Bahai Briefe/Heft 44/Text

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BAHA'I-

BRIEFE


BLÄTTER FÜR

WELTRELIGION UND

WELTBEWUSSTSEIN



AUS DEM INHALT:


Über die Loslösung

Glaube und Wissen

Mystik, Spiel und Psychologie

Wer die Wahrheit gefunden hat...

Buchbesprechungen


HEFT 44 APRIL 1971


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Das Gleichgewicht der Welt schwankt infolge der ausstrahlenden Schwingungen dieser größten und neuen Weltordnung. Die Lebensweise der Menschheit ist in Aufruhr geraten durch das Wirken dieses einzigartigen und wundersamen Planes, desgleichen menschliche Augen noch nie geschaut haben.

Versenkt euch in das Meer Meiner Worte, damit ihr seine Geheimnisse ergründen und die Perlen der Weisheit entdecken möget, die in seinen Tiefen schlummern! Hütet euch, in eurem Entschluß wankend zu werden und die Wahrheit dieser Sache nicht anzunehmen — einer Sache, welche die Möglichkeiten der Macht Gottes enthüllt und Seine höchste Herrschaft errichtet hat! Eilt freudestrahlend zu Ihm! Dies ist der unveränderliche Glaube Gottes, ewig in der Vergangenheit, ewig in der Zukunft. Laßt den, der sucht, zu Ihm gelangen! Wenn Ihn aber jemand zu suchen verschmäht, so genügt sich wahrlich Gott selbst, und Er ist über jede Abhängigkeit von Seinen Geschöpfen erhaben.

Bahá’u’lláh


(Buch der Gesetze, Ährenlese LXX)



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Die Freuden der Loslösung[Bearbeiten]

Ein Brief ‘Abdu’l-Bahás an die Bahá’í von Persien


Er ist der Herrlichste!

O Freunde Gottes, die ihr entflammt seid vom Feuer der Liebe des Barmherzigen!

Die Suche nach einem Nest in dieser Welt ist die Art und Weise der Erdenwürmer und der Vögel des niedrigen Staubes; die Vögel der göttlichen Auen aber suchen ihre Zuflucht nur im göttlichen Rosenstrauch, die Vögel des geheiligten Gartens bauen ihr Nest nur im Lotusbaum des ewigen Paradieses, die Adler in den höchsten Wipfeln wünschen sich für ihren Flug keinen anderen Raum als die Weiten des Himmels der Ehre. Diese vergängliche Welt des Staubes, Urquell der Verwirrung, ist ein dahinschwindender Schatten; diese Welt des Staubes ist in den Augen der Gottnahen geringer als ein aufgelöstes Molekül. Und als sie — so weit es möglich ist — Bescheid wußten über die Zustände in dieser Welt, ihre Nichtigkeit und Vergänglichkeit, ihre Genüsse und Ärgernisse, ihren Schmutz und ihre Enttäuschungen, ihre verseuchten Quellen und ihr giftiges Gebräu, da waren sie der Welt und ihrer Bewohner überdrüssig und wandten sich ab von allem außer Gott. Sie weihten ihr Herz der ewigen Welt und befreiten sich vom Irdischen und seiner Dunkelheit. Sie breiteten die geheiligten Flügel aus und erhoben sich zum Flug in den weiten Raum, bis sie die Höhe des Höchsten, das Reich Abhá, den Sitz der Wahrheit des machtvollen Königs, erreichten und der Begegnung mit der Größten Schönheit, der unvergänglichen Gnade und der höchsten Gunst gewürdigt wurden.

Darum, o ihr, die ihr berauscht seid vom göttlichen Wein und trunken vom Kelche des Hingezogenseins zu Gott und Seinen Gaben, entsaget Rang und Würden, Sichtbarem, Verborgenem und eitlem Wahn; seid erhaben über Bequemlichkeit und Annehmlichkeit, Ehre, Reichtum und Macht dieser vergänglichen Welt und richtet euer Streben darauf, die göttlichen Strahlen und die Gnadengaben des ewigen Himmelreiches zu empfangen. Sollten große Trübsale und schmerzliches Unglück über euch kommen, sollte die ganze Welt gegen euch aufstehen, dann werdet nicht traurig und bekümmert, jammert und klaget nicht: Die frohe Botschaft wurde von den Reinen Lippen verkündet und ist in den göttlichen Tablets niedergelegt, die belebende Botschaft wurde in den ewigen Büchern offenbart.

Der Inhalt dieser gesegneten Worte deutet darauf hin, daß die Trübsale, die die Freunde Gottes befallen, und die Verletzungen, Qualen und Kümmernisse, die auf die Liebenden der Schönheit des Barmherzigen herabkommen, diese Weisheit in sich bergen: Da diese heiligen Menschen den Zweigen und Blättern des gesegneten Baumes Gottes vergleichbar sind, wird alles, was den gesegneten göttlichen Baum selbst betroffen hat, zweifellos auch seine Zweige und Blätter befallen. Nachdem der Herr selbst die größten Heimsuchungen, Leiden und Kümmernisse und die Qualen [Seite 1271] des Kerkers auf dem Pfade Seiner Schönheit ertragen hat und während dieser Gefangenschaft in höchster Freude und völliger Gelassenheit lebte, müßt auch ihr, o Freunde Gottes, jeder nach seiner Fähigkeit und Begabung, an diesen erhabenen Gnadengaben teilhaben. Wenn ihr dies im Lichte der Wahrheit betrachtet — gibt es dann eine noch größere Gnade und ein größeres Geschenk, als auf dem Pfade des Erbarmers an den Trübsalen der Ewigen Schönheit, des Höchsten Gestirns, teilzuhaben? Froh seien die Aufrichtigen!

Wenn die Erdenbewohner den leisesten Duft von den Reichen Gottes und der geistigen Welt Gottes einatmen, in die zu gelangen den Menschen nach ihrem Aufstieg in das Reich Abhá, zu der höchsten Allmacht, bestimmt ist, dann wird zweifellos jeder von ihnen voller Verlangen und in heißer Sehnsucht auf dem Pfade der Liebe Gottes zum Altar des Opfers eilen. Würde der Geruchsinn geistiger Menschen den Dufthauch jener göttlichen Welt nicht verspüren, wäre ihr gesegnetes Herz nicht von dem Hellen Licht des Horizontes Abhá bestrahlt, dann hätten sie niemals diese schweren Trübsale und Leiden ertragen. Wisset also: Es sind die lebenspendenden Düfte aus dem Reiche Gottes, die den Geruchsinn der Gottnahen durchduftet und ihren geheiligten Geist froh gestimmt haben, daß sie mit solch tiefer Freude alle Härte, Unterdrückung und Gehässigkeit der Weltbewohner ertragen. Und wenn die Gnaden jener göttlichen Welten und die Geheimnisse jenes ewigen Himmelreiches in dieser vergänglichen Erdenwelt nicht klar und sichtbar zutage treten, dann ist dies nicht verwunderlich und auch kein Grund zu Zweifel und Mißtrauen, denn es ist klar, daß jede Begabung und Vortrefflichkeit, jede Kraft und Vollkommenheit, die ein Seiendes auf irgend einer Stufe erwirbt, erst offenbar wird, wenn es in die nächst höhere Stufe eingeordnet wird. Die innerhalb der ersten, niederen Stufe erworbenen Gaben werden in der nächst höheren erscheinen und offenbar werden. Anders ausgedrückt: Die in der niederen Welt erworbenen Vollkommenheiten erscheinen in der höheren Welt, denn jene niedere Welt hat nicht die nötige Fähigkeit und Anlage dafür. So werden zum Beispiel die Fähigkeiten und Gaben, die das Mineral in der Welt des Minerals erwirbt, in der Welt des Minerals selbst nicht sichtbar, aber wenn sie in die Welt der Pflanzen übergegangen sind, werden jene Gaben ersichtlich, und wenn die Pflanze in der Pflanzenwelt die Fähigkeit zur Herstellung empfindsamer Substanz erworben hat, tritt diese Vollkommenheit beim Übergang in die Tierwelt in Erscheinung. Und wenn der Mensch in der Welt des Mutterleibes die Kräfte des Sehens, Hörens, Riechens und andere Kräfte, menschliche Empfindungen und Vollkommenheiten erwirbt, so hat die Welt des Mutterleibes nicht die Fähigkeit und Anlage für das Erscheinen dieser Gaben; es ist völlig unmöglich, daß sich die Fähigkeiten des Hörens und Sehens dort kundtun. Erst wenn der Mensch aus der Enge des mütterlichen Schoßes in diese lichtvolle Welt übergegangen ist, wird jenes Auge hell und sehend, hört jenes Ohr, lernt jene Zunge sprechen und treten seine Vollkommenheiten klar zutage. Er wird dann genau wissen und erkennen, daß er alle diese Gaben schon in der dunklen Welt des Mutterleibes erworben hatte. Die Welt des Mutterschoßes aber hatte nicht die Fähigkeit und Anlage für das Offenbarwerden dieser Geheimnisse; ja sogar noch [Seite 1272] dem Neugeborenen waren alle diese Gaben völlig unbewußt, und selbst wenn ihm Gabriel persönlich erschienen wäre und verkündet hätte, welche Gnadengaben ihm in diesem dunklen und engen Raum geschenkt wurden, hätte er dies nicht geglaubt und sogar geleugnet.

Ebenso ist es mit den Tugenden und Begabungen, dem Wohlwollen und sehnsüchtigen Verlangen, mit dem die heiligen Seelen in dieser Welt begnadet sind, und mit den Vollkommenheiten, die sie erworben haben. Diese Welt hat nicht die Anlagen für ihr Erscheinen. Erst wenn sie in andere Welten Gottes hinübergehen, werden jene herrliche Gabe ersichtlich und jene erhabene Barmherzigkeit ihre Schönheit enthüllen. Schlimmer steht es mit einem Embryo, der dieser Lebensgaben verlustig ging: Sein Verlust tritt erst nach dem Übergang klar zutage. Genau so ist es mit dem Verlust und den Mängeln der verhüllt gebliebenen Menschen: Auch ihr Verlust und ihre Mängel werden erst nach ihrem Scheiden aus dieser Welt klar und offensichtlich werden.


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aus „Makatîb“ (Briefe ‘Abdu’l-Bahás), Band 4, S. 54/55, deutsch von Helga und Aminullah Ahmedzadeh.



Glaube und Wissen[Bearbeiten]

Ein Diskussionsbeitrag / von Willy Obrist *)

*) aus der „Neuen Züricher Zeitung“ vom 13. 9. 1970, mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.


Eine der tragenden Ideen unserer Zeit ist die der Evolution: die Vorstellung, daß der gesamte Kosmos sich von einfachen zu immer komplexeren Gebilden entfaltet. Sie gewann an Bedeutung, seitdem Darwin der empirische Nachweis gelang, daß die tierischen Arten sich wandelten. Seither erfaßte der Evolutionsgedanke ein Wissensgebiet nach dem andern. Man kam schließlich zur Einsicht, daß selbst unser Erkenntnisorgan, das Bewußtsein, sich entwickelt. Diese Einsicht ist für die Frage nach den Beziehungen zwischen Glauben und Wissen von entscheidender Bedeutung. In der heutigen Zeit gelangen immer weitere Kreise zur Überzeugung, daß der Wandel das einzig Sichere sei und daß die Geschichte des menschlichen Geistes aus einer unaufhörlichen Folge sich erweiternder und differenzierender Weltbilder bestehe.


Archaisches Bewußtsein

Als Gradmesser für die Entwicklungshöhe des Bewußtseins gilt nicht in erster Linie die Menge des Wissens, sondern vielmehr die Fähigkeit des Menschen, sich sowohl von der äußeren Umgebung als auch von den inneren Bildern zu unterscheiden und zu distanzieren. Bei primitiven Völkern kann man heute noch die frühe Bewußtseinsstufe der archaischen Identität beobachten: Weil sie nicht imstande sind, die unwillkürlich nach außen projizierten Bilder des seelischen [Seite 1273] Innenraumes als solche zu erkennen, können sie in der Außenwelt Nixen, Trolle, Dämonen und himmlische Wesen sehen. Es erscheint ihnen auch nicht absonderlich, daß ein Mensch sich in ein Tier oder eine Pflanze verwandeln oder mit dem Leib in den Himmel auffahren kann. Äußere Ereignisse führen sie nicht wie wir auf Ursache-Wirkungs-Ketten zurück, sie schreiben sie dem Wirken übernatürlicher Mächte zu.

Im Laufe der Bewußtseinsentwicklung änderte sich auch die Vorstellung von der Herkunft der Erkenntnis. Für den abendländischen Bereich können wir wohl vereinfachend sagen, daß bis zum Ende des Mittelalters die Ansicht vorherrschte, Gott selbst habe dem Menschen alles Wissenswerte über sich und die Welt geoffenbart; ferner, daß sich seit der Renaissance immer mehr die Überzeugung durchsetzte, der Mensch verdanke alles Wissen der eigenen Vernunft. Seit der Entdeckung des Unbewußten beginnt auch diese Ansicht zu wanken.

Der mittelalterliche Gelehrte interessierte sich in erster Linie für das Heil des Menschen; damit auch für dessen seelische Entwicklung im heutigen Sinn. Das mittelalterliche Wissen hatte deshalb weniger intellektuellen als existentiellen Charakter. In der Neuzeit galt das Interesse fast ausschließlich der Außenwelt. Das Wissen wurde dabei versachlicht und von der ethischen Seite der Persönlichkeit abgetrennt. Die Entdeckung des Unbewußten hat zur Folge, daß der existentielle Aspekt des Wissens dort, wo es um menschliche Dinge geht, wiederum mehr berücksichtigt wird. Dies erklärt den Ruf der Jungen nach vermehrtem Engagement.


Theologie und archaisches Denken

Jede Wissenschaft wird geprägt durch die Geisteshaltung der Zeit, in der sie entsteht. Wegen der verschiedenen Geisteshaltungen des Mittelalters, der Neuzeit und der Gegenwart scheint es empfehlenswert, die unterschiedliche Struktur von Theologie, rationalen Wissenschaften und Tiefenpsychologie im Auge zu behalten, wenn man das Verhältnis zwischen Glauben und Wissenschaft untersucht.

Die Theologie entfaltete sich im Mittelalter zu einer systematischen Wissenschaft und erlebte im 13. Jahrhundert eine Blütezeit. Daß sie sich heute unter den übrigen Wissenschaften in mancher Hinsicht wie ein erratischer Block ausnimmt, hat seinen Grund wohl darin, daß sie, namentlich im katholischen Bereich, noch wesentliche Züge der damaligen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen und der mittelalterlichen Art des Welterlebens beibehalten hat. Dies läßt ihre Ausdrucksweise für viele Moderne so fremdartig und schwer verständlich erscheinen.

Der Mensch des Mittelalters erlebte die Welt noch weitgehend im Sinne der unbewußten archaischen Identität. Das wohl am weitesten verbreitete Buch des Mittelalters, die „Legenda aurea“ des Jacobus a Voragine (1230 — 1298), kann uns eine Vorstellung davon vermitteln. Seitdem die Tiefenpsychologie die unbewußt verlaufenden Projektions- und Introjektionsvorgänge entdeckte, wird jene archaische Weltsicht für uns [Seite 1274] wieder einfühlbar und sinnvoll. Der mittelalterliche Mensch stand noch in viel innigerem Kontakt mit dem Unbewußten als wir. Aber er konnte jene an sich unanschaulichen, das bewußte Seelenleben weitgehend bestimmenden Mächte, welche über die unbewußte Psyche wirken und sich dem Bewußtsein bildhaft und personifiziert darstellen, im allgemeinen noch nicht von den Dingen der Außenwelt unterscheiden und dem innerseelischen Bereich zuordnen.

Außerdem war das Mittelalter nicht wie wir auf Erfahrung eingestellt. Es schöpfte seine Erkenntnis der Wirklichkeit in erster Linie aus dem, was die Theologie die Schrift gewordene göttliche Offenbarung nennt und als ein Sprechen Gottes auffaßt. Dies führte dazu, daß die Theologie in ihrem Wesen eine hermeneutische, ein begrenztes Schrifttum ausdeutende Wissenschaft wurde. Aus den Deutungen der Offenbarungstexte errichtete die dogmatische Disziplin ein System von „Wahrheiten“ und die Moraltheologie ein System von Handlungsnormen. Für die weitere Entwicklung der katholischen Theologie wurde bedeutsam, daß sie keine freie Wissenschaft ist. Über die Richtigkeit ihrer Ergebnisse entscheidet das aus Papst und Bischöfen bestehende kirchliche Lehramt, welches seine Kompetenz aus einem göttlichen Auftrag ableitet.


Zwei komplementäre Weltbilder

Die modernen Wissenschaften entstanden, mit Ausnahme der Tiefenpsychologie, auf dem Boden des Rationalismus. Deshalb möchte ich sie als rationale Wissenschaften bezeichnen. Man hielt die Vernunft, das heißt das menschliche Bewußtsein, für ein allmächtiges Instrument, mit dem es möglich sei, Klarheit bis in die hintersten Winkel des Seins zu bringen. Deshalb war — und ist — die rationalistische Epoche von der Überzeugung beseelt, daß dem Fortschritt keine Grenzen gesetzt seien.

Schritt für Schritt wiesen die rationalen Wissenschaften, insbesondere die Naturwissenschaften, nach, daß in der Außenwelt all jene Wesen nicht vorhanden seien, welche die primitive Vorstellungsweise nach außen projiziert hatte und auf deren äußere Existenz der theologische Konkretismus weiterhin bestand. Außerdem erwies sich die konkretistische Auslegung des biblischen Schöpfungsberichtes als unhaltbar.

In Theologie und rationalen Wissenschaften stehen sich zwei Bewußtseinsstufen mit den entsprechenden Weltbildern gegenüber, welche entwicklungsmäßig mehr als ein halbes Jahrtausend auseinander liegen, auch wenn die Vertreter beider Geisteshaltungen zur gleichen Zeit leben.

Vor der Entdeckung des Unbewußten konnten die Vertreter der rationalen Wissenschaften wegen ihres Glaubens an die Alleingültigkeit der Vernunft nicht einsehen, daß ihre Aussagen lediglich für die Außenwelt Geltung haben, ebenso wie sich die Theologen nicht dazu verstehen konnten, ihre Aussagen auf die innerseelische Welt zu beziehen. Wegen der Unmöglichkeit auf beiden Seiten, die Relativität ihres Standpunktes einzusehen, erfaßte der Konflikt zwischen Glauben und Wissen immer weitere Kreise der Bevölkerung. Er ist in unseren Tagen für sehr viele Menschen zu einem wahrhaft tragischen Konflikt geworden.

[Seite 1275] Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bahnte sich in aller Stille eine grundsätzlich neue Einstellung des Bewußtseins an, welche imstande wäre, den Konflikt zwischen Glauben und Wissen zu überwinden. Diese neue Einstellung ist heute so weit herangereift und wissenschaftlich untermauert, daß sie von der Allgemeinheit übernommen werden könnte. Der wesentliche Punkt der neuen Einstellung besteht in der Einsicht, daß die menschliche Psyche nicht aus dem Bewußtsein allein besteht, sondern daß das Bewußtsein (Vernunft, Ratio) ein sehr beschränktes Erkenntnisorgan ist, das in bisher ungeahntem Maße vom unbewußten Anteil der Psyche abhängt und außerdem nur ein für die menschliche Art spezifisches Erkennen vermittelt.


Erschütterte Allmacht der Vernunft

Ebenso wie zu Beginn unseres Jahrhunderts die Relativitäts- und Quantentheorie das Weltbild der klassischen Physik revolutionierten, so erschütterte die Entdeckung des Unbewußten den Glauben an die Allmacht der Vernunft. Die beiden revolutionären Entdeckungen auf dem Gebiete der Physik und der Psychologie führten zu erkenntnistheoretischen Konsequenzen, die heute, von verschiedenen Seiten her kommend, konvergieren, um eine völlig neuartige Weltschau anzubahnen.

Es seien hier die Grundzüge dieser Entwicklung, soweit sie die psychologische Seite betreffen, kurz skizziert: Um 1780, also noch bevor sich die rationalen Wissenschaften richtig enfalteten, äußerte Immanuel Kant die Ansicht, daß es der menschlichen Vernunft nicht möglich sei, die Welt an sich zu erkennen, sondern daß die Vernunft nur ein für den Menschen spezifisches Bild der Welt vermittle. Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts entwickelten C. G. Carus und E. v. Hartmann philosophische Denkmodelle, worin sie neben dem bewußten Bereich der Psyche einen umfangreicheren unbewußten Bezirk derselben postulierten.

Neben diesen spekulativen Versuchen bereiteten die biologischen Wissenschaften mosaikartig den Boden für ein neues Selbstverständnis des Menschen vor: Ein erster Forschungszweig führte über Anatomie und Physiologie zur heutigen Molekularbiologie. Diese physikalisch-chemisch orientierte Forschungsrichtung ließ uns das Lebewesen als das komplexeste lernfähige kybernetische System erkennen. Ein weiterer Zweig der biologischen Forschung befaßte sich mit der Evolution des Lebendigen. Er erarbeitete nicht nur den Stammbaum der Arten, sondern zeigte auch, daß der Gradmesser für die Evolutionshöhe eines Lebewesens in der Struktur des Nervensystems zu suchen sei. Für höhere Lebewesen ergab sich als eigentlicher Maßstab das Verhältnis zwischen der Masse des Großhirns und der des Stammhirns. Es zeigte sich, daß das reflektierende Bewußtsein, durch welches sich die menschliche von der tierischen Seinsebene unterscheidet, bei jenem Entwicklungszweig entstand, dessen Großhirnmasse diejenige des Stammhirns am stärksten übertraf. Damit wurde der menschliche Geist als ein Gebilde erkannt, das nicht frei und unabhängig über allen Dingen schwebt, sondern das sich als jüngster Sproß aus der allem Lebendigen eigenen unbewußten Geistigkeit herausentwickelt hat.

[Seite 1276] Ein dritter Zweig der biologischen Forschung befaßte sich mit der Innerlichkeit der Tiere. Die Verhaltensforschung kam zur Ansicht, daß allem Erkennen und allem Wirken im Bereich des Lebendigen sogenannte Schemata oder Muster zu Grunde liegen. Schließlich bemühte sich gegen Ende des letzten Jahrhunderts eine Anzahl von Psychologen um den empirischen Nachweis des menschlichen Unbewußten.


Denkmodell des menschlichen Unbewußten

Als das entscheidende Denkmodell, welches schließlich die divergierenden Entwicklungslinien der philosophischen Erkenntniskritik, der Religionswissenschaft, der Evolutionslehre, der Tierpsychologie und der empirischen Psychologie des menschlichen Unbewußten unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zusammenfaßte, kann wohl C. G. Jungs Theorie des für die menschliche Art spezifischen (sog. kollektiven) Unbewußten angesehen werden. Die Jung’sche Theorie bezieht sich vor allem auf die Dynamik zwischen unbewußten und bewußten Vorgängen. Aus ihr ergab sich eine große Zahl von Fragestellungen, welche heute in zunehmendem Maße jene Wissenschaften zu revolutionieren beginnt, deren Interesse um den Menschen und die Produkte des menschlichen Geistes kreist.

Für die Frage von Glaube und Wissen scheinen mir vor allem jene Ansichten wichtig zu sein, welche den Prozeß der Symbolbildung und Symbolverarbeitung betreffen. Es dürfte, da sie relativ wenig bekannt sind, empfehlenswert sein, näher darauf einzugehen. Die biologische Forschung stieß in neuester Zeit an eine erkenntnismäßige Grenze beim Problem der sogenannten Schemata. Es handelt sich um die Frage, auf welche Weise das Protoplasma es fertigbringe, mittels der Schemata oder Muster das noch nie Erkannte zu erkennen und Energie in Aufbau, Form, Ausdruck und Tun umzusetzen.

Daß sogenannte Schemata als anordnende Faktoren bei allen Lebewesen das unbewußte Erkennen und Wirken bestimmen, kann als gesichert gelten. Für den Fall des Menschen kompliziert sich das Problem dadurch, daß er nicht nur wie das Tier unbewußt dahinlebt, sondern außerdem noch ein reflektierendes Bewußtsein besitzt, in welchem er die Welt abbildet. Jene speziellen Schemata, welche das menschliche Bewußtsein mit Bildern versorgen, bezeichnete Jung als Archetypen.

Die Archetypen sind wie die übrigen Schemata des Lebensprozesses nicht direkt erkennbar. Aber sie bewirken Bilder, welche das Bewußtsein wahrnehmen kann. Die archetypischen Bilder sind das Rohmaterial und die Triebkraft für den Bewußtseinsprozeß. Der Ausdruck „Bild“ ist der visuellen Sphäre entnommen. Er ist aber in einem umfassenderen Sinne zu verstehen: als etwas, das unser gesamtes Vorstellungsvermögen beansprucht. Ein archetypisches Bild kann jede Sinnesfunktion ansprechen, es hat zudem einen Gefühlswert und kann als bewegende Kraft erlebt werden. Jeder Archetypus kann eine unendliche Reihe variierender Bilder erzeugen, deren jedes einen anderen Aspekt des Themas darstellt. Aber trotz aller Variationsmöglichkeit ist die Welt der menschlichen Vorstellung spezifisch menschlich, anthropomorph.

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Bildersprache des Unbewußten

Das Unbewußte teilt sich also dem Bewußtsein mittels einer Bildersprache mit. Wie die menschliche Sprache nicht nur aus Wörtern, sondern aus Sätzen besteht, so besteht die Bildersprache des Unbewußten nicht nur aus einzelnen Bildern. Ihr eigentliches Ausdruckselement ist der Bildablauf, das Mythologem oder Mythenmotiv. In nahezu „naturreinem“ Zustand finden wir die Bildersprache des Unbewußten in den Träumen, in Visionen, Mythen, religiösen Symbolen und in vielen Erzählungen der heiligen Bücher.

Die Bilder und Mythologeme sind der Rohstoff für die reflektierende Bewußtseinstätigkeit. Je differenzierter das Bewußtsein ist, um so intensiver „verdaut“ es die Bilder und Mythologeme, indem es sie in Begriffe und Ideen umformt.

Auf jeder Entwicklungsstufe des Bewußtseins liegen bestimmte Fragen „in der Luft“. Wenn jeweils die Bewußtseinsspannung stark genug ist, produziert das Unbewußte Bilder, welche das gesuchte Unbekannte auf die zurzeit bestmögliche Weise ausdrücken. Derartige Bilder oder Mythenmotive für etwas zum größten Teil noch Unbekanntes bezeichnete Jung als Symbole. Wenn ein Symbol vom Bewußtsein verdaut und in Begriffe übersetzt ist, verliert es seine belebende Wirkung. Es befriedigt dann vor allem noch das historische Interesse. Je zentraler die Stellung eines Symbols im hierarchischen Gesamtmuster der Archetypen ist (zum Beispiel ein Gottesbild), um so größer ist sein durch das Bewußtsein nicht verdaubarer Rest. Von allen Symbolen können somit die Gottesbilder vom Bewußtsein am wenigsten assimiliert werden. Deshalb üben sie noch eine belebende und bereichernde Wirkung aus, wenn andere, gleich alte Symbole längst verarbeitet und durch Begriffe ersetzt sind.

Auch wissenschaftliche Theorien sind lebendige Symbole, solange sie noch eine Hypothese enthalten, also etwas ausdrücken, das zum größten Teil noch unbekannt ist. Erst aus diesen bildhaften Denkmodellen ergibt sich die Fragestellung für eine gezielte wissenschaftliche Forschung. Wissenschaftliche Theorien fallen, wie alle Symbole, aus dem Unbewußten als mehr oder weniger fertig gestaltete „Einfälle“ ins Bewußtsein ein und regen dieses zu reflektierender Bearbeitung an.

Weil das Unbewußte mehr „weiß“ als das Bewußtsein, enthalten die wissenschaftlichen Theorien ein scheinbar prophetisches Wissen, welches nachträglich durch die Empirie bestätigt wird. Die anordnenden Faktoren (Schemata) des unbewußten Bereichs haben Anteil an jenem „Wissen“ das nötig war, um im Evolutionsprozeß die Elemente, den Kosmos, die Verbindungen und die Lebewesen entstehen zu lassen. Aus dieser Auffassung des Unbewußten ergibt sich eine Erklärung für die erstaunliche Tatsache, daß auf Grund eines mathematischen Formalismus bisher unbekannte Beobachtungen vorausgesagt werden können. Unsere Mathematik entstand eben aus der Verarbeitung einer Entwicklungsreihe von Symbolen, die dem Archetypus der Zahl entquollen.

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Zwei Entwicklungsströme

Durch ständigen Nachschub neuer Bilder und Symbole fördert das Unbewußte die Entwicklung des Bewußtseins. Das Bewußtsein hat die Tendenz, das Gemisch von unverdauten, halb- und ganzverdauten Bildern fortlaufend zu einem Weltbild zu ordnen. Es lassen sich also zwei grundverschiedene Evolutionsströme erkennen. Auf der einen Seite sehen wir die seit einigen Milliarden Jahren andauernde Evolution des Kosmos und des irdischen Lebens. Als zweiten, sehr viel jüngeren Entwicklungsprozeß, der sich im Menschen selbst abspielt, erkennen wir die Entwicklung des Bewußtseins. Bei diesem innermenschlichen Evolutions- oder Schöpfungsprozeß extrahiert der Mensch gewissermaßen den „objektiven“ Geist, der in der Natur verwirklicht ist, und schafft mit Hilfe des so gewonnenen, menschlich gefärbten „subjektiven“ Geistes Geschichte und Kultur.

Durch die Erforschung der Dynamik zwischen Unbewußtem und Bewußtsein eröffnete die Tiefenpsychologie die Möglichkeit, alle Inhalte und Produkte des menschlichen Bewußtseins, zum Beispiel Mythen, Religionen, Dichtung, bildende Kunst und Wissenschaften, in ihrer Entstehung und Wandlung gleichsam „von außen“ zu betrachten, ähnlich wie der Verhaltensforscher ein Insektenvolk studiert. Die Tiefenpsychologie ermöglicht damit eine eigentliche Wissenschaft vom menschlichen (subjektiven) Geist, welche etwas ganz anderes ist als die traditionellen rationalen Geisteswissenschaften.


Glaube und Wissenschaft

Von diesem tiefenpsychologischen Standpunkt aus ergeben sich für die Frage nach dem Verhältnis zwischen Glauben und Wissenschaft folgende Überlegungen: Weil die Symbole in bildhafter Sprache einen Sachverhalt darstellen, der erst geahnt wird, aber noch nicht bewußt ist, kann das Bewußtsein anfänglich gar nicht überprüfen, ob die Aussage eines Symbols richtig sei. Mag das Symbol Christus heißen, Vernunft oder Evolution des Lebendigen, am Anfang kann das Bewußtsein, das von ihm erfaßt wird, nicht anders, als daran glauben; denn der Akt des Glaubens im Sinne von Glaubenszustimmung besteht darin, daß man etwas auf die Aussage hin als richtig annimmt, auch ohne die Möglichkeit der Nachprüfung.

Jenes Andere, das die Symbole gestaltet und durch sie etwas aussagt, heißt in archaischer Sprache offenbarender Gott. Heute nennen es viele, vor dem Hintergrund all der Erkenntnisse über die Innerlichkeit der Lebewesen, das Unbewußte. Beide Ausdrucksweisen beruhen auf dem gleichen Erlebnis, denn das Unbewußte wird gerade von jenen Menschen, welche im analytischen Prozeß gelernt haben, mit dem eigenen Unbewußten umzugehen, als etwas Fremdes und Überlegenes mit Person-Qualität erlebt. Je mehr ein Symbol im Laufe der Zeit vom Bewußtsein assimiliert wird, um so mehr geht es zum Teil in Wissen über. In diesem Sinne läßt sich wohl sagen, daß der Glaube die Voraussetzung der Wissenschaft sei.

[Seite 1279] Glaubenshaltung bedeutet nicht nur Zustimmung, sondern ebenso sehr Vertrauen auf die Macht und Hilfsbereitschaft eines höheren Wesens. Dieses Vertrauen entspringt nicht einem bewußten Willensakt, wie es denn auch von der Theologie der Wirkung der „göttlichen Gnade“ zugeschrieben wurde. Es gibt dem Gläubigen die Kraft, „Berge zu versetzen“. Wenn zum Beispiel Scharen von Physikern die Arbeit eines Lebens darauf verwenden, das Denkmodell, welches der Quantentheorie zu Grunde liegt, zu verifizieren, zu präzisieren und weiter zu entwickeln, fließt ihnen die dazu nötige Kraft aus dem Vertrauen in die grundsätzliche Richtigkeit der Planckschen Theorie zu. Auch in diesem Sinne kann der Glaube als Voraussetzung der Wissenschaft gelten.

Als Glaube wird außerdem der Inhalt des Symbols bezeichnet. Da der Inhalt der Symbole als der Rohstoff jeglicher Bewußtseinsentwicklung und somit auch allen Wissens angesehen wird, kann der Glaube auch in der Bedeutung von Glaubensinhalt eine Voraussetzung der Wissenschaft genannt werden.


Glaube als Offenheit des Bewußtseins

Glaube im Sinne von Glaubensfunktion kann als Grundlage jedes bewußten Erkennens und Tuns angesehen werden. Jeder Bewußtseinsinhalt enthält neben dem, was davon gewußt wird, letztlich einen Anteil, der geglaubt werden muß. Bei der Gottesvorstellung ist der Anteil des zu Glaubenden wegen der Unfaßbarkeit dessen, was wir das Göttliche nennen, entsprechend groß.

Glaube bedeutet Offenheit des Bewußtseins für das, was es von der ihm überlegenen unbewußten Seelentätigkeit empfängt. In der Geisteshaltung des Rationalismus kapselt sich das Bewußtsein vom Unbewußten ab und negiert dessen Existenz. Die Entdeckung und Erforschung des Unbewußten gab dem Glauben seine Berechtigung zurück, allerdings in einem gegenüber früheren Bewußtseinsstufen wesentlich erweiterten Sinn.

Deshalb sind, der geistigen Redlichkeit zuliebe, alle jene Bestrebungen abzulehnen, welche noch der Auffassung Vorschub leisten, der Ausdruck „Glaube“ sei für den Glauben an die christliche Offenbarung zu reservieren. Abgesehen von dieser nicht mehr vertretbaren Einengung der Glaubensfunktion auf den religiösen Bereich darf wohl darauf hingewiesen werden, daß auch die Gottesbilder sich im Laufe der Bewußtseins-Evolution verändern und nie als endgültig angesprochen werden können.



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Mystik, Spiel und Psychologie[Bearbeiten]

von Peter Mühlschlegel

Unsere theologischen Gegner in christlichen Kreisen werfen uns gern vor, wir Bahá’í hätten eine „hintergründige Arroganz“ und „kein Verständnis für die Botschaft vom Kreuz“. Oberflächlich aus einer repressiven Grundeinstellung heraus betrachtet, stimmt das. Wir sollten tief darüber nachdenken und dabei auch der Frage nicht ausweichen, ob ein Anflug von Arroganz nicht notwendiger Selbstschutz ist, wenn man es mit Menschen zu tun hat, die das Wesentliche nicht verstehen, weil sie sich willentlich einfachen und notwendigen Grundzusammenhängen verschließen. Weiter aber führt die Frage, was dieses Wesentliche an der Haltung eines neuen, „wiedergeborenen“ Gläubigen ist und wodurch er über das herkömmliche Verständnis für die Botschaft vom Kreuz hinauswächst.

Im Vordergrund des neuen Bewußtseins steht die Produktivität, das Streben nach echter Leistung zur Verwirklichung neuer, großer, umfassender Ziele. Diese Grundhaltung entfaltet sich auf drei Ebenen, je nach den Objekten, mit denen wir es zu tun haben:

Die höchste Ebene ist die der Mystik. Die Beziehung zu den Wesensinhalten des Glaubens, zu einem möglichst klaren Gottesbegriff, zu Werten, Vorbildern und Zielvorstellungen ist mystisch. Mystik ist kein Gegensatz zum verstandlichen Denken, sondern dessen Erweiterung. Mystik ist der ganzheitliche, ehrfürchtige Umgang mit Kategorien, die größer sind als das denkende und handelnde Subjekt. Die Nöte und Bedürfnisse der Gesellschaft um ihn her darf ein Mystiker nicht außer acht lassen: Er muß sich auch und gerade mit „der Welt“, „der Gesellschaft“, mit praktischen Werten befassen, und wenn er dies tut, wird er überrascht sein, wieviele Lehrsätze, Mitmenschen, Strukturen und Nahziele, die er bislang als Mittel zum Zweck mißbraucht haben mag, sich für den mystischen Umgang eignen. Dieser Umgang besteht darin, daß man solche Lehrsätze, Mitmenschen, Strukturen und Ziele von einer übergeordneten Warte her mit den als göttlich erkannten Maßstäben vorsichtig kritisiert, universalisiert und transzendiert, wobei es darauf ankommt, den Blick auf die positiven, entwicklungsfähigen, dem Aufbau dienenden Bestandteile zu konzentrieren. Das erfordert ein scharfes Denk- und Beobachtungsvermögen, eine Kunst des Fragens, viel Vorsicht und Verschwiegenheit; denn jede unbedachte Äußerung, jeder negative Gedanke, so berechtigt sie sein mögen, können Reaktionen und Änderungen bei unserem Beobachtungsgegenstand auslösen, die der Beobachtung und vor allem unserer schöpferischen Beziehung zu diesem Gegenstand abträglich sind.

Natürlich bedarf es der göttlichen Gnade und des schlichten Glaubens; aber das „sola gratia“ (nur durch die Gnade) und das „sola fide“ (nur durch den Glauben) der herkömmlichen Theologie [Seite 1281] ist ein Überbleibsel aus dem finsteren Mittelalter, nach den Worten Bahá’u’lláhs „eitler Wahn und leerer Trug“. Die Tiefenpsychologie hat einleuchtende Erklärungen dafür gefunden, warum sich solche Vorstellungen hartnäckig am Leben erhalten. Ganz allgemein gilt im Zugang zu den höchsten Werten dasselbe, was für jede andere schöpferische Beziehung, z. B. für ein Gespräch zwischen Ehepartnern, gilt: Wörter wie „immer“, „nie“ und „nur“ sind abträglich, weil sie in ihrem tieferen seelischen Grund „nur“ Ausdruck von Absolutheitsansprüchen und Alleinvertretungsanmaßungen sind. Die Wirklichkeit ist „immer“ differenzierter: In ihr gibt es viele Faktoren, und es kommt auf deren dynamisches, produktives Gleichgewicht, auf ihre bestmögliche schöpferische Kombination an.

„Nur“ der mystische Zugang zu höheren Kategorien schafft eine Atmosphäre, die das Zwanghaft-Neurotische an der Religion überwindet. Bahá’u’lláh befiehlt nicht einfach: „Wandle in Meinen Gesetzen“, Er fügt im selben Atemzug hinzu: „...aus Liebe zu Mir“ (arab. Verborgene Worte, 38).

Die zweite Ebene, die des praktischen Umgangs mit Gleichwertigem und Gleichberechtigtem, mit den Mitmenschen und der Gesellschaft, steht unter dem Leitwort Spiel, und zwar in dem Maße, wie unsere grundlegenden Lebensbedürfnisse befriedigt sind. Vom spätsozialdarwinistischen Daseinskampf unterscheidet sich das Spiel dadurch, daß das allgemeine und das spezifische, auf den jeweiligen Sinnzusammenhang bezogene System von Regeln höher bewertet wird als der vordergründige Erfolg. Hinzu kommen eine gewisse Festlichkeit und die schöpferische Entfaltung der Phantasie innerhalb des Regelsystems. Wenn wir nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit trachten sollen, damit uns alles andere, auch der Erfolg, zufällt (Matth. 6), dann bedeutet diese Gerechtigkeit — im Englischen besser übersetzt: „His righteousness“, Gottes Rechtschaffenheit und Geradlinigkeit — in erster Linie die tägliche, praktische Liebe zu den Spielregeln des Wohlverhaltens und zu deren schöpferischer Kritik und Weiterbildung. Es ist also unsere ganz konkrete Aufgabe, die hohen Ideale unseres Glaubens in das Kleingeld des schöpferischen Umgangs mit Gläubigen, Halbgläubigen und Ungläubigen umzumünzen und unsere Liebe zu dem Höchsten, was Menschengeist beseelen kann, dabei praktisch zu beweisen: nicht dadurch, daß wir aus falsch verstandener Nächstenliebe und Opferbereitschaft besonders große Vorleistungen erbringen und anderen Gelegenheit verschaffen, uns übers Ohr zu hauen, sondern dadurch, daß wir jedem Menschen, dem wir begegnen, in dem Maße, wie wir mit ihm zu tun haben, behilflich sind, seine eigenen schöpferischen Fähigkeiten mit uns, statt gegen uns, im Dienst der Gesellschaft zu entfalten und daraus Befriedigung zu ziehen.

Es gibt unendlich viele schöne, große und liebenswerte Regelsysteme, an die wir schöne und große Gedanken verwenden sollten. Irgendein abstrakter Markt, eine Börse mit klaren, zweckmäßigen Usancen kann echten Ökonomen so viel bedeuten wie Maleraugen die Farbenfülle eines [Seite 1282] Gemüsemarkts vor einem alten Renaissance-Rathaus. Das erlebte Regelsystem des Schachspiels gibt Anregungen für die Strategien des Familien-, Berufs- und Gesellschaftslebens. Der Straßenverkehr ist eine treffliche Analogie für allgemeines gesellschaftliches Verhalten.

Insgesamt unterscheidet sich das Bewußtsein eines Bahá’í von demjenigen eines Normalchristen dadurch, daß er die Welt als einen Kosmos betrachtet, als ein wohlgeordnetes Ganzes, in dem lediglich die Schlüsselfigur Mensch neu programmiert werden muß. Die früheren Hoffnungen und Verheißungen sind erfüllt, Bahá’u’lláh hat das umfassende Programm einer neuen Weltordnung gegeben. Nun gilt es, dieses ganzheitliche Regelsystem auf unsere alltäglichen Verrichtungen abzuleiten und im täglichen Umgang mit den herrschenden Vorstellungen, Mitmenschen und Strukturen als das zu erweisen, was den größten Erfolg hat: vor allem als eine neue Liebe, als den inneren Erfolg, der nach den Worten der Weisheit „das Wesen des Reichtums“ ist. Das ist kein täglicher Lebenskampf, sondern eine Symphonie von Lebensspielen, die man dann meistert, wenn man sich ganz dem Wesentlichen, dem gestaltbaren Regelsystem, zuwendet und demgegenüber alles materiell Erreichbare, „die ganze Welt“ für so viel wert hält „wie das Schwarze im Auge einer toten Ameise“ (Bahá’u’lláh an Napoleon III.).

Die Ungläubigen und die Halbgläubigen, die ihre kleinen täglichen Verrichtungen tierisch ernst nehmen, werden sich diese Haltung nicht widerstandslos gefallen lassen. Gewiß, wir sollen sie möglichst sich selbst überlassen, wenn sie auf unsere liebevolle Herausforderung nicht positiv reagieren. Bahá’u’lláh stellt in den Mittelpunkt dieser Haltung die 109. Sure des Qur’án, der kürzesten und schönsten eine, und berichtet im „Brief an den Sohn des Wolfes“ (S. 138) darüber, wie oft Er selbst zu dieser Sure Zuflucht nimmt: „Sprich: O ihr Ungläubigen! Ich verehre nicht, was ihr verehret, und ihr verehret nicht, was Ich verehre. Ich werde nie verehren, was ihr verehret, noch werdet ihr je verehren, was Ich verehre. Euch sei euer Glaube und Mir Mein Glaube“. Diese Haltung bedeutet nicht Fühllosigkeit oder Unbekümmertheit um menschliche Fehlhaltungen und ihre Folgen; es geht lediglich um inneren Abstand und Selbstschutz im Dienst höherer Aufgaben.

Isolation und Selbstschutz sind aber in unserer fortschreitend technisierten Welt nur bedingt möglich; durch tausend Zwecke sind wir mit unserer Umwelt verwoben. Wir brauchen Waffen zu unserem Selbstschutz, aber auch zum Angriff auf Fehlhaltungen, die wir als grob gesellschaftsschädigend nicht hinnehmen können. Die physische Gewaltanwendung ist uns und allen anderen, außer der Polizei, im Buche Gottes verboten, nicht jedoch die Aufrüstung mit Waffen, die viel wirksamer sind und die uns die Psychologie, vor allem die Tiefenpsychologie, liefert. Wenn innerhalb der spätpluralistischen Wohlstandsgesellschaft eine Mischung aus Freud und Marx die erstaunlichsten Wirkungen in verunsicherten Studentengehirnen hervorruft, was kann da erst alles geschehen, wenn wir lernen, die [Seite 1283] höchsten dem Menschen vorstellbaren Strebungen und die tiefen Einblicke in das menschliche Wesen, die Bahá’u’lláh enthüllt hat, psychologisch aufzuschließen? Kultur ist die fortschreitende Darstellung und Überwindung von Widersprüchen, und eine alte politische wie erkenntnistheoretische Grundregel heißt: „Teile und herrsche“. Wenn wir auf einer dritten Ebene des Umgangs mit unentwickelten oder seelisch angeschlagenen Menschen — zu denen auch wir selbst gehören können — tiefenpsychologische Mittel einsetzen wollen, muß unsere Strategie dahin gehen, daß wir die Widersprüche zu den auf alle Menschen verbindlich anwendbaren Grundwahrheiten der Religion, der Menschenrechte und Menschenpflichten so klar wie möglich herauspräparieren und analysieren. Sodann müssen wir uns die positiven Kräfte, so schwach sie auch sein mögen, zu Bundesgenossen gegen die negativen Kräfte machen, die es zu überwinden gilt. Ausschlaggebend für den Erfolg ist, daß wir bei uns selbst beginnen, denn jeder, der sich von uns angegriffen fühlt, wird das natürliche Bestreben haben, zum Gegenangriff gegen unsere eigenen Fehler überzugehen, die wir folglich zuvor auf ein erträgliches Maß zurückgeschraubt haben sollten. Wichtig ist, daß wir möglichst wenig gegen Menschen vorgehen, vielmehr gegen menschliche Fehlhaltungen, und auch gegen diese möglichst nur, soweit sie gesellschaftsschädigend sind; noch besser ist immer die Betonung des Werts, der Schönheit und der Wahrheit von positiven Grundhaltungen und deren Untermauerung von der Psychologie her. Das „Teile und herrsche“ gilt auch für die Grundkategorien unseres Denkens: Wir müssen vor allem die Kategorie Menschen deutlich von der Kategorie Tier unterscheiden und die Wissenschaft darin kritisieren, daß sie zur Verwischung dieses Unterschieds neigt. Recht deutlich können wir uns gegen kollektive Fehlhaltungen wenden, wie sie vor allem in Mitteleuropa nicht gerade selten sind: Kollektivneurosen, Tabus, Ressentiments, Projektionen. An Literatur mangelt es nicht. Wertvolles Material zur Analyse liefern die Mitscherlichs, ausgeprägte Neo-Freudianer, aber auch die ganze neuere, kritische Belletristik. Wo wir das Positive an der Tradition suchen, hilft uns die Richtung von C.C. Jung; wo es uns um die psychologische Unterstützung unserer auf Bahá’u’lláh gegründeten Heilbemühungen geht, greifen wir am besten auf Alfred Adler und seine Schüler einerseits, auf die rein praktisch ausgerichteten Behaviouristen andererseits zurück.

Auf allen Bewußtseinsebenen, bei allen unseren Bemühungen um Mystik, Spiel und Psychologie sollten wir möglichst ganzheitlich von der einen umfassenden Wahrheitsquelle her vorgehen und uns vor Einseitigkeiten, vor Rechthaberei oder vor einem Festfahren in Unwesentlichem hüten. Religion ist nach ‘Abdu’l-Bahá die Gesamtstruktur der notwendigen Beziehungen, die die Wirklichkeiten der Dinge untereinander verbinden. Wenn wir diese Grundeinsicht klar erkennen und immer im Auge behalten, werden alle Zusammenhänge einfach und durchschaubar. Bahá’u’lláh, der Báb und ‘Abdu’l-Bahá sind in ihrem ganzen Denken und in ihrer reichen, leidvollen [Seite 1284] Lebenspraxis unter dem Eindruck dieses Begriffs von Religion gestanden, und das gibt jedem Wort aus ihrem Munde eine unübertreffliche Wirkkraft. Wenn sich die Führer und Anhänger der alten Religionen dieses Begriffs von Religion berauben, erweist sich das immer deutlicher als ihr eigener Schaden. In wachsendem Maße müssen sie erkennen, daß ihnen nach dem Goethewort „das geistige Band“ um „die Teile in der Hand“ fehlt und daß sie vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen.

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Winterschule Salzburg mit 600 Teilnehmern
Zu einem großartigen Erfolg und einem unvergeßlichen Erlebnis wurde die erste internationale Bahá’í-Jugend-Winterschule zur Jahreswende 1970/71 in Salzburg. Rund 600 junge Leute aus 25 Ländern vereinten sich für eine Woche im Studium des Glaubens, und sie lernten sich in froher Geselligkeit kennen. In einem übermittelten Bericht des Jugendausschusses von Österreich heißt es: „Es ist schwierig, den empfundenen herrlichen Geist zu schildern. Aber das Vorhandensein einer deutlich fühlbaren Bahá’í-Atmosphäre war ohne Zweifel ein bewegender Faktor für 19 Teilnehmer, sich im Verlaufe der Woche als Bahá’í zu erklären“. Einer der Höhepunkte war das öffentliche Auftreten der „Dawnbreakers“ (Vgl. Bahá’í-Briefe Nr. 43, Januar 1971). Die Veranstaltung im Kongreßhaus der Stadt Salzburg wurde von zirka 1000 Personen besucht. Während der Winterschule wurde in der Mozart-Stadt die österreichische Bahá’í-Ausstellung gezeigt. Die Salzburger Zeitungen berichteten ausführlich, und im Rundfunk wurde ein Interview mit einem Bahá’í gesendet. — Unser Bild zeigt Teilnehmer der Schule, die sich zum obligaten Gruppenfoto zusammengefunden haben.
Photo: Ellinger


[Seite 1285]


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Gebet


O Gott! O Gott! Du schaust auf uns aus Deinem unsichtbaren Reich der Einheit. Du siehst, wie wir uns in dieser geistigen Sitzung versammelt haben, im Glauben an Dich, im Vertrauen auf Deine Zeichen, fest in Deinem Bund und Testament, hingezogen zu Dir, entflammt vom Feuer Deiner Liebe, aufrichtig in Deiner Sache, als Knechte in Deinem Weinberg, Verkündiger Deiner Religion, Anbeter vor Deinem Antlitz, demütig vor Deinem Geliebten, ergeben an Deiner Schwelle. So flehen wir Dich an, bestätige uns im Dienst an Deinen Erwählten. Hilf uns mit Deinen unsichtbaren Heerscharen, stärke unsere Lenden in Deiner Arbeit und mache uns zu gehorsamen, andächtigen Dienern, die mit Dir verkehren.

O unser Herr! Wir sind schwach und Du bist der Mächtige, der Starke. Wir sind sterblich und Du bist der große leben spendende Geist. Wir sind bedürftig und Du bist der machtvolle Erhalter.

O unser Herr! Wende unsere Angesichter zu Deinem göttlichen Antlitz. Nähre uns von Deiner himmlischen Tafel durch Deine selige Gnade. Hilf uns mit den Scharen Deiner höchsten Engel und bestätige uns durch die Heiligen in Deinem Reich Abhá.

Wahrlich, Du bist der Großmütige, der Barmherzige. Du bist der Besitzer großer Gnadengaben, und wahrlich, Du bist der Mildtätige, der Huldreiche.

'Abdu'l-Bahá

(aus „Bahá’í Prayers“, Wilmette/Ill., USA, 1957, S. 156 ff.)

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Dieses Gebet ist zum Abschluß von Ratssitzungen im Haus der Gerechtigkeit zu lesen.

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In Memoriam[Bearbeiten]

Agnes Alexander

Am 4. Januar 1971 hat Agnes Alexander, eine der „Hände der Sache Gottes“, im gesegneten Alter von 96 Jahren ihre sterbliche Hülle verlassen: in ihrem Geburtsland auf Honolulu, einer der Hawaii-Inseln. Ihre Vorfahren hatten vor vielen Jahrzehnten als erste den christlichen Glauben dorthin gebracht. Agnes Alexander aber hatte schon früh, 1900, während ihrer Studien in Italien durch Mrs. Brittingham die Offenbarung Bahá’u’lláhs aufgenommen und bald darauf in Paris, mit May Maxwell befreundet, sich noch mehr in Seinen Geist vertieft. So hatte sie schon in ihrer Jugend diesem Glauben dienen und mit ‘Abdu’l-Bahá in engere Fühlung treten dürfen. Sie begegnete und begleitete ‘Abdu’l-Bahá auf Seinen Reisen durch die Vereinigten Staaten von Amerika. Bald ging sie dann in ihr Geburtsland als Pionierin zurück und erschloß es dem Bahá’í-Glauben. Doch kurz darauf, 1914, kam die Zeit, da sie im Auftrag ‘Abdu’l-Bahás nach Japan übersiedelte und die geistige Mutter der in diesem Inselreich dem Glauben gewonnenen Seelen wurde. Vor allem unter den Blinden fand sie ergebene Freunde.

In einem der „Sendschreiben des Göttlichen Planes“, das der Meister 1916 als Ziel und Weg der Verbreitung des Bahá’í-Glaubens über die ganze Welt schrieb, hob Seine Feder sie liebevoll hervor:

„Bedenket, wie Miss Agnes Alexander, die Tochter des Königreiches, die geliebte Dienerin der Gesegneten Schönheit, allein nach Hawaii und der Insel Honolulu reiste, und jetzt gewinnt sie in Japan geistige Siege! Denket darüber nach, wie diese Tochter auf den Hawaii-Inseln bestätigt wurde. Sie wurde zur Ursache der Führung vieler Menschen.“...
„Heutzutage haben durch die Bemühungen Miss Agnes Alexanders eine Anzahl Seelen die Küsten des Glaubensmeeres erreicht. Bedenket, welches Glück, welche Freude dies ist! Ich erkläre beim Herrn der Heerscharen: Hätte diese hochgeachtete Tochter ein Kaiserreich gegründet, so wäre solch ein Reich nicht so groß gewesen, denn diese Herrschaft ist eine ewige Herrschaft, und dieser Ruhm ist ein ewiger Ruhm.“

[Seite 1287] Immer wieder war sie Verkünderin der Weisheit Bahá’u’lláhs, in den Universitäten Japans von einer begeisterten Jugend geliebt, und oft sprach sie durch den Rundfunk zu Tausenden von Hörern. Auch von den Ainu, der Urbevölkerung, die noch im Norden Hokkaidos wohnt, traten manche zum Bahá’í-Glauben über. So wurde sie eine international bekannte und geschätzte Lehrerin. Manche alten Bahá’í werden sich wohl noch ihres Lehrbesuches in Deutschland vor vielen Jahren erinnern. Wenige haben wie sie, schon in allererster Zeit, die Stufe und Bedeutung des Hütertums erkannt. Die große Stärke dieser mutigen „Hand der Sache Gottes“ lag in ihrer klaren Festigkeit im neuen Bündnis Gottes. Ihre Kenntnis der Bibel und des Qur’án ergänzten ihr Wissen und Verstehen der Offenbarung Bahá’u’lláhs. Der Hüter Shoghi Effendi sandte sie, nach erfolgreichen Lehrreisen in anderen Ländern, 1950 ein zweites Mal nach Japan.

Ihre allerletzten Lebensjahre hat sie wieder in ihrem geliebten Hawaii verbracht. Obwohl bettlägerig, war sie mit wachem Geist auch dort noch immer für den geliebten Glauben tätig.

Was uns so dankbar und bewundernd zum Leben dieser unvergeßlichen Seele aufblicken läßt, ist ihre einfache, tatkräftige Entschiedenheit für das Wesentliche, das so hoch über dem Wirbel von Schmutz und Staub der kranken Welt von heute hin leuchtet und ewig währt.

Adelbert Mühlschlegel



Wer die Wahrheit gefunden hat...[Bearbeiten]

Nach der Suche ein Weg des Gehorsams / von ‘Ali Akbar Furutan


Als Vertreter des Bahá’í-Weltzentrums in Haifa hat ‘Ali Akbar Furutan bei der niederländischen Bahá’í-Sommerschule 1970 über das Prinzip des selbständigen Suchens nach Wahrheit gesprochen. Im folgenden veröffentlichen wir Auszüge aus diesem Referat.

Bahá’u’lláh hat uns den Grundsatz, selbständig nach Wahrheit zu suchen, verkündet, um alle Menschen zueinander zu führen und alle Arten von Vorurteilen zu beseitigen. Die Hauptursache aller Spaltungen und Zwistigkeiten unter den Menschen bestehe darin, so sagt Bahá’u’lláh ganz klar, daß sie es verabsäumten, selbständig die Wahrheit zu erforschen. ‘Abdu’l-Bahá wies in vielen Seiner Ansprachen nach, daß die Wahrheit immer eine ist. Alle Menschen können, auch wenn die Ausgangspunkte verschieden sind, gemeinsam zu einer Wahrheit gelangen.

Wenn Sie, die Sie hier beisammen sind, sich „Bahá’í“ nennen, bedeutet dies, daß Sie selbständig nach Wahrheit gesucht und sich dann „erklärt“ haben. Im Sich-Erklären liegt eine tiefe Weisheit. Damit wird ausgedrückt, daß man auf der selbständigen Wahrheitssuche Bahá’í-Bücher gelesen, die Lehren studiert, mit Bahá’í-Lehrern diskutiert hat. Und es heißt, daß man [Seite 1288] nun an Bahá’u’lláh als den Mittelpunkt der Wahrheit, als den göttlichen Heiler, glaubt und daran, daß Seine Lehren das einzige Heilmittel gegen die Krankheiten der menschlichen Gesellschaft, des Menschengeschlechts sind.

Wir sind also Bahá’í. Was ist unsere Pflicht nach der „Erklärung“? Was sagt Bahá’u’lláh darüber? Er sagt (vgl. „Ährenlese“), daß Sie, nachdem Sie die Wahrheit gefunden hätten und Sein Anhänger geworden seien, in die zweite Phase Ihres Lebens als Bahá’í eintreten sollten: in die Phase Seiner Nachfolge.

Ich spreche nicht von „gehorchen“, sondern sage „Ihm nachfolgen“. Der Sinn ist derselbe, doch in unserer modernen Zeit ist das Wort „gehorchen“ verpönt.

Lassen Sie mich jetzt folgendes bemerken: Es gibt einen besonderen Zweig der Wissenschaft — die Logik. In der Logik bestehen allgemein gültige Gesetze (nicht zu verwechseln mit Theorien oder Hypothesen). Eines dieser Gesetze sagt aus: Wenn jemand etwas erlangt, erreicht hat und sich dennoch weiter bemüht, das gleiche Objekt zu erlangen, sind diese Bemühungen unlogisch, nicht richtig. Ein Beispiel: Ich habe diese meine Uhr „erlangt“, sie befindet sich an meiner Hand. Wollte ich jetzt versuchen, sie „wieder“ zu erlangen, wäre mein Verhalten unlogisch. Ich wiederhole das Gesetz: „Etwas schon besitzen und dann versuchen, das gleiche aufs neue zu bekommen, heißt unlogisches Verhalten zeigen“.

Die erste Phase kostet Mühe. Es ist möglich, Sie suchen jahrelang nach der Wahrheit — oder auch nur ein paar Stunden. Von dem Augenblick an ziehen Sie bitte einen Strich unter Ihr Suchen. Folgen Sie von nun an einfach dem Mittelpunkt der Wahrheit!

Die zweite Phase ist — ich sagte es bereits — der Gehorsam. Damit meine ich nicht, wir müßten Bahá’u’lláh blind gehorchen. Wir sollten vielmehr in dieser Phase versuchen, alles zu verstehen, Klarheit zu erstreben. Gelingt dies nicht, sollten wir uns eingestehen: Unser Geist hat Schranken, wir können nicht alle Wahrheit erfassen. Bahá’u’lláh sagt: Befrage Mich, wenn du Meine Lehren nicht begreifst. — Das ist Sein Gebot. Er bestimmte ‘Abdu’l-Bahá zum Deuter Seiner Schriften nach Ihm. ‘Abdu’l-Bahá wiederum bestimmte den Hüter Shoghi Effendi zum Ausleger der Schriften. Wieviele Briefe des Hüters gibt es doch, in denen Fragen beantwortet werden. Heute haben wir das Universale Haus der Gerechtigkeit — und wieder steht uns eine Tür offen. Jeder Gläubige hat das Recht, sich schriftlich an das Universale Haus zu wenden.

Zweierlei Fragen beschäftigen uns. Zum einen suchen wir besseres Verständnis, zum anderen wollen wir unsere Einwände zum Ausdruck bringen. Wenn Sie fragen: Warum hat uns Bahá’u’lláh das Fasten geboten?, dann ist das eine gute Frage: Sie wollen besser verstehen lernen, weshalb wir fasten, Sie wollen die Weisheit dieses Gebots begreifen. Fragen Sie jedoch: Warum gebot uns Bahá’u’lláh, daß wir fasten? Ich bin da anderer Meinung! — Dies wäre für einen Bahá’í eine sonderbare Einstellung, die zeigen würde, daß der Betreffende nicht im Einklang mit Bahá’u’lláh denkt.

[Seite 1289] Ich bin also Bahá’í. Ich halte alles für richtig, was Bahá’u’lláh sagt, weil Er der Mittelpunkt der Wahrheit ist. Ich bin aber ein Mensch, meinem Geist sind Schranken gesetzt, und ich kann nicht alles begreifen. Ich werde fragen. Doch zuletzt — wenn mir etwas noch immer nicht Klar sein sollte — werde ich Ihm trotzdem nachfolgen, Ihm gehorchen, weil ich glaube, weil ich Vertrauen darein setze, daß Er recht hat!

Bahá’u’lláh verkündete in Seinen Gesetzen, Verordnungen und Prinzipien der gesamten Welt eine höchst erhabene Stufe. Er brachte göttliche Weisheit zu uns. Unser begrenzter Geist kann nur einen Teil Seiner Erkenntnis und Weisheit aufnehmen. Bahá’u’lláh tat alles, Seine Lehren zu erklären und sie dem Niveau unseres Begreifens nahe zu bringen. Verstehen wir dennoch die Weisheit einiger Seiner Lehren nicht, sollten wir uns klar machen, daß unser Wissen nicht ausreicht, daß wir die ganze Tiefe nicht zu ergründen vermögen. Leider halten sich die meisten Menschen für tüchtige Denker und Philosophen, die alles zu begreifen imstande seien. Sicher: Wir müssen Klarstellung anstreben — aber wir müssen auch folgen. Einen anderen Weg gibt es nicht.

Wichtig ist aber auch dies: Unser Gehorsam muß aufrichtig sein. Wir sollten in voller Herzensbereitschaft alles tun, von dem wir fühlen, Bahá’u’lláh wolle, daß wir es tun. Wir sollten es tun aus Liebe zu Bahá’u’lláh, der Manifestation Gottes.



Der Baha’i-Verlag: Quelle der Information[Bearbeiten]

Umfangreiches Programm steht zur Verfügung


Sehr verehrte Dame, sehr geehrter Herr,
als kritisch denkender Mensch suchen Sie nach neuen Ansätzen für ein zukunftweisendes Weltbild. Wollen Sie da nicht ein Schrifttum prüfen, von dem kein Geringerer als Leo Tolstoi sagte, es bringe „den Schlüssel zum Geheimnis des Universums“ und „die höchste und reinste Form religiöser Lehre“?
Im Grunde ist alles ganz einfach: Wir müssen nur zwischen dem einen wahren Gott und Seiner Offenbarung, Seinem „Befehl“ als Heilsplan im Gang der Weltgeschichte, unterscheiden lernen. Die „Manifestationen Gottes“, die großen Religionsstifter, beweisen sich selbst innerhalb des historischen Entwicklungsprozesses nach Maßstäben, die heutzutage sogar wissenschaftlich nachprüfbar sind. Daß wir in einer endzeitlichen Weltkrise leben, darüber kann es wenig Zweifel mehr geben. Wenn Bahá’u’lláh den einzigartigen Anspruch erhebt, der göttliche Verfassungsgeber für ein neues Weltzeitalter zu sein, muß er dies durch sein schöpferisches Wort zu allen Grundfragen des Lebens erweisen. Er muß optimale Problemlösungen zur Erreichung der beiden Grundziele bieten: zur Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit zum Ebenbild Gottes, zur Entwicklung der Gesellschaft zum Reich Gottes. So wird jede Grundfrage zu einer einfachen Ja-Nein-Entscheidung.

[Seite 1290]

Prüfen Sie bitte selbst, ob Bahá’u’lláh seinem Anspruch gerecht wird. Wir sind uns im klaren, daß unsere Übersetzungen und unsere literarischen Bemühungen um diesen Stoff unvollkommen sind; aber Sie werden dennoch rasch erkennen, welcher Geist hier weht.

Mit diesem Schreiben wendet sich der Bahá’í-Verlag (D-6491, Oberkalbach) an Menschen, denen die Bahá’í-Religion noch unbekannt ist. Eine Karte, die außer dem Zitat von Bahá’u’lláh „Alle Menschen wurden erschaffen, eine ständig fortschreitende Kultur voranzutragen“ eine Liste der zur Zeit lieferbaren Bahá’í-Literatur enthält, soll den interessierten Empfänger ermuntern, Information zu erbitten oder Bücher zu bestellen. Mit seiner Anschrift auf dem Adreßfeld der Karte ist diese als vorgedruckter Bestellschein verwendbar. Wer über einen Bekanntenkreis verfügt, den er unpersönlich ansprechen möchte, kann sich an den Verlag wenden und eine Anzahl Briefe, Antwortkarten, Handzettel und Fensterbriefumschläge anfordern. Kosten entstehen dadurch nicht.

Der Bahá’í-Verlag sieht seine Aufgabe darin, die grundlegenden Schriften der Bahá’í-Offenbarung sowie interpretierende Texte zur Verfügung zu stellen. Hatte Bahá’u’lláh, der Begründer der Bahá’í-Religion, Seine Sendung Selbst in zahllosen Werken niedergelegt („Die Verkündigung Bahá’u’lláhs“, „Brief an den Sohn des Wolfes“, Das „Buch der Gewißheit“, das auf deutsch noch nicht vorliegende „Buch der Gesetze“), so fand das literarische Wirken ‘Abdu’l-Bahás, Seines Sohnes und autorisierten Interpreten, seine Form vorwiegend im Lehrbrief und im Lehrgespräch, der kurzen Ansprache aus dem Stegreif, die von seinen Besuchern oder seinen Sekretären mitgeschrieben wurde. So entstanden unter anderem „Beantwortete Fragen“. In 84 Kapiteln wird in diesem Buch ein weitgespannter Themenkreis behandelt.

Shoghi Effendi, der von ‘Abdu’l-Bahá als Hüter des Bahá’í-Glaubens eingesetzte Urenkel Bahá’u’lláhs (bis zu seinem Tode 1957 Oberhaupt der sich konsolidierenden Bahá’í-Weltgemeinschaft), schrieb mehrere grundlegende Werke über die Frühgeschichte der Bahá’í-Religion („God Passes By“, „Der Verheißene Tag ist gekommen“, „Die Sendung Bahá’u’lláhs‘“), und er war vor allem als Übersetzer der Werke Bahá’u’lláhs ins Englische tätig. Seine fundierten Analysen der gesellschaftlichen Krise der Gegenwart („Das Kommen göttlicher Gerechtigkeit“) und seine bahnbrechenden Pläne zu einer globalen Neuordnung („The World Order of Bahá’u’lláh“, zum Teil deutsch in BAHÁ’Í-BRIEFE Nr. 40), bilden die Grundlage für die Arbeit der Bahá’í an einer neuen Weltordnung.

Zur Zeit sind folgende Titel im Bahá’í-Verlag lieferbar: „Die Verkündigung Bahá’u’lláhs an die Könige und Herrscher der Welt“ (Leinen 8,—); Bahá’u’lláh: Brief an den Sohn des Wolfes (Leinen 10,—); Bahá’u’lláh: Die sieben Täler und Die Vier Täler (Neuaufl. in Vorber.); Bahá’u’lláh: Worte der Weisheit und Verborgene Worte (Leinen 5,—); Bahá’u’lláh: Das Buch der Gewißheit (Leinen 14,—); Bahá’u’lláh: Gebete und Meditationen (Leinen flexibel, Dünndruck 16,—); Bahá’u’lláh: „Buch des Bundes“ und ‘Abdu’l-Bahá: „Wille und Testament“ (Leinen 3,—).

[Seite 1291] ‘Abdu’l-Bahá: Beantwortete Fragen (Leinen 16,—); ‘Abdu’l-Bahá: Ansprachen in Paris (Leinen 6,—, kartoniert 5,—); ‘Abdu’l-Bahá: An die Zentralorganisation für einen dauerhaften Frieden im Haag (kart. —,60); ‘Abdu’l-Bahá: Das wirkliche Leben zu leben heißt... (Faltkarte, 10 Stück 2,50).

Shoghi Effendi: Der verheißene Tag ist gekommen (Leinen 8,—); Shoghi Effendi: Die Sendung Bahá’u’lláhs (1,—); Shoghi Effendi: Das Bild der zukünftigen Gesellschaftsordnung (10 Stück 2,50); Shoghi Effendi: Das Kommen göttlicher Gerechtigkeit (kart. 4,—); Shoghi Effendi: Bahá’í: Religion der Einheit (The Bahá’í World Religion) (10 Stück 2,50).

Esslemont: Bahá’u’lláh und das neue Zeitalter (Leinen 16,—); Grossmann: Der Bahá’í-Gläubige und die Bahá’í-Gemeinschaft (kart. 3,—); Townshend: Christus und Bahá’u’lláh (kart. 4,—); Schäfer: Die mißverstandene Religion (kart. 5,—); Grossmann: Das Bündnis in der Offenbarungsreligion (kart. 1,50); Sears: Dieb in der Nacht (kart. 4,—); Hofman: Gott und Seine Boten (Leinen 10,—); Grossmann: Was ist die Bahá’í-Religion? (kart. 1,50); Die Bahá’í-Religion, eine Einführung (10 Stück 5,—); Kindergebete (Leinen 4,—).



Neu auf unserem Büchertisch[Bearbeiten]

Max Wehrli, „Formen mittelalterlicher Erzählung“, Aufsätze, Atlantis Verlag, Zürich und Freiburg/Breisgau 1969, 280 Seiten, geb. sfrs. 28,—.

Das gesellschaftspolitische Anliegen Bahá’u’lláhs kann dahingehend verstanden werden, daß Er auf möglichst hohem Niveau, unter Einbeziehung aller positiven Errungenschaften der Neuzeit, ein umfassendes Gleichgewicht wiederherzustellen sucht. Das Mittelalter war eine Zeit des provisorischen, dualistisch zwischen Christentum und Islam, Kaiser und Papst gespannten Gleichgewichts. Wenn in der Sprache der höchste und klarste Ausdruck des eigentlich Menschlichen liegt, muß die mittelalterliche Dichtung viele Strukturen enthalten, die einen Seelenzustand dynamischen Gleichgewichts offenbaren und damit für das künftige Menschheitsbewußtsein ebenso richtungweisend sind wie die chaotischen Erfahrungen des Unvermögens, die die Neuzeit vermittelt hat. Die Literaturhistoriker der Romantik haben solche Zusammenhänge in den Mittelpunkt des Bildungsinteresses gerückt, in den letzten 150 Jahren ist das Verständnis dafür unter dem Eindruck der naturwissenschaftlichen und technischen Revolution verblaßt.

Wehrli, Ordinarius für ältere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Zürich, greift von seinem Fachgebiet zur Theologie und Tiefenpsychologie Jung’scher Prägung hinüber. „Jedes Zeitalter bedarf einer Mythologie, in der es sich spiegeln kann — einer mehr oder weniger verbindlichen Erzählwelt“. Heilsgeschichte und Aventiure sind die beiden Pole der mittelalterlich-deutschen Dichtung, in den konkreten Werken innig miteinander verwoben. Wehrli versteht es, Bilder, Symbole und mystische Untertöne in einer Weise lebendig zu machen, die auch dem Laien neue Inhalte eröffnet.

pmh

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Swami Omkarananda, „Ein Licht in unserer Zeit“, „Licht, Liebe und Einheit“, „Leben in göttlichem Licht“, „Geist und Leben“, „Das Licht des unendlichen Bewußtseins“. Eleonore Lauterborn, „Swami Omkarananda und C. G. Jung“, alle Bände im ABC Verlag Zürich, ca. 200 Seiten, geb. sfrs. 14,50.

Vor einigen Jahren kam ein noch junger indischer Weiser nach Europa und fühlte sich zu einem Kreis von Tiefenpsychologen aus der Schule von C. G. Jung hingezogen. Er eröffnete in Winterthur (Anton-Graff-Straße 65, Telefon 221903), ein „Divine Light Zentrum“ als „gemeinnützige, nicht Profit suchende, unpolitische, nicht sektiererische Organisation für den kulturellen, moralischen und geistigen Fortschritt der Menschheit“ und ist dabei, viele dankbare und denkfreudige Schüler und Schülerinnen um sich zu scharen. Die angezeigten Bücher setzen sich vorwiegend aus Lehrgesprächen Omkaranandas mit seinen Schülern zusammen.

Omkaranandas Denken bewegt sich auf einem außergewöhnlich hohen Niveau existentieller Mystik, bereichert durch die Einbeziehung von Erkenntnissen der modernen Seelenforschung. Trotz asketischer Grundstimmung ist er freudestrahlend und optimistisch. Selbst der apokalyptischen Gegenwartskrise weiß er viele durchdachte positive Züge abzugewinnen. Bei alledem ist dieses Denken aber bemerkenswert unstrukturiert, undifferenziert, eben monistisch mit einem pantheistischen Einschlag. Es steht unter dem spezifischen indischen Dilemma, die Offenbarungen des Buddha und Muhammads nicht als solche erkannt und verarbeitet zu haben. Omkarananda projiziert einen Gott, der keinen ausgeprägten Willen hat, einen Gott, der sich nicht von Zeitalter zu Zeitalter manifestiert. Dadurch fehlt es an Engagement und Opfergeist, an Sendungsbewußtsein, an Sinn für äußerlichen Fortschritt, geistig-politische Gesetze und eine hierarchische Ordnung der Welt. Der gebildete Mensch kann sich so erlösen, die Welt und die Gesellschaft als Material für seine Selbstverwirklichung gebrauchen. In dieser Hinsicht mag solche Literatur nützliche Anregungen vermitteln. Die Gesellschaft in ihrem ganzheitlichen Wesen, ihrer Räson und Dynamik läßt sich aber so nicht begreifen. Wenn das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, ist auch die Menschheit mehr als das nach Gott strebende Individuum. Dieses Mehr verlangt nach Gestaltung, nach göttlicher Politik. So weit kann man aber erst sehen, wenn man auch Muhammad, den Báb und Bahá’u’lláh versteht.

pmh




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Die „BAHA’I-BRIEFE“ werden vierteljährlich herausgegeben vom Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í in Deutschland e. V., 6239 Langenhain, Kohlgrubenstraße 3. Alle namentlich gezeichneten Beiträge stellen nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers oder der Redaktion dar.

Redaktion: Dipl.-Volkswirt Peter A. Mühlschlegel, 6104 Jugenheim, Goethestraße 14, Tel. (0 62 57) 74 67, u. Dieter Schubert, 7021 Oberaichen, Viehweg 15, Tel. (07 11) 74 97 67.

Vertrieb: Georg Schlotz, Bahá’í-Haus, 7 Stuttgart-Zuffenhausen, Friesenstraße 26, Telefon (0711) 87 90 58 oder (07 11) 87 32 48.

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An der Zeitschrift bestehen keine wirtschaftlichen oder finanziellen Beteiligungen im Sinne des Hessischen Pressegesetzes, § 5 Abs. 2.