmotiv eines Lebens heran, das jedes Hindernis übersteigt, bis es sich völlig erfüllt hat. Ein Beobachter bemerkte einst, ‘Abdu’l-Bahá wandle ‚den mystischen Pfad mit praktischen Füßen‘. Dr. T. K. Cheyne, der gefeierte Bibelgelehrte und Kritiker, sprach von Ihm als dem ‚Botschafter an die Menschlichkeit‘.“

Balyuzi zitiert Edward Granville Browne, den Cambridger Orientalisten, Thornton Chase, den ersten amerikanischen Bahá’í, Horace Holley, Howard Colby Ives und andere prominente Zeitgenossen, die ‘Abdu’l-Bahá begegnet sind und tief von Ihm beeindruckt waren.


Der erste Vertraute Seines Vaters

Die Einzigartigkeit der Erziehung, die dem jungen Abbas zuteil wurde, übersteigt unser Begriffsvermögen. In eine der vornehmsten persischen Familien hineingeboren, deren Oberhaupt, Bahá’u’lláh, sich spontan für die Sendung des Báb erklärt hatte, fand der kleine Abbas bereits in zartester Kindheit reiche Anregungen. In Seinem Elternhaus gingen die bedeutendsten Männer und die geistigen Führer der Bábi ein und aus. Eine Erkrankung des Siebenjährigen an Tuberkulose, die Ihm zeitlebens zu schaffen machte, verhinderte, daß Er während der schlimmsten Verfolgungen von den Eltern getrennt und aufs Land gebracht wurde. Der Besuch im Kerker, wo Bahá’u’lláh in dieser Zeit Seine Berufung erlebte, prägte den Achtjährigen unauslöschlich. „Seine Haltung Bahá’u’lláh gegenüber war nicht nur die eines Sohnes zu seinem Vater. Sie drückte eine höhere Stufe der Verehrung, einen würdevolleren Gehorsam aus. Der Báb sagt, der erste, der an eine Manifestation Gottes glaube, verkörpere die Errungenschaften der vorangegangenen Sendung Gottes. So war ‘Abdu’l-Bahá, der erste, der mit Seinem ganzen Wesen an die Sendung Seines Vaters glaubte, der bedeutendste Vertreter aller Tugenden, die der Báb gefordert hatte. Er sollte demzufolge ‚die Verkörperung jeglichen Bahá’í-Ideals, die Fleischwerdung jeder Bahá’í-Tugend‘ sein“ (S. 13). Tatsächlich war sich ‘Abdu’l-Bahá bereits als Zwölfjähriger um 1856, sieben Jahre vor der öffentlichen Erklärung Bahá’u’lláhs, der Sendung Seines Vaters voll bewußt.

„In Adrianopel offenbarte Bahá’u’lláh ein Sendschreiben, dessen Bedeutung nicht überschätzt werden kann, die Súriy-i-Ghusn (Sure vom Zweig)... Darin preist Er Seinen ältesten Sohn wie folgt:

‚Dem Sadratu’l-Muntahá’2) ist dieses heilige, ruhmreiche Wesen, dieser Zweig der Heiligkeit entsprossen; wohl dem, der Seinen Schutz sucht und in Seinem Schatten weilt. Wahrlich, der Ast des Gesetzes Gottes ist aus dieser Wurzel entsprungen, die Gott fest in den Grund Seines Willens pflanzte und deren Zweig Er so hoch hebt, daß er die ganze Schöpfung umfängt. Verherrlicht sei Er darum für dieses hehre, dieses gesegnete, dieses mächtige, dieses hocherhabene Werk! Ein Wort ist, als Zeichen [Seite 1333] Unserer Gunst, von dem Größten Sendschreiben ausgegangen — ein Wort, das Gott mit dem Schmuck Seines eigenen Selbstes zierte, das Er zum Herren über die Erde machte, über alles, was darinnen ist, und zum Merkmal Seiner Größe und Macht unter ihrem Volk ... Danke Gott, o Volk, für Sein Erscheinen; denn wahrlich, Er ist die größte Gnade für dich, die vollkommenste Segengabe, und jedes modernde Gebein wird durch Ihn belebt. Wer sich Ihm zuwendet, hat sich Gott zugewandt, und wer sich von Ihm abkehrt, hat sich von Meiner Schönheit abgekehrt, hat Meinen Beweis verworfen und sich gegen Mich vergangen. Er ist der Vertraute Gottes unter euch, Sein Pfand in euch, Seine Offenbarung für euch und Sein Erscheinen unter Seinen begünstigten Dienern ... Wir haben Ihn herabgesandt in der Gestalt eines menschlichen Tempels. Gepriesen und geheiligt sei Gott, der durch Seinen unumstößlichen, unfehlbaren Ratschluß werden läßt, was immer Er wünscht. Wer nicht im Schatten des Zweiges bleibt, der ist verloren in der Wüste des Irrtums. Die Glut weltlicher Wünsche zehrt ihn auf, und er gehört zu denen, die sicherlich untergehen‘3).

Eindeutig erklärt Bahá’u’lláh die erhabene Stufe Seines geliebten Sohnes in diesen ergreifenden Worten. Streng und flammend ist Bahá’u’lláhs Gebot, daß Sein Sohn Mittelpunkt der Verehrung jedes Bahá’í sein muß. Schonungslos verurteilt er jene, „die sich vom Größten Zweig abkehren“ (S. 22 f.).

Den Memoiren von Hájí Mirzá Haydar-‘Alí, einem der verdientesten Bahá’í-Lehrer des ersten Bahá’í-Jahrhunderts, entnimmt Balyuzi folgende Aufzeichnung über ein Gespräch, in dem Bahá’u’lláh die Lehrmethode ‘Abdu’l-Bahás als beispielhaft hervorhebt. Danach sagte Bahá’u’lláh:

„Eine gefällige, freundliche Sinnesart und geübte Toleranz den Menschen gegenüber sind Vorbedingungen für das Lehren der Sache Gottes. Was immer jemand sagt, sei es auch noch so belanglos, ein Produkt leerer Vorstellungen, ein papageienhaftes Nachplappern der Ansichten anderer — man sollte es hingehen lassen. Keinesfalls sollte man sich auf einen Wortstreit einlassen, der zu halsstarriger Ablehnung und zu Feindseligkeit führt und damit aufhört; denn der andere würde sich überwunden und besiegt fühlen. Die Folge wäre, daß weitere Schleier zwischen ihn und die Sache Gottes treten und daß er nur noch achtloser wird. Man sollte sagen: Richtig, zugegeben, aber nun schauen Sie die Frage einmal von dieser anderen Seite her an und urteilen Sie selbst, ob das wahr oder falsch ist. Natürlich sollte man dies höflich, freundlich, überlegt dartun. Dann wird der andere zuhören, wird keine Erwiderung suchen und wird sich nicht Beweisgründe für seine ablehnende Haltung zurechtrücken. Er wird zustimmen, weil ihm klar wird, daß man nicht die Absicht hatte, Wortgefechte zu führen und ihm gegenüber die Oberhand zu gewinnen. Er sieht, daß man bestrebt ist, das Wort der Wahrheit mitzuteilen, Menschlichkeit zu zeigen, himmlische Eigenschaften vorzuweisen. Seine Augen und seine Ohren öffnen sich, sein Herz gibt Antwort, seine wahre Natur entfaltet sich, und mit der Gnade Gottes wird er zu einem neuen Geschöpf ... Der Größte Zweig leiht sein Ohr willig jeder Art von leerem Gerede in [Seite 1334] solchem Maße, daß der andere sich selber sagt: Er versucht, etwas von mir zu lernen. Dann, nach und nach, mit Mitteln, die der andere nicht wahrnimmt, vermittelt Er ihm Einsicht und Verständnis“ (S. 27, 4))).


Eine schwere Führungskrise

Wo viel Licht ist, fallen die Schatten besonders scharf. Trotzdem bleibt es kaum verständlich, wie in den Jahren nach dem Heimgang Bahá’u’lláhs eine so schwere Führungskrise die junge Glaubensgemeinschaft befallen konnte. Hatte Bahá’u’lláh nicht ein klares Testament, die „Rote Arche“ Seines Bündnisses, hinterlassen? (S. 50). Waren diesem Testament nicht Hunderte von schriftlichen und mündlichen Hinweisen auf ‘Abdu’l-Bahá als den Mittelpunkt des Bündnisses vorangegangen? War nicht die Frühgeschichte des Islam den Bahá’í, die großenteils dem schiitischen Islam entsprossen waren und sich in dieser Geschichte auskennen mußten, Warnung genug? Fragen über Fragen, für deren Studium nunmehr außer dem „theoretischen“ Ansatz Shoghi Effendis in „Die Sendung Bahá’u’lláhs“ und seinem historischen Bericht in „Gott geht vorüber“ (Kapitel XIV und XV) Hasan Balyuzis wertvolle Ergänzung und Vertiefung (Kapitel 4 und 5) vorliegt, ein neuer Nachweis, wenn noch weitere nötig sein sollten, für die Tatsache, daß die in diese Führungskrise verwickelten Personen sich allesamt durch ihr Verhalten selbst richteten, mit einer Deutlichkeit, wie sie nur selten in geschichtlichen Abläufen zu verfolgen ist. Es war die Emanzipation des Bündnisgedankens nicht nur von den Privatinteressen einer an Reichtum gewohnten Adelsfamilie, sondern darüber hinaus von allen bis dahin anerkannten Ideen der religiösen Organisation.

‘Abdu’l-Bahá sah in dieser Krise die Grenzen des Glaubensbewußtseins bei Seinen Landsleuten und Mitgläubigen. Umso freudiger nahm Er das erste Echo auf, das der neue Glaube im Westen, in den aufgeklärtesten Nationen des Abendlandes hervorrief. Wenn Shoghi Effendi in seinen zeitkritischen Dokumenten die Parallelität unserer Gegenwartskrise mit dem Untergang des Römischen Reiches betont, können wir auch hier eine — ganz entfernte — Analogie zur Ausbreitung des Christentums feststellen: Die Juden verdrängten den Glauben an den Erlöser; die Christen strahlten über Stützpunkte in den jüdischen Diasporagemeinden in den weiteren hellenistischen Kulturkreis aus und hatten große Lehrerfolge. In den letzten hundert Jahren wurde das neue Gedankengut des Báb und Bahá’u’lláhs von der ursprünglichen islamischen Umwelt verdrängt und verfolgt; es strahlte in die westliche Welt hinein und hatte dort beachtliche Anfangserfolge. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Prozessen ist, daß die Ausbreitung des Bahá’í-Glaubens von einer so überragenden Persönlichkeit wie ‘Abdu’l-Bahá gefördert und gesteuert wurde.

Balyuzi erwähnt die ersten wissenschaftlichen und journalistischen Berichte, die in den Westen dringen: Sheil, Binning, Gobineau, Renan, Browne, Arnold, Jessup, und als völlig andere Kategorie von Menschen die ersten Gläubigen des Westens: Thornton Chase, den ersten amerikanischen Bahá’í, dem ‘Abdu’l-Bahá den Ehrentitel „Thábit“ (der Standhafte) verlieh, Louisa A. Moore-Getsinger, die Er „Livá“ (das Banner) nannte, und andere mehr. Die ausführliche Wiedergabe von Pilgerberichten [Seite 1335] in Balyuzis Buch spiegeln die reife Haltung dieser frühen Gläubigen, die außer dem brieflichen Kontakt zu ‘Abdu’l-Bahá, außer den vorsichtigen, von den türkischen Behörden und der Einwohnerschaft mißtrauisch beobachteten Besuchen in ‘Akká, außer wenigen unvollkommenen Übersetzungen und den Erläuterungen der ersten Reiselehrer keine Grundlage für ihren Glauben hatten.


Thomas Breakwell

Unter den Europäern war es neben Hippolyte Dreyfus, dem wir umfangreiche Übersetzungen ins Französische verdanken, und Laura Barney, seiner späteren Ehefrau, die durch die Zusammenstellung der „Beantworteten Fragen“ die Lehrarbeit befruchtete, vor allem Thomas Breakwell, der „erste englische Gläubige, der später durch einen glühenden Nachruf, den ‘Abdu’l-Bahá zu seinem Gedächtnis schrieb, unsterblich gemacht wurde“ (Shoghi Effendi, Gott geht vorüber, S. 295). Es bedarf eines Einfühlungsvermögens, das wir heute noch kaum besitzen können, um auszuloten, was dieser junge Europäer für ‘Abdu’l-Bahá bedeutet haben mag. Balyuzi berichtet anhand der Aufzeichnungen von May Bolles-Maxwell (in Bahá’í World VII, S. 707-711):

„Die Geschichte von Thomas Breakwell ist dramatisch und packend ... Es war im Sommer des Jahres 1901. Thomas Breakwell, ein junger Engländer in den zwanziger Jahren, der einen verantwortlichen und einträglichen Posten in einer Baumwollspinnerei im Süden der Vereinigten Staaten bekleidete, war auf Urlaub in Europa. May Bolles hielt sich in Paris auf. Ihre Mutter wollte sie den Sommer über in die Bretagne mitnehmen, aber ‘Abdu’l-Bahá hatte May gesagt, sie solle sich ‚unter keinen Umständen‘ aus Paris entfernen. , .... Meine unglückliche Mutter war empört, schloß unsere Wohnung ab und ließ mich allein‘.

Ein gemeinsamer Freund, dem der Hang von Thomas Breakwell zu Mystik und Esoterik aufgefallen war, brachte ihn mit May Bolles zusammen. Eines Morgens fand sie die beiden vor ihrer Tür. ‚Meine Aufmerksamkeit‘, berichtete sie, ‚war von diesem jungen Mann gefesselt: mittelgroß, schlank, aufrecht, graziös, mit tiefen Augen und einem unbeschreiblichen Scharm’. Zunächst wurde der Glaube, dem May Bolles mit der ganzen Glut ihres großen Herzens diente, nicht erwähnt. Sie sprachen über Theosophie, und Breakwell dachte, um diese Bewegung kreise die Aufmerksamkeit seiner Gastgeberin. Aber May sah in ihm von Anfang an nach ihren eigenen Worten ‚eine seltene Persönlichkeit von hohem Niveau, kultiviert, einfach, natürlich, völlig wirklichkeitsnah in seiner Haltung gegenüber dem Leben und seinen Mitmenschen‘. Breakwell fragte, ob er nochmals vorsprechen dürfe, und kam am folgenden Vormittag wieder. Er war in einem Zustand des Frohlockens und fragte May Bolles geradeheraus, ob sie etwas ‚Seltsames‘ an ihm sehen könne. Dann fuhr er fort: ‚Als ich gestern hier war, spürte ich eine Kraft, einen Einfluß, den ich schon einmal in meinem Leben empfunden habe, während drei Monaten, in denen ich ununterbrochen mit Gott in Verbindung stand. Es war mir in dieser Zeit, als bewegte ich mich in einer hohen, reinen Atmosphäre von Licht und Schönheit. Mein Herz war entflammt von Liebe zum höchsten [Seite 1336] Geliebten, ich fühlte mich befriedet und eins mit allen meinen Mitmenschen. Gestern, als ich Sie verließ und die Champs-Elysees hinunterschlenderte, war die Luft warm und schwer, kein Blatt bewegte sich. Plötzlich traf mich ein Windstoß und wirbelte um mich her, und in diesem Wind sagte eine Stimme unbeschreiblich süß und eindringlich: Christus ist wiedergekommen! Christus ist wiedergekommen"‘

Breakwell fragte als nächstes, ob May Bolles glaube, daß er den Verstand verliere. Sie erwiderte: ‚Nein, Sie sind dabei, gesund zu werden’, und sie erzählte ihm vom Kommen Bahá’u’lláhs. Spontan erklärte sich Thomas Breakwell als Bahá’í.

Aber die Geschichte von Thomas Breakwell ist hier nicht zu Ende. Er brannte vor Verlangen, den Weg in die Gegenwart ‘Abdu’l-Bahás zu finden. ‚Mein Gebieter, ich glaube, vergib mir, Dein Diener Thomas Breakwell‘, das waren die Worte, die dem Meister seine Hoffnung und seine Gefolgschaft übermittelten. ‚An diesem Abend‘, schreibt seine Lehrerin, ‚ging ich zur Concierge unseres Hauses, um meine Post in Empfang zu nehmen, und da lag ein kleines blaues Telegramm von ‘Abdu’l-Bahá! Mit welcher Scheu und Verwunderung las ich Seine Worte: ‚Sie können Paris jederzeit verlassen‘ ... Dankbar verweilt mein Herz bei dem göttlichen Mitgefühl des Meisters, bei der Freude und Verwunderung meiner Mutter, als ich ihr alles erzählte. Sie las das Telegramm und brach in Tränen aus mit den Worten: ‚Du hast wirklich einen wundervollen Meister‘.


‘Abdu’l-Bahás Erlaubnis für die Pilgerreise kam, und kurz darauf war Thomas Breakwell in ‘Akká, begleitet von Herbert Hopper, einem jungen amerikanischen Bahá’í, der ebenfalls von May Bolles in den Glauben eingeführt worden war. Sie berichtet: ‚Sie wurden in einen großen Raum geführt. Am einen Ende stand eine Gruppe von Männern in orientalischer Kleidung. Herbert Hoppers Gesicht leuchtete auf in der Freude sofortigen Erkennens, aber Breakwell konnte niemand Besonderen unter diesen Männern entdecken. Er fühlte sich plötzlich krank und schwach; völlig niedergeschlagen setzte er sich an einen Tisch ... Dort klagte er bitterlich: Warum war er hierhergekommen? Warum hatte er seine vorgesehene Reise aufgegeben und war stattdessen in diese entlegene Gefängnisstadt gefahren, auf der Suche nach — wer weiß was?‘

Doch dann fand er sich schlagartig aus seiner düsteren Innenwelt erlöst. Schleusen des Lichts öffneten sich vor ihm. ‘Abdu’l-Bahá trat in den Saal, und Thomas Breakwell war ein neuer Mensch. Von diesem Augenblick an schaute er nie mehr zurück. Er erklärte ‘Abdu’l-Bahá seine Berufstätigkeit, daß seine Arbeit der Mühe wert sei und er sehr gut verdiene; aber jetzt trage er Bedenken, weil der Erfolg seiner Firma auf Kinderarbeit beruhe. ‘Abdu’l-Bahá riet ihm: ‚Kabeln Sie Ihre Kündigung’. Breakwell tat es. Er ging zurück nach Paris und blieb dort wohnen. Der Meister wünschte es so.

May Bolles-Maxwell berichtet weiter: ‚Er schien sich überhaupt nicht um die Zukunft zu sorgen. Wie ein weißes Licht brannte er im Dunkel von Paris, bis zu seinem letzten Atemzug diente er seinen Mitmenschen mit geistiger Kraft und mit Leidenschaft.‘ Dieser letzte Atemzug ließ nicht lange auf sich warten, denn er erlag der Schwindsucht. Die Welt konnte ihn nicht länger fassen.

[Seite 1337] Ein Augenzeuge jener beiden denkwürdigen Tage, die Breakwell in der Gefängnisstadt ‘Akká verbrachte, Dr. Yúnis Khán Afrúkhtih, berichtet in „Erinnerungen an neun Jahre in ‘Akká“ (persisch, S. 180 - 187) über den ersten Engländer, der als Pilger kam:

‚Die Leidenschaft und der Glaube dieses jungen Mannes waren so vollendet in ihrer Art, daß sein gesegneter Name durch die Jahrhunderte fortklingen wird. Mit tiefer Zuneigung wird man sich seiner in vielen Chroniken erinnern. Verse aus den Evangelien, Zeugnisse für die Herrlichkeiten des Reiches Gottes, waren ständig auf seinen Lippen. Sein Aufenthalt war zu kurz, aber seine Liebe war so stark, sein Eifer so flammend, daß er tief die Herzen aller bewegte, die ihn hörten. So oft er in die Gegenwart unseres unvergleichlichen Meisters trat, war er außer sich vor Staunen. Zu anderen Zeiten bezeugten seine Haltung und alles, was er tat, die Hingabe, die ihn beseelte. Es war ihm nicht möglich, allen Freunden in ‘Akká zu begegnen (aufgrund der Beschränkungen, die die Behörden wieder eingeführt hatten). Am Tag seiner Abreise sagte ihm der Meister: ‚Bleiben Sie in Paris‘. Auf Geheiß des Meisters begleitete ich ihn nach Haifa bis an das Schiff. Außerhalb ‘Akkás konnten wir ihn für eine oder zwei Stunden im Hause eines der Gläubigen bewillkommnen, bevor sein Schiff in See stach. In diesem Hause waren wir in einem Zimmer, das auf ‘Akká hin schaute. Dort stand er mehrere Male, völlig ruhig, in einem Zustand der geistigen Verbindung ‘Akká zugewandt. Tränen entströmten seinen Augen, seine Zunge formte Worte zu Bittgebeten. Alle Anwesenden waren tief bewegt. In diesem Zustand der Entrücktheit fragte er mich, ob er von Zeit zu Zeit Briefe mit mir tauschen dürfe. Meine Antworten, sagte er, würden ihm die Düfte der strahlenden Stadt ‘Akká vermitteln. Wir standen alle in Tränen, als wir ihm Lebewohl wünschten.‘

Dr. Yúnis Khán, der ‘Abdu’l-Bahá mit beispielhafter Hingabe in einer überaus kritischen Periode Seiner Amtszeit als Sekretär und Dolmetscher diente, setzt sodann diese fesselnde Geschichte von Thomas Breakwell fort. In regelmäßigen zweiwöchigen Abständen erhielt er Briefe von dem jungen Engländer aus Paris, wo dieser mit seiner fortschreitenden Auszehrung kämpfte. In einem seiner Briefe bemerkt Breakwell, er habe zu Gott um Schmerz, Betrübnis und Leid gefleht, damit er seinen Geliebten nicht vergesse. Je ungestümer die Krankheit in ihm tobte, desto ausdrucksvoller, desto glühender wurden Breakwells Freudenhymnen. Sein Briefpartner berichtet:

‚Alles, was er schrieb, legte ich dem Meister vor. Manchmal sagte Er: ‚Übermitteln Sie ihm meine Grüße‘. Wenn Er keine Bemerkung machte, wußte ich, daß die geheimnisvolle Verbindung zwischen dem Liebenden und dem Geliebten keines gesprochenen Wortes bedarf. Dann kam sein letzter Brief. Er schrieb: ‚Leid ist ein berauschender Wein; ich bin bereit, die Gabe zu empfangen, die die größte aller Gaben ist. Die Qualen des Fleisches haben mich befähigt, meinem Gebieter viel näher zu kommen. Allem Todesschmerz zum Trotz wünsche ich mir Leben, um länger zu dulden und mehr Leid zu kosten. Wonach mich verlangt, ist das Wohlgefallen meines Gebieters; erwähnen Sie mich in Seiner Gegenwart‘. Ein paar Tage danach begleitete ich abends den Meister, zusammen mit dem [Seite 1338] verstorbenen Dr. Arastú Khán, von dem Haus, wo Er Besucher empfing, zu Seiner Wohnung am Meeresufer. Urplötzlich wandte Er sich an mich und fragte: ‚Haben Sie gehört?‘ ‚Nein, Meister‘, antwortete ich, und Er sagte: ‚Breakwell ist heimgegangen. Ich bin traurig, tief traurig. Ich habe ein Besuchsgebet für ihn geschrieben. Es ist sehr ergreifend, so ergreifend, daß ich beim Schreiben zweimal meine Tränen nicht zurückhalten konnte. Sie müssen es gut übersetzen, so daß jeder, der es liest, weinen muß‘. Ich habe nie erfahren, wer dem Meister die Nachricht von Breakwells Tod übermittelt hatte. Wenn jemand in Englisch oder Französisch geschrieben oder gekabelt hätte, wäre diese Mitteilung mit Sicherheit durch meine Hände gegangen. Zwei Tage später wurde mir das Besuchsgebet übergeben. Es drückte einem das Herz zusammen, und ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten. Ich übersetzte es ins Französische und später, mit der Hilfe von Lua Getsinger, ins Englische:

Hier einige Auszüge aus dieser Lobpreisung:

‚O Breakwell, mein Geliebter! Wo ist dein schönes Antlitz, wo dein beredter Mund? Wo ist deine strahlende Stirn und wo dein leuchtendes Angesicht?

O mein teurer Breakwell! Wo sind deine hellen Augen, wo deine lächelnden Lippen? Wo sind deine zarten Wangen und wo ist deine anmutige Gestalt?

O mein Teuerster, o Breakwell! Wahrlich, du hast diese vergängliche Welt aufgegeben, hast dich aufgeschwungen in das Reich Gottes, hast die Gnade der unsichtbaren Welt erlangt und hast dich geopfert an der Schwelle des Herrn der Macht! ...

O mein Verehrter, o Breakwell! So hast du ein Licht im Leuchter der Höchsten Heerscharen entzündet, bist eingetreten in das Paradies Abhá, stehst geschützt im Schatten des Gesegneten Baumes und bist in die Versammlung (des Herrn der Wahrheit) an Seinem himmlischen Wohnsitz gelangt! ....

O mein Geliebter, o Breakwell! Wahrlich, dein Herr hat dich für Seine Liebe auserwählt, hat dich zum Hofe Seiner Heiligkeit geführt, hat dich in den Paradiesgarten Seiner Gegenwart eintreten lassen und hat es dir vergönnt, Seine Schönheit zu schauen! ...

O mein Geliebter, o Breakwell! Du bist ein Stern am erhabensten Horizonte, eine Lampe unter den Engeln des Himmels, lebendiger Geist in der Höchsten Welt geworden, du sitzest in Sicherheit auf dem Thron der Unsterblichkeit! ...

O mein Verehrter, o Breakwell! Fortgesetzt erwähne ich deinen Namen, ich vergesse dich nie. Tag und Nacht bete ich für dich, und ich sehe dich klar und offenbar, o mein Verehrter, o Breakwell!'

Dr. Yúnis Khán, der getreue Chronist, hat uns noch mehr über Thomas Breakwell zu berichten. ‚Eines Tages, etwa ein Jahr später‘, schreibt er, ‚rief mich ‘Abdu’l-Bahá in Seine Gegenwart, um mir Briefe zum Übersetzen auszuhändigen. Da lagen viele Umschläge, aus zahlreichen Orten hergesandt. ‘Abdu’l-Bahá prüfte sie noch in verschlossenem Zustand; plötzlich griff Er einen heraus und sagte: ‚Wie angenehm ist doch der [Seite 1339] Duft, der von diesem Umschlag ausgeht. Rasch, öffnen Sie ihn und sehen Sie, woher er kommt. Eilen Sie sich!‘ Schon früher war es oft vorgekommen, daß der Meister einen bestimmten Briefumschlag herausgriff und zuerst öffnen ließ, und mit Sicherheit enthielt der Brief dann Nachrichten von großer geistiger Bedeutung. So beeilte ich mich jetzt, den Umschlag zu öffnen, den der Meister ausgesucht hatte. Er enthielt eine Postkarte ...., die in schönen Farbtönen koloriert war. Beigefügt war eine einzige Blume, ein Veilchen. In goldenen Buchstaben standen die Worte geschrieben: ‚Er ist nicht tot, er lebt im Reich Gottes weiter‘. Ferner war der Satz zu lesen: ‚Diese Blume ist von Breakwells Grab gepflückt‘. Als ich dem Meister sagte, welche Botschaft die Postkarte enthielt, erhob Er sich sofort von Seinem Sessel, nahm die Karte, legte sie auf Seine gesegnete Stirn, und Tränen flossen Ihm über die Wangen‘.

Thomas Breakwell ist, wie der Hüter sagte, eine Leuchte am Firmament des Glaubens Bahá’u’lláhs“ (Balyuzi, S. 74 - 80). Wenn auch der Geist, aus dem er lebte und spontan zum Glauben fand, einer fernen Zeit anzugehören scheint, in der die Menschen noch „heil“ waren — die Art, wie ‘Abdu’l-Bahá auf diesen Geist reagierte, zeigt uns, daß er dem innersten Wesen des Menschen eher entspricht als viele Normen und Maßstäbe, die unsere Umwelt an uns heranträgt.


Die Reisen in den Westen

‘Abdu’l-Bahás angegriffener körperlicher Zustand hatte ähnliche Ursachen wie die Krankheit Breakwells; die übermenschlichen Belastungen in der Verteidigung des Glaubens gegen reaktionäre Unterdrücker und Bündnisbrecher taten ein Übriges. So brauchte Er, nachdem Er im September 1910 in aller Stille den ersten Schritt aus dem Lande Seines Exils nach Ägypten getan hatte, elf Monate der Erholung, ehe Er im August 1911 Seine berühmte Reise in den Westen wagen konnte. Gleich die erste öffentliche Ansprache Seines Lebens, die er am Sonntag, 10. September 1911, im City Temple von London hielt, offenbarte die Größe Seiner Botschaft und den Stil, in dem Er sie dem Westen vorzutragen gedachte: Er appelliert zuvörderst an das aufgeklärte Empfinden seiner Zuhörer dafür, daß heute „ein neuer Zyklus menschlicher Macht“ beginnt. „In diesem wunderbaren Zeitalter ist der Osten erleuchtet, der Westen ist von Duft erfüllt... Die Gabe Gottes an dieses erleuchtete Zeitalter ist die Erkenntnis der Einheit der Menschheit und der grundlegenden Einheit der Religion. Krieg wird zwischen den Nationen aufhören, und durch den Willen Gottes wird der Größte Frieden kommen; die Welt wird als eine neue Welt betrachtet, und alle Menschen werden wie Brüder leben“ (S. 141).

Die Differenzierung aus der Mitte dieses neuen Einheitsbewußtseins, aus der Gefolgschaft gegenüber Bahá’u’lláh heraus folgt nach in dem Maße, wie sich ‘Abdu’l-Bahás Erwartung bestätigt, daß es nur wenige vorbereitete Seelen sind, die sich diesem neuen Geist begeistert erschließen, daß aber die Politiker, Geistlichen, Journalisten und anderen Meinungsführer, die ‘Abdu’l-Bahá zu Tausenden begegnen, Seiner Botschaft trotz aller Bereitschaft zum Gespräch und zur Fragestellung mit einer Art wohlwollender Skepsis gegenüberstehen. Es ist über alle Maßen lehrreich, [Seite 1340] nach Balyuzi den Prozeß mitzuverfolgen, wie ‘Abdu’l-Bahá in Seinen Aussagen immer deutlicher und differenzierter wird, wie er die Bewußtseinswidersprüche, die in den äußerlich erfolgreichen hochzivilisierten westlichen Ländern klarer und offener zu Tage traten als in der zerstörten Glaubenswelt Persiens oder in der Dekadenz des Osmanischen Imperiums, fortschreitend beim Namen nennt und vom Geistigen her, mit der heilenden Macht des Wortes Bahá’u’lláhs, beseitigt. Sind die „Ansprachen in Paris“ und die ersten Reden in den Vereinigten Staaten noch strahlender Geist religiöser Aufklärung, so kommen in den späteren amerikanischen Ansprachen dunklere Töne hinzu: milde Ironie, wenn er die Materialisten in einem „Open Forum“ in San Franzisko zu den Kühen schickt, die die Philosophie der Nichtanerkennung ideeller Wirklichkeiten am besten verstünden („BAHA‘I-BRIEFE“ 42, S. 1183); mutiges Eintreten in jüdischen Synagogen für Christus und Muhammad, für eine aufgeklärte, gesellschaftsbezogene Religiosität, was Ihm eine kühle Aufnahme einbrachte. Besonders ergreifend ist der Appell zur Bündnistreue, den ‘Abdu’l-Bahá in Chikago an die Bahá’í richtete, weil dort einer der schlimmsten inneren Feinde des Glaubens sein Unwesen trieb. Wir geben diese Ansprache an anderer Stelle wieder.

Balyuzi bringt trefflich nicht nur den wesentlichen Gehalt dieser Ansprachen in Europa und Amerika, sondern auch die begleitenden Episoden und Begegnungen, die ganze Lebensart des großen Lehrmeisters, seine natürliche Entfaltung in der fremden Umwelt des Westens zur Geltung. Ergreifend ist ‘Abdu’l-Bahás ständige Rückverbindung zu Bahá’u’lláh und den großen Märtyrern des Glaubens; immer wieder zeigt Er sie in Seinen Gesprächen und Entscheidungen. Viele anekdotenhafte Begebenheiten sind beispielgebend und lehrreich, viele Zitate und Darstellungen bieten neue Informationen. Wir erfahren zum Beispiel aus einem Artikel der Londoner Zeitschrift „Weekly Budget“ vom 8. Dezember 1912, daß Leo Tolstoi, dem wir eines der reifsten Urteile über die Offenbarung Bahá’u’lláhs verdanken, vor seinem Tode mit ‘Abdu’l-Bahá in Briefwechsel stand und Material für ein Buch über Bahá’u’lláh sammelte (S. 350). Leider haben sich bei der Beschreibung des Besuches ‘Abdu’l-Bahás in Deutschland und in der Donaumonarchie einige Fehler bei der Rückübersetzung von Namen aus dem Persischen eingeschlichen, weil deutsche Quellen offenbar nicht zugezogen wurden (S. 379 - 391).


Der Erste Weltkrieg und die letzten Jahre

Nach einem halbjährigen Erholungsaufenthalt mit umfangreicher Lehrtätigkeit in Ägypten kehrte ‘Abdu’l-Bahá am 5. Dezember 1913 nach Haifa zurück. In den kurzen Monaten vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs strömten Scharen von Pilgern zu Seiner Tür. Die Verantwortung für die Sache Gottes lastete schwer auf Ihm, sein Gesundheitszustand war delikat. Es war die Zeit, in der Er mit dem Sendschreiben auf Seite 1363 dieses Heftes zu „universeller Teilnahme“ aufrief.

Ende Juni 1914 schickte ‘Abdu’l-Bahá die letzten Pilger heim und ließ keine neuen Besucher mehr anreisen. Die internationale Lage war zu prekär geworden. Die Kriegsjahre brachten neue Bedrohungen. So [Seite 1341] schwach Sultan Muhammad V. unter den Jungtürken geworden war, die Erklärung des Ersten Weltkrieges zum Heiligen Krieg ließ er sich als eine der letzten Amtshandlungen als Khalif abringen. Religiöser und nationaltürkischer Fanatismus zielten beide in die gleiche Richtung: auf universalistische, aufgeklärte Gruppen wie die der Bahá’í. Inmitten der ersten Kriegshysterie verlagerte ‘Abdu’l-Bahá die Bahá’í aus ‘Akká und Haifa in ein Drusendorf in den Bergen von Galiläa, nach Abú-Sinán, wo schon Bahá’u’lláh einst drei Monate lang freundlich aufgenommen worden war. Mit dem autoritären türkischen Militärbefehlshaber Jamál Páshá fand ‘Abdu’l-Bahá einen Modus vivendi, nachdem Er bei einem Galaessen in Nazareth, zu dem Er gleichzeitig mit dem Páshá eingeladen worden war, vor fast zweihundert Offizieren so aufgeklärt in Türkisch über philosophische und wissenschaftliche Themen sprach, daß alle ihr Essen kalt werden ließen. Trotzdem äußerte der Páshá später, er werde ‘Abdu’l-Bahá kreuzigen, wenn er erst den Feldzug gewonnen habe; die ständigen Verleumdungen der Bündnisbrecher wirkten sich hier aus und verhinderten, daß ‘Abdu’l-Bahá sich im Verein mit den islamischen und christlichen Führern stärker für die Aufrechterhaltung der Ordnung im Lande einsetzen konnte. Er mußte sich darauf beschränken, auf Ländereien am See Genezareth Getreide anzubauen, um die Bahá’í und die Armen von ‘Akká und Haifa vor dem schlimmsten Hunger bewahren zu helfen. Bei den wöchentlichen Versammlungen der Bahá’í von Haifa im Hause ‘Abdu’l-Bahás entstanden ab Mitte 1915 die „Erinnerungen an die Gläubigen“ (Tadhkiratu‘l-Vafa‘), 79 Kurzbiographien von bedeutenden Bahá’í, die ‘Abdu’l-Bahá selbst mündlich vortrug. Im Frühjahr 1916 und im Frühjahr 1917 schrieb Er die „Sendschreiben vom Göttlichen Plan“ nieder, mit denen Er die Verantwortung für die planmäßige Ausbreitung der Botschaft Bahá’u’lláhs über die ganze Erde vor allem auf die Schultern der nordamerikanischen Gläubigen legte und die Grundlage für die Lehrpolitik des Hüters und des Universalen Hauses der Gerechtigkeit schuf.

Es war nicht zuletzt dem Einsatz britischer Bahá’í zu verdanken, daß ‘Abdu’l-Bahá und die Bahá’í im Heiligen Land beim Abzug der Türken und Einmarsch der Engländer im Spätsommer 1918 nicht zu Schaden kamen. General Allenby kabelte nach London: „Habe heute Palästina eingenommen. Verständigt die Welt, daß ‘Abdu’l-Bahá in Sicherheit ist“.

Die letzten drei Lebensjahre waren erfüllt von tiefen Sorgen um den politischen, den „Geringeren Frieden“ in der Welt und die Ausbreitung der Botschaft Bahá’u’lláhs als Grundlage des „Größten Friedens“. Das „Sendschreiben an die Zentralorganisation für einen dauerhaften Frieden in Den Haag“ und das Sendschreiben an Professor Forel sind letzte Höhepunkte im Wirken ‘Abdu’l-Bahás. Die Ritterschaft des Britischen Empire akzeptierte Er als „Ehrengeschenk eines gerechten Königs“ (S. 443).

Über die Trauerfeierlichkeiten beim Heimgang ‘Abdu’l-Bahás schreibt Balyuzi: „In dem Lande, das wir als das Heilige Land kennen, gab es während der ganzen letzten zweitausend Jahre seiner turbulenten Geschichte kein Ereignis, das alle Einwohner, wie verschieden ihr Bekenntnis, ihre Herkunft und ihre Absicht auch ist, so in einem einzigen Gefühls- und Gedankenausdruck vereinigte wie das Hinscheiden ‘Abdu’l-Bahás. Juden und Christen, Muslim und Drusen aller Überzeugungen und [Seite 1342] Bekenntnisse, Araber und Türken, Kurden, Armenier und andere Volksgruppen waren in der Trauer um Seinen Abschied, im Bewußtsein des großen Verlustes, den sie erlitten hatten, vereint“ (S. 453). Ergreifend ist Balyuzis Zusammenstellung von Zeugnissen, die wir aus anderen Quellen zum Teil bereits kennen.


Der Mittelpunkt des Bündnisses

Wir haben ‘Abdu’l-Bahá eingangs als den ersten Vertrauten Seines Vaters kennengelernt. Ein kurzer Gedanke zurück in die Religionsgeschichte genügt, um die Einmaligkeit dieser Beziehung zu erkennen, auch wenn wir sie ihrem Wesen nach nie werden ausloten können. Keine der heute bekannten Manifestationen Gottes hatte einen Sohn, den sie in einem 48jährigen Prozeß der Erziehung und Anregung zu ihrem Nachfolger heranbilden konnte, und wir können sicher sein, daß es nie einen Menschen gab, der zu einem Offenbarer Gottes ein so inniges, schöpferisches Verhältnis herstellte wie ‘Abdu’l-Bahá zu Seinem Vater. „Es ist in der Tat für uns“, schreibt Shoghi Effendi (Sendung, S. 43), „die wir zeitlich einer so ungeheuer großen Gestalt so nahe stehen und von der geheimnisvollen Kraft einer so anziehenden Persönlichkeit gefesselt werden, schwer, einen klaren und genauen Begriff von der Rolle und dem Charakter Dessen zu erhalten, der nicht nur in der Sendung Bahá’u’lláhs, sondern auch auf dem gesamten Gebiet der Religionsgeschichte ein einzig


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Dies ist der Tag, den die Feder des Höchsten in allen Heiligen Schriften verherrlicht hat. Kein Vers ist darin, der nicht den Ruhm Seines heiligen Namens kundtut, und kein Buch, das nicht für die Erhabenheit dieses höchsten Themas zeugt... Es obliegt an diesem Tag einem jeden, sein ganzes Vertrauen auf die mannigfachen Gaben Gottes zu setzen und sich zu erheben, um mit äußerster Weisheit die Wahrheiten Seiner Sache zu verbreiten. Dann, und nur dann wird das Morgenlicht Seiner Offenbarung die gesamte Erde umgeben.
Bahá’u’lláh
(Ährenlese X)
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[Seite 1343] dastehendes Amt hat. Obgleich Er sich in Seiner eigenen Sphäre bewegt und eine Stufe einnimmt, die völlig verschieden von denjenigen des Urhebers und des Vorläufers der Bahá’í-Offenbarung ist, bildet Er doch kraft der Stellung, die Ihm durch das Bündnis Bahá’u’lláhs zuteil ward, mit jenen zusammen das, was wir als die drei Zentralgestalten eines Glaubens bezeichnen können, der in der Geistesgeschichte der Welt einzig ist“,

Shoghi Effendi betont ‘Abdu’l-Bahás Stellung als „der Mittelpunkt und die Achse des unvergleichlichen und allumfassenden Bündnisses Bahá’u’lláhs..., als Seine erhabenste Schöpfung, der fleckenlose Spiegel Seines Lichtes, das vollkommene Beispiel Seiner Lehren, der niemals irrende Ausleger Seines Wortes, der Ausdruck eines jeglichen Bahá’í-Ideales, die Verkörperung jeglicher Bahá’-Tugend, der Mächtige Zweig, der aus der Urewigen Wurzel hervorging, der Arm des göttlichen Gesetzes, das Wesen, ‚um das sich alle Namen bewegen‘, die Triebkraft der Vereinigung der Menschheit, das Banner des Größten Friedens, der Mond des Zentralgestirnes dieser heiligen Sendung“ (Sendung, S. 46). Von dieser Stellung unterscheidet der Hüter ‘Abdu’l-Bahás besondere Identität, die Bahá’u’lláh Ihm mit dem Titel „das Geheimnis Gottes“ verliehen hat. So deutlich die um die Rolle eines Mittelpunkts des Bündnisses angeordneten Benennungen die Richtung andeuten, in der wir uns eine Vorstellung von der Stufe ‘Abdu’l-Bahás zu bilden haben, so unergründlich wird Er uns und der Nachwelt als das „Geheimnis Gottes“ bleiben.

Auch Balyuzi neigt sich ehrfürchtig vor diesem Geheimnis, indem er am Ende seines Buches die Aussage des Anfangs wiederholt: „Keine Beschreibung reicht an das Leitmotiv eines Lebens heran, das jedes Hindernis übersteigt, bis es sich völlig erfüllt hat“ (S. 494). Der Geschichtsschreibung und den Deutungen von Shoghi Effendi als dem Hüter des Bahá’í-Glaubens nachgeordnet, ist Balyuzis Werk eine wertvolle Sammlung, Erweiterung und Erläuterung, ein unschätzbarer Beitrag zum Verständnis der ersten achtzig Jahre Bahá’í-Geschichte. Wir können abschließend nur die Hoffnung ausdrücken, daß sich bald Übersetzer für die deutsche Ausgabe finden werden.

Peter Mühlschlegel


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1) „'Abdu'l-Bahá, The Centre of the Covenant of Bahá’u’lláh“ by H. M. Balyuzi, Verlag George Ronald, 17—21 Sunbeam Road, London, N. W. 10, 1971, ISBN 85398 029 2, 537 Seiten.
2) Sadrat (u’l-Muntahá) — Baum, den die Araber früher an das Ende der Wege als Markierung pflanzten. Symbolisch „der göttliche Lotosbaum, über den hinaus niemand gehen kann“, d. h. der Offenbarer Gottes. Vgl. Qur’án 53:16 und „Gott geht vorüber“, S. 105.
3) vgl. Shoghi Effendi, „Die Sendung Bahá’u’lláhs, Frankfurt/Oxford 1948, S. 47 f.
4) Hájí Mirzá Haydar-‘Alí, der Empfänger des Sendschreibens „Worte des Paradieses“ von Bahá’u’lláh (vgl. BAHA’I-BRIEFE 10, S. 226 ff.), wurde zusammen mit sechs anderen Gläubigen auf Veranlassung des persischen Generalkonsuls in Kairo verhaftet und nach Khartúm/Sudan verbannt, bis er 1877 nach neun Jahren durch General Gordon befreit wurde. Verhaftung, Transport und Exil brachten entsetzliche Leiden mit sich. Später bereiste Hájí Mirzá Haydar-‘Alí intensiv ganz Persien und die Nachbarländer, eine Lehrmission, die mehr als ein Vierteljahrhundert dauerte. Seinen Lebensabend verbrachte er im Heiligen Land, wo ihn die westlichen Pilger als den „Engel vom Berg Karmel“ schätzten. Seine Geschichte ist eine Odyssee des Bahá’í-Glaubens. Sie wurde 1913 unter dem Titel „Bihjatu’s-Sudúr“ (Herzenswonne) veröffentlicht; Zitate S. 251 f. und 257.


[Seite 1344]




„O ihr, meine treuen Geliebten! Sollten je einmal im Heiligen Land betrübliche Ereignisse eintreten, so beunruhigt und erregt euch nicht darüber, habt weder Furcht noch Kummer. Denn was auch geschehen mag, wird nur dazu beitragen, das Wort Gottes zu erheben und die himmlischen Düfte zu verbreiten. Schreitet mutig voran und ermannt euch mit größter Standhaftigkeit, Seiner Sache zu dienen. — Der Geist Gottes und Seine Herrlichkeit ruhe auf dem, der fest und standhaft im Bunde ist.“
‘Abdu’l-Bahá


Das Hinscheiden ‘Abdu’l-Bahá’s[Bearbeiten]

Bericht von Sitarih Khanum (Lady Blomfield) und Shoghi Effendi, Haifa, Januar 1922


Es ist wohlbekannt, daß die Geliebten ‘Abdu’l-Bahás in allen Ländern der Welt begierig auf Einzelheiten und nähere Umstände Seines Hinscheidens aus diesem irdischen Leben warten (28. November 1921). Aus diesem Grunde wurde der folgende Bericht geschrieben.

Wir erkennen mehr und mehr, daß der Meister Tag und Stunde wußte, da Er nach Beendigung Seiner Mission auf der Erde in Seine himmlische Heimat eingehen würde. Er war indessen darauf bedacht, daß Seine Familie ohne Vorahnung von dem kommenden Leid bliebe. Durch Seine stets liebevolle Rücksicht auf die Seinen wurden gleichsam aller Augen verhüllt, damit sie die Bedeutung gewisser Träume und anderer Zeichen kommender Ereignisse nicht voraussahen. Heute erkennen sie, daß es Seine Absicht war, ihre Kraft zu erhalten, um die großen Prüfungen, wenn sie eintreten sollten, zu bestehen. Sie sollten nicht im Vorgefühl eines seelischen Schmerzes niedergeschmettert werden.

Aus den vielen Zeichen der Annäherung der Stunde, in der Er von Seinem Lebenswerk auf Erden sagen konnte: „Es ist vollbracht“, scheinen zwei hier folgende Träume von Bedeutung zu sein.

Etwa zwei Monate vor Seinem Scheiden erzählte der Meister Seiner Familie folgendes: „Mir war, als ob ich in einer großen Moschee stünde, im innersten Raum, den Blick der Qiblih (dem Ort der Anbetung, wohin sich die Betenden wenden, — wie in der christlichen Kirche nach Osten) und dem Platz des Imams zugewendet. Ich bemerkte, daß eine große Menschenmenge die Moschee betrat, und immer noch drängten Scharen von Menschen herzu und nahmen ihren Platz in der Halle hinter mir ein, bis schließlich eine ungeheure Menschenmenge beisammen war. — Als ich so dastand, ließ ich laut den „Ruf zum Gebet“ ertönen. Plötzlich kam mir der Gedanke, die Moschee zu verlassen. Als ich mich außerhalb derselben befand, sagte ich zu mir: „Aus welchem Grund bin ich weggegangen, ohne [Seite 1345] das Gebet geleitet zu haben? Aber es schadet nichts; jetzt, nachdem ich den Ruf zum Gebet erschallen ließ, wird die große Menschenmenge allein das Gebet singen.“

Als der Meister verschieden war, dachte Seine Familie über diesen Traum nach und legte ihn folgendermaßen aus: Er hat diese große Menschenmenge — alle Völker, alle Religionen, alle Rassen und Nationen — zur Vereinigung und zum Frieden gerufen, zu universaler Liebe und Brüderlichkeit. Nachdem Er sie gerufen hatte, kehrte Er zu Gott, dem Geliebten, zurück, auf dessen Befehl Er den majestätischen Ruf erhoben und die göttliche Botschaft gebracht hatte. Diese große Menge — die Völker, Religionen, Nationen und Rassen — sollen das Werk, zu dem sie ‘Abdu’l-Bahá gerufen, fortsetzen und selbständig zu seiner Erfüllung bringen.

Wenige Wochen nach diesem Traumgesicht kam der Meister aus dem alleinliegenden Zimmer im Garten, das Er zuvor bewohnt hatte, und sagte: „Mir träumte, ich sähe die ‚Gesegnete Schönheit‘ (Bahá’u’lláh) zu mir treten und sagen: ‚Zerstöre diese Kammer!‘“

Die Seinigen, die wünschten, daß Er im Hause schlafen sollte und die nicht ruhig waren, wenn sie Ihn in der Nacht allein wußten, riefen aus: „Ja, Meister, wir glauben, Dein Traum bedeutet, daß Du dieses Zimmer aufgeben und ins Haus ziehen sollst“. Als Er dies von uns hörte, lächelte Er verständnisvoll, obgleich Er mit ihrer Auslegung nicht übereinstimmte. Späterhin begriffen sie, daß Er mit der „Kammer“ den Tempel Seines Körpers meinte.

Einen Monat vor seinem Tode erhielt Dr. Sula’man Rafat Bay, ein türkischer Freund, der als Gast im Hause war, ein Telegramm mit der Nachricht vom plötzlichen Tod seines Bruders. ‘Abdu’l-Bahá tröstete ihn und flüsterte ihm zu: „Sei nicht traurig, denn er wurde nur von dieser Erde (Sphäre) in eine höhere versetzt; auch ich werde bald versetzt werden, denn meine Tage sind gezählt“. Dann streichelte Er ihm mit der Hand über die Schulter und sagte, indem Er in sein Antlitz schaute: „Und es wird sich zutragen in den allernächsten Tagen“.

In derselben Woche schrieb Er ein Tablet nach Amerika, in dem folgendes Gebet steht:

„Ya“ Bahá’u’l-Abhá (O Du, die Herrlichkeit der Herrlichkeiten), ich habe der Welt und den Menschen entsagt und bin gebrochen und sehr traurig über die Ungetreuen. Im Käfig dieser Welt flattere ich wie ein geängstigter Vogel und sehne mit jeden Tag danach, meinen Flug nach Deinem Königreich anzutreten. — Ya Bahá’u’l-Abhá! Lasse mich aus dem Kelch des Opfers trinken und befreie mich. Erlöse mich von diesen Schmerzen und Leiden, von diesen Anfechtungen und diesem Kummer! Du bist der, der hilft, der unterstützt, der behütet, der Seine hilfreiche Hand ausstreckt“.

Am Morgen des letzten Freitags Seines Lebens (25. November) sagte Er zu Seinen Töchtern: „Die Hochzeit der Khusraw muß heute vollzogen werden. Wenn ihr zu sehr beschäftigt seid, so will ich eigenhändig die Vorbereitungen dazu treffen, denn sie muß heute stattfinden“. (Khusraw ist einer der beliebtesten und vertrauenswürdigsten Diener in des Meisters Haus).

[Seite 1346] ‘Abdu’l-Bahá besuchte das Mittagsgebet in der Moschee. Als er zurückkam, fand Er die Armen auf die Almosen wartend, welche Er gewohnt war, jeden Freitag zu geben. An diesem Tage blieb Er, wie gewöhnlich, unter ihnen, trotz größter Müdigkeit — und gab mit eigener Hand jedem seine Münze.

Nach dem Mittagsmahl diktierte Er Ruhi Effendi einige Tablets (seine letzten). Als Er geruht hatte, machte Er im Garten einen Spaziergang. Er schien in tiefes Nachdenken versunken zu sein.

Sein guter und treuer Diener, Ismá‘íl-Aqá, erzählt folgendes: „Etwa zwanzig Tage, ehe mein Meister verschied, war ich in Seiner Nähe im Garten und hörte, wie Er einen alten Gläubigen aufforderte zu kommen mit den Worten: ‚Komm mit mir, damit wir zusammen die Schönheit des Gartens bewundern. Sieh, was der Geist treuen Dienstes alles erfüllen kann. Dieser blühende Ort war noch vor wenigen Jahren eine Steinwüste, und nun grünt er von Laub und Blumen. Ich wünsche, daß nach meinem Tod die Geliebten sich alle erheben, um der göttlichen Sache zu dienen, und so Gott will, wird es geschehen. In kurzem werden die Menschen kommen, welche Leben in die Welt bringen’.

Wenige Tage später sagte Er: ‚Ich bin so müde! Die Stunde ist gekommen, in der ich alles verlassen und Abschied nehmen muß. Ich bin zu müde, um spazieren zu gehen’. Und dann sagte Er — es war in den letzten Tagen, als ich damit beschäftigt war, Seine Schriftlichkeiten zu sammeln, die auf dem Diwan Seines Schreibzimmers in Bahjí zerstreut lagen, — während Er sich zu mir wandte: ‚Es hat keinen Zweck, sie zu sammeln; ich muß sie lassen und gehen. Auch ich habe mein Werk vollendet, ich kann nichts mehr tun; daher muß ich es verlassen und Abschied nehmen‘.

Drei Tage vor Seinem Tode rief mich ‘Abdu’l-Bahá, als Er im Garten saß, und sagte: ‚Ich bin krank vor Müdigkeit. Bringe mir zwei von deinen Orangen, damit ich sie esse um deinetwillen‘. Dies tat ich. Als Er sie gegessen hatte, wandte Er sich zu mir und fragte: ‚Hast du noch von den süßen Zitronen?‘ Er bat mich, einige zu pflücken. Indem ich es tat, kam Er an den Baum heran und sagte: ‚Nein, ich muß sie mit eigener Hand brechen‘. Als Er von den Früchten zu sich genommen hatte, wandte Er sich an mich und sagte: ‚Wünschest du noch mehr?‘ Dann sagte Er mit einer rührenden Handbewegung ergreifend, nachdrücklich und nachdenklich: ‚Jetzt ist es zu Ende, es ist zu Ende!‘

Diese bedeutungsvollen Worte drangen mir tief in die Seele. Ich hatte das Gefühl, als ob bei jedem Wort mir ein Messer ins Herz gestoßen würde. Ich verstand deren Sinn, doch dachte ich niemals, daß das Ende so nahe sei“.

Ismá’il-Aqá, fast dreißig Jahre lang des Meisters Gärtner, war es, der in der ersten Woche nach diesem unersetzlichen Verlust, getrieben durch hoffnungslosen Kummer, über allen seinen Besitz verfügte, seinen letzten Willen verfaßte, zu des Meisters Schwester ging und um Verzeihung bat für alle Fehler, die er begangen habe. Daraufhin übergab er den Schlüssel des Gartens einem vertrauenswürdigen Diener des Haushalts, um seinem Leben am Grabe seines geliebten Meisters ein Ende zu machen. Er ging den Berg hinan zu der geweihten Stätte, umschritt das Gebäude dreimal und hätte seinem Leben ein Ende bereitet, wenn nicht zufällig ein Freund gekommen wäre, der ihn von der Erfüllung seines Vorhabens abhielt.

[Seite 1347] Später, am Abend des Freitags, segnete Er die Braut und den Bräutigam, die soeben getraut worden waren. Er sprach eindringlich zu ihnen. „Khusraw“, sagte Er, „du hast deine Kindheit und Jugend im Dienst dieses Hauses verbracht; ich hoffe, daß du unter dem selben Dach alt werden und stets Gott dienen wirst“. Den ganzen Abend hielt Er die übliche Versammlung mit den Freunden in Seinem eigenen Sprechzimmer ab.

Am Samstagmorgen stand Er sehr früh auf, betrat das Teezimmer und trank etwas Tee. Er verlangte nach dem pelzgefütterten Mantel Bahá’u’lláhs. Oft zog Er diesen Mantel, den Er sehr liebte, an, wenn Er fror und sich nicht wohl fühlte. Dann zog Er sich in Sein Zimmer zurück, legte sich auf Sein Bett und sagte: „Deckt mich zu, ich friere so sehr; die vergangene Nacht schlief ich nicht gut, ich fror. Dies ist ernst, dies ist der Anfang“.

Hierauf legte man noch weitere Decken auf Ihn; Er verlangte, daß der Pelzmantel, den Er abgelegt hatte, über Ihn gedeckt werde. An diesem Tage fieberte Er sehr. Am Abend stieg die Temperatur höher, das Fieber fiel jedoch in der Nacht. Nach Mitternacht verlangte Er noch etwas Tee.

Am Sonntagmorgen sagte Er: „Es ist mir ganz gut, ich will aufstehen wie immer und den Tee mit euch im Teezimmer nehmen“. Nachdem Er sich angezogen hatte, wurde Er überredet, auf dem Sofa in Seinem Zimmer zu bleiben.

Am Nachmittag schickte Er alle Freunde hinauf zum Grab des Báb, wo aus Anlaß des Gedenktages der „Erklärung des Bundes“ (26. November) ein Fest veranstaltet wurde, zu dem ein Pilger — ein Parse, der kürzlich aus Indien angekommen war — eingeladen hatte.

Um vier Uhr nachmittags sagte Er von dem Sofa in Seinem Zimmer aus, wo Er ruhte: „Rufe meine Schwester und meine ganze Familie, daß sie zum Tee zu mir kommen.“

Später kamen der Mufti von Haifa und der Oberste des Stadtbezirkes mit noch einem Besuch, die von dem Meister angenommen wurden. Sie blieben etwa eine Stunde. Er sprach über Bahá’u’lláh zu ihnen, erzählte ihnen Seinen zweiten Traum, erzeigte ihnen außerordentliche, über Seine gewohnheitsmäßige Höflichkeit hinausgehende Freundlichkeit beim Abschied und geleitete sie an das äußerste Tor trotz ihrer Bitten, Er möge auf dem Sofa bleiben und ruhen. Dann nahm Er den Besuch des Polizeidirektors, eines Engländers, an, der vom Meister ebenfalls mit liebenswürdiger Güte empfangen wurde. Der Meister schenkte ihm seidene, handgewobene persische Taschentücher, die der Empfänger sehr schätzte.

Seine vier Schwiegersöhne und Ruhi Effendi kamen nach Rückkehr von der Versammlung auf dem Berg zu Ihm und sagten: „Der Gastgeber war unglücklich, weil Du nicht dabei warst“. Er gab ihnen zur Antwort: „Ich war doch dort, wenn auch nicht körperlich, mein Geist war dort, mitten unter euch. Ich war mit den Freunden am Grab. Die Freunde sollten kein Gewicht auf die Anwesenheit meines Körpers legen. Im Geist bin ich immer mit den Freunden und werde immer bei ihnen sein, wenn ich auch weit von ihnen entfernt bin“.

[Seite 1348] Am selben Abend erkundigte Er sich nach dem Befinden eines jeden Mitglieds des Haushaltes, der Pilger und der Freunde in Haifa. „Sehr gut, sehr gut“, sagte Er, als sie Ihm berichteten, daß niemand krank sei. Dies waren seine letzten Worte an die Freunde.

Um acht Uhr ging Er zu Bett, nachdem Er etwas Nahrung zu sich genommen hatte, und sagte: „Es geht mir ganz gut“. Er bat alle Familienangehörigen, zu Bett zu gehen. Zwei seiner Töchter blieben dennoch bei Ihm. In dieser Nacht schlief der Meister sehr gut, ganz fieberfrei. Er stand um 1,15 Uhr nachts auf und ging zum Tisch hin, wo Er etwas Wasser zu sich nahm. Er legte ein Übergewand ab und sagte: „Es ist mir zu warm“. Dann legte Er sich wieder zu Bett, und als Seine Tochter Ruha Khanum sich Ihm näherte, sah sie Ihn friedvoll daliegen. Er schaute sie an und bat sie, das Moskitonetz aufzuschlagen mit den Worten: „Ich bekomme schwer Atem, führe mir mehr Luft zu“. Es wurde Ihm Rosenwasser gereicht, wovon Er im Bett aufsitzend, ohne Hilfe trank. Dann legte Er sich wieder, und als Ihm etwas Nahrung angeboten wurde, sagte Er mit klarer und deutlicher Stimme: „Du willst mir Milch geben, jetzt, da ich scheide?“ — Er gewährte einen wundervollen Anblick; Sein Gesicht war so ruhig, der Ausdruck so hoheitsvoll; sie dachten, Er schliefe. —

Er war nun vor den Augen Seiner Geliebten verschieden. Die Augen, die stets voll Güte auf die Menschen — ob Freund oder Feind — gerichtet waren, hatten sich geschlossen. Die Hände, die stets bereit waren, den Armen und Bedürftigen Almosen zu geben, den Gelähmten und Verstümmelten, den Blinden, den Waisen und Witwen zu helfen, hatten nun ihre Arbeit vollbracht. Die Füße, die unermüdlich gewandert waren, um die vielen Aufträge des Herrn der Barmherzigkeit auszuführen, ruhten nun aus. Die Lippen, die so beredt den Kampf gegen die Ursachen der Leiden der Menschheit geführt hatten, waren geschlossen. Das Herz, das so stark in wundervoller Liebe für die Kinder Gottes geschlagen hatte, stand nun still. Sein strahlender Geist war aus diesem Erdenleben mit seinen Verfolgungen durch die Feinde der Wahrheit, mit seinen Stürmen und Qualen während einer fast achtzigjährigen unermüdlichen Arbeit für das Wohl anderer, hinübergegangen. — Sein langes Märtyrertum war vollendet!

Während die Wolken des schweren Verlustes noch dunkel über den trauernden Frauen der Familie hingen, hatte eine Enkelin des Meisters einen merkwürdigen Traum. Sie sah Ihn mit Seiner geliebten Schwester, dem „Größten Heiligen Blatt“ sprechen, im selben Zimmer, in dem frühmorgens die Familie sich in Seiner Gegenwart zu versammeln pflegte, um das Morgengebet zu singen und alsdann den Frühstückstee einzunehmen. Er wandte sich zu ihr und sagte: „Warum seid ihr alle so verstört? Warum klagt ihr und seid so traurig? Ich bin mit euch allen sehr zufrieden. Schon lange habe ich mir gewünscht, meinem Vater, der ‚gesegneten Schönheit‘, zu folgen. Ich bat Ihn immer, mich in Seinen Rosengarten hinüber zu nehmen, und nun, da mein Gebet erhört ist, wie glücklich, wie froh bin ich! Wie ruhe ich aus! Deshalb seid nicht traurig!“ Dann gab Er noch mancherlei Ratschläge und ermahnte sie, allezeit die Anordnungen Bahá’u’lláhs zu befolgen.

[Seite 1349] Früh am Montagmorgen verbreitete sich die Kunde des plötzlichen Hinscheidens ‘Abdu’l-Bahás in der ganzen Stadt; sie rief eine beispiellose Aufregung hervor und erfüllte die Herzen mit unaussprechlichem Schmerz.


Die Beisetzungsfeierlichkeiten und Grabreden

Am anderen Morgen (Dienstag) fand die Beisetzung statt, Es war ein Begräbnis, wie es Haifa, ja ganz Palästina sicherlich noch niemals erlebt hatte. Ergreifend war der Schmerz, der viele Tausende von Trauernden, Vertreter vieler Religionen, Rassen und Sprachen, bewegte.

Der High Commissioner, Sir Herbert Samuel, der Gouverneur zu Jerusalem, der Gouverneur von Phönizien, die höchsten Staatsbeamten der Regierung, die Konsuln der verschiedenen Länder, die in Haifa wohnen, die Oberhäupter der verschiedenen religiösen Gemeinschaften, die Notabeln von Palästina, ferner Juden, Christen, Moslem, Drusen, Ägypter, Griechen, Türken, Kurden, eine Menge Seiner amerikanischen und europäischen Freunde, Fremde und Freunde Seines eigenen Landes, Männer, Frauen und Kinder von hohem und niederem Stand, alle, etwa zehntausend an der Zahl, beweinten den Verlust ihres geliebten Herrn.

Der eindrucksvolle Leichenzug wurde von einer Ehrenwache geführt, die aus der Stadtpolizeiwache bestand, ihr folgte die Jungmannschaft der moslemischen und christlichen Gemeinden, die ihre Banner trugen. Ein Chor mohammedanischer Sänger sang Verse aus dem Koran. Das Oberhaupt der moslemischen Gemeinden, an der Spitze ein Mufti, eine Anzahl christlicher, griechischer und englischer Geistlicher — alle folgten dem heiligen Schrein, den die Schultern der Getreuen trugen. Hinter dem Sarg schritten die Familienmitglieder, mit ihnen der britische „High Commissioner“, der Gouverneur von Jerusalem und der Gouverneur von Phönizien. Dann folgten die Konsuln und die Notabeln des Landes und schließlich eine ungeheure Menge derer, die Ihn verehrten und liebten.

An diesem Tage war der Himmel wolkenlos, lautlos die Stadt und das Land, durch das wir schritten; vernehmbar war nur der sanfte, langsame Rhythmus des Rufs zum Gebet und das fassungslose Schluchzen der Verlassenen, die den Verlust ihres einzigartigen Freundes beweinten, der sie in all ihren Nöten und ihrem Kummer beschützte und dessen großherzige Güte sie selbst und ihre Kinder vor dem Hungertod in den Jahren des „Großen Leids“ bewahrt hatte.

„O Gott, mein Gott!“ jammerte das Volk allenthalben einstimmig: „Unser Vater hat uns verlassen, unser Vater ist von uns gegangen!“

Welch eine ungeheure Volksmasse! Menschen aller Religionen, Rassen und Farben waren im Herzen geeint durch die Offenbarung des Dienstes ‘Abdu’l-Bahás (der Religion der Tat) in Seinem langen Lebenswerk. — Als sie langsam den Weg zum Karmel, dem Berg Gottes, hinaufschritten, schien der Sarg emporgehoben durch unsichtbare Hände, so hoch über den Häuptern der Menschen wurde er getragen. Nach zweistündigem, langsamem Marsch erreichten sie den Garten, in welchem das Grabgebäude des Báb sich befindet. Sanft wurde der Sarg auf einen großen Tisch niedergelassen, der mit einem schönen, weißleinenen Tuch bedeckt war. Als sich die große Menschenmenge um das Heiligtum Seines Körpers [Seite 1350] drängte, der darauf wartete, an seine Ruhestätte in der Gruft neben dem Báb getragen zu werden, waren alle Herzen erfüllt von glühender Liebe zu ‘Abdu’l-Bahá; etliche erhoben im Impuls des Augenblicks — oder auch vorbereitet — die Stimme in Trauer und Schmerz. Sie brachten ihrem Geliebten die letzte Ehrenbezeugung und ihr Lebewohl dar. Sie waren in ihrer Trauer noch so verbunden mit Ihm, dem weisen Erzieher und Berater der Menschen in der gegenwärtigen wirren und traurigen Zeit, daß es schien, als bliebe den Bahá’í nichts mehr zu sagen übrig.

Nachstehend Auszüge aus einigen Reden, die bei dieser Trauerkundgebung gehalten wurden.

Der moslemische Geistliche brachte die Gefühle seiner Glaubensgenossen folgendermaßen zum Ausdruck: „O du arabisches und persisches Volk! Wen betrauerst du? Ist es Der, der gestern groß war im Leben und heute im Tode noch größer ist? Vergießt keine Tränen für Ihn, der aus dieser Welt in die Ewigkeit einging, sondern weint darüber, daß soviel Tugend, Weisheit, Wissenschaft und Edelsinn mit Ihm aus dieser Welt gingen. Klaget über euch selbst, denn ihr seid die Verlierenden, indessen Er, der Dahingegangene, ein hochgeschätzter Pilger ist, der aus einer vergänglichen Welt in die ewige Heimat zog. Weint eine Stunde lang um Ihn, der nahezu achtzig Jahre mit euch geweint hat! Schaut zur Rechten, zur Linken, nach dem Osten, nach dem Westen und seht, welche Herrlichkeit und Größe dahingegangen, welch eine Säule des Friedens gestürzt ist! Welch beredte Lippen haben sich geschlossen! Wehe! In dieser Trübsal ist kein Herz, das nicht aus Kummer klagt, kein Auge, das trocken bleibt! Wehe den Armen, denn wisset, die Güte ist von ihnen gegangen; wehe den Waisen, denn ihr liebenswürdiger Vater ist nicht mehr bei ihnen! Hätte das Leben von Sir ‘Abdu’l-Bahá zurückgekauft werden können durch das Opfer vieler kostbarer Seelen, so würden sie sicherlich freudig ihr Leben für Sein Leben geopfert haben. Aber das Schicksal hat es anders gewollt. Jedes Schicksal ist vorausbestimmt und niemand kann der göttlichen Vorsehung widerstehen. Wer bin ich, daß ich die Heldentaten dieses Menschenführers hier nenne? Sie sind zu herrlich, um gepriesen, zu zahlreich, um aufgezählt zu werden. Es genüge zu sagen, daß Er in jedem Herzen den tiefsten Eindruck hinterlassen hat und jede Zunge Seines Lobes voll ist. Er hat ein Gedächtnis hinterlassen, das herrlich und unauslöschlich ist, Er ist wahrlich nicht tot. So tröste dich denn, du Volk Bahás! Erdulde und sei geduldig, denn kein Mensch, sei er aus dem Osten oder dem Westen, kann dich jemals trösten; nein, er bedarf selbst des Trostes!“

Dann trat der christliche Priester heran und sprach: „Ich weine über die Welt, in der mein Herr gestorben ist; es gibt außer mir noch viele, die, wie ich, den Tod ihres Herrn beweinen. Bitter ist der Schmerz, den dieses herzbrechende Leid verursacht. Es ist nicht nur ein Verlust für unser Land, sondern ein Verlust für die ganze Welt. Er hat nahezu achtzig Jahre lang das Leben eines Gottgesandten und eines Apostels Gottes gelebt. Er hat die Seelen der Menschen erzogen; Er war gütig zu ihnen und hat sie den Weg der Wahrheit geführt. So erhob Er Sein Volk auf die Höhe des Ruhms, und Sein Gotteslohn wird deshalb groß sein; es ist der Lohn für den Gerechten! Hört mich, ihr Menschen: Abbas ist weder gestorben, noch ist das Licht Bahás erloschen! O nein, das Licht wird scheinen in [Seite 1351] ewigem Glanze. Die Leuchte Bahá Abbas ist rein und hat in sich das wahre Licht des Geistes geoffenbart. Und nun ist Er eingegangen in die Herrlichkeit, ein reiner Engel, reich gekleidet in Taten der Barmherzigkeit, edel in Seinen köstlichen Tugenden. O ihr Mitchristen! Ihr traget wohl die sterblichen Reste dieses ewig Betrauerten zu Seiner letzten Ruhestätte; doch wisset mit aller Gewißheit, daß euer Abbas immer im Geiste unter euch leben wird durch Seine Taten, Seine Worte, Seine Tugenden und die ganze Wesenheit Seines Lebens. Wir sagen dem materiellen Körper unseres Abbas Lebewohl; Sein irdischer Leib ist unseren Augen entschwunden, aber Seine Wirklichkeit, unser geistiger Abbas, wird nie aus unserem Gedächtnis, unseren Gedanken, unseren Herzen, unserer Seele entschwinden.

O Du großer, Du allverehrter Entschlafener! Du warst gut zu uns, hast uns geführt, hast uns gelehrt. Du hast ein großes Leben unter uns gelebt in allüberragender einsamer Größe, Du hast uns stolz gemacht auf Deine Taten und auf Deine Worte. Du hast den Orient auf den Gipfel des Ruhms erhoben, hast den Menschen Güte gezeigt, hast sie Dir zur Rechenschaft erzogen und hast Dich gemüht bis ans Ende, bis Du die Krone der Herrlichkeit errangst. Ruhe ewig im Schutz der Barmherzigkeit des Herrn, Deines Gottes, der Dir reichlich vergelten wird!“

Dann sprach ein weiterer Mohammedaner, der Mufti von Haifa, u.a. folgendes: „Ich will in meiner Rede über diesen Großen nicht übertreiben, denn Seine stets bereite, helfende Hand im Dienst der Menschheit und die herrliche und wunderbare Geschichte Seines Lebens, das dem Dienste alles Edlen und Guten gewidmet war, kann niemand leugnen, es sei denn, sein Herz sei blind ...“

„O Du hochgepriesener Abgeschiedener! Du warst groß in Deinem Leben und bist groß im Tode! Dieser große Leichenzug ist ein herrlicher Beweis Deiner Größe im Leben wie im Tode! O Du, den wir nun verloren haben! Du Menschheitsführer, mildtätig und wohlwollend! Auf wen sollen die Armen jetzt hoffen? Wer wird für die Hungernden sorgen und für die Unglücklichen, die Witwen und Waisen? Möge der Herr die Deinen mit Seinem Geiste erfüllen, ihnen Kraft verleihen in dieser großen Trübsal und sie versenken in den Ozean Seiner Gnade und Barmherzigkeit. Wahrlich, Er ist Gott, der die Gebete erhört und beantwortet!“

Nun trat ein Jude vor und widmete Ihm folgende Worte in französischer Sprache: „In einem Jahrhundert des übertriebenen Positivismus und zügellosen Materialismus ist es erstaunlich und selten, einen Philosophen von solch hoher Geisteskraft zu finden wie den heute von uns betrauerten ‘Abdu’l-Bahá Abbas, der an unsere Herzen und Gefühle appellierte, der stets trachtete, unsere Seelen zu erziehen, indem Er uns die höchsten Prinzipien lehrte, die Er als die Basis jeder Religion und Moral ansah. Durch Seine Schriften, durch Seine Worte, durch Seine Gespräche im engen Kreis wie auch durch Seine berühmten Unterredungen mit den gebildetsten und angesehensten Vertretern der verschiedenen religiösen Richtungen hat Er zu überzeugen gewußt und hat stets den Sieg davongetragen. Sein lebendiges Beispiel war der Ausdruck einer höheren Macht. Sein Leben in der Öffentlichkeit war ein Beispiel der Ergebenheit und der Selbstaufopferung zum Wohle anderer.

[Seite 1352] Seine Philosophie ist einfach, werdet ihr sagen, aber sie ist eben durch diese Einfachheit groß, dem menschlichen Charakter angepaßt, der von seiner Schönheit verliert, wenn er durch Vorurteile und Aberglauben entstellt ist. Abbas starb in Haifa in Palästina, auf der heiligen Erde, die die Propheten hervorbrachte. Viele Jahrhunderte lag diese heilige Erde brach, nun entsteht sie wieder aufs neue und nimmt ihren hohen Rang und ehemaligen Ruf wieder ein. Nicht wir allein verherrlichen Ihn. In Europa, in Amerika, was sage ich, in jedem Lande, das von Menschen bewohnt ist, die ihre Aufgabe auf dieser Welt erkennen, die nach sozialer Gerechtigkeit und Verbrüderung streben, wird man Ihn beweinen. Er ist gestorben, nachdem Er unter Despotismus, Fanatismus und Unduldsamkeit viel gelitten hat. Akka, die türkische Bastille, wurde Ihm jahrzehntelang zum Gefängnis. Bagdad, die Hauptstadt der Abbassiden, war auch Sein Gefängnis, wie das Seines Vaters. Persien, die einstige Wiege edler und göttlicher Philosophie, hat Seine Kinder, die ihre Ideen von ihr schöpften, aus dem Lande gestoßen. Sieht man nicht darin ein göttliches Walten und einen bedeutungsvollen Vorzug für das gelobte Land, das die Wiege aller großzügigen und edlen Gedanken war und auch in Zukunft sein wird? Wer eine so edle Vergangenheit hinterläßt, ist nicht tot. Wer so hohe Prinzipien niederschrieb, hat Seine Familie auf alle Seine Leser ausgedehnt und hat Seinen Namen der Nachwelt überliefert, gekrönt durch Unsterblichkeit.“

Nachdem die neun Redner ihre Gedächtnisreden gehalten hatten, kam der Augenblick, wo der Sarg mit dieser Perle liebenden Dienstes langsam und feierlich zu seiner einfachen, geheiligten Ruhestätte gebracht wurde.


Nachrufe der Presse und Beileidstelegramme

Welch ein ungeheurer Schmerz, daß die geliebten Füße nicht mehr über diese Erde schreiten, daß Derjenige, der solche Ergebenheit und Ehrfurcht einflößte, dieser Erde entrückt worden ist! — Unter den vielerlei Zeitungen, die im Osten und Westen Berichte über dieses bedeutende Ereignis brachten, steht an erster Stelle „Le Temps“, die führende französische Zeitung; sie schildert in ihrer Ausgabe vom 19. Dezember 1921 unter dem Titel „Ein Friedensstifter“ Leben und Lehre ‘Abdu’l-Bahás sehr anziehend. Folgendes ist ein kurzer Auszug daraus:

„In Palästina ist vor kurzem ein Prophet gestorben, der die Bahá’í-Lehre, eine Einheitsreligion, die nichts anderes ist als der Bábismus, dem Graf von Gobineau so große Beachtung schenkte, gründete. Der Báb, der Stifter des Bábismus, setzte sich die maßvolle Regeneration Persiens zum Ziel, was Ihn im Jahre 1850 das Leben kostete. — Bahá’u’lláh und Sein Sohn ‘Abdu’l-Bahá, „der Diener Gottes“, erstrebten nicht weniger als die Wiedergeburt der ganzen Welt. — ‘Abdu’l-Bahá hat Paris besucht. Vor zehn Jahren verbreitete dieser herrliche, gütige Greis das heilige Wort unter uns. Er war mit einem einfachen, olivgrünen Gewand bekleidet, auf dem Haupt trug Er einen weißen Turban. Darunter strahlten Seine Augen hervor in Intelligenz und Güte. Er hatte etwas Väterliches, Liebevolles und Einfaches; es schien, als ob Seine Kraft darin läge, die Menschen zu lieben und ihnen auch Zuneigung für sich einzuflößen. Seine [Seite 1353] Sprache war sanft und beruhigend, wie ein Gebet. Man lauschte Ihm mit andächtiger Freude, auch wenn man Ihn nicht verstand, da Er in persischer Sprache redete. Die Bahá’í-Lehre ist, kurz gesagt, die Religion der Nächstenliebe und der Einigkeit, in ihr ist also das Judentum wie das Christentum — streng konfessioneller und liberaler Richtung — enthalten. ‘Abdu’l-Bahá berief sich auf Zoroaster, Moses, Muhammad und Jesus. Man wird vielleicht denken, daß diese gleichzeitige Vereinigung zu vielseitig und zu verwirrend sei. Das kommt aber nur daher, daß man gar nichts von den heiligen Dingen versteht, wenn man nicht vom göttlichen Geist inspiriert ist. Wenn man von uns verlangte, die Vortrefflichkeit dieser ursprünglichen und reinen Religion zu bezeugen, so würden wir unseren Glauben durch folgende Formel ehrlich bekennen: Die Religionen sind schön, solange sie noch nicht in der Welt existieren.“

Die „Morning Post“ brachte zwei Tage nach dem Hinscheiden ‘Abdu’l-Bahás folgende Mitteilung über die Begebenheit: „Der verehrungswürdige Bahá’u’lláh starb 1892 und der „Mantel Seiner religiösen Sendung“ fiel auf Seinen Sohn ‘Abdu’l-Bahá. Nachdem ‘Abdu’l-Bahá vierzig Jahre im Gefängnis verbracht hatte, ermöglichten Ihm die konstitutionellen Veränderungen in der Türkei, England, Frankreich und Amerika zu besuchen. Seine beharrlichen Botschaften vom göttlichen Ursprung und von der Einheit der Menschheit waren so eindrucksvoll wie der Bote selbst, der von außerordentlicher Hoheit war. An Seinem Tisch saßen Buddhisten und Mohammedaner, Hindus und Zoroastrier, Juden und Christen in Freundschaft beisammen. Die Menschen, sagte Er, wurden durch Liebe erschaffen, laßt sie in Liebe und Freundschaft leben!“

Die „New York World“ vom 1. Dezember 1921 veröffentlichte folgendes: „Nie hat vor ‘Abdu’l-Bahá der Führer einer orientalischen religiösen Bewegung die Vereinigten Staaten aufgesucht ... Als im Juni dieses Jahres ein Spezial-Berichterstatter von „The World“ diesen Propheten besuchte, beschrieb er Ihn folgendermaßen: Auf den, der ‘Abdu’l-Bahá sieht, macht Seine Persönlichkeit einen unauslöschlichen Eindruck: die majestätische, ehrwürdige, mit einem faltenreichen Gewand bekleidete Gestalt, das Haupt von einem Turban gekrönt, weiß wie Sein Haar, die durchdringenden, tiefen Augen, deren Blick das Herz erschüttert, das Lächeln, das Seine Milde über alles ergießt ... Selbst noch an Seinem Lebensabend brachte ‘Abdu’l-Bahá den Weltereignissen das lebhafteste Interesse entgegen. Als General Allenby von Ägypten her die Küste säuberte, kam er zuerst, um ‘Abdu’l-Bahás Rat zu hören. Wenn Zionisten im verheißenen Land ankamen, baten sie ‘Abdu’l-Bahá um Seinen Rat. Für Palästina hegte Er die frohesten Hoffnungen. ‘Abdu’l-Bahá glaubte, daß der Bolschewismus eine Warnung für die irreligiöse Welt sei. Er lehrte die Gleichheit von Mann und Frau und sagte: Die Welt der Menschheit hat zwei Schwingen, Mann und Frau. Wenn ein Flügel lahm ist, kann der Vogel nicht fliegen ...“

„The Times of India“ eröffnete in ihrer Ausgabe vom 2. Januar 1922 einen der Hauptartikel wie folgt: „In normaleren Zeiten als den jetzigen würde der Tod ‘Abdu’l-Bahás, der auf dem Bahá’í-Kongreß in Bombay mit Trauer vernommen wurde, das Gemüt vieler erregt haben, die, ohne zu den Bahá’í zu gehören, mit ihren Lehren sympathisieren und das Lebenswerk derer, die sie verkündet haben, bewundern. So haben auch [Seite 1354] wir beinahe zufällig vom Tod dieses großen religiösen Führers erfahren. Diese Tatsache braucht uns jedoch nicht daran zu hindern, uns von der Politik und der Unruhe der laufenden Geschehnisse abzuwenden, um zu verstehen, was dieser Mann tat und was Er erstrebte.“ — Dann wird kurz ein Bild der Geschichte der Bewegung entworfen und gesagt: „Es ist nicht an uns, darüber zu urteilen, ob die Reinheit, der Mystizismus und die erhabenen Gedanken der Bahá’í-Lehre nach dem Verlust des großen Führers unverändert weiterleben werden, oder darüber nachzusinnen, ob der Bahá’ísmus eines Tages eine ebenso große oder noch größere Macht in der Welt erlangen wird wie das Christentum oder der Islam; wir wollen aber das Gedächtnis eines Mannes ehren, der einen großen Einfluß auf die Verwirklichung des Guten hatte und der, obgleich Er im Weltkrieg viele Seiner Ideen sichtbar zerstört sehen mußte, Seiner Überzeugung doch treu blieb und Seinen Glauben an ein Reich der Liebe und des Friedens aufrecht erhielt, der weit wirksamer als Tolstoi dem Westen zeigte, daß die Religion eine Lebenskraft ist, die nie unterschätzt werden darf.“

Aus der großen Anzahl von Telegrammen und Kondolenzdepeschen, die einliefen, mögen folgende erwähnt sein:

Seiner Britischen Majestät Staatssekretär für die Kolonien, Mr. Winston Churchill, telegraphierte an Seine Exzellenz, den „High Commissioner of Palestine“, der Bahá’í-Gemeinschaft im Namen der Regierung Seiner Majestät deren Sympathie und ihre Teilnahme am Tod von Sir ‘Abdu’l-Bahá K.B.E. (Knight Commander of the British Empire), zu übermitteln.

Im Namen des Geschäftsausschusses der amerikanischen Bahá’í-Gemeinschaft wurde folgende Beileidsbezeugung übermittelt: „Er tut, was immer er will! Herzen weinen in größter Betrübnis. Amerikanische Freunde senden durch den Einigkeitsausschuß strahlende Liebe, grenzenlose Sympathie und Ergebenheit. Standhaft bleibend im Bewußtsein Seiner steten Gegenwart und Nähe...“

Vicomte Allenby, der High Commissioner von Ägypten, hat durch die Vermittlung Seiner Exzellenz, des High Commissioner von Palästina unter dem Datum von 29. November 1921 folgende Botschaft telegraphiert: „Bitte übermitteln Sie den Verwandten des verstorbenen Sir ‘Abdu’l-Bahá Abbas Effendi und der Bahá’í-Gemeinschaft mein aufrichtiges Mitgefühl beim Verlust ihres hochwürdigen Führers.“

Die Bahá’í in Deutschland versichern das Größte Heilige Blatt ihrer Treue mit folgenden Worten: „Alle Gläubigen sind tief bewegt durch den unersetzlichen Verlust des kostbaren Lebens unseres Meisters. Wir bitten um himmlischen Schutz für die heilige Sache und geloben Treue und Gehorsam dem Mittelpunkt des Bundes.“

Eine offizielle Botschaft, durch das Ministerium in Bagdad übermittelt, datiert vom 8. Dezember 1921, lautet folgendermaßen: „Seine Hoheit Sayed Abdurrahman, der Premier-Minister, bittet, der Familie Seiner Heiligkeit ‘Abdu’l-Bahás sein Mitgefühl bei ihrem Verlust auszudrücken.“

Der Oberkommandeur des Ägyptischen Expeditionsheeres sendet durch Seine Exzellenz den High Commissioner für Palästina folgende Worte der Sympathie: „General Congreve bittet Sie, der Familie des verstorbenen Sir Abbas al-Bahá’í sein tiefstes Mitgefühl zu übermitteln.“

[Seite 1355] Die Theosophische Gesellschaft in London übermittelt durch einen Gläubigen in Haifa folgende Worte: „Der heiligen Familie sendet die Theosophische Gesellschaft Gedanken der Liebe.“

Eine der ersten Persönlichkeiten der kleinen und heiligen Stadt Nazareth telegraphierte folgendes: „Mit tiefstem Bedauern und Schmerz kondolieren wir Ihnen zum Untergang des Morgensterns des Ostens. Wir kommen von Gott, und zu Ihm werden wir zurückkehren.“

Tausende von Bahá’í in Teheran, der Hauptstadt Persiens, gedenken ihrer westlichen Brüder und Schwestern im Abendland und versichern sie ihres unerschütterlichen Glaubens mit folgenden Worten: „Das Licht des Bündnisses überträgt sich vom Auge aufs Herz. Jetzt ist der Tag des Lehrens, der Vereinigung und Selbstaufopferung.“

Und endlich drückt eine der hervorragendsten Persönlichkeiten aus dem akademischen Kreis der Universität Oxford, ein berühmter Professor, der als vollendeter Schüler und Kenner der Sache unter seinen Kollegen an erster Stelle steht, mit seiner Gattin sein Beileid in folgenden Worten aus: „Das Scheiden aus Seiner Hülle zum Übergang in ein höheres Leben muß besonders wundervoll und segensreich für die sein, deren Gedanken immer nach Hohem gerichtet waren und die bestrebt sind, schon auf Erden ein erhabenes Leben zu führen.“


Feier für die Armen

Am siebten Tage nach dem Hinscheiden des Meisters wurde in Seinem Namen Korn unter ungefähr tausend Armen von Haifa verteilt — gleichgültig, welcher Rasse oder Religion sie angehörten — für die Er immer ein Freund und Beschützer gewesen war. Ihr Kummer beim Verlust des „Vaters der Armen“ war erschütternd. Auch in den ersten sieben Tagen wurden täglich 50 bis 100 Arme in des Meisters Haus gespeist, an demselben Ort, wo Er ihnen Almosen zu geben pflegte. Am vierzigsten Tag wurde eine Gedenkfeier abgehalten, zu der über 600 Personen von Haifa, ‘Akká und den umliegenden Orten von Palästina und Syrien geladen waren, Menschen von verschiedenen Religionen, Rassen und Farben. Über 100 Arme wurden an diesem Tage ebenfalls gespeist. Der Statthalter von Phönizien, viele andere Beamte und einige Europäer waren anwesend. — Das Fest wurde ganz allein von den Mitgliedern des Haushalts des Meisters veranstaltet. Die langen Tafeln waren mit Ranken von Bougainvillea geschmückt. Ihre lieblichen purpurroten Blüten waren mit weißen Narzissen vermischt, und die großen Schalen mit goldgelben Orangen aus des geliebten Meisters Garten boten einen wunderschönen Anblick in den hohen weiten Hallen, deren weiterer Schmuck die prächtigen, in gedämpften Farben gehaltenen, seltenen persischen Teppiche waren. Keine unnützen, unbedeutenden Zierrate störten die vornehme Einfachheit. Jedem Gast, einem wie dem andern, wurde derselbe Willkommen. Es gab keine „Ehrenplätze“. Hier, wie immer, in des Meisters Haus, gab es kein Ansehen der Person.

Nach dem Imbiß kamen die Gäste in die große Mittelhalle, auch diese war ohne Schmuck, außer dem Bild Dessen, zu dessen Ehre sie sich versammelt hatten, und einigen alten, gewirkten persischen Teppichen, die an einer Wand herabhingen. Davor stand ein Rednerpult, von dem aus [Seite 1356] die Ansprachen an die gedrängt stehende, stumme, tiefergriffene Menge gehalten wurden. — Der Statthalter von Phönizien sprach im Laufe seiner Rede folgendes: „Die meisten von uns hier haben wohl ein klares Bild von Sir ‘Abdu’l-Bahá ‘Abbas, Seiner ehrwürdigen Gestalt, wie Er gedankenvoll durch unsere Straßen wandelte, Seiner höflichen und liebenswürdigen Art, Seiner Freundlichkeit, Seiner Liebe zu kleinen Kindern und zu Blumen, Seiner Großmut und Sorge für die Armen und Leidenden. So mild war Er und so einfach, daß man in Seiner Gegenwart beinahe vergaß, daß Er auch ein großer Lehrer war und daß Seine Schriften, wie auch die Unterredungen mit Ihm, Trost und Belebung für Hunderte und Tausende von Menschen im Osten und Westen bedeuteten.“ — Andere nach ihm sprachen mit Ehrerbietung vom Leben und Wirken ‘Abdu’l-Bahás. Das folgende sind nur wenige Auszüge aus ihren Reden:

„Eine Stimme ruft laut von Teheran, hallt wider in Irak, klingt in türkischen Landen, tönt durch das heilige Land, das auf ihre Melodie lauscht und durch sie erhoben, entwickelt und vergeistigt wurde, bis zuletzt ihr Widerhall durch ganz Ägypten ertönte, über die Meere im Westen hörbar wurde und von dort in die neue Welt hinüberklang. — Eine Stimme, die die Menschheit zur Liebe, Einigkeit und Frieden aufforderte; eine Stimme, der es, wäre sie nicht die Quelle der Reinheit gewesen, in keiner Weise hätte gelingen können, ihre Wellen mit der Geschwindigkeit des Lichtstrahls durch die ganze Welt zu senden. — Heil sei ‘Abbas, dem Stolz und dem Ruhm des Ostens, in einer Zeit, die durch Erkenntnis und Wissen Vorurteile schwinden läßt, Ihm, der den Gipfel der Größe erreicht hat, Ihm, dem Siegesflaggen winken; Ihm, dessen Stern in Persien aufging, der Sein Licht auf die Gemüter der Menschen ausstrahlte, Dessen Zeichen sich in himmlischer Pracht vervielfältigt haben, bis es in vollem Glanz an unserem Horizont unterging; Heil sei Ihm, dessen Lehre die Menschen demütig macht, wie Bahá’u’lláh selbst es vor ihm getan...

Ich glaube mit Bestimmtheit, daß Der, dessen Verlust wir jetzt beklagen, der achtzig Jahre auf dieser Erde wandelte, die Menschen mit Seiner Zunge belehrte, sie durch Seine Feder führte, ihnen durch Seine herrlichen Taten ein gutes Beispiel gab, daß Er sie, da nun Seine Stimme verstummt ist, geistig führen wird.

Laßt uns denn in unseren Betrachtungen und Gedanken Ihm unseren Tribut zollen. Obgleich ich neulich an Seiner Schwelle bittere Tränen vergoß, ist es jetzt doch meine Pflicht, euch zu bitten, euren Schmerz und eure Klagen einzustellen und eure Tränen versiegen zu lassen. Es ist wahr, Sir ‘Abbas ist körperlich von uns geschieden, aber Er lebt weiter unter uns in Seinem nie ermüdenden Geist und in Seinen wunderbaren Werken. Wenn Er auch von uns gegangen ist, so hat Er uns doch ein köstliches Erbe hinterlassen in Seinen weisen Ratschlägen, in der Größe Seiner Lehren, der Güte Seiner Werke, dem Beispiel Seines kostbaren Lebens, der Erhabenheit Seines Strebens, der Macht Seines Willens, Seiner Geduld und Seelenstärke und Seiner Standhaftigkeit bis zu Seinem Ende.“

Aus dem Testament ‘Abdu’l-Bahás

Und nun wollen wir uns zum Schluß den Schriften ‘Abdu’l-Bahás, Seinen Abschiedsworten, Ratschlägen und Gebeten, Seinem Ruf und Seiner Prophezeiung zuwenden.

[Seite 1357] In Seinem Testament sprach Er zu allen Freunden folgende Worte:

„O ihr Geliebten des Herrn! In dieser heiligen Sendung ist keinerlei Kampf und Streit gestattet. Jeder Angreifer beraubt sich selbst der Gnade Gottes. Jedem einzelnen obliegt es, allen Völkern und Artverwandten auf Erden Liebe, Redlichkeit, Ehrlichkeit und aufrichtige Freundschaft zu erzeigen, gleichviel, ob sie Freunde oder Feinde sind. So stark muß der Geist der Liebe und Güte sein, daß sich der Fremde als Freund, der Feind als wahrer Bruder fühlt und kein Unterschied zwischen ihnen besteht. Denn allumfassend zu sein ist göttlich, und alle Beschränkungen sind irdisch. Darum muß der Mensch danach streben, daß sein Wesen Tugenden und Vortrefflichkeiten ausstrahlt, deren Licht auf jedermann scheine. Das Licht der Sonne scheint auf die ganze Welt herab, und die Gnadenschauer göttlicher Vorsehung ergießen sich über alle Menschen. Der belebende Lufthauch erfrischt jedes lebende Geschöpf, und alle mit Leben begabten Wesen erhalten ihren Anteil und ihr Maß von Seiner himmlischen Tafel. Ebenso muß auch die Zuneigung und Güte der Diener des einen wahren Gottes freigebig und allumfassend der gesamten Menschheit gelten. In dieser Hinsicht sind keinerlei Einschränkungen und Begrenzungen gestattet.

Verkehrt darum, o Meine liebenden Freunde, mit allen Völkern, Stämmen und Religionen der Welt in äußerster Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Treue, Güte, Zuneigung und Freundlichkeit, auf daß sich die ganze Daseinswelt mit der heiligen Entzückung der Gnade Bahás erfülle, Unwissenheit, Feindseligkeit, Haß und Groll aus der Welt verschwinden und die Finsternis der Entfremdung unter den Völkern und Stämmen der Welt dem Lichte der Einigkeit weichen mögen. Sollten andere Völker und Nationen euch gegenüber treulos sein, so müßt ihr ihnen Treue erzeigen, sollten sie ungerecht gegen euch sein, so müßt ihr gegen sie gerecht sein, sollten sie sich von euch fernhalten, so ziehet sie zu euch hin, sollten sie sich feindselig zeigen, so seid freundlich zu ihnen, sollten sie euer Leben vergiften, so versüßt ihre Seelen, sollten sie euch verletzen, so seid ein Balsam für ihre Wunden. Dies sind die Eigenschaften der Aufrichtigen! Dies sind die Eigenschaften der Wahrhaftigen!...

O ihr Geliebten des Herrn! Bemüht euch mit ganzem Herzen darum, die Gottessache vor dem Angriff der Unaufrichtigen zu schützen, denn solche Seelen machen Gerades krumm und verkehren die Wirkung aller wohlgemeinten Bemühungen ins Gegenteil“ (1964/121, S. 27 und 34).

Über die Leiden und Prüfungen, die auf dieser Welt über Ihn kamen, und über Sein Verlangen nach Märtyrertum schreibt ‘Abdu’l-Bahá folgendes:

„O Gott, mein Gott! Du siehst diesen Unrecht leidenden Diener in den Klauen von wilden Löwen, reißenden Wölfen und blutdürstigen Tieren. Hilf mir gnädig durch meine Liebe zu Dir, daß ich zutiefst aus dem Kelche trinke, der von Treue zu Dir überquillt und voll Deiner mildtätigen Gnade ist, damit ich, in den Staub gestürzt, erschöpft und empfindungslos hinsinken möge, indessen mein Gewand sich mit meinem Blute rot färbt. Dies ist mein Wunsch, meine Herzenssehnsucht, meine Hoffnung, mein Stolz, meine Herrlichkeit. Gib, o Herr, mein Gott und meine Zuflucht, daß in meiner letzten Stunde mein Ende wie der Moschus seinen Duft des Ruhmes verströme! Gibt es wohl einen reicheren Lohn als diesen? [Seite 1358] Nein, bei Deiner Herrlichkeit! Ich rufe Dich zum Zeugen, daß kein Tag vergeht, an dem ich nicht die Fülle dieses Kelches trinke, so drückend sind die Übeltaten derer, die das Bündnis brachen und Zwietracht weckten, ihre Arglist zeigten, Aufruhr im Land erregten und Dich vor Deinen Dienern entehrten! Herr, beschirme die mächtige Festung Deines Glaubens vor diesen Bündnisbrechern und beschütze Dein verborgenes Heiligtum vor den Angriffen der Gottlosen. Du bist in Wahrheit der Mächtige, der Kraftvolle, der Gnädige und der Starke!“ (S. 22 f.).

„Herr! Du siehst, wie alle Dinge Tränen über mich vergießen, während sich meine Verwandten an meinen Schmerzen weiden. Bei Deiner Herrlichkeit, o mein Gott! Selbst einige von meinen Feinden beklagten meine Qual und Pein, und eine Reihe meiner Neider beweinte meine Sorgen, meine Verbannung und meine Not. Sie taten dies, weil sie nichts an mir finden konnten als Liebe und Fürsorge, Güte und Erbarmen. Als sie sahen, wie diese Flut von Elend und Trübsal mich fortriß, wie ich den Pfeilen des Schicksals zur Zielscheibe diente, da bewegte Mitleid ihre Herzen, Tränen traten ihnen in die Augen, und sie bekundeten: ‚Der Herr ist unser Zeuge! Nichts haben wir je von ihm erfahren als Treue, Großmut und grenzenloses Erbarmen‘. Die Bündnisbrecher jedoch, jene Unheilverkünder, wurden nur noch gehässiger in ihrer Erbitterung. Sie frohlockten, als ich der schlimmsten Heimsuchung zum Opfer fiel, wiegelten einander erneut gegen mich auf und freuten sich über die herzzerreißenden Geschehnisse um mich her“ (S. 31).

„Herr! Der Kelch meiner Leiden fließt über, und von allen Seiten umtoben mich wilde Stürme. Die Speere der Not bedrängen mich, und die Pfeile der Pein regnen auf mich hernieder. So hat mich die Drangsal überwältigt, und meine Kraft hat der Ansturm der Feinde in Schwäche verwandelt, als ich ganz einsam und verlassen inmitten meiner Leiden stand. Herr! Hab Erbarmen mit mir, erhebe mich zu Dir und lasse mich trinken aus dem Kelch des Märtyrertums, denn diese weite, ausgedehnte Welt kann mich nicht länger halten. Du bist wahrlich der Barmherzige, der Mitleidvolle, der Gnädige, der Allgütige!“ (S. 36).

Er bittet um Schutz für Seine Freunde:

„O Herr, mein Gott! Hilf Du Deinen Geliebten, Deinem Glauben treu zu sein, auf Deinen Wegen zu wandeln und standhaft in Deiner Sache zu bleiben. Gewähre ihnen Deine Gnade, damit sie den Angriffen selbstischer Leidenschaften widerstehen und dem Lichte göttlicher Führung folgen. Du bist der Machtvolle, der Gnadenreiche, der Selbstbestehende, der Geber, der Mitleidvolle, der Allmächtige, der Allgütige“ (S. 28).

Seinen Feinden gilt folgendes Gebet:

„Ich flehe zu Dir, o Herr, mein Gott, nicht nur mit Worten, sondern mit meinem ganzen Herzen: Vergilt ihnen nicht ihre Grausamkeit und ihre Übeltaten, ihre Verschlagenheit und das Unheil, das sie anrichteten, denn sie sind dumm und gemein und wissen nicht, was sie tun. Sie können Gut und Böse, Wahr und Falsch, Recht und Unrecht nicht unterscheiden. Sie gehen ihren eigenen Gelüsten nach und folgen den Fußstapfen der Dümmsten und Unvollkommensten unter ihnen. O mein Herr! Habe Mitleid mit ihnen, bewahre sie vor allem Leid in dieser so unruhvollen Zeit und gewähre, daß alle Sorge und Mühsal Deinem Diener zufalle, der in diesen [Seite 1359] finsteren Abgrund stürzte. Erwähle mich für jegliche Pein und mache mich zum Opfer für alle Deine Geliebten. O Herr, Du Höchster! Nimm mein Herz, mein Leben, mein Sein, meinen Geist, nimm alles, was mein ist, zum Opfer für sie hin! O Gott, mein Gott! Demütig bittend, mein Angesicht im Staube, flehe ich zu Dir mit der ganzen Inbrunst meiner Anbetung: Vergib jedem, der mich verletzte, verzeihe dem, der sich gegen mich verschwor und versündigte, und lösche die Untaten derer, die mir Unrecht zufügten. Gewähre ihnen Deine göttlichen Gaben, gib ihnen Freude, bewahre sie vor Leid, schenke ihnen Frieden und Wohlstand, gönne ihnen Deine Wonne und überschütte sie mit Deiner Freigebigkeit.

Du bist der Machtvolle, der Gnädige, der Helfer in Gefahr, der Selbstbestehende!“ (S. 31 f.).

Über die Wichtigkeit, die Lehre Gottes zu verkündigen, sagt Er:

„O ihr, die ihr fest im Bündnis steht! Wenn die Stunde kommt, da dieser Unrecht leidende und flügellahme Vogel seinen Flug zu den Heerscharen des Himmels nimmt, wenn er in das Reich des Ungeschauten eilt und seine sterbliche Hülle verschollen oder im Staube begraben ist, obliegt es den Afnán (Nachkommen des Báb, d. Red.), die standhaft im Bündnis Gottes und Zweige des Baumes der Heiligkeit sind, den Händen der Sache Gottes — die Herrlichkeit des Herrn sei mit ihnen — und den Freunden und Geliebten, jedem und allen, sich aufzumachen und sich einhellig mit Herz und Seele zu erheben, die süßen Düfte Gottes zu verbreiten, Seine Sache zu lehren und Seinen Glauben zu fördern. Es ziemt ihnen, keinen Augenblick zu ruhen oder nach Ruhe zu trachten. Sie müssen sich über alle Länder verstreuen, alle Landstriche durchstreifen und alle Gegenden durchreisen. Rege, rastlos und standhaft bis zum Ende müssen sie in jedem Land den Siegesruf Yá Bahá’u’l-Abhá (O Du, die Herrlichkeit der Herrlichkeiten) erheben; wohin sie in der Welt auch gehen, müssen sie sich einen guten Namen machen, bei jeder Versammlung hell wie eine Kerze leuchten und in jeder Gemeinde die Flamme der göttlichen Liebe entzünden, auf daß das Licht der Wahrheit mitten im Herzen der Welt erstrahle, in Ost und West sich eine gewaltige Schar unter dem Schatten des Wortes Gottes versammle, die lieblichen Düfte der Heiligkeit sich ausbreiten, die Gesichter hell leuchten, die Herzen mit dem göttlichen Geist erfüllt und die Seelen zu himmlischen Seelen werden“ (S. 23 f.).

„Die Jünger Christi vergaßen sich selbst und alles Irdische, gaben alle ihre Sorgen und ihre Habe auf, läuterten sich vom Ich und den Leidenschaften und verstreuten sich in völliger Loslösung weithin, um die Völker unter die göttliche Führung zu rufen, bis sie schließlich aus dieser Welt eine neue Welt gemacht und die Erdoberfläche erleuchtet hatten. Bis zu ihrer letzten Stunde bewiesen sie ihre Opferbereitschaft auf dem Pfad jenes Geliebten Gottes. Schließlich erlitten sie in verschiedenen Ländern ruhmvolles Märtyrertum. Laßt die, welche Menschen der Tat sind, ihren Spuren folgen!“ (S. 24).

„Wer und welche Versammlung auch immer der Verbreitung des Glaubenslichtes zum Hindernis wird, sollte durch die Geliebten beraten werden und gesagt bekommen: ‚Von allen Gaben Gottes ist die größte die des Lehrens. Es zieht die Gnade Gottes an und ist unsere oberste Verpflichtung. Wie könnten wir uns einer solchen Gabe berauben? Nein, unser [Seite 1360] Leben, unsere Habe, unsere Bequemlichkeit, unsere Ruhe, das alles bringen wir der Schönheit Abhá zum Opfer und lehren die Sache Gottes‘. Doch müssen Vorsicht und Klugheit beachtet werden, wie es im Buch verzeichnet ist. Der Schleier darf keineswegs plötzlich auseinandergerissen werden“ (S. 38).

Über die Glaubensgrundlage des Volkes Bahás sagt Er:

„Die Glaubensgrundlage des Volkes Bahás — möge ihm mein Leben als Opfer dienen — ist diese: ‚Seine Heiligkeit der Erhabene (der Báb) ist die Offenbarung der Einheit und Einzigkeit Gottes und der Vorläufer der Ewigen Schönheit. Seine Heiligkeit die Schönheit Abhá — möge mein Leben ein Opfer für Seine standhaften Freunde sein — ist die höchste Offenbarung Gottes und der Aufgangsort Seines höchst göttlichen Wesens. Alle anderen sind Seine Diener und befolgen, was Er gebietet‘. Jeder muß sich nach dem Heiligsten Buche richten, und was darin nicht ausdrücklich Erwähnung findet, ist an das Universale Haus der Gerechtigkeit zu verweisen. Was diese Körperschaft einstimmig oder mit Stimmenmehrheit entscheidet, ist die Wahrheit und Gottes eigener Wille. Wer davon abgeht, gehört wahrlich zu denen, die Uneinigkeit lieben, Bosheit zeigen und sich vom Herrn des Bündnisses abkehren ...“ (S. 32).

Über die Ergebenheit der Bahá’í gegenüber den Machthabern und den Landesgesetzen sagt Er folgendes:

„O ihr Geliebten des Herrn! Es obliegt euch, allen gerechten Herrschern ergeben zu sein und jedem rechtlichen König eure Treue zu erweisen. Dient den Herrschern der Welt mit äußerster Wahrhaftigkeit und Ergebenheit. Erzeigt ihnen Gehorsam und bringt ihnen Wohlwollen entgegen. Mischt euch nicht ohne ihre Erlaubnis und Genehmigung in politische Dinge ein, denn Untreue gegen einen gerechten Herrscher ist Untreue gegen Gott.

Dies ist Mein Rat und Gottes Gebot an euch. Wohl denen, die danach handeln!“ (S. 29).

Er schließt einen Abschnitt Seines Testaments mit folgendem Gebet: „O Gott, mein Gott! Ich rufe Dich, Deine Propheten, Deine Boten und Deine Heiligen zu Zeugen, daß ich Deine Beweise überzeugend vor Deinen Geliebten verkündet und alles deutlich vor ihnen an den Tag gelegt habe, damit sie über Deinen Glauben wachen, Deinen geraden Pfad behüten und Dein strahlendes Gesetz beschützen. Du bist wahrlich der Allwissende, der Allweise!“ (S. 34 f.).


Weitere Ermahnungen, Verheißungen, Ratschläge und Abschiedsworte ‘Abdu’l-Bahás

Und nun von Seinem Testament zu Seinen Sendschreiben und Botschaften! Dort lesen wir folgende Mahnung, die Er in Seinem letzten allgemeinen Tablet an die Geliebten der ganzen Welt richtet:

„O ihr Geliebten! Hütet die Sache Gottes! Laßt euch nicht durch süße Redensarten verlocken, achtet vielmehr auf den Beweggrund jeder Seele und erwägt die Gedanken, die sie hegt, seid äußerst achtsam und auf der Hut (gegen Übelwollende)! Meidet sie, greift sie nicht an, wendet euch ab von Tadel und Verleumdung. Überlasset sie der Hand Gottes.“

[Seite 1361] Eine klare und deutliche Prophezeiung, die Er angesichts der wunderbaren Ausbreitung der Lehre in nicht allzuferner Zeit aussprach, ist kraftvoll in einem Brief niedergelegt, den Er, trotz der Drohung des Untersuchungskomitees, während der trübsten Tage Seiner Gefangenschaft in ‘Akká schrieb:

„Nun hat in dieser Welt des Seins die Hand der göttlichen Macht den festen Grund zu dieser höchsten Wohltat und dieser mächtigen Sache gelegt. Was in diesem heiligen Zyklus noch verborgen ist, wird nach und nach in Erscheinung treten und offenbar werden, denn jetzt stehen wir erst im Beginn seiner Entwicklung, im Frühling der Offenbarung seiner Vorzeichen. Noch vor Ende dieses Jahrhunderts und Zeitalters wird es klar und augenscheinlich werden, wie wundervoll diese Frühlingszeit war und wie himmlisch diese Gabe ist.“

Eine ähnliche und noch bestimmtere Äußerung, das Wachstum der Bewegung prophezeiend, steht in einem Tablet, das Er nach dem Weltkrieg einem kurdischen Freund, der in Ägypten lebt, schrieb. Es lautet:

„Betreffs des Verses im Buch Daniel, um dessen Auslegung du bittest, nämlich: ‚Gesegnet sind die, die unter die 1335 Tage kommen‘, ist zu sagen: Diese Tage müssen als Sonnen- und nicht als Mondjahre gerechnet werden, denn übereinstimmend mit dieser Berechnung wird seit dem Aufgang der Sonne der Wahrheit ein Jahrhundert verflossen sein, dann werden die Lehren Gottes auf der ganzen Erde festen Fuß gefaßt haben und das göttliche Licht wird die Welt vom Osten bis zum Westen durchfluten. Dann, an diesem Tag, wird der Gläubige sich freuen!“

Die geheimnisvolle Deutung des oben erwähnten Ausspruches bestätigt und erklärt Er mit folgenden, einem früheren Tablet entnommenen Worten:

„O Diener Gottes! Die oben erwähnten 1335 Tage müssen vom Abscheiden Mohammeds an, des Boten Gottes, gerechnet werden (nach d. Hedschra) — Lob und Segen ruhen auf Ihm! Am Ende dieser Zeit werden die Anzeichen der Zunahme der Herrlichkeit, der Erhabenheit und der Verbreitung des Wortes Gottes vom Osten bis zum Westen erscheinen.“

In einem Seiner letzten Tablets berät Er die Freunde Gottes und ist voll frischen, ermunternden Geistes. Er sagt:

„Achtet nicht auf die Persönlichkeit ‘Abdu’l-Bahás, denn sie wird eines Tages von euch gehen; blickt auf das Wort Gottes! Wenn es sich erhebt und ausbreitet, so freut euch; seid froh und dankbar, selbst wenn ‘Abdu’l-Bahá bedroht, eingekerkert oder in Ketten gelegt werden sollte. Denn das, was von höchster Bedeutung ist, ist der Tempel der heiligen Sache Gottes und nicht die sterbliche Hülle ‘Abdu’l-Bahás. Die Geliebten Gottes müssen sich mit einer solchen Standhaftigkeit erheben, daß in einem Augenblick hunderte von Seelen wie ‘Abdu’l-Bahá zu einer Zielscheibe für die Geschosse des Leids gemacht werden; nichts auf der Welt soll ihren festen Entschluß, ihre Absicht, ihren Eifer, ihre Begeisterung, ihren Dienst an der Sache Gottes beeinflussen oder abschwächen ... Dies, o ihr Geliebten des Herrn, ist mein Rat und meine Ermahnung an euch. Wohl dem, dem der Herr hilft, das zu tun, um was in diesem reinen und geheiligten Tablet gebeten wird.“

[Seite 1362] Das Rundschreiben, das beim Hinscheiden des Meisters vom Geistigen Rat in Teheran veröffentlicht wurde, enthält Auszüge aus einem Tablet, das vierzehn Jahre zuvor durch die Feder des Mittelpunktes des Bundes geoffenbart wurde:

„O ihr, meine treuen Geliebten! Sollten je einmal im Heiligen Land betrübliche Ereignisse eintreten, so beunruhigt und erregt euch nicht darüber, habt weder Furcht noch Kummer. Denn was auch geschehen mag, wird nur dazu beitragen, das Wort Gottes zu erheben und die himmlischen Wohlgerüche zu verbreiten. Schreitet mutig voran und ermannt euch mit größter Standhaftigkeit, Seiner Sache zu dienen ... Der Geist Gottes und Seine Herrlichkeit ruhe auf dem, der fest und standhaft im Bunde ist!“

Unter Seinen Äußerungen über Sein Abscheiden von dieser Welt befindet sich folgende Versicherung:

„Denkt daran, daß ich, ob ich lebe oder sterbe, stets mit euch sein werde!“

Auch in einem Tablet, das an einen der Freunde in Amerika gerichtet ist, schildert Er die künftige Herrlichkeit des heiligen Baumes Gottes, an dem Er der Größte Zweig ist:

„Fürchtet euch nicht, wenn dieser Zweig von der materiellen Welt genommen wird und seine Blätter verliert; o nein, dann werden seine Blätter erst recht gedeihen, denn dieser Ast wird wachsen, nachdem er von dieser Welt getrennt worden ist, er wird die höchsten Zinnen der Herrlichkeit erreichen und Früchte tragen, die die Welt mit ihrem Wohlgeruch erfüllen werden.“

Sein allerletztes Tablet, das Er in Seiner Güte Seinen Geliebten in Stuttgart offenbarte, übermittelt Seine Betrachtungen über diese irdische Welt und Seine Ratschläge für Seine Geliebten, die in ihr leben:

„O ihr Geliebten des Herrn! In dieser irdischen Welt ist nichts von Bestand. Die Menschen dieser Erde wohnen auf ihr und verbringen viele Tage mit nutzlosen Dingen, bis sie zuletzt in den Staub sinken und in die Heimat der ewigen Ruhe eingehen, kein Werk, keinen Segen, kein Ergebnis, keine Frucht hinterlassend. So haben sie alle Tage ihres Lebens nutzlos vergeudet. Indessen säen die Kinder des Königreichs Samen in das fruchtbare Land des Glaubens, der endlich aufgehen, reichen Ertrag bringen und den Menschen Wachstum und reiches Gedeihen verleihen wird. Sie werden ewiges Leben erhalten, unvergänglicher Gnade teilhaftig werden und wie strahlende Sterne am Firmament des göttlichen Königreichs leuchten. Die Herrlichkeit der Herrlichkeiten ruhe auf euch!“

Und nun: Mit welchem anderen, unmittelbareren, bewegenderen Appell sollte ich diesen traurigen und doch erhebenden Bericht Seiner letzten Tage schließen als mit Seinen folgenden rührendsten und erhebendsten Worten?

„Freunde, die Zeit naht, da ich nicht mehr unter euch sein werde. Ich habe alles getan, was getan werden konnte. Ich habe der Sache Bahá’u’lláhs nach besten Kräften gedient. Tag und Nacht habe ich gearbeitet durch alle Jahre meines Lebens. O wie sehne ich mich danach, daß die Geliebten die Verantwortung für die Sache auf eigene Schultern nehmen. Es ist jetzt Zeit, das Königreich Abhás zu verkünden! Jetzt ist [Seite 1363] die Stunde der Liebe und Einigung! Dies ist der Tag für geistige Harmonie der Geliebten Gottes. Alle meine körperlichen Kräfte sind erschöpft, und mein Geist lebt nur noch von den willkommenen Botschaften der Einigkeit des Volkes Bahás. Ich lausche nach Ost und West, nach Nord und Süd, ob ich zu meiner Freude das Lied der Liebe und Freundschaft aus der Versammlung der Getreuen ertönen höre, denn meine Tage sind gezählt und außer dieser gibt es keine Freude für mich. O, wie ich mich danach sehne, die Freunde geeint zu sehen wie eine Reihe köstlicher Perlen, wie das leuchtende Siebengestirn, wie die Strahlen der Sonne und wie Gazellen auf einer Weide!

Die mystische Nachtigall jubelt euch zu; möchtet ihr nicht lauschen? Der Paradiesvogel lockt, wollt ihr nicht hören? Der Engel Abhás ruft euch, wollt ihr nicht darauf horchen? Der Bote des Bündnisses fleht euch an, wollt ihr ihm nicht folgen?

Ich warte und warte auf die frohe Botschaft, daß die Gläubigen die Verkörperung der Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit, der Liebe und Freundschaft sind, die lebendigen Symbole der Einheit und Eintracht. Wollen sie mein Herz nicht erfreuen? Wollen sie mein Sehnen nicht stillen? Wollen sie meinen Wunsch nicht erfüllen? Wollen sie das Verlangen meines Herzens nicht verwirklichen? Wollen sie auf meinen Ruf nicht hören?

Ich warte, ich warte geduldig!“



Amerikas geistige Sendung[Bearbeiten]

Die Sendschreiben ‘Abdu’l-Bahás zum Göttlichen Plan


An die Geistigen Räte und Versammlungen der Gläubigen Gottes und der Dienerinnen des Barmherzigen in den Vereinigten Staaten und in Kanada.

Bahá’u’lláh Al-Abhá sei mit ihnen!

Er ist Gott!

O ihr gesegneten Seelen!

Ich flehe um ewiges Glück und Gedeihen für euch und bitte um die völlige Bestätigung jedes einzelnen in der himmlischen Welt. Es ist meine Hoffnung für euch, daß ein jeder erstrahlen möge wie der Morgenstern am Himmelsbogen der Welt und ein gesegneter Baum in diesem Garten Gottes werde, der unvergängliche Früchte und Erfolge zeitigt.

Darum will ich euch hinlenken auf das, was zu eurer himmlischen Bestätigung und Erleuchtung im Reiche Gottes führt!

Es handelt sich um folgendes: Alaska ist ein weites Land, und obwohl eine der Dienerinnen des Barmherzigen dorthin eilte, als Bibliothekarin an der Öffentlichen Bücherei arbeitet und nach besten Kräften nichts unversucht läßt, um die Sache zu lehren, so ist doch der Ruf zum Reiche Gottes noch nicht durch dieses unermeßliche Gebiet erschollen.

[Seite 1364] Seine Heiligkeit Christus sagt: Ziehet hin gen Osten und gen Westen und rufet die Menschen zum Reiche Gottes. Also muß die Gnade Gottes die ganze Menschheit umschließen, und ihr dürft nicht denken, es ginge an, jene Gegend der Morgenlüfte der Führung beraubt zu lassen. Folglich mühet euch, so sehr ihr könnt, dorthin gewandte Redner zu senden, die losgelöst sind von allem außer Gott, angezogen von den Düften Gottes, geheiligt und geläutert von allen Wünschen und Versuchungen. Ihre Nahrung und Versorgung muß aus den Lehren Gottes bestehen. Zuerst müssen sie selbst nach jenen Grundsätzen leben, dann die Menschen führen. So Gott will, werden vielleicht die Lichter der göttlichen Führung jenes Land erleuchten, und die Düfte aus dem Rosengarten der Liebe Gottes werden den Bewohnern von Alaska durch die Nase ziehen. Wenn ihr standhaft einen solchen Dienst erfüllet, dann seid gewiß, daß ihr euer Haupt mit dem Diadem unvergänglicher Herrschaft krönet und an der Schwelle der Einheit als die Lieblingsdiener aufgenommen werdet.

Ebenso wichtig ist die Republik Mexiko. Die Mehrzahl ihrer Einwohner sind ergebene Katholiken. Das Wesen der heiligen Schrift, des Evangeliums und der neuen göttlichen Lehren ist ihnen völlig unbewußt. Sie wissen nicht, daß die Grundlage der Religionen Gottes eine ist, und daß die heiligen Offenbarungen der Sonne der Wahrheit gleichen, die an verschiedenen Orten aufgeht. Diese Seelen sind versunken im Meere der Dogmen. Wenn nur ein einziger Hauch des Lebens über ihnen weht, so werden große Erfolge daraus erwachsen. Aber es ist besser für diejenigen, die nach Mexiko gehen wollen um zu lehren, mit der spanischen Sprache vertraut zu sein.

Das Gleiche gilt für die sechs mittelamerikanischen Republiken, die südlich von Mexiko liegen: Guatemala, Honduras, El Salvador, Nikaragua, Kostarika, Panama, und für das siebte Land, Belize oder Britisch-Honduras. Die Lehrer, die in diese Länder ziehen, müssen ebenfalls die spanische Sprache beherrschen.

Ihr müßt großes Gewicht auf die Lehrarbeit unter den Indianern, den Ureinwohnern Amerikas, legen; denn diese Seelen gleichen den alten Bewohnern der arabischen Halbinsel, die vor der Offenbarung Seiner Heiligkeit Muhammad als Wilde angesehen wurden. Als aber das Licht Muhammads in ihrer Mitte erstrahlte, wurden sie davon so erfüllt, daß sie die ganze Welt erleuchteten. Ebenso steht es mit diesen alteingesessenen Indianern: Wenn sie erzogen und geführt werden, dann werden sie zweifellos durch die göttlichen Lehren so erleuchtet werden, daß sich ihr Licht über alle Regionen ergießt.

Alle die obengenannten Länder sind von Wichtigkeit, aber besonders wichtig ist die Republik Panama, in der der Atlantische und der Pazifische Ozean durch den Panama-Kanal zusammentreffen. Sie ist ein Knotenpunkt des Reise- und Durchgangsverkehrs von Amerika in andere Erdteile und wird in der Zukunft ganz besondere Bedeutung erlangen.

Auch die westindischen Inseln wie Kuba, Haiti, Puerto Rico, Jamaika, die Inseln der Kleinen Antillen, die Bahama-Inseln und sogar die kleine Watling-Insel sind sehr wichtig; ganz besonders die beiden schwarzen Freistaaten, Haiti und die Dominikanische Republik, die in der Gruppe der Großen Antillen liegen. Ebenso bedeutungsvoll ist die Inselgruppe der Bermudas im Atlantischen Ozean.

[Seite 1365] Ein Gleiches gilt für die Staaten des Erdteils Südamerika: Kolumbien, Ekuador, Peru, Brasilien, Britisch-Guayana, Niederländisch-Guayana, Französisch-Guayana, Bolivien, Chile, Argentinien, Uruguay, Paraguay, Venezuela; auch für die Inseln im Norden, Osten und Westen von Südamerika wie die Falkland- und die Galapagos-Inseln, Juan Fernandez, Tobago und Trinidad. Ebenso die Stadt Bahia, die an der Ostküste Brasiliens liegt. Weil sie seit einiger Zeit unter diesem Namen bekannt wurde, wird sie große Bedeutung gewinnen.

Kurz gesagt, o ihr Gläubigen Gottes, erhöhet euren Einsatz und steckt eure Ziele weit! Seine Heiligkeit Christus sagt: Selig sind die Armen, denn das Himmelreich ist ihr. Mit anderen Worten: Selig sind die namenlosen und spurlosen Armen, denn sie sind die Führer der Menschheit. Ebenso ist im Qur’án gesagt: „Wir wünschen Unsere Gaben zu verteilen auf diejenigen, die auf Erden schwach wurden, und sie zu einem Volk und zu Erben (geistiger Wahrheit) zu machen.“ Oder: Wir wünschen, den schwachen Seelen Gunst zu erweisen und sie als die Erben der Boten und Propheten einzusetzen.

Deshalb ist es jetzt an der Zeit, daß ihr euch des Gewandes der Bindung an dieses äußerliche Reich entledigt, daß ihr euch von der stofflichen Welt völlig loslöst, daß ihr zu Engeln des Himmels werdet, durch all diese Gegenden reiset und lehrt.

Ich erkläre bei Ihm, neben dem es keinen zweiten gibt, daß ein jeder von euch zum Israfil1) des Lebens werden soll, der den Odem des Lebens anderen in die Seele haucht.

Gruß und Ehre seien mit euch!


Demütige Bitte

O Du unvergleichlicher Gott! O Du Herr des Königreiches! Diese Seelen sind Dein himmlisches Heer. Hilf ihnen und führe sie mit der Menge der himmlischen Heerscharen zum Sieg, auf daß eine jede von ihnen einem Regimente gleichwerde und diese Länder durch die Liebe zu Gott und die Erleuchtung göttlicher Lehren erobern möge.

O Gott! Sei Du ihr Beistand und ihr Helfer, und in der Wildnis, im Gebirg, im Tal und in den Wäldern, auf den Steppen und den Meeren sei Du ihr Vertrauter, damit sie durch die Macht des Königreiches und den Odem des Heiligen Geistes ihren Ruf erschallen lassen.

Wahrlich, Du bist der Machtvolle, der Starke und der Allmächtige, und Du bist der Weise, der Hörende und der Sehende.

Haifa, Palästina,

8. April 1916

An die Gläubigen und die Dienerinnen des Barmherzigen der Baha’i-Versammlungen und Geistigen Räte in den Vereinigten Staaten und in Kanada.

Er ist Gott!

O ihr wahren Bahá’í Amerikas,

Preis sei Seiner Erhabenheit dem Langersehnten, daß ihr bestätigt wurdet in der Verbreitung der göttlichen Lehren über jenen weiten Erdteil, daß ihr den Ruf zum Reiche Gottes in jenen Gefilden erhebet und die [Seite 1366] Frohen Botschaften von der Offenbarung des Herrn der Heerscharen und Seiner Erhabenheit des Verheißenen verkündetet. Dank sei dem Herrn, daß ihr in dieser Aufgabe unterstützt und bestätigt wurdet. Dies geschah nur durch die Bestätigungen des Herrn der Heerscharen und den Odem des Heiligen Geistes. Heute ist eure Bestätigung noch unbekannt und unverstanden. Binnen kurzem werdet ihr sehen, daß jeder von euch wie ein leuchtender und glänzender Stern das Licht der Führung von jenem Horizonte ausstrahlt, und daß ihr zur Quelle ewigen Lebens wurdet für die Bewohner Amerikas.

Bedenket! Die Stufe und die Bestätigung der Apostel war zur Zeit Christi verborgen, und niemand hielt sie für etwas Besonderes — nein, die Leute verfolgten und verlachten sie gar. Später wurde offenbar, welche Kronen, mit glänzenden Juwelen übersät, den Aposteln, Maria Magdalena und Maria, der Mutter des Johannes, aufs Haupt gesetzt worden waren.

Ebenso ist eure Bestätigung gegenwärtig noch unbekannt. Ich hoffe, daß sie binnen kurzem die Pfeiler der Erde mächtig zum Schwingen bringt. Es ist darum die Hoffnung ‘Abdu’l-Bahás, daß ihr ebenso, wie ihr auf dem amerikanischen Erdteil bestätigt und unterstützt wurdet, auch auf den anderen Kontinenten des Erdballs Bestätigung und Hilfe findet; das heißt, ihr solltet den Ruhm der Sache Gottes hinaustragen gen Osten und gen Westen und solltet die frohen Botschaften vom Erscheinen des Königreiches des Herrn der Heerscharen über alle fünf Erdteile verbreiten.

Wenn dieser göttliche Ruf vom Erdteil Amerika nach Europa, Asien, Afrika, Australien und auf die Inseln des Pazifik wandert, werden die amerikanischen Gläubigen auf dem Thron unsterblichen Ruhmes sitzen, die Kunde von ihrer Erleuchtung und Führung wird durch alle Bereiche ziehen, und ihre Größe wird weltweit gewürdigt werden. Deshalb muß sich eine Gesellschaft von Gläubigen, die die Sprachen beherrschen, den drei großen Inselgruppen des Stillen Ozeans zuwenden und sie bereisen: nach Polynesien, Mikronesien und Melanesien und auf die Inseln, die bei diesen Gruppen liegen, wie zum Beispiel Neuguinea, Borneo, Java, Sumatra, die Philippinen, die Salomonen, die Fidschi-Inseln, die Neuen Hebriden, die Loyalitäts-Inseln, Neu-Kaledonien, der Bismarck-Archipel, Ceram, Celebes, die Tonga-Inseln, die Samoa-Inseln, die Gesellschafts-Inseln, die Karolinen, die Niedrigen Inseln, die Markesas-Inseln, die Hawaii-Inseln, die Gilbert-Inseln, die Molukken, die Marshall-Inseln, Timor und andere mehr. Mit Herzen, die von der Liebe Gottes überfließen, mit Zungen, die dem Gedenken Gottes dienen, die Augen auf das Reich Gottes gerichtet, so müssen sie die frohe Botschaft von der Offenbarung des Herrn der Heerscharen allen Menschen überbringen. Wisset wahrlich, daß in jeder Versammlung, die ihr besuchet, der Heilige Geist über den Häuptern wogt und die himmlischen Bestätigungen der Gesegneten Vollkommenheit alle umschließen.

Bedenket, daß Fräulein Agnes Alexander, die Tochter des Königreiches, die geliebte Dienerin der Gesegneten Vollkommenheit, ganz allein nach Hawaii und nach Honolulu reiste und nunmehr geistige Siege in Japan erringt! Denket darüber nach, wie diese Tochter auf den Hawaii-Inseln bestätigt ward! Sie wurde die Quelle der Führung für eine Gruppe von Menschen.

[Seite 1367] Ebenso reiste Fräulein Knobloch allein nach Deutschland. In welch großem Ausmaß wurde sie bestätigt! Seid deshalb gewiß, daß ein jeder, der sich an diesem Tage aufmacht, die göttlichen Düfte zu verbreiten, von den Heerscharen des Reiches Gottes bestätigt und mit den Gaben und Gunstbeweisen der Gesegneten Vollkommenheit umgeben wird.

O, wie sehne ich mich danach, diese Gegenden zu durchreisen, wenn nötig, sogar zu Fuß und in tiefster Armut die Städte, die Dörfer, die Berge, die Wüsten und die Meere zu durchqueren, mit höchster Stimme den Ruf „Yá-Bahá’u’l-Abhá!" zu erheben und die göttlichen Lehren zu verbreiten. Aber dies ist mir jetzt nicht möglich; ich lebe darum in großem Kummer. Vielleicht, so Gott es will, werdet ihr in dieser Aufgabe unterstützt.

Dieser Tage sind auf Hawaii durch die Bemühungen von Fräulein Alexander eine Anzahl Seelen an das Ufer der See des Glaubens gelangt. Bedenket, welches Glück, welche Freude dies bedeutet! Ich versichere beim Herrn der Heerscharen: Hätte diese hochgeschätzte Tochter ein Kaiserreich gegründet, dieses Kaiserreich wäre nicht so groß! Denn diese Herrschaft ist ewige Herrschaft, und dieser Ruhm ist unvergänglicher Ruhm.

Desgleichen, wenn einige Lehrer auf andere Inseln und in andere Gebiete gehen, etwa in den Erdteil Australien, nach Neuseeland, Tasmanien, auch nach Japan, ins asiatische Rußland, nach Korea, Französisch-Indochina, Siam, in die Straits Settlements 2), nach Indien, Ceylon und Afghanistan, so wird dies größte Erfolge zeitigen. Wie gut wäre es, wenn es eine Möglichkeit gäbe, daß eine Abordnung aus Männern und Frauen zusammen durch China und Japan reiste, auf daß das Band der Liebe gestärkt werde und sie durch ihr Kommen und Gehen die Einheit der Menschenwelt aufrichten, die Menschen zum Reiche Gottes rufen und die Lehren verbreiten.

Ebenso sollten sie, wenn möglich, in den Erdteil Afrika reisen, auf die Kanarischen, die Kapverdischen und die Madeira-Inseln, nach Reunion, St. Helena, Sansibar, Mauritius und anderen; sie sollten in diesen Ländern das Volk zum Reich Gottes rufen und den Ruf „Yá-Bahá’u’l-Abhá!“ erheben. Auch sollten sie die Fahne der Einheit der Menschenwelt auf der Insel Madagaskar errichten.

Bücher und Druckschriften müssen in die Sprachen dieser Länder und Inseln übersetzt oder neu zusammengestellt werden, um in allen Richtungen und in allen Gebieten umzulaufen.

Man berichtet, daß in Südafrika eine Diamantmine entdeckt wurde. Obwohl diese Mine sicher höchst wertvoll ist, finden sich dort letzten Endes doch nur Steine. So Gott will, wird vielleicht die Fundgrube der Menschlichkeit entdeckt, und die glänzenden Perlen des Königreiches werden darin gefunden.

In kurzen Worten, dieser weltverzehrende Krieg hat eine solche Feuersbrunst in die Herzen gelegt, daß die Worte fehlen, sie zu beschreiben. In allen Ländern der Welt hat die Sehnsucht nach allumfassendem Frieden vom Bewußtsein der Menschen Besitz ergriffen. Da gibt es keine Seele, die sich nicht nach Eintracht und Frieden sehnt. So verwirklicht sich jetzt ein wunderbarer Zustand der Empfänglichkeit. Dies geschah [Seite 1368] durch die vollendete Weisheit Gottes, damit die Aufnahmefähigkeit geschaffen, die Standarte der Einheit der Menschenwelt aufgerichtet und die Grundlagen des allumfassenden Friedens und der göttlichen Leitsätze gefördert werden, im Osten wie im Westen.

Darum. o ihr Gläubigen Gottes, gebet euch Mühe und verbreitet nach diesem Krieg die neue, vereinende Schau der göttlichen Lehren auf den Britischen Inseln, in Frankreich, Deutschland, Österreich-Ungarn, Rußland, Italien, Spanien, Belgien, in der Schweiz, in Norwegen, Schweden, Dänemark, Holland, Portugal, Rumänien, Serbien, Montenegro, Bulgarien, Griechenland, Andorra, Liechtenstein, Luxemburg, Monaco, San Marino, auf den Balearen, auf Korsika, Sardinien, Sizilien, Kreta, Malta, Island, auf den Faröer und den Shetland-Inseln, den Hebriden und den Orkney-Inseln.

In all diesen Ländern strahlet wie der Morgenstern vom Horizonte der Führung! Bis heute habt ihr höchsten Edelmut gezeigt, aber von nun an müßt ihr eure Mühe tausendfach steigern und in den oben genannten Ländern, in ihren Hauptstädten, auf den Inseln, in Versammlungen und Kirchen die Menschheit einladen in das Reich Abhá! Der Kreis eurer Bemühungen muß erweitert werden. Je mehr ihr ihn vergrößert und verbreitert, desto größer wird eure Bestätigung sein.

Ihr habt es miterlebt, wie ‘Abdu’l-Bahá, trotz aller körperlichen Schwäche und Kraftlosigkeit, trotz seiner Unpäßlichkeit und obwohl er nicht die Kraft hatte, sich zu bewegen — wie er ungeachtet dieser körperlichen Verfassung durch viele Länder reiste, durch Europa und Amerika, sich in Kirchen, Versammlungen und Tagungen mit der Verbreitung der göttlichen Grundsätze befaßte und das Volk zu der Offenbarung des Reiches Abhá rief. Ihr habt auch miterlebt, wie die Bestätigungen der Gesegneten Vollkommenheit alle umspannten. Was ist der Erfolg materieller Rast und Ruhe, des Luxus und des Verhaftetseins in dieser körperlichen Welt? Es ist doch offenbar, daß der Mensch, der diesen Dingen nachjagt, am Ende mit Reue und Verlust geschlagen wird.

Folglich müssen wir unsere Augen völlig vor diesen Dingen verschließen und nach dem ewigen Leben trachten, nach der Erhabenheit der Welt der Menschlichkeit, nach himmlischen Fortschritten, dem Heiligen Geiste, der Förderung des Wortes Gottes, der Führung der Bewohner dieses Erdballs, der Verbreitung des allumfassenden Friedens und der Verkündigung der Einheit der Menschenwelt. Dies ist die Aufgabe! Andernfalls müßten wir uns wie Vögel und andere Tiere nur mit den Erfordernissen dieses stofflichen Lebens abgeben, deren Befriedigung das höchste Streben des Tierreiches ist, und müßten über die Erde stapfen wie die Vierfüßler,

Bedenket! Einerlei, wieviel Wohlstand, Reichtum und Überfluß ein Mensch in dieser Welt zusammenrafft, er wird doch nicht einmal so ungebunden sein wie eine Kuh. Denn diese wohlgemästeten Kühe streifen frei über die weite Ebene; alle Steppen und Weiden bieten sich ihnen zum Grasen, und alle Quellen und Flüsse dienen ihnen zum Trinken. So viel sie auch fressen, die Felder sind niemals erschöpft. Es ist offenbar, daß sie diese stofflichen Schätze ohne jede Mühe erworben haben.

[Seite 1369] Noch idealer als dies ist das Leben eines Vogels. Solch ein Vogel hat sich auf dem Gipfel eines Berges, in hohen, wogenden Ästen sein Nest gebaut, das schöner ist als die Paläste der Könige. Die Luft ist frisch und rein, das Wasser kühl und klar wie Kristall, und die Aussicht ist bezaubernd lieblich. In solch herrlicher Umgebung verbringt er die Tage, die ihm bemessen wurden. Alle die Früchte des Feldes sind sein Besitz, und er erntet all seinen Reichtum ohne die geringste Mühe. So weit es ein Mensch auch bringen mag in dieser Welt, er wird doch nie in die Lage dieses Vogels kommen!

Somit wird es offenbar, daß der Mensch in Dingen dieser Welt nicht einmal den Überfluß, die Freiheit und das ungebundene Leben eines kleinen Vögleins erlangen kann, so sehr er sich auch müht und bis zu seinem Tode abrackert. Dies beweist und bestätigt die Tatsache, daß der Mensch nicht für das Leben in dieser vergänglichen Welt erschaffen wurde; nein, er wurde vielmehr erschaffen, um unbegrenzte Vollkommenheiten zu erwerben, um in die erhabene Welt der Menschlichkeit aufzusteigen, um der göttlichen Pforte nahe zu sein und auf dem Throne unvergänglicher Herrschaft zu sitzen.

Bahá Al-Abhá sei mit euch!


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Jede Seele, die sich auf eine Lehrreise nach verschiedenen Gegenden begibt oder in fremden Ländern weilt, möge Tag und Nacht das folgende demütige Gebet sorgsam lesen:

O Gott! O Gott! Du siehst mich liebedurchglüht und angezogen von Deinem Reiche Abhá, entzündet vom Feuer Deiner Liebe unter den Menschen. Ich bin ein Herold Deines Reiches in diesen unermeßlich weiten Ländern, gelöst von allem außer Dir. Ich stütze mich auf Dich, habe Rast und Behagen verlassen, bin fern von meinem Heimathaus, ein Wanderer in diesen Gegenden, ein Fremdling, der demütig vor Deiner erhabenen Schwelle und ergeben vor Deinem höchsten Königreich zur Erde niederfiel. Ich flehe zu Dir in der Tiefe der Nächte und im Herzen der Abende und flehe und rufe Dich an des Morgens und am Abend, daß Du mir beistehest im Dienste Deiner Sache, in der Verbreitung Deiner Lehren und der Erhöhung Deines Wortes im Osten und Westen der Erde.

O Herr! Mache meinen Rücken stark, bestätige mich in Deinem Dienst mit allen meinen Kräften und überlasse mich nicht mir selbst in diesen Ländern.

O Herr! Geselle Dich mir in meiner Einsamkeit und begleite mich auf meinen Reisen durch diese fremden Lande.

Wahrlich, Du bestätigst, wen immer Du willst, in dem, was Dir gefällt, und wahrlich, Du bist der Machtvolle, der Allmächtige.

Haifa, Palästina,

11. April 1916

1369 [Seite 1370]


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An die Geisten Räte und Versammlungen der Gläubigen Gottes und der Dienerinnen des Barmherzigen in den Vereinigten Staaten und in Kanada.

Mit ihnen sei Bahá’u’lláh Al-Abhá!

Er ist Gott!

O ihr himmlischen Seelen, ihr Söhne und Töchter des Königreiches!

Gott spricht im Qur’án: „Haltet euch fest am Seile Gottes, einer wie alle, und werdet nicht uneins untereinander.“

In dieser bedingten Welt gibt es viele Sammellager, die zur Verbindung und Einheit zwischen den Menschenkindern beitragen. So sind zum Beispiel Patriotismus und Nationalismus, die Gleichheit der Interessen, politische Bündnisse oder ideelle Vereinigungen solche Sammellager, und die Wohlfahrt der Menschenwelt ist von ihrer Bildung und Förderung abhängig. Aber alle die obengenannten Einrichtungen sind in Wirklichkeit Stoff und nicht Wesen, zufällig und nicht ewig, zeitbedingt und nicht unvergänglich. Mit dem Auftreten großer Umwälzungen und Aufstände sind diese Sammellager wie weggewischt. Doch das Sammellager des Reiches Gottes, das die göttlichen Einrichtungen und Lehren umfaßt, ist das ewige Sammellager. Es bahnt Verwandtschaft an zwischen Ost und West, baut die Einheit der Menschenwelt auf und zerstört die Grundlage von Meinungsverschiedenheiten. Es übertrifft all die anderen Sammellager und schließt sie alle in sich ein. Wie die Strahlen der Sonne vertreibt es alles Dunkel, das die Lande umfängt, und läßt göttliche Erleuchtung erstrahlen. Durch den Odem des Heiligen Geistes vollbringt es Wunder: Ost und West fallen einander in die Arme, Nord und Süd werden vereint und vertraut, Zank und Streit verschwinden, widerstrebende Zielsetzungen sind wie weggewischt, das Gesetz vom Kampf ums Dasein ist aufgehoben, der Baldachin der Einheit der Menschenwelt wird hoch über dem Erdball aufgerichtet und wirft seinen Schatten über alle Menschenrassen. Daher ist das wahre Sammellager die Gesamtheit der göttlichen Lehren; sie umfassen alle Entwicklungsstufen und beinhalten all die weltweiten Beziehungen und notwendigen Gesetze der Menschheit.

Bedenket! Die Menschen des Ostens und des Westens waren einander völlig fremd. In welch großem Umfang sind sie jetzt miteinander bekannt und vereint! Wie weit sind die Bewohner Persiens von den entlegensten Ländern Amerikas entfernt! Aber sehet nun, wie groß der Einfluß der Himmelsmacht ist; denn die Entfernung von vielen tausend Meilen wurde gleichbedeutend mit einem einzigen Schritt. Wie verschieden sind die Nationen, die bisher in keiner Weise verbunden oder gleichgeartet waren; jetzt aber wurden sie durch diese göttliche Kraft vereinigt und aufeinander abgestimmt. In der Tat, Gott war mächtig in der Vergangenheit und wird es in der Zukunft sein! Und Gott hat wahrlich Macht über alle Dinge!

Bedenket! Wenn Regen, Wärme, Sonnenlicht und laue Lüfte zusammenwirken, welch herrliche Gärten können da erstehen! Bedenket, wie sich verschiedene Arten von Hyazinthen, Rosen, Bäumen und anderen Pflanzen zusammentun und jede zu der anderen Schmuck und Zierde beiträgt! So hat der gemeinsame Anteil an den Gaben der Sonne, des Regens und des [Seite 1371] Windes alle anderen Gesichtspunkte so überlagert, daß die Verschiedenartigkeit von Farbe, Duft und Geschmack den Schmuck, die Anmut und die Anziehungskraft des Ganzen noch steigert. Und wenn das göttliche Sammellager die Ausstrahlung der Sonne der Wirklichkeit und der Odem des Heiligen Geistes zusammenwirken, dann werden die Verschiedenartigkeit der Rassen und die Unterschiede, die zwischen den einzelnen Ländern bestehen, der Menschenwelt zu Schmuck, Zierde und Vornehmheit gereichen.

Darum müssen die Gläubigen Gottes in allen Staaten Amerikas durch die göttliche Macht die himmlischen Lehren fördern und die Einheit der Menschheit errichten. Jede bedeutende Seele muß sich aufmachen, um allen Teilen Amerikas den Odem des Lebens einzuhauchen, den Menschen einen neuen Geist zu vermitteln und sie zu taufen mit dem Feuer der Liebe Gottes, dem Wasser des Lebens und dem Odem des Heiligen Geistes, damit sich ihre Wiedergeburt verwirkliche. Denn es steht geschrieben im Evangelium: „Was da geboren ist aus Fleisch, ist Fleisch, und was da geboren ist aus Geist, ist Geist.“

Darum, o ihr Gläubigen Gottes in den Vereinigten Staaten und in Kanada, wählt bedeutende Persönlichkeiten unter euch aus, oder laßt sie sich selbst erwählen, Persönlichkeiten, die sich loslösen von aller Behaglichkeit und Ruhe dieser Welt, um sich aufzumachen auf die Reise durch ganz Alaska, den Freistaat Mexiko und die mittelamerikanischen Staaten im Süden Mexikos, nämlich Guatemala, Honduras, El Salvador, Nikaragua, Kostarika, Panama und Belize; ferner durch die großen südamerikanischen Republiken wie Argentinien, Uruguay, Paraguay, Brasilien, Französisch-Guayana, Niederländisch-Guayana, Britisch-Guayana, Venezuela, Ekuador, Peru, Bolivien und Chile; auch auf die westindischen Inselgruppen, nach Kuba, Haiti, Puerto Rico, Jamaika und der Dominikanischen Republik; ferner nach der Inselgruppe der Kleinen Antillen, den Bahama-Inseln und den Bermudas; in gleicher Weise auf die Inseln im Osten, Westen und Süden von Südamerika, also nach Trinidad, den Falkland- und Galapagos-Inseln, nach Juan Fernandez und Tobago. Besuchet besonders die Stadt Bahia an der Ostküste Brasiliens. Daß diese Stadt in den letzten Jahren auf den Namen Bahia getauft wurde, geschah zweifellos durch die Eingebung des Heiligen Geistes.

Die Gläubigen Gottes müssen folglich die größten Anstrengungen machen, in allen oben erwähnten Gebieten die göttliche Weise anstimmen, die himmlischen Lehren verbreiten und über alle Menschen den Geist ewigen Lebens ergießen, damit jene Staaten so erleuchtet werden im Strahlenglanz der Sonne der Wirklichkeit, daß sie von allen anderen Ländern gelobt und gepriesen werden. Auch müßt ihr der Republik Panama größte Aufmerksamkeit widmen, weil sich dort Ost und West durch den Panama-Kanal verbinden und weil dieses Land zwischen den beiden großen Weltmeeren liegt. Dieser Platz wird in Zukunft sehr wichtig werden. Wenn die Lehren dort fest begründet sind, werden sie Ost und West, Nord und Süd vereinen.

So muß eure Absicht geläutert, euer Bemühen veredelt und erhaben werden, damit ihr zwischen den Herzen der Menschenwelt Verwandtschaft [Seite 1372] stiftet. Dieses ruhmreiche Ziel wird auf keine andere Weise erreicht als durch die Förderung der göttlichen Lehren, die die Grundlagen der heiligen Religionen sind.

Bedenket, wie die Religionen Gottes der Menschenwelt dienten! Wie die Religion der Torah dem jüdischen Volk zu Ruhm, Ehre und Fortschritt verhalf! Wie der Odem des Heiligen Geistes Seiner Heiligkeit Christi Verwandtschaft und Einheit schuf zwischen verschiedenartigen Gemeinschaften und streitenden Familien! Wie die geweihte Macht Seiner Heiligkeit Muhammads das Mittel wurde, das die kampflustigen Stämme und die verschiedenen Sippen der arabischen Halbinsel vereinte und verbrüderte — in solchem Ausmaß, daß tausend Stämme zu einem Stamm zusammengeschweißt wurden, daß Hader und Zwist beseitigt waren, daß sie alle in Einklang und Eintracht danach strebten, die Grundlagen der Kultur und der Zivilisation auszubauen, sich solchermaßen freimachten von der tiefsten Stufe der Erniedrigung und sich aufschwangen zu den Höhen unvergänglichen Ruhems! Kann man ein besseres Sammellager in der Welt der Erscheinung finden als dieses? Im Vergleich zu diesem göttlichen Sammellager sind die Sammellager der Nation, des Patriotismus, der Politik, der intellektuellen und kulturellen Beziehungen wie kindlicher Tand!

Nun gebet euch Mühe, daß ihr dieses Sammellager der heiligen Religionen — zu dessen Erhöhung sich alle Propheten offenbarten und das nichts anderes ist als der Geist der göttlichen Lehren — über alle Teile Amerikas ausdehnt, damit ein jeder von euch vom Horizonte der Wirklichkeit erstrahle wie der Morgenstern, damit göttliche Erleuchtung das Dunkel der Natur überwinde und die Menschenwelt aufgeklärt werde. Dies ist die größte aller Aufgaben! Wenn ihr darin bestätigt werdet, dann wird diese Welt zu einer neuen Welt, die ganze Erdoberfläche wird ein liebliches Paradies, und ewige Einrichtungen werden begründet.


* * *


Laßt alle, die in die verschiedenen Gegenden reisen um zu lehren, im Gebirg und in der Wüste, über Land und Meer das folgende demütige Gebet sorgsam lesen:

O Gott! O Gott! Du siehst mich, schwach, niedrig und bescheiden unter Deinen Geschöpfen; dennoch habe ich auf Dich vertraut und mich erhoben, um Deine Lehren unter Deinen standhaften Dienern zu fördern, ganz im Vertrauen auf Deine Kraft und Macht!

O Herr! Ich bin ein Vogel mit gebrochenen Schwingen und sehne mich danach, aufzusteigen in Deine Sphären, die ohne Grenzen sind. Wie bin ich dazu anders fähig als durch Deine Vorsehung und Gnade, Deine Bestätigung und Hilfe!

O Herr! Hab Erbarmen mit meiner Schwäche und stärke mich durch Deine Kraft!

O Herr! Habe Mitleid mit meiner Unfähigkeit und unterstütze mich mit Deiner Macht und Erhabenheit!

[Seite 1373] O Herr! Wenn der Odem des Heiligen Geistes das schwächste aller Geschöpfe bestätigt, dann wird es die höchste Stufe erreichen und alles besitzen, was es begehrt. Du bist in der Tat Deinen Dienern beigestanden in vergangenen Tagen, und sie waren die schwächsten Deiner Geschöpfe, die niedersten Deiner Diener und die unscheinbarsten derer, die auf Erden lebten; aber nach Deinem Willen und durch Deine Macht nahmen sie den Vorrang ein vor den Ruhmreichsten Deines Volkes und den Vornehmsten Deiner Menschheit. Sie waren wie unscheinbare Nachtfalter und wurden zu königlichen Falken; sie waren wie Seifenblasen und wurden zu Meeren. Durch Deine Gabe, Deine Gnade und Deine größte Gunst wurden sie strahlende Sterne am Horizonte der Führung, singende Vögel im Rosengarten der Unsterblichkeit, brüllende Löwen in den Wäldern des Wissens und der Weisheit und mächtige Wale in den Meeren des Lebens.

Wahrlich, Du bist der Gütige, der Kraftvolle, der Mächtige und der Barmherzigste aller Barmherzigen.

Haifa, Palästina,

8. März 1917


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An die Gläubigen und die Dienerinnen des Barmherzigen in den Bahá’í-Räten der Vereinigten Staaten von Amerika und Kanadas.

Bahá’u’lláh Al-Abhá sei mit ihnen!

Er ist Gott!

O ihr Apostel Bahá’u’lláhs — möge mein Leben ein Opfer für euch sein!

Die gesegnete Persönlichkeit des Verheißenen ist im Heiligen Buche als der Herr der Heerscharen, der himmlischen Streitmacht dargestellt. Mit „himmlischen Heerscharen“ sind solche Seelen gemeint, die völlig losgelöst sind von der menschlichen Welt, die in Himmelsgeister verwandelt sind und zu göttlichen Engeln wurden. Solche Seelen sind die Strahlen der Sonne der Wirklichkeit, die alle Kontinente erleuchten werden. Eine jede hält in der Hand eine Posaune und bläst den Odem des Lebens über alle Lande. Sie sind menschlicher Eigenschaften ledig und befreit von den Gebrechen der stofflichen Welt, sind mit göttlichen Merkmalen ausgezeichnet und von den Düften des Barmherzigen angezogen. Wie die Apostel ganz von Christus erfüllt waren, so sind diese Seelen erfüllt von Seiner Heiligkeit Bahá’u’lláh; das heißt, die Liebe zu Bahá’u’lláh hat von jedem Organ, jedem Teil, jedem Glied ihres Körpers so sehr Besitz ergriffen, daß menschliche Regungen ihre Wirkung verloren haben.

Diese Seelen sind die Heerscharen Gottes und die Eroberer des Ostens und des Westens. Wenn sich einer von ihnen in irgendeine Richtung wendet und das Volk zum Reiche Gottes ruft, dann eilen alle Mächte des Himmels zu seiner Hilfe und Verstärkung, und die Bestätigung des Herrn steht ihm bei. Er wird sehen, wie sich ihm die Türen öffnen und wie mächtige Burgen und uneinnehmbare Festungen in sich zusammenbrechen. Allein und ganz auf sich gestellt wird er die Heere dieser Welt angreifen, den rechten und den linken Flügel der Streitmacht aller Länder in die Flucht schlagen, durch die Reihen der Legionen aller Völker hindurchstoßen und seinen Angriff mitten in das Herz der Mächte dieser Erde vortragen. — Dies ist die Bedeutung der „Heerscharen Gottes“.

[Seite 1374] Jede Seele aus den Reihen der Gläubigen Bahá’u’lláhs, die diese Stufe erreicht, wird als Apostel Bahá’u’lláhs bekannt werden. Darum strebet mit Herz und Seele danach, daß ihr diese hohe und erhabene Stellung erlanget, daß ihr fest auf dem Throne unvergänglicher Herrlichkeit sitzet und euer Haupt krönet mit dem leuchtenden Diadem des Königreiches, dessen glänzende Juwelen Jahrhunderte und Zeitalter überstrahlen.

O ihr liebevollen Freunde! Erhebt euch in Edelmut und schwinget euch hoch in den höchsten Himmel, damit eure gesegneten Herzen Tag für Tag immer mehr erleuchtet werden durch die Strahlen der Sonne der Wirklichkeit, das ist Seine Heiligkeit Bahá’u’lláh; damit euer Geist jeden Augenblick neues Leben erlange und das Dunkel der stofflichen Welt gänzlich zerstreut werde, damit ihr auf diese Weise eingeborenes Licht und verkörperter Geist werdet, der niederen Dinge dieser Welt völlig vergesset und mit dem Walten der göttlichen Welt in Fühlung kommt.

Bedenket, welche Tore Seine Heiligkeit Bahá’u’lláh vor euch auftat, welche hohe und erhabene Stufe Er für euch bestimmte und welche Gaben Er für euch bereithält! Wenn wir uns aus diesem Kelch berauschen, werden wir alle Herrschaft dieses Erdballs geringer schätzen als kindlichen Tand. Würde vor uns in der Arena die Krone der Macht über die ganze Welt aufgestellt und ein jeder von uns aufgefordert, sie anzunehmen, so würden wir zweifellos nicht willfahren, sondern ablehnen.

Diese höchste Stufe können wir aber nur erreichen, wenn wir gewisse Bedingungen erfüllen:

Die erste Bedingung ist Festigkeit im Bündnis Gottes; denn die Macht des Bündnisses schützt die Sache Bahá’u’lláhs vor den Zweifeln der Irrenden. Das Bündnis ist die starke Feste der Sache Gottes und der sichere Pfeiler der Religion Gottes. Es gibt heute keine Macht, die die Einheit der Bahá’í-Welt bewahren kann, außer dem Bündnis Gottes; ohne dieses würden Meinungsverschiedenheiten die Bahá’í-Welt umfangen wie ein heftiger Sturm. Es ist offensichtlich, daß die Achse der Einheit der Menschenwelt die Macht des Bündnisses ist und nichts anderes. Wäre das Bündnis nicht entstanden, wäre es nicht von der Höchsten Feder offenbart worden und hätte nicht das Buch des Bundes die Welt erleuchtet gleich den Strahlen der Sonne der Wirklichkeit, so wären die Kräfte der Sache Gottes völlig zerstreut, und gewisse Seelen, die dann Gefangene ihrer eigenen Lüste und Leidenschaften wären, würden eine Axt in die Hand nehmen, um den Heiligen Baum an der Wurzel zu fällen. Jeder einzelne würde dann seine eigenen Wünsche verfolgen und sich mit seiner eigenen Ansicht aufspielen. Dieses großen Bündnisses ungeachtet, zogen einige achtlose Seelen auf ihren Kleppern zu Felde und vermeinten, sie könnten vielleicht die Grundpfeiler der Sache Gottes ins Wanken bringen; aber, Preis sei Gott! sie alle wurden von schmerzlichen Verlusten betroffen, und ehe noch viel Zeit vergeht, werden sie sich in bitterer Verzweiflung sehen. Darum muß ein jeder zuallererst auf sicherem Fuß im Bündnis stehen, damit die Bestätigung Bahá’u’lláhs ihn von allen Seiten umgibt, damit die Höchsten Heerscharen ihm zur Hilfe und zum Beistand werden und die Ermahnungen und Ratschläge 'Abdu'l-Bahás wie in Stein gemeißelt immerwährend und unauslöschlich auf den Tafeln der Herzen stehen.

[Seite 1375] Die zweite Bedingung: Liebe und Kameradschaft unter den Gläubigen. Die Freunde Gottes müssen sich gegenseitig lieben und sich zueinander hingezogen fühlen und jederzeit bereit und willens sein, ihr eigenes Leben füreinander zu opfern. Wenn einer der Gläubigen einen anderen trifft, so muß es sein, als ob ein Dürstender mit brennenden Lippen zur Quelle des Wassers des Lebens gelangt, oder wie wenn ein Liebender seiner wahren Geliebten begegnet. Denn eine der größten göttlichen Weisheiten im Hinblick auf das Erscheinen der heiligen Manifestationen ist die, daß die Seelen einander kennenlernen und miteinander vertraut werden, daß die Macht der Liebe Gottes sie alle zu Wogen eines Meeres, zu Blumen eines Rosengartens und zu Sternen eines Himmels machen kann. Dies ist die Weisheit, die im Auftreten der heiligen Manifestationen liegt! Wenn sich diese größte Gabe in den Herzen der Gläubigen offenbart, dann wird die stoffliche Welt verwandelt, das Dunkel des bedingten Seins wird verschwinden und himmlische Erleuchtung erlangt werden. Dann wird die ganze Welt das Paradies Abhá, und jeder Gläubige Gottes wird zu einem gesegneten Baum, der wundervolle Früchte zeitigt.

O ihr Freunde! Kameradschaft, Liebe, Einheit! Kameradschaft, Liebe und Einheit, auf daß die Macht der Bahá’í-Sache hervortrete und sich in der Welt des Seins offenbare. Ich bin in diesem Augenblick in Gedanken ganz bei euch, und Mein Herz ist entflammt in Glut und Entzücken! Könntet ihr euch vorstellen, wie Mein ganzes Bewußtsein von der Liebe zu den Freunden beherrscht ist, ihr würdet zweifellos von solchem Duft und solcher Freude umfangen, daß ihr alle in Liebe zueinander entbrennen würdet.

Die dritte Bedingung: Lehrer müssen ständig durch alle Teile des Kontinentes, nein, durch alle Teile der Welt reisen; aber sie müssen reisen wie ‘Abdu’l-Bahá, der alle Städte Amerikas besuchte. Er war frei und geheiligt von jeder Verhaftung und in höchster Loslösung. Wie Seine Heiligkeit Christus sagte: „Schüttelt sogar den Staub von euren Füßen.“

Ihr habt es miterlebt, wie bei meinem Aufenthalt in Amerika viele Seelen in größter Demut und Eindringlichkeit verschiedene Geschenke anboten; aber dieser Diener hat, entsprechend den Befehlen und Ermahnungen der Gesegneten Vollkommenheit, nie etwas angenommen, obwohl wir zeitweise in sehr beschränkten Verhältnissen waren. Wenn andererseits eine Seele um Gottes willen, freiwillig und aus reiner Absicht einen Beitrag leisten will (zu den Ausgaben eines Lehrers), dann soll der Lehrer, um den Spender glücklich zu machen, eine kleine Summe annehmen; aber er muß in größter Bescheidenheit leben.

Das Ziel ist folgendes: Die Absicht des Lehrers muß rein, sein Herz unabhängig, sein Geist hingezogen, sein Denken befriedet, sein Entschluß fest, sein Mut erhaben und eine strahlende Fackel der Liebe Gottes sein. Wenn er solche Eigenschaften erwirbt, dann wird sein geheiligter Odem sogar auf Felsen wirken; anders aber wird er keinerlei Ergebnis hervorbringen. Solange eine Seele nicht vervollkommnet ist, wie kann sie da die Fehler anderer tilgen? Solange sie nicht frei ist von allem außer Gott, wie kann sie anderen Loslösung lehren?

[Seite 1376] Kurz gesagt, o ihr Gläubigen Gottes! Bemühet euch, daß ihr jedes Mittel ergreifet, um die Religion Gottes zu verkünden und die Düfte Gottes zu verbreiten.

Unter anderem geht es um die Veranstaltung von Lehrtreffen, in denen gesegnete Seelen und die Alten unter den Gläubigen die Jugend der Liebe Gottes in Schulen der Unterweisung um sich scharen und sie all die göttlichen Beweise und unwiderleglichen Argumente lehren, ihnen die Geschichte der Sache erläutern und erklären und auch die Verheißungen und Beweise auslegen, die in den göttlichen Büchern und Episteln berichtet und vorhanden sind über die Manifestation des Verheißenen — auf daß die Jugend im vollkommenen Wissen alle die oben genannten Stufen durchmesse.

Ebenso muß, sobald es möglich ist, ein Ausschuß begründet werden für die Übersetzung der Sendschreiben. Weise Seelen, die das Persische, das Arabische und andere Fremdsprachen oder eine derselben vollkommen studiert haben und beherrschen, müssen damit beginnen, die Sendschreiben und Bücher zu übersetzen, welche die Beweise dieser Offenbarung enthalten, und müssen diese Bücher veröffentlichen und über alle fünf Erdteile verbreiten.

Auch muß die Zeitschrift, der „Star of the West“, mit größter Regelmäßigkeit erscheinen; sein Inhalt muß in der Verkündung der Sache Gottes bestehen, damit Ost und West von den wichtigsten Ereignissen unterrichtet werden.

In kurzen Worten: In allen Versammlungen, seien sie öffentlich oder geschlossen, sollte über nichts diskutiert werden als das, was zur Sprache steht, und alle Themen sollten um die Sache Gottes kreisen. Privatgespräche sollten nicht einbezogen werden, und Streit ist streng verboten.

Die Lehrer müssen, wenn sie in verschiedene Richtungen reisen, die Sprache des Landes kennen, in welches sie sich begeben. So sollte zum Beispiel jemand, der in der japanischen Sprache bewandert ist, nach Japan reisen, oder jemand, der des Chinesischen mächtig ist, sollte nach China eilen, und so weiter.

Kurz gesagt, nach diesem weltumspannenden Krieg sind die Menschen bereitet wie noch nie, auf die göttlichen Lehren zu hören; denn die Weisheit dieses Krieges ist, daß es allen bewiesen wird, wie das Feuer des Krieges die Welt zerstört, während die Lichtstrahlen des Friedens die Welt erleuchten. Das erste ist Tod, das zweite Leben; jenes ist Untergang, dieses ist Unsterblichkeit; das eine ist schlimmstes Unheil, das andere das größte Glücksgut; jenes ist Dunkel, dieses Licht; das erstere ist ewige Erniedrigung, das letztere unvergänglicher Ruhm; der Krieg zerstört die Grundlagen des Menschlichen, der Frieden aber begründet die Wohlfahrt der Menschenrasse.

Demzufolge muß sich eine Anzahl Seelen aufmachen, in Übereinstimmung mit den obengenannten Bedingungen verfahren und in alle Teile der Welt eilen, besonders von Amerika nach Europa, Afrika, Asien und Australien, sowie durch Japan und China reisen. Ebenso sollten Lehrer und Gläubige aus Deutschland nach den Kontinenten Amerika, Afrika, nach Japan und China reisen; kurz gesagt, sie sollten alle Kontinente und [Seite 1377] Inseln des Erdballs durchstreifen. So werden in kurzer Zeit die wunderbarsten Ergebnisse gezeitigt, das Banner des allumfassenden Friedens weht über den Höhen der Welt, und das Licht der Einheit der Menschenwelt erleuchtet das Universum.

In kurzen Worten, o ihr Gläubigen Gottes! Im göttlichen Buche steht geschrieben: Wenn zwei Seelen über eine der göttlichen Fragen zanken und streiten, in Hader und Zwist, dann haben sie beide nicht recht. Es ist die Weisheit dieses unzweideutigen Gesetzes Gottes, daß zwischen zweien der Gläubigen Gottes kein Zank und Streit entstehen soll, daß sie in unendlicher Liebe und Freundschaft miteinander sprechen sollen. Sobald sich die geringste Spur von Gegensätzen abzeichnet, müssen sie schweigen und beide ihre Aussprache nicht länger fortsetzen, sondern bei dem Ausleger erkunden, wie es wirklich um ihre Frage steht. So lautet der unleugbare Befehl!

Bahá Al-Abhá sei mit euch!



Gebet für den Frieden


O Gott! O Gott! Du siehst, wie schwarze Finsternis alle Bereiche umfangen hat, wie alle Länder in den Flammen der Zwietracht brennen, und wie Krieg und Gemetzel im Osten und Westen der Erde entzündet wurde. Blut wird vergossen, die Leichen liegen dahingestreckt, die Köpfe abgeschlagen und über das Schlachtfeld verstreut.

Herr! Herr! Hab Erbarmen mit diesen Unwissenden, schaue auf sie mit dem Auge des Vergebens und Verzeihens. Lösche dieses Feuer, auf daß die düsteren Wolken, die den Himmel bedecken, sich verziehen, auf daß die Sonne der Wirklichkeit leuchte mit den Strahlen der Versöhnung, das Dunkel sich zerteile und alle Länder erleuchtet werden im Licht des Friedens.

Herr! Erwecke sie aus den Tiefen des Meeres der Feindseligkeit, befreie sie aus dieser undurchdringlichen Finsternis, stifte Verwandtschaft zwischen ihren Herzen und erhelle ihre Augen mit dem Lichte des Friedens und der Aussöhnung.

Herr! Errette sie aus den unergründlichen Tiefen des Krieges und des Blutvergießens! Erwecke sie aus dem Düster des Irrtums, reiße den Schleier von ihren Augen, erleuchte ihre Herzen mit dem Lichte der Führung, verfahre mit ihnen nach Deiner Gunst und Gnade, aber begegne ihnen nicht mit Deiner grimmen Gerechtigkeit, die die Mächtigen erzittern ließ.

Herr! Wahrlich, die Herzen sind erregt und die Seelen erschüttert. Habe Mitleid mit diesen Armen und lasse sie nicht sich antun, was sie vorhaben!

Herr! Sende durch Deine Lande demütige und ergebene Seelen, deren Antlitz erleuchtet ist von den Strahlen der Führung, die sich losgelöst haben von der Welt, Dein Gedenken und Deinen Lobpreis verkünden und Deine heiligen Düfte verbreiten!

Herr! Stütze ihnen den Rücken, stärke ihre Lenden und weite ihre Brust mit den Zeichen Deiner größten Liebe.

[Seite 1378] Herr! Wahrlich, sie sind schwach, und Du bist der Kraftvolle und der Mächtige; sie sind unfähig, Du aber bist der Helfer und der Gnädige! Herr! Wahrlich, das Meer der Übertretung schlägt hohe Wellen, und die

Stürme werden sich nicht legen, es sei denn durch Deine grenzenlose Gnade, die alle Bereiche umfängt.

Herr! Wahrlich, die Menschenseelen schmachten tief in den Schluchten der Begierden, und nichts kann sie daraus erwecken als Deine wundervollen Gnadengaben.

Herr! Vertreibe dieses Dunkel der Versuchung und erhelle die Herzen mit der Lampe Deiner Liebe, durch die alle Länder erleuchtet werden. Bestätige jene Gläubigen, die ihre Heimat, ihre Familie und ihre Kinder verlassen und durch alle Bereiche wandern um der Liebe zu Deiner Schönheit, der Verbreitung Deiner Düfte und der Verkündung Deiner Lehren willen. Stehe Du ihnen bei in der Einsamkeit, hilf ihnen durch ferne Lande, tilge ihre Sorgen, tröste ihren Jammer, befreie sie aus dem Unglück, lösche ihren Durst, heile sie von ihren Leiden und besänftige das Feuer ihrer Sehnsucht.

Wahrlich, Du bist der Gütige, der Gnädige, und, wahrlich, Du bist der Mitleidvolle und der Allerbarmer.

Haifa, Palästina,

19., 20. und 22. April 1917


* * *


An die Freunde und Dienerinnen Gottes in den nordöstlichen Staaten (der USA).


Gruß und Ehre seien mit ihnen!

O ihr Herolde des Himmels!

Dies sind die Tage des Nawrúz. Ich bin immer in Gedanken bei den lieben Freunden. Ich flehe für alle und jeden von euch um Bestätigung und Beistand von der Schwelle der Einheit, auf daß die Versammlungen in den Ländern Amerikas entzündet werden wie helle Kerzen und sie das Licht der Liebe Gottes in die Herzen tragen; so mögen die Strahlen der göttlichen Lehren die Staaten Amerikas schmücken und erhellen wie die Sterne der größten Führung das unendliche Weltall.

Die nordöstlichen Staaten an den Küsten des Atlantik: Maine, New Hampshire, Massachusetts, Rhode Island, Connecticut, Vermont, Pennsylvania, New Jersey und New York — in einigen dieser Staaten sind Gläubige anzutreffen, aber in manchen der Städte dort sind die Menschen bis heute noch nicht erleuchtet vom Lichte des Königreiches und kennen die himmlischen Lehren noch nicht; darum machet euch auf in diese Städte, so bald es einem jeden von euch möglich ist, und wie die Sterne lasset das Licht der größten Führung erstrahlen.

Gott spricht im ruhmreichen Qur’án: „Die Erde war schwarz und vertrocknet. Da ließen Wir den Regen auf sie herniederströmen, und augenblicks wurde sie grün und fruchtbar, und jegliche Art von Pflanzen sproß in üppiger Fülle hervor.“ Mit anderen Worten, Er sagt, die Erde ist schwarz, aber wenn die Frühlingsschauer darüber niedergehen, wird dieser schwarze Boden erfrischt und bringt buntfarbige Blumen hervor. Dies bedeutet, daß die Seelen der Menschen, die der stofflichen Welt [Seite 1379] angehören, schwarz sind wie die Erde. Aber wenn die himmlischen Ausgießungen herniederströmen und die schimmernden Strahlen hervorbrechen, dann werden die Herzen neu belebt und befreit vom Dunkel der Natur, und die Blumen göttlicher Geheimnisse wachsen und sprießen üppig empor. Folglich muß der Mensch zur Quelle der Erleuchtung für die Menschenwelt werden und muß die heiligen Lehren verbreiten, wie sie durch göttliche Eingebung in den Heiligen Büchern offenbart sind.

Im gesegneten Evangelium steht geschrieben: „Ziehet hin gen Osten und gen Westen und erleuchtet das Volk mit dem Lichte der größten Führung, damit sie am ewigen Leben Anteil haben.“ Preis sei Gott, die nordöstlichen Staaten sind überaus aufnahmebereit. Der Boden ist reich, und die Schauer göttlicher Ausgießung regnen hernieder. Nun müßt ihr himmlische Bauern werden und reine Saaten über den bereiteten Boden ausstreuen. Die Ernte aus jeder anderen Saat ist begrenzt, aber die Gaben und Segnungen aus der Saat der göttlichen Lehren sind unendlich. In kommenden Jahrhunderten und Zeitaltern werden viele Ernten eingebracht werden.

Betrachtet die Arbeit früherer Menschenalter. Zu den Lebzeiten Seiner Heiligkeit Christi waren der gläubigen, standhaften Seelen nur wenige, aber die himmlischen Segnungen strömten in solcher Fülle hernieder, daß in wenigen Jahren zahllose Seelen unter den Schatten des Evangeliums traten. Gott sprach im Qur’án: „Ein Korn wird sieben Ähren hervorbringen, und jede Ähre wird hundert Körner enthalten.“ Mit anderen Worten: Ein Korn wird zu siebenhundert Körnern werden, und so Gott will, wird er auch diese noch verdoppeln. Es ist schon oft geschehen, daß eine gesegnete Seele für ein ganzes Volk zur Quelle der Führung wurde. Wir müssen jetzt nicht auf unsere eigene Geschicklichkeit und Fähigkeit blicken; nein, wir sollten vielmehr auf die Gunst und die Gaben Gottes schauen in diesen Tagen. Er ließ im Tropfen das Meer seinen Ausdruck finden und gab dem Atom die Bedeutung der Sonne.

Gruß und Ehre mit euch!

Haifa, Palästina,

26. März 1916


An die Gläubigen Gottes und die Dienerinnen des Barmherzigen in den nordöstlichen der Vereinigten Staaten von Amerika — Maine, New Hampshire, Massachusetts, Rhode Island, Connecticut, Vermont, Pennsylvania, New Jersey, New York.

Er ist Gott!

O ihr wahren Freunde!


In den Augen des Einen Wahren sind alle Bereiche wie ein Bereich und alle Städte und Dörfer einander vollkommen gleich. Keines wird den anderen vorgezogen. Alle sind sie der Acker Gottes und der Wohnort der Menschenseelen. Aber durch Glauben und Gewißheit und dadurch, daß sich ein Teil der Menschen vor anderen auszeichnet, überträgt der [Seite 1380] Bewohner Heiligung und Weihe auf seine Behausung. Einige der Länder werden auf diese Weise zu etwas Außergewöhnlichem und erlangen die höchste Stufe.

Von den Ländern Europas und Amerikas zum Beispiel zeichnen sich einzelne aus durch die Reinheit ihrer Luft, die Bekömmlichkeit ihres Wassers und die Anmut ihrer Berge, Ebenen und Steppen, und werden darum den anderen vorgezogen. Aber dessen ungeachtet wurde beispielsweise Palästina zur Zierde aller anderen Bereiche der Welt, weil alle die heiligen Manifestationen Gottes von der Zeit Seiner Heiligkeit Abraham bis auf das Erscheinen des Siegels der Propheten in diesem Gebiete wohnten, dorthin einwanderten oder es durchreisten.

So erlangten auch Yathrib und Bathá3) diese größte Gabe, und das Licht der Propheten strahlte von ihrem Himmel nieder. Darum sind Palästina und Hedschas vor allen anderen Gauen ausgezeichnet.

Auch der amerikanische Erdteil ist in den Augen des Einen Wahren ein Feld strahlenden Lichtes, ein Königreich der Offenbarung von Geheimnissen, die Heimat der Rechtschaffenen und das Sammellager der Freien; darum ist er in allen seinen Teilen gesegnet. Aber weil die genannten neun Staaten mit Glauben und Gewißheit begünstigt wurden, haben sie durch diese Auszeichnung ein geistiges Vorrecht erworben. Sie müssen sich des Wertes dieser Gabe bewußt werden: Weil ihnen solche Gunst zuteil wurde und um für dieses größte Geschenk Dank zu erweisen, müssen sie sich aufmachen, die göttlichen Düfte zu verbreiten, auf daß der gesegnete Vers des Qur’án verwirklicht werde:

„Gott ist das Licht des Himmels und der Erde. Das Ebenbild Seines Lichtes ist eine Nische in der Wand, in der eine Lampe aufgestellt ist, und diese Lampe ist von einem gläsernen Behältnis umgeben. Das Glas erstrahlt, als wäre es ein funkelnder Stern. Es wird erleuchtet vom Öl eines gesegneten Baumes, eines Ölbaumes, der weder im Osten noch im Westen steht. Es fehlte nur wenig, und dieses Olivenöl würde leuchten, auch wenn kein Feuer es berührte. Dies ist das Licht, das zu dem Licht hinzukommt. Gott führt zu seinem Lichte, wen immer Er will.“

Er spricht: „Die stoffliche Welt ist die Welt des Dunkels, weil sie der Ursprung von tausenderlei Verderbtheit ist; ja, sie ist Dunkel über Dunkel.“ Die Erleuchtung der stofflichen Welt hängt ab vom Strahlenglanz der Sonne der Wirklichkeit. Die Gnade der Führung gleicht einem Licht, das entflammt ist in dem Glas der Erkenntnis und Weisheit, und dieses Glas der Erkenntnis und Weisheit ist der Spiegel der Menschenherzen. Das Öl ist so gereinigt, daß es brennt, ohne entzündet zu sein. Wenn die Stärke des Lichtes, die Durchsichtigkeit des Glases und die Reinheit des Spiegels zusammenkommen, dann entsteht Licht über Licht.

Mit kurzen Worten, in diesen neun gesegneten Staaten reiste und wanderte ‘Abdu’l-Bahá von Ort zu Ort, erklärte die Weisheiten und verbreitete die Düfte der himmlischen Bücher. In den meisten dieser Staaten legte er den Grundstein für das Haus Gottes und öffnete die Pforte des Lehrens. In diesen Staaten säte er seine Saaten aus und pflanzte gesegnete Bäume.

[Seite 1381] Nun müssen die Gläubigen Gottes und die Dienerinnen des Barmherzigen diese Felder bewässern und müssen sich mit größter Kraft bemühen, diese himmlischen Pflanzungen zu pflegen, damit die Saaten wachsen und sich entfalten, damit sie gedeihen und gesegnet seien und viele reiche, große Ernten eingebracht werden können.

Das Reich Gottes ist gleich einem Bauern, der in den Besitz eines Stücks reinen, jungfräulichen Bodens gelangt. Himmlische Saaten werden darauf ausgesät, die Wolken göttlicher Vorsehung ergießen sich und die Sonne der Wirklichkeit erstrahlt.

Jetzt sind alle diese Segnungen vorhanden, und reich entfalten sie sich in diesen neun Staaten. Der göttliche Gärtner schritt über diesen heiligen Grund und streute reine Saaten aus den Lehren des Herrn auf dieses Feld; der Regen der Gaben Gottes ergoß sich und die Glut der Sonne der Wirklichkeit — das heißt, die gnädigen Bestätigungen — erstrahlte in voller Pracht. Es ist meine Hoffnung, daß jede von jenen gesegneten Seelen ein unvergleichlicher, ein einzigartiger Ackerbauer werde, daß der Osten und der Westen Amerikas einem köstlichen Paradiese gleich werden, so daß ihr alle die höchsten Heerscharen ausrufen höret: „Selig seid ihr, und abermals: Selig seid ihr!“

Gruß und Ehre seien mit euch!

Die folgende demütige Bitte sollte von den Lehrern und allen Freunden täglich gelesen werden:

O Du gütiger Herr! Preis sei Dir, daß Du uns die Straße Deiner Führung zeigtest, das Tor zu Deinem Königreich auftatest und Dich durch die Sonne der Wirklichkeit offenbartest. Den Blinden gabst Du das Augenlicht, den Tauben Gehör, Du auferwecktest die Toten, Du wiesest den Weg denen, die in die Irre gegangen; Du lenktest die ausgetrockneten Lippen zum Springquell der Führung; Du ließest den dürstenden Fisch zum Meere der Wirklichkeit gelangen, und Du ludest die Zugvögel ein in den Rosengarten der Gnade.

O Du Allmächtiger! Wir Menschen sind Deine Diener und Deine Armen! Wir sind Dir ferne, wir sehnen uns nach Deiner Gegenwart; wir dürsten nach dem Wasser Deines Brunnquells; wir sind krank und schmachten nach einer Arznei. Wir wandeln auf Deinem Pfad und haben kein anderes Ziel, keine Sehnsucht, als Deine Düfte zu verbreiten, auf daß alle Seelen den Ruf anstimmen: „O Gott! Führe uns auf den geraden Pfad!“ Laß sie die Augen öffnen, wenn sie das Licht erschauen, und sich befreien vom Dunkel der Unwissenheit! Gib, daß sie die Lampe der Führung umkreisen! Laß den Mittellosen ihren Anteil zukommen und die Beraubten mit den Geheimnissen vertraut werden!

O Allmächtiger! Schaue auf uns mit dem Auge der Barmherzigkeit! Gewähre uns himmlische Bestätigung! Segne uns mit dem Odem des Heiligen Geistes, auf daß uns in unserem Dienen geholfen werde und wie strahlende Sterne wir diese Lande erleuchten mit dem Lichte der Führung! Wahrlich, Du bist der Kraftvolle, der Mächtige, und Du bist der Weise und der Sehende!

Haifa, Palästina,

2. Februar 1917


[Seite 1382]


An die Freunde und die Dienerinnen des Barmherzigen in den südlichen Staaten (der USA).

Gruß und Ehre seien mit ihnen!

O ihr Herolde des Reiches Gottes!


Erst vor wenigen Tagen ging ein Brief an jene Gläubigen Gottes ab, aber weil heuer die Tage des Nawrúz sind, kamt ihr mir in den Sinn, und ich sende euch meine Grüße zu diesem erhabenen Fest. Alle Tage sind gesegnet, aber dieses Fest ist das Nationalfest Persiens. Die Perser begehen es seit einigen tausend Jahren. In Wirklichkeit ist jeder Tag, den der Mensch damit verbringt, Gottes zu gedenken, die Düfte Gottes zu verbreiten und das Volk zum Reiche Gottes zu rufen, ein Festtag für ihn. Preis sei Gott, daß ihr im Dienste an Seinem Königreich und in der Verkündung der Religion Gottes Tag und Nacht tätig seid. Darum sind alle eure Tage Festtage. Es ist kein Zweifel, daß euch die Hilfe und der Segen Gottes zuteil werden.

In den südlichen der Vereinigten Staaten, in Delaware, Maryland, Virginia, West-Virgina, North Carolina, South Carolina, Georgia, Florida, Alabama, Mississippi, Tennessee, Kentucky, Louisiana, Arkansas, Oklahoma und Texas gibt es erst wenige Freunde. Darum müßt ihr euch selber aufmachen oder eine Anzahl gesegneter Seelen aussenden in diese Staaten, damit sie die Menschen zum Reich des Himmels führen. Eine der heiligen Manifestationen wandte sich einmal an eine gläubige Seele und sprach: „Wenn jemand zur Quelle der Erleuchtung für eine Seele wird, so ist dies besser als ein unermeßlich großer Schatz.“ Und wiederum sagte Er: „O ‘Alí! Wenn Gott durch dich eine Seele führt, so ist das besser für dich als alle Reichtümer!“ Und weiter sprach Er: „Führe uns auf den geraden Pfad!“, das heißt: Zeige uns den rechten Weg. Dies ist auch im Evangelium erwähnt: „Ziehet hin in alle Welt und verkündet die frohe Botschaft von der Ankunft des Reiches Gottes.“

Kurz gesagt, ich hoffe, ihr werdet in dieser Hinsicht größten Einsatz und Edelmut entfalten. Es ist sicher, daß ihr dabei unterstützt und bestätigt werdet. Wer die frohen Botschaften vom Erscheinen der Wirklichkeiten und Bedeutungen des Reiches Gottes kundtut, der gleicht einem Bauern, welcher reine Saaten auf reichen Boden aussät. Die Wolke des Frühlings wird die Schauer der Freigebigkeit darauf ergießen, und zweifellos wird das Ansehen des Bauern bei seinem Dorfherrn steigen, und viele Ernten werden eingebracht werden.

Deshalb, o ihr Freunde Gottes, würdigt den Wert dieser Stunde und bemühet euch darum, die Saaten auszusäen, auf daß ihr den Segen des Himmels und die Bestätigung des Herrn findet. Bahá Al-Abhá sei mit euch!

Haifa, Palästina,

27. März 1916

* * *


[Seite 1383]


An die Gläubigen Gottes und die Dienerinnen des Barmherzigen in den südlichen Staaten (der USA).


Bahá’u’lláh Al-Abhá sei mit ihnen!

O ihr gesegneten, geschätzten Seelen!


Die Philosophen der Alten, die Denker des Mittelalters und die Wissenschaftler dieses und des vorigen Jahrhunderts waren sich alle darüber einig, daß der geeignetste, der ideale Bezirk für den Wohnsitz des Menschen die gemäßigte Zone ist, denn in diesem Gürtel entwickelt sich das Denken und der Intellekt des Menschen zur höchsten Reife, und das Vermögen und die Fähigkeit zur Zivilisation offenbaren sich dort in voller Blüte. Wenn ihr die Geschichte kritisch und mit durchdringendem Auge leset, dann wird euch klar, daß die meisten berühmten Menschen in der gemäßigten Zone geboren wurden, dort aufwuchsen und ihre Taten vollbrachten, während nur sehr wenige aus den heißen und den kalten Zonen stammten.

Nun liegen die sechzehn Südstaaten der Vereinigten Staaten in der gemäßigten Zone, und in diesen Gebieten haben sich die Vollkommenheiten der stofflichen Welt voll entfaltet. Denn mildes Wetter, eine schöne Umgebung und die geographische Gestalt eines Landes üben großen Einfluß auf die Welt des Gemüts und der Gedanken. Diese Tatsache ist reich belegt durch Beobachtung und Erfahrung.

Gerade die heiligen Manifestationen Gottes waren von höchst ausgeglichenem Wesen; ihre Gesundheit und ihr leibliches Befinden waren überaus vollkommen, ihr Körperbau ausgestattet mit physischer Stärke, ihre Kräfte arbeiteten in bester Ordnung, ihre äußeren Empfindungen waren verknüpft mit inneren Wahrnehmungen; beide wirkten mit außerordentlicher Schwungkraft in völliger Abstimmung zusammen.

Weil diese sechzehn Staaten an andere Länder stoßen und weil ihr Klima besonders gemäßigt ist, müssen sich in ihnen die göttlichen Lehren in hellerem Glanz offenbaren, der Odem des Heiligen Geistes muß dort eine durchdringende Stärke entfalten, das Meer der Liebe Gottes muß höhere Wellen schlagen, der Hauch aus dem Rosengarten der göttlichen Liebe muß dort rascher ausströmen und die Düfte der Heiligkeit müssen sich schnell und ungestüm ausbreiten.

Preis sei Gott, die göttlichen Ausgießungen sind grenzenlos, die Melodie der Grundsätze des Herrn ist von höchster Wirkung, die größte Sonne erstrahlt in vollkommenem Glanz, die höchsten Heerscharen greifen an mit unbesiegbarer Macht, die Zungen sind schärfer als Schwerter, die Herzen strahlender als das elektrische Licht, der Edelmut der Freunde übertrifft denjenigen aller früheren und kommenden Geschlechter, die Seelen sind hingezogen zum Göttlichen und das Feuer der Liebe Gottes ist entzündet.

Heute und in diesem Zeitabschnitt müssen wir uns die besonders günstige Gelegenheit zunutze machen. Wir dürfen nicht für einen Augenblick untätig dasitzen; wir müssen uns loslösen von aller Behaglichkeit, von Rast und Ruhe, von Wohlstand, Eigentum, Leben und der Bindung an das [Seite 1384] Stoffliche. Wir müssen alles Seiner Erhabenheit, dem Herrn über alles Sein, opfern, damit die Kräfte des Königreiches alles durchdringen und Sein Strahlenglanz in diesem neuen Zeitalter die Welten der Gemüter und der Ideale erleuchte.

Es ist etwa dreiundzwanzig Jahre her, daß die Düfte Gottes in Amerika verbreitet wurden, aber es hat sich keine entsprechende Bewegung ergeben, und kein großer Beifall, keine beschleunigte Ausbreitung konnten beobachtet werden. Nun hege ich die Hoffnung, daß durch die himmlische Macht, durch die Düfte des Barmherzigen, durch die Anziehungskraft eures Bewußtseins, durch die göttlichen Ausgießungen, durch die himmlischen Heerscharen und durch die Ströme aus dem Springquell göttlicher Liebe die Gläubigen Gottes sich aufmachen, daß binnen kurzem die größte Gabe Gottes ihr Antlitz entschleiere und die Sonne der Wirklichkeit mit solcher Leuchtkraft erstrahle, daß das Dunkel der stofflichen Welt völlig verjagt und vertrieben wird. Aus allen Ecken muß eine wunderbare Weise erklingen, die Vögel der Morgenfrühe müssen solch ein Lied anstimmen, daß die Menschenwelt bewegt und begeistert wird, die festen Körper müssen zerschmelzen, und die Seelen, die diamantharten Felsen gleichen, müssen ihre Schwingen entfalten und in der Glut der Liebe Gottes himmelwärts fliegen.

Vor nahezu zweitausend Jahren war Armenien von undurchdringlichem Dunkel umhüllt. Eine gesegnete Seele aus der Schar der Jünger Christi eilte in diese Provinz, und durch ihren Einsatz wurde das Land binnen kurzem erleuchtet. So wurde offenbar, wie die Macht des Reiches Gottes wirkt!

Darum bleibet der Bestätigung des Barmherzigen und der Hilfe des Höchsten versichert, werdet geheiligt und gereinigt von dieser Welt und ihren Bewohnern, laßt euer Vorhaben allen zunutze sein, löst euch aus der Bindung an das Irdische und werdet so licht und fein wie Geistwesen. Mit fester Entschlossenheit, mit reinem Herzen, mit frohem Mut und beredter Zunge widmet sodann eure Zeit der Verbreitung der göttlichen Lehrsätze, auf daß die Einheit der Menschenwelt ihren Baldachin über den Zinnen Amerikas ausbreite und alle Nationen der Welt die Göttliche Politik befolgen. Es ist gewiß, daß die Göttliche Politik Gerechtigkeit und Güte für die ganze Menschheit bedeutet. Denn alle Völker der Welt sind die Schafe Gottes, und Gott ist der gütige Hirte. Er hat diese Schafe erschaffen. Er hat sie beschützt, ernährt und erzogen. Gibt es größere Güte als dies? Und mit jedem Atemzug müssen wir hunderttausendfachen Dank sagen dafür, daß wir, Gott sei gelobt, frei wurden von all den unwissenden Vorurteilen, daß wir liebreich sind zu allen Schafen Gottes, daß es unser größtes Ziel ist, ihnen allen zu dienen und ein jedes zu erziehen wie ein liebender Vater.

Gruß und Ehre seien mit euch!


* * *


Jede Seele, die durch die Städte, Dörfer und Weiler jener Staaten reist und sich um die Verbreitung der Düfte Gottes müht, sollte dieses Gebet alle Morgen sorgsam lesen:

[Seite 1385] O Gott! O Gott! Schaue herab auf mich! Trotz meiner Niedrigkeit, meiner Unwissenheit und Unfähigkeit habe ich mich entschlossen, größte Taten zu vollbringen mit dem Ziel, Dein Wort in diesen Ländern zu fördern und Deine Lehren unter der ganzen Menschheit zu verbreiten. Ferne sei es mir, in dieser Arbeit anders bestätigt zu werden als durch Deine Hilfe mit dem Odem des Heiligen Geistes! Mache mich siegreich durch die Streitmacht Deines höchsten Königreiches und umgib mich mit Deinen Bestätigungen, die die Motte zu einem Adler machen, den Tropfen zu einem Strom und einem Meer und das Fünkchen zu Sonnen und Monden!

O Herr! Bestätige mich mit Deiner unüberwindlichen Macht und Deiner alldurchdringenden Kraft, auf daß meine Zunge Deinen Ruhm und Preis unter Deinen Geschöpfen verkünde und mein Herz überströme vom Wein Deiner Liebe und Erkenntnis. Wahrlich, Du bist kraftvoll zu tun, was Du willst, und Du bist mächtig über alle Dinge!

Haifa, Palästina,

3. Februar 1917


* * *


An die Gläubigen Gottes und die Dienerinnen des Barmherzigen in den Staaten des Mittelwestens (der USA).


O ihr himmlischen Seelen, o ihr Geistigen Räte, o ihr Versammlungen des Herrn!

Unser Briefwechsel hat sich eine zeitlang verzögert, und zwar weil Schwierigkeiten beim Versand und Empfang von Briefen entstanden waren. Aber nun ergeben sich einige Möglichkeiten; darum bin ich dabei, dieses kurze Schreiben an euch aufzusetzen, weil mein Herz und meine Seele in Duft und Freude sind, wenn ich der Freunde gedenke. Ständig betet und fleht dieser Wanderer an der Schwelle Seiner Heiligkeit des Einen und bittet um Hilfe, Segen und himmlische Bestätigung für die Gläubigen. Ihr seid immer in meinen Gedanken. Ihr seid nicht vergessen und werdet es niemals sein. Ich hoffe, daß ihr durch die Gunst Seiner Heiligkeit des Allmächtigen Tag für Tag wachset im Glauben, in Gewißheit, Festigkeit und Standhaftigkeit, und daß ihr zu Werkzeugen für die Förderung der Heiligen Sache werdet. In dem großen Buch, dem göttlichen Qur’án, wendet sich Gott an Seinen Boten, Seine Heiligkeit Muhammad — Gruß und Ehre sei mit Ihm! — und spricht: „Wahrlich, Du führst das Volk auf den geraden Pfad.“ Mit anderen Worten: Du zeigst der Menschheit den rechten Weg. Bedenket, was für eine unendlich wichtige Sache die Führung ist; denn sie weist auf die Erhabenheit der Stufe Seiner Heiligkeit des Gottesboten hin.

Wenn es auch in den Staaten Illinois, Wisconsin, Ohio, Michigan und Minnesota — Gott sei gelobt — Gläubige gibt, die in größter Festigkeit und Standhaftigkeit miteinander vereint sind — Tag und Nacht haben sie kein anderes Ziel als die Verbreitung der Düfte Gottes, kein anderes Sehnen als die Förderung der himmlischen Lehren; wie Kerzen sind sie entflammt im Lichte der Liebe Gottes, und wie dankerfüllte Vögel singen [Seite 1386] sie begeisternde, freudespendende Weisen im Rosengarten der Erkenntnis Gottes — so sind doch in den Staaten Indiana, Iowa, Missouri, Nord-Dakota, Süd-Dakota, Nebraska und Kansas der Gläubigen nur wenige zu finden. Bisher wurde in diesen Staaten der Ruf zum Reiche Gottes und die Verkündung der Einheit der Menschenwelt noch nicht planmäßig und begeistert verwirklicht. Gesegnete Seelen und losgelöste Lehrer sind noch nicht mehrmals durch diese Gegenden gereist; darum befinden sich diese Staaten noch im Zustand der Achtlosigkeit. Durch die Anstrengungen der Freunde Gottes müssen auch in diesen Staaten Seelen vom Feuer der Liebe zu Gott erfaßt und zum Reiche Gottes hingezogen werden, damit auch dieser Bezirk erleuchtet werde und der die Seelen erfüllende Hauch aus dem Rosengarten des Königreiches seinen Bewohnern durch die Nase zieht. Darum entsendet, wenn es möglich ist, in diese Gebiete Lehrer, die von allem außer Gott losgelöst, rein und geheiligt sind. Wenn von diesen Lehrern stärkste Anziehungskraft ausgeht, dann werden sich in kurzer Zeit große Erfolge zeigen. Die Söhne und Töchter des Königreiches gleichen wahrhaften Bauern. Durch welchen Staat und durch welches Land sie auch ziehen, überall beweisen sie ihre Selbstaufopferung und säen göttliche Saaten. Diese Aussaat bringt Ernten hervor. Über dieses Thema ist im ruhmreichen Evangelium offenbart: Wenn reine Saaten auf guten Boden gesät werden, wird sich himmlischer Segen einstellen. Ich hoffe, daß ihr unterstützt und bestätigt werdet und nie den Mut verlieret, die göttlichen Lehren zu fördern. Möget ihr Tag für Tag eure Bemühungen, eure Anstrengungen und euren Edelmut steigern.

Gruß und Ehre seien mit euch!

Haifa, Palästina,

29. März 1916


* * *


An die Gläubigen und die Dienerinnen Gottes in den Staaten des Mittelwestens.

Bahá’u’lláh Al-Abhá sei mit ihnen!

Er ist Gott!

Gott spricht im erhabenen Qur’án: „Er auserwählt für Seine Gnade, wen immer er will.“

O ihr alten Gläubigen und vertrauten Freunde!

Jene zwölf Staaten in der Mitte der Vereinigten Staaten sind gleichsam das Herz Amerikas, und das Herz ist mit allen Organen und Gliedern des Menschen verbunden. Wird das Herz gekräftigt, so sind alle Organe des Körpers neu gestärkt, und ist das Herz schwach, dann sind alle Teile des Körpers matt und kraftlos.

Nun, Gott sei Dank, Chikago und seine Umgebung waren von jeher ein starkes Herz, seitdem die Düfte Gottes verbreitet wurden. Darum wurde diese Stadt durch die göttliche Gunst und Vorsehung in gewissen bedeutsamen Dingen bestätigt:

Erstens: Der Ruf zum Reiche Gottes wurde zuallererst von Chikago aus erhoben. Dies ist ein großes Vorrecht; in fernen Jahrhunderten und Zeitaltern wird es wie eine Achse sein, um die sich die Ehre Chikagos dreht.

[Seite 1387] Zweitens: In diesem gesegneten Fleck erhob sich eine Anzahl Seelen in größter Festigkeit und Standhaftigkeit, um das Wort Gottes zu fördern; sie reinigten und heiligten ihr Herz von jedem anderen Gedanken, und bis auf den heutigen Tag gaben sie sich der Verbreitung der Lehren Gottes hin. Darüber erhob sich bei den höchsten Heerscharen unablässiger Jubel und Preis.

Drittens: Während seiner Amerikareise kam ‘Abdu’l-Bahá mehrere Male durch Chikago und traf dort mit den Freunden Gottes zusammen. Für einige Zeit verweilte er in jener Stadt. Tag und Nacht war er damit beschäftigt, von dem Einen Wahren zu künden und das Volk zum Reiche Gottes zu rufen.

Viertens: Bis auf den heutigen Tag wirkte eine jede Bewegung, die von Chikago ausging, weithin in alle Richtungen und über alle Teile des Landes, genauso wie alles, was vom Herzen aus auftritt und sich offenbart, alle Organe und Glieder des Körpers beeinflußt.

Fünftens: Der erste Mashriqu’l-Adhkár von Amerika wurde in Chikago begründet, und diese Ehre und Auszeichnung ist von unendlichem Wert. Zweifellos werden aus diesem Mashriqu’l-Adhkár Tausende weiterer Mashriqu’l-Adhkárs hervorgehen.

Ebenso (wurden in Chikago begründet) die allgemeine Jahrestagung, die Stiftung des „Star of the West“, die Verlagsgesellschaft für die Veröffentlichung von Büchern und Sendschreiben und für deren Verbreitung über ganz Amerika sowie die Vorbereitungen, die jetzt getroffen werden, für die Feier des hundertjährigen Jubiläums des Reiches Gottes. Ich hoffe, daß dieses Jubiläum und die Ausstellung in höchster Vollendung gefeiert werden, auf daß der Ruf zu einer Welt der Einheit erschalle: „Es gibt keinen Gott als den einen Gott, und alle Seine Boten vom Anbeginn an bis auf das Siegel der Propheten (Muhammad) wurden von dem Einen Wahren ausgesandt!“, auf daß das Banner der Einheit der Menschenwelt entfaltet werde, das Lied des allumspannenden Friedens die Ohren des Ostens und des Westens erreiche, damit alle Wege gesäubert und begradigt werden, alle Herzen sich hingezogen fühlen zum Reiche Gottes, damit das Tabernakel der Einheit über den Zinnen Amerikas errichtet werde, die Gesänge der Liebe Gottes alle Völker und Nationen erheitern und erfreuen, damit das ganze Erdenrund zum ewigen Paradiese werde, die dunklen Wolken sich zerstreuen und die Sonne der Wahrheit mit hellem Licht erstrahle.

O ihr Freunde Gottes! Bemühet euch mit Herz und Seele, auf daß Verbundenheit, Liebe, Einheit und Einmütigkeit zwischen den Herzen erwachsen, auf daß alle Ziele in dem einen Ziel aufgehen, alle Lieder zu einem Lied werden und die Kraft des Heiligen Geistes überwältigend siegreich werde und alle Mächte der stofflichen Welt überwinde. Arbeitet! Dies ist die große Arbeit, möget ihr darin bestärkt werden. So möge Amerika der Stützpunkt der Aufnahmebereitschaft für die Gnadengaben werden, der Thron des Reiches Gottes möge auf Erden errichtet werden in großer Freude und Herrlichkeit.

Jeden Augenblick ist diese äußerliche Welt dem Wandel unterworfen. Mit jeder Sekunde ist sie neuem Wechsel, neuer Veränderung ausgesetzt. [Seite 1388] Jede Einrichtung wird schließlich zusammenbrechen; jeder Ruhm, jeder Glanz wird letztlich verschwinden und vergehen. Nur das Reich Gottes ist ewig, und die himmlische Erhabenheit und Herrschaft wird fest begründet sein für alle Zeit. Darum schätzt der Weise die Strohmatte im Reiche Gottes höher ein als den Thron der Regentschaft über die ganze Welt.

Ständig sind mein Auge und mein Ohr auf die Staaten des Mittelwestens gerichtet; vielleicht könnte das Lied einiger gesegneter Seelen mein Ohr erreichen, Seelen, die die Dämmerorte der Liebe Gottes sind, die Sterne am Himmel der Heiligung und Weihe, Seelen, die dieses dunkle All erleuchten und diese tote Welt zum Leben erwecken. Die Freude ‘Abdu’l-Bahás hängt hiervon ab! Ich hoffe, daß ihr darin bestätigt werdet.

Daher müssen jene Seelen, die auf der Stufe völliger Loslösung stehen, geläutert von den Mängeln der stofflichen Welt, geheiligt von der Bindung an diese Erde, belebt mit dem Odem ewigen Lebens, mit strahlenden Herzen begabt, mit himmlischem Geist, mit anziehendem Bewußtsein, mit überirdischem Edelmut, mit beredter Zunge und mit klaren Auslegungen — solche Seelen müssen sich eilen und durch alle Teile des Mittelwestens reisen. In jeder Stadt und in jedem Dorf müssen sie sich damit befassen, die göttlichen Ermahnungen und Ratschläge zu verbreiten, die Seelen zu führen und die Einheit der Menschenwelt zu fördern. Sie müssen die Weise der internationalen Versöhnung spielen mit solcher Kraft, daß alle Tauben hören, alle Erloschenen erglühen, alle Toten zu neuem Leben erwachen und alle Teilnahmslosen begeistert werden. Dies ist fürwahr die höchste Erfüllung.


* * *


Wer die Düfte Gottes verbreitet, der möge jeden Morgen das folgende Gebet sorgsam lesen:

O Herr! O Herr! Preis und Dank sei Dir, denn Du hast mich auf die Straße des Königreiches geführt. Du läßt mich wandeln auf diesem geraden und weitreichenden Pfad, Du erleuchtest mein Auge mit Deinem Licht, läßt mich den Liedern der heiligen Vögel aus dem Reiche der Geheimnisse lauschen und fesselst mein Herz in Deiner Liebe zu den Rechtschaffenen.

O Herr! Bestätige mich durch den Heiligen Geist, daß ich in Deinem Namen die Völker rufe und die frohen Botschaften von der Offenbarung Deines Königreiches der Menschheit verkünde.

O Herr! Ich bin schwach, stärke mich mit Deiner Kraft und Macht. Meine Zunge stockt, laß mich Deiner gedenken und dich preisen. Ich bin verlassen, tröste mich und laß mich eintreten in Dein Reich. Ich bin fern von Dir, laß mich der Schwelle Deiner Gnade näher kommen. O Herr! Mache mich zu einer hellen Leuchte, einem strahlenden Stern und einem gesegneten Baum, geschmückt mit Früchten und Zweigen, die alle diese Gefilde überschatten. Wahrlich, Du bist der Mächtige, der Kraftvolle und der Unbegrenzte!

Haifa, Palästina,

8. Februar 1917


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[Seite 1389]

An die Gläubigen Gottes und die Dienerinnen des Barmherzigen in den westlichen Staaten (der USA)

Er ist Gott!

O ihr Söhne und Töchter des Königreiches!

Tag und Nacht befasse ich mich mit nichts anderem als dem Gedenken an die Freunde, und ich bete aus der Tiefe meines Herzens für sie. Ich flehe um ihre Bestätigung aus dem Reiche Gottes und bitte, daß der Odem des Heiligen Geistes unmittelbar auf sie wirke. Die Gunst Seiner Erhabenheit, des Herrn der Segengaben, läßt mich hoffen, daß die Freunde Gottes in einer Zeit wie der heutigen zur geheimen Quelle der Erleuchtung für die Menschenherzen werden, daß sie den Odem des Lebens den Geistern einhauchen und daß solche preiswürdigen Erfolge der Menschheit zu ewigem Ruhm und zu unvergänglicher Herrlichkeit gereichen. In einigen der westlichen Staaten — wie etwa in Kalifornien, Oregon, Washington und Colorado — wurden die Düfte der Heiligkeit verbreitet, zahlreiche Seelen haben dort ihr Teil aus der Quelle ewigen Lebens genommen, haben himmlische Segnungen empfangen, haben einen überströmenden Kelch vom Weine der Liebe Gottes getrunken und der Weise der höchsten Heerscharen gelauscht — aber in den Staaten Neu-Mexiko, Wyoming, Montana, Idaho, Utah, Arizona und Nevada wurde das Licht der Liebe Gottes noch nicht auf hinreichende und passende Art entzündet, und der Ruf zum Reiche Gottes ist noch nicht erklungen. Nun, wenn es möglich ist, dann gebt euch Mühe in dieser Hinsicht. Reiset entweder selbst durch alle diese Staaten oder erwählet andere und schickt sie hin, damit sie die Seelen lehren. Jetzt sind diese Staaten wie tote Körper; die Lehrer müssen ihnen den Odem des Lebens einhauchen und sie mit himmlischem Geiste segnen. Wie die Sterne müssen sie dort am Himmel glänzen, auf daß die Strahlen der Sonne der Wirklichkeit auch jene Staaten erleuchten.

Gott spricht im erhabenen Qur’án: „Wahrlich, Gott ist der Helfer derer, die Glauben haben. Er wird sie aus der Finsternis ins Licht führen.“ Dies bedeutet: Gott liebt die Gläubigen, folglich wird er sie aus dem Dunkel befreien und sie in die Welt des Lichtes bringen.

Es steht auch geschrieben im gesegneten Evangelium: „Ziehet hin in alle Welt und rufet das Volk zum Reiche Gottes.“ Jetzt ist die Zeit gekommen, da ihr euch aufmachen solltet, diesen größten Dienst zu erweisen und für unzählige Seelen zur Quelle der Führung zu werden. So mögen durch diesen übermenschlichen Dienst die Strahlen des Friedens und der Versöhnung alle Lande erhellen und erleuchten, auf daß die Menschenwelt Ruhe und Frieden finde.

Während meines Aufenthalts in Amerika erhob ich meine Stimme in jeder Versammlung und rief die Menschen auf, die Ideale des allumfassenden Friedens zu verbreiten. Ich sagte offen, daß der Erdteil Europa zu einem Waffenarsenal geworden sei, das mit einem einzigen Funken in die Luft gehen könne, und daß in den folgenden Jahren, oder innerhalb zweier Jahre, alles, was in der Offenbarung des Johannes und im Buche [Seite 1390] Daniel geschrieben steht, eintreffe und in Erfüllung gehe. Diese Äußerung wurde aller Wahrscheinlichkeit nach im „San Francisco Bulletin“ vom 12. Oktober 1912 veröffentlicht. Ihr könnt sie dort nachlesen, damit die Wahrheit klar und offenbar werde; so möget ihr euch voll bewußt werden, daß es heute wirklich an der Zeit ist, die Düfte zu verbreiten.

Der Edelmut des Menschen muß himmlischer Natur sein, oder mit anderen Worten: Er muß Hand in Hand gehen mit göttlicher Bestätigung, auf daß ihr zur Quelle der Erleuchtung für die Menschheit werdet.

Gruß und Ehre seien mit euch!

Haifa, Palästina,

1. April 1916


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An die Gläubigen Gottes und die Dienerinnen des Barmherzigen in den westlichen der Vereinigten Staaten: in Neu-Mexiko, Colorado, Arizona, Nevada, Kalifornien, Wyoming, Montana, Idaho, Oregon, Washington und Utah.

Bahá’u’lláh Al-Abhá sei mit ihnen!

Er ist Gott!

O ihr Freunde und Dienerinnen des Barmherzigen, ihr Auserwählten des Königreiches!

Der gesegnete Staat Kalifornien ist dem heiligen Lande, das heißt Palästina, sehr ähnlich. Die Luft ist außergewöhnlich milde, die Ebene weit ausgebreitet, und die Früchte Palästinas sind in jenem Land in herrlicher Frische und Köstlichkeit anzutreffen. Als ‘Abdu’l-Bahá durch jene Staaten reiste, da wähnte er sich in Palästina, denn jeder Fleck Erde dort glich der Gegend hier aufs Haar. Die Küsten des Stillen Ozeans sind in einigen Fällen das vollkommene Ebenbild der Gestade des Heiligen Landes, sogar die Pflanzenwelt des Heiligen Landes wächst an jenen Ufern, und das Studium dieser Zusammenhänge führte zu viel Nachsinnen und Verwunderung.

Auch offenbaren sich in Kalifornien und in anderen westlichen Staaten in der Welt der Natur wundervolle Szenen, die den Menschen ganz verwirren. Himmelhohe Berge, tiefe Schluchten, große, majestätische Wasserfälle und riesige Bäume sind auf allen Seiten zu sehen, während der Boden überaus reich und fruchtbar ist. Dieser gesegnete Staat ist dem Heiligen Land ähnlich, diese Gegend, die einem köstlichen Paradiese gleicht, stimmt in mancherlei Beziehung mit Palästina überein. Nun, wo solche Übereinstimmung im Bereich der Natur besteht, da muß auch ein himmlisches Ebenbild geschaffen werden.

In Palästina offenbart sich das Licht göttlicher Spuren. Die Mehrzahl der jüdischen Propheten erhob den Ruf zum Reiche Gottes auf diesem heiligen Boden. Und wie sich die geistigen Lehren ausbreiteten, erfüllten sie den Atem der geistig Gesinnten und strahlten aus den Augen der erleuchteten Seelen; die Weisen Gottes klangen in den Ohren, die Herzen erlangten ewiges Leben durch den seelenerfrischenden Hauch aus dem Reiche Gottes und höchste Erleuchtung von den Strahlen der Sonne der Wirklichkeit. Dann verbreitete sich das Licht aus dieser Gegend über Europa, Amerika, Asien, Afrika und Australien.

[Seite 1391] Nun müssen Kalifornien und die anderen Staaten des Westens auch im Geistigen dem Heiligen Lande ähnlich werden; aus dem Bereich dieser Staaten muß sich der Hauch des Heiligen Geistes über alle Teile Amerikas und Europas verbreiten, auf daß der Ruf zum Reiche Gottes alle Ohren erheitere und erfreue, die göttlichen Grundsätze neues Leben spenden, die verschiedenen Parteien eine Partei werden, die einander widersprechenden Ideen verschwinden und sich alle um ein einziges Sammellager bewegen, auf daß der Osten und der Westen Amerikas sich umarmen, der Weihesang der Einheit der Menschenwelt alle Menschenkinder neu belebe und das Tabernakel allumfassenden Friedens über den Gipfeln Amerikas errichtet werde. So mögen Europa und Afrika belebt werden durch den Hauch des Heiligen Geistes, diese Welt eine andere Welt werden, der Körper der Gesellschaft neu beschwingt werden, und wie in Kalifornien und anderen Staaten des Westens im Reiche der Natur wunderbare Bilder in Erscheinung treten, so sollen auch die großen Zeichen des Reiches Gottes enthüllt werden, damit der Körper mit dem Geiste übereinstimme, die äußere Welt ein Gleichnis der inneren Welt und der Spiegel der Erde ein Spiegel des Königreichs werde, der die vollkommenen Tugenden des Himmels widerstrahlt.

Als ich durch jene Gegenden reiste, schaute ich die wundervollen Bilder und herrlichen Panoramen der Natur: Obsthaine und Flüsse, Nationalparks und Naturschutzgebiete, Wüsten, Ebenen, Weiden und Steppen; die Getreidearten und die Vielfalt der Früchte fesselten meine Aufmerksamkeit, und bis auf den heutigen Tag ist dies alles in meinen Gedanken.

Besonders erfreuten mich aber die Versammlungen in San Franzisko, Oakland und Los Angeles und die Gläubigen, die aus den Städten anderer Staaten kamen. So oft ich mich ihrer Gesichter erinnere, werde ich unendlich glücklich.

Darum hege ich die Hoffnung, daß sich die göttlichen Lehren wie die Strahlen der Sonne über alle Staaten des Westens ausbreiten und der gesegnete Vers des Qur’án verwirklicht werde: „Es ist eine gute Stadt, und der Herr ist der Vergebende!“ Ebenso möge sich die Bedeutung eines anderen Verses des Qur’án strahlend offenbaren: „Wandert ihr nicht durch das Land und sehet die Spuren der Gnade Gottes?“

Preis sei Gott! In jenem Bereich ist dank der freigiebigen Vorsehung Gottes das Aufgabengebiet sehr weit, der Verstand der Menschen ist überaus aufgeweckt und fortschrittlich, Wissenschaften und Künste werden gefördert, die Herzen sind wie Spiegel so rein und durchsichtig, und die Freunde fühlen sich hingezogen zu Gott. Darum ist zu hoffen, daß Lehrversammlungen eingeleitet und veranstaltet werden, und daß weise Lehrer in die Städte und auch in die Dörfer entsendet werden, um die Düfte Gottes zu verbreiten.

Die Lehrer der Sache müssen himmlisch, vornehm und strahlend sein. Sie müssen verkörperter Geist, verwirklichte Vernunft sein und sich zum Dienste erheben mit höchster Festigkeit, Standhaftigkeit und Selbstaufopferung. Auf ihren Reisen dürfen sie nicht an Nahrung und Kleidung gebunden sein. Sie müssen ihre Gedanken sammeln auf die Ausgießungen des Reiches Gottes und um die Bestätigung des heiligen Geistes bitten. [Seite 1392] Mit göttlicher Kraft, mit fesselndem Bewußtsein, mit himmlischen frohen Botschaften und in engelsgleicher Heiligkeit müssen sie den Hauch des Paradieses Abhás verbreiten.


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Das folgende Gebet sollen die Lehrer der Sache jeden Tag lesen:

O Gott! O Gott! Dies ist ein Vogel mit gebrochenen Schwingen, der nur langsam fliegen kann — stehe ihm bei, auf daß er sich erhebe zum Gipfel des Glücks und des Heils, auf daß er seinen Weg ziehe durch den unendlichen Raum, in eitel Freude und Wonne, daß er in Deinem hehrsten Namen sein Lied anstimme über allen Gefilden, die Ohren erheitere mit seinem Ruf und die Augen erhelle mit dem Zeichen der Führung.

O Herr! Ich bin einsam, allein und gering. Für mich gibt es keinen Erhalter außer Dir, keinen Helfer außer Dir, keinen Ernährer außer Dir. Bestätige mich in Deinem Dienst, stehe mir bei mit den Scharen Deiner Engel, mache mich siegreich in der Verbreitung Deines Wortes und lasse mich Deine Weisheit unter Deinen Geschöpfen verkünden. Wahrlich, Du bist der Hüter der Armen und der Verteidiger der Geringen, und wahrlich, Du bist der Kraftvolle, der Mächtige und der Unbegrenzte!

Haifa, Palästina,

15. Februar 1917


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An die Gläubigen Gottes und die Dienerinnen des Barmherzigen in den Provinzen des Dominions Kanada.

O ihr Töchter und Söhne des Königreiches!

Er ist Gott!

In den meisten Staaten und Städten der Vereinigten Staaten sind — gelobt sei Gott! — die Düfte Gottes verbreitet; ungezählte Seelen haben ihr Antlitz auf das Reich Gottes gerichtet und nähern sich ihm; jedoch in einigen der Staaten ist die Fahne der Einheit noch nicht so aufgerichtet, wie es sein soll und muß, und die Geheimnisse der Heiligen Bücher, wie etwa des Alten und des Neuen Testaments und des Qur’áns, sind nicht verkündet. Durch den einmütigen Einsatz der Freunde muß das Banner der Einheit in jenen Staaten entfaltet und die göttlichen Lehren müssen so gefördert werden, daß auch diese Gebiete ihren Anteil an den himmlischen Gaben und der größten Führung erhalten. Ebenso steht es in den Provinzen Kanadas, in Neufundland, auf der Prinz-Eduard-Insel, in Neu-Schottland, Neu-Braunschweig, Quebec, Ontario, Manitoba, Saskatchewan, Alberta, Britisch-Kolumbien, Ungava, Keewatin, Mackenzie, Yukon und den Franklin-Inseln über dem Polarkreis: Die Gläubigen Gottes in den Provinzen Kanadas müssen selbstaufopfernd und wie die Lichter der Führung erleuchtet werden. Wenn sie solchen Edelmut an den Tag legen, dann werden sie fürwahr umfassende göttliche Bestätigung erlangen, die Scharen des Himmels werden sie ständig neu bestärken, und ein herrlicher Sieg wird errungen. Vielleicht, so Gott will, wird der Ruf zum Königreich auch die Ohren der Eskimos, der Bewohner Grönlands und der Franklin-Inseln im Norden Kanadas, erreichen. Sollte in Grönland das [Seite 1393] Feuer der Liebe Gottes entzündet werden, so würde es alles Eis dieses Erdteils schmelzen und sein kaltes Klima in ein gemäßigtes Klima verwandeln; das heißt, wenn die Herzen die Wärme der Liebe Gottes aufnehmen, dann wird dieses Land und dieser Erdteil zu einem göttlichen Garten und zu einem herrlichen Obsthain, und die Seelen werden gleich früchtebeladenen Bäumen köstliche Frische erlangen. Edelmut ist not, himmlischer Eifer ist Gebot. Wenn ihr euch dafür einsetzt, daß die Düfte Gottes unter den Eskimos verbreitet werden, so wird dies zu größten und weitreichenden Erfolgen führen.

Gott spricht im erhabenen Qur’án: „Es wird ein Tag kommen, an dem die Lichter der Einheit die ganze Welt erleuchten. Die Erde wird umstrahlt werden vom Lichte ihres Herrn.“ Mit anderen Worten: „Die Erde wird erleuchtet werden vom Lichte Gottes. Dieses Licht ist das Licht der Einheit.“ „Es gibt keinen Gott außer Gott.“ Der Kontinent und die Inseln der Eskimos sind auch Teile dieser Erde. Sie müssen gleichfalls ihr Teil von den Gaben der größten Führung erhalten.

Gruß und Ehre seien mit euch!

Haifa, Palästina,

5. April 1916


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An die Gläubigen Gottes und die Dienerinnen des Barmherzigen im Dominion Kanada: in Neufundland, auf der Prinz-Eduard-Insel, in Neu-Schottland, Neu-Braunschweig, Quebec, Ontario, Manitoba, Saskatchewan, Alberta, Britisch-Kolumbien, Yukon, Mackenzie, Keewatin, Ungava, auf den Franklin-Inseln und in Grönland.

Bahá’u’lláh Al-Abhá sei mit ihnen!

Er ist Gott!

O ihr liebreichen Freunde und Dienerinnen des Barmherzigen!

Im erhabenen Qur’án spricht Gott: „Du sollst keinen Unterschied sehen zwischen den Geschöpfen Gottes.“ Mit anderen Worten, Er sagt: Vom ideellen Standpunkt aus sind alle Geschöpfe Gottes gleich, denn sie alle wurden von Ihm erschaffen. Aus dem obigen Satz ist zu schließen, daß auch kein Unterschied zwischen den verschiedenen Ländern besteht; nichtsdestoweniger hat das Dominion Kanada eine überaus große Zukunft, und seine Geschichte ist unendlich ruhmreich. So wird es den Glanz der Vorsehung auf sich lenken und die Gunst des höchsten Herrn offenbaren.

Während seiner Reise durch jenes Dominion und während seines Aufenthalts dort wurde ‘Abdu’l-Bahá größte Freude zuteil. Vor meiner Abreise dorthin warnten mich viele Seelen, nicht nach Montreal zu fahren; sie sagten, die Mehrzahl der Einwohner seien Katholiken und überaus fanatisch, sie seien versunken im Meer der Nachahmung, seien nicht bereit, dem Rufe zum Reich Gottes zu lauschen, der Schleier der Bigotterie habe ihre Augen so umhüllt, daß sie sich selbst des Anblicks der größten Führung beraubten, die Dogmen hätten ganz von ihren Herzen Besitz ergriffen und keine Spur von Wirklichkeitssinn übrig gelassen. Sie versicherten, wenn die Sonne der Wirklichkeit mit vollkommenem Glanz [Seite 1394] jenes Dominion überstrahlte, dann verhüllten die undurchdringlichen dunklen Wolken des Aberglaubens den Himmel so sehr, daß es keinem Menschen möglich wäre, diese Strahlen zu schauen.

Aber diese Geschichten hatten keinen Einfluß auf den Entschluß ‘Abdu’l-Bahás. Im Vertrauen auf Gott wandte er sein Angesicht gen Montreal. Als er jene Stadt betrat, fand er alle Türen offen, er traf die Herzen in höchster Empfänglichkeit und sah, wie die geistige Macht des Reiches Gottes jedes Hemmnis und Hindernis beseitigte. In den Kirchen und Versammlungen jenes Dominions rief er mit größter Freude die Menschen zum Reiche Gottes und streute Saaten aus, die von der Hand der göttlichen Kraft bewässert werden. Zweifellos werden diese Saaten wachsen, grünen und gedeihen und viele reiche Ernten tragen. In der Förderung der göttlichen Grundsätze fand er keinen Feind noch Widersacher. Die Gläubigen, die er in jener Stadt traf, waren überaus vergeistigt und hingezogen zu den Düften Gottes. Er fand, daß durch den Einsatz der Dienerin Gottes, Frau Maxwell, eine Anzahl der Söhne und Töchter des Königreiches in jenem Dominion zusammentrafen und sich vereinigten, und daß ihre beschwingte Freude Tag für Tag wuchs. Die Zeit meines Aufenthalts war auf wenige Tage beschränkt, aber die Wirkungen auf die Zukunft sind unerschöpflich. Wenn ein Bauer in den Besitz jungfräulichen Bodens gelangt, kann er in kurzer Zeit ein großes Feld bebauen. Darum hoffe ich, daß in Zukunft Montreal so aufgerüttelt wird, daß das Lied des Königreichs aus jenem Dominion in alle Teile der Welt wandert und sich der Hauch des Heiligen Geistes von diesem Punkt bis in den Osten und Westen Amerikas ausbreitet.

O ihr Gläubigen Gottes! Seht nicht auf eure geringe Zahl und die Vielheit der Nationen. Fünf Körner Weizen werden mit himmlischem Segen bedacht, während tausend Tonnen Unkraut keinen Nutzen, keine Wirkung erzielen. Ein fruchtbarer Baum wird dem Leben der Gesellschaft nützen, während tausend Wälder wildwachsender Bäume keine Früchte tragen. Das Feld ist mit Kieseln übersät, aber Edelsteine sind selten. Eine Perle ist besser als tausend Sandwüsten, besonders diese Perle von höchstem Wert, die mit himmlischem Segen bedacht ist. In kurzer Zeit wird sie tausend andere Perlen hervorbringen. Und wenn sich diese Perle mit den Kieseln verbindet und mit ihnen vertraut wird, dann verwandeln sich diese gleichfalls in Perlen.

Darum sage ich noch einmal, daß Kanada eine große Zukunft hat, sei es nun in Hinsicht auf die Zivilisation oder im Hinblick auf die Tugenden des Königreiches. Tag für Tag wird es an Freiheit und Zivilisation gewinnen, und die Wolke des Königreichs wird auf die Saaten der Führung, die in jenem Dominion gesät sind, regnen. Deshalb rastet nicht, trachtet nicht nach eurer Ruhe, hängt euch nicht an das Wohlleben dieser flüchtigen Welt, sondern befreiet euch von allen Banden und strebet mit Herz und Seele danach, fest gegründet im Reich Gottes zu stehen. Erwerbet euch himmlische Schätze. Tag für Tag werdet heller erleuchtet. Kommet der Schwelle der Einheit immer näher. Werdet zu Offenbarungen geistiger Gaben und zu Dämmerorten unendlichen Lichtes! Wenn es euch möglich ist, entsendet Lehrer in andere Teile Kanadas und gleicherweise nach Grönland und in die Heimat der Eskimos.

[Seite 1395] Was die Lehrer betrifft, so müssen sie sich ihrer alten Gewänder völlig entledigen und ein neues Gewand antun. Nach dem Worte Christi müssen sie die Stufe der Wiedergeburt erlangen, das heißt, wie sie bei der ersten Geburt aus dem Mutterleib hervorgingen, so müssen sie nunmehr aus dem Leib der stofflichen Welt geboren werden. Wie sie jetzt ihrer Erlebnisse in der Welt des Mutterleibes sich in keiner Weise mehr bewußt sind, so müssen sie auch die Mängel des Reiches der Natur völlig vergessen. Sie müssen getauft werden mit dem Wasser des Lebens, dem Feuer der Liebe Gottes und dem Odem des Heiligen Geistes; sie müssen sich mit wenig Nahrung zufriedengeben, aber ein großes Stück von der himmlischen Tafel nehmen. Sie müssen sich frei machen von Versuchung und Begier und vom Geist erfüllt sein. Durch das Wirken ihres reinen Odems müssen sie den Stein in einen leuchtenden Rubin verwandeln und die Muschel in eine Perle. Wie die Wolke des Frühlingsschauers müssen sie den schwarzen Boden umgestalten in einen Rosengarten und einen Obsthain. Sie müssen den Blinden sehend machen, den Tauben hörend, den Erloschenen entzünden und in Brand setzen und den Toten beleben.

Bahá’u’lláh Al-Abhá sei mit euch!


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Wer die Düfte Gottes verbreitet, sollte jeden Morgen die folgende demütige Bitte sorgsam lesen:

Preis sei Dir, o Gott! Wahrlich, dies sind Deine Diener, angezogen durch die Düfte Deiner Barmherzigkeit, entflammt durch das Feuer im Brennenden Busch Deiner Einzigkeit und die Augen erleuchtet durch den Anblick der Lichtstrahlen vom Sinai Deiner Einheit!

O Herr! Löse ihnen die Zunge zu Deiner Erwähnung unter Deinem Volke, laß sie Dein Lob verkünden durch Deine Gunst und Huld, stehe ihnen bei mit den Scharen Deiner Engel, stärke ihre Lenden in Deinem Dienst und mache sie zu Zeichen Deiner Führung unter Deinen Geschöpfen!

Wahrlich, Du bist der Machtvolle, der Erhabene, der Vergeber und der Gnädige!

O Gott! O Gott! Du siehst, wie dieser Schwache bittet um die Kraft Deines Königreichs, wie dieser Arme fleht um die Schätze Deines Himmels, wie sich dieser Dürstende sehnt nach dem Springquell des Wassers ewigen Lebens, wie dieser Kranke um völlige Heilung bittet durch Deine grenzenlose Gnade, die Du bestimmt hast für Deine erwählten Diener in Deinem höchsten Königreich!

O Herr! Ich habe keinen Helfer als Dich, keinen Tröster neben Dir und keinen Ernährer außer Dir! Stehe mir mit Deinen Engeln bei, Deine heiligen Düfte zu verbreiten und Deine Lehren auszusäen in Dein ausgewähltes Volk!

[Seite 1396] O Herr! Gib, daß ich mich trenne von allem außer Dir und mich festhalte am Saume Deines Gewandes. Mache mich ergeben in Deinem Glauben, fest in Deiner Liebe, und laß mich leben in Einklang mit dem, was Du mir befohlen hast in Deinem Buch.

Wahrlich, Du bist der Starke, der Kraftvolle und der Allmächtige!

Haifa, Palästina,

21. Februar 1917


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1) Israfil, hebräisch wohl Serafim, einer der Erzengel. Er liest nach der islamischen Mythologie die göttlichen Beschlüsse von einer goldenen Tafel ab und übermittelt sie den anderen Erzengeln zur Ausführung. Ständig hält er eine Posaune am Mund, um auf den Befehl Gottes zugleich das Jüngste Gericht anzukündigen und die Toten aufzuerwecken (vgl. A. J. Wensinck in der Enzyklopädie des Islams, 1927, B. II, S. 592) D. Red.
2) Singapur, Malakka, Penang, Labuan, Kokosinseln und die Weihnachtsinsel.



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Die dringenden Aufgaben im Rahmen des Neunjahrplanes für die weltweite Verbreitung des Bahá’í-Glaubens haben den Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í in Deutschland veranlaßt, die Herausgabe der „BAHAI-BRIEFE“ mit diesem Heft bis zur Beendigung dieses Planes im Frühjahr 1973 zu unterbrechen. Andere Zeitschriften sterben an finanzieller Auszehrung; wir machen nur eine Pause und hoffen, daß in der Zwischenzeit viele fähige Mitarbeiter zu uns stoßen werden. Allen unseren Lesern danken wir für ihre kritische Aufmerksamkeit und für die Anregungen und Ermutigungen, die sie uns vermittelt haben.
Die Redaktion.
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