Bahai Briefe/Heft 43/Text

Aus Bahaiworks
Wechseln zu:Navigation, Suche

[Seite 1219]




BAHA'I-

BRIEFE


BLÄTTER FÜR

WELTRELIGION UND

WELTBEWUSSTSEIN



AUS DEM INHALT:


Erkenntnis und Liebe

Dawnbreakers in Europa

Religion und Persönlichkeitsentfaltung

Materielle und göttliche Zivilisation

25 Jahre Vereinte Nationen

Kongreß im Engadin


HEFT 43 JAN. 1971



[Seite 1220] [Seite 1221]



Die Absicht Gottes bei der Erschaffung des Menschen

war und wird immer sein, ihn zu befähigen, seinen Schöpfer zu erkennen und in Seine Gegenwart zu gelangen. Diesen höchsten Zweck, dieses erhabenste Ziel bezeugen unzweideutig alle himmlischen Bücher und die göttlich geoffenbarten, inhaltsschweren Schriften. Wer den Morgen göttlicher Führung erkennt und Seinen heiligen Hof betritt, der nähert sich Gott und erreicht Seine Gegenwart, eine Gegenwart, die das wahre Paradies ist und für welche die erhabensten Wohnstätten nur ein Sinnbild sind... Wer es versäumt, Ihn zu erkennen, verdammt sich selbst zum elenden Fernsein, einem Fernsein, das völliges Nichtsein und das Wesen des niedersten Feuers ist. Dies wird sein Schicksal sein, möge er auch dem äußeren Anschein nach die höchsten Sitze der Erde inne haben und ihren erhabensten Thron einnehmen.
Bahá’u’lláh


(Ährenlese XXIX)



[Seite 1222]



Erkenntnis und Liebe[Bearbeiten]

Ansprache ‘Abdu’l-Bahás am 16. August 1912 in Green Acre/Eliot, Maine/USA


Was man auch immer einem nachdenklichen Zuhörerkreis vorträgt, es muß von Vernunftsbeweisen und logischen Argumenten gestützt sein. Beweise sind von viererlei Art: erstens durch Sinneswahrnehmung, zweitens durch Denkfähigkeit, drittens von traditionellen oder literarischen Autoritäten her, viertens durch das Medium der Inspiration. Das will besagen, daß es vier Kriterien oder Maßstäbe der Urteilsbildung gibt, mit denen der menschliche Geist zu seinen Schlußfolgerungen kommt.

Zuerst wollen wir den Maßstab der Sinne betrachten. Er ist ein Maßstab, an den sich auch die materialistischen Philosophen dieser Welt noch halten. Was den Sinnen wahrnehmbar ist, glauben sie, ist eine Wahrheit, eine Gewißheit und zweifelsfrei existent. Zum Beispiel sagen sie: „Hier ist eine Lampe, die Sie sehen, und weil sie Ihrem Gesichtssinn wahrnehmbar ist, können Sie ihr Vorhandensein nicht anzweifeln. Dort ist ein Baum; Ihr Gesichtssinn versichert Sie seiner Wirklichkeit, die unzweifelhaft ist. Dies hier ist ein Mann; Sie sehen, daß er ein Mann ist, deshalb existiert er.“ Mit einem Wort: Alles, was von den Sinnen bestätigt wird, gilt als unzweifelhaft und unfraglich wie das Produkt aus fünf mal fünf, das nicht sechsundzwanzig oder weniger als fünfundzwanzig sein kann. Folgerichtig betrachten die materialistischen Philosophen den Maßstab der Sinne als den ersten und vornehmsten.

In der Einschätzung der göttlichen Philosophen jedoch sind dieser Beweis und diese Versicherung unzuverlässig; ja, sie halten den Maßstab der Sinne sogar für falsch, weil er unvollkommen ist. Der Gesichtssinn zum Beispiel ist einer der wichtigsten Sinne, aber er unterliegt vielen Abirrungen und Ungenauigkeiten. Das Auge sieht eine Luftspiegelung als Ansammlung von Wasser; es betrachtet Bilder in einem Spiegel als Wirklichkeiten, wo sie doch nur Spiegelungen sind. Ein Mann, der auf einem Fluß fährt, stellt sich vor, die Gegenstände am Ufer bewegten sich, während er selbst sich in Bewegung befindet und die Gegenstände stillstehen. Dem Auge kommt es so vor, als stünde die Erde still und als kreisten Sonne und Sterne um sie. Tatsächlich stehen die Himmelskörper still und die Erde dreht sich um ihre Achse. Die ungeheueren Sonnen, Planeten und Sternbilder, die am Himmel leuchten, kommen dem menschlichen Blick wie kleine Punkte vor, wo sie doch in Wirklichkeit der Ausdehnung und dem Rauminhalt nach viel größer als die Erde sind. Ein wirbelnder Funke erscheint dem Auge als ein Feuerkreis. Es gibt zahllose Beispiele dieser Art, die den Irrtum und die Ungenauigkeit der Sinne belegen. Deshalb betrachten die göttlichen Philosophen diesen Maßstab der Beurteilung als schadhaft und unzuverlässig.

Der zweite Maßstab ist derjenige des Verstandes. Besonders die alten Philosophen hielten den Verstand für das wichtigste Mittel der Urteilsbildung. Unter den Weisen Griechenlands, Roms, Persiens und Ägyptens war die Vernunft der Maßstab wahren Beweises, Sie behaupteten, alles, [Seite 1223] was dem Denkvermögen unterbreitet werde, ließe sich als wahr oder falsch beweisen und müsse dementsprechend angenommen oder zurückgewiesen werden. Aber nach Meinung der Einsichtsvollen ist auch dieser Maßstab fehlerhaft und unvollkommen; denn dieselben Philosophen, die sich an den Verstand oder Intellekt als den Maßstab menschlichen Urteils hielten, waren sehr unterschiedlicher Meinung über jeden Gegenstand ihrer Forschung. Die Erklärungen der griechischen Philosophen widersprechen den Schlüssen der persischen Weisen. Selbst die griechischen Philosophen untereinander zeigen fortgesetzte Meinungsunterschiede und Mangel an Übereinstimmung bei jedem Thema auf. Erhebliche Verschiedenheit im Denken herrschte auch zwischen den Weisen Griechenlands und Roms. Wenn das Kriterium des Verstands oder Intellekts einen richtigen und unfehlbaren Urteilsmaßstab darstellte, hätten diejenigen, die es geprüft und angewandt haben, zu denselben Schlußfolgerungen kommen müssen. Ihre unterschiedlichen und widersprüchlichen Schlüsse sind ein Zeichen dafür, daß die Methode und der Maßstab der Prüfung fehlerhaft und unzureichend gewesen sein muß.

Der dritte Maßstab für Beweise ist die Tradition und das Schriftzeugnis: Jede Behauptung oder Schlußfolgerung sollte sich durch Überlieferungen stützen lassen, die in gewissen religiösen Büchern aufgezeichnet sind. Wenn wir die heiligen Schriften, die Bücher Gottes, studieren, erhebt sich vor uns die Frage: „Wer versteht diese Bücher? Von welcher Autorität der Auslegung her können diese Bücher verstanden werden?“ Es muß die Autorität des menschlichen Verstandes sein, und wenn der Verstand oder Intellekt der Erklärung gewisser Fragen unfähig ist oder wenn diejenigen, die über Verstand verfügen, einander in der Ausdeutung von Überlieferungen widersprechen, wie kann man sich da auf einen solchen Maßstab verlassen, wenn man zu genauen Schlußfolgerungen kommen will?

Der vierte Maßstab ist derjenige der Inspiration. In vergangenen Jahrhunderten haben viele Philosophen Erleuchtungen oder Offenbarungen für sich beansprucht und ihren Äußerungen Ankündigungen vorangestellt wie „Dieser Gegenstand ist durch mich enthüllt worden“ oder „Also sage ich kraft Inspiration“. Von dieser Art waren die Philosophen der Illuminaten. Inspirationen sind Einflüsterungen und Empfindungen des menschlichen Herzens. Manchmal sind diese Einflüsterungen des Herzens teuflisch. Wie können wir da unterscheiden? Wie sollen wir sagen, ob eine bestimmte Äußerung eine Inspiration und Eingebung durch die Hilfe des Allbarmherzigen oder aber durch die Wirksamkeit des Teuflischen ist?

Somit ist uns klar geworden, daß die vier Kriterien oder Maßstäbe der Beurteilung, mit denen der menschliche Geist seine Schlüsse zieht, mangelhaft und ungenau sind. Alle können zu falschen und irrigen Schlußfolgerungen führen. Aber eine dem Menschengeist vorgelegte Erklärung, welche von Beweisen begleitet ist, die die Sinne als richtig wahrnehmen können, denen der Verstand zustimmen kann, die mit der überlieferten Autorität übereinstimmen und von den Eingebungen des Herzens bestätigt werden — eine solche Erklärung kann als völlig richtig angesprochen werden und man kann sich auf sie verlassen, weil sie nach allen Maßstäben der Urteilsfindung geprüft und als vollständig erwiesen worden ist. Wenn wir nur eine einzige Probe machen, gibt es Fehlerquellen.

[Seite 1224]

Liebe — Grundlage des Lebens

Wir wollen zuerst betrachten, wie sich dies durch Sinneswahrnehmung beweisen läßt. Wenn wir das Weltall beobachten, stellen wir fest, daß alles (???) werfen und unsere Folgerungen daraus ziehen.

Wir erklären, daß Liebe die existentielle Ursache aller Erscheinungen ist und daß das Fehlen von Liebe Auflösung oder Nichtsein bewirkt. Liebe ist das bewußte Lehen Gottes, das Band der Sinnverwandtschaft zwischen allen Erscheinungen.

Wir wollen zuerst betrachten, wie sich dies durch Sinneswahrnehmung beweisen läßt. Wenn wir das Weltall beobachten, stellen wir fest, daß alles Zusammengesetzte, alle vorzufindenden Erscheinungen, von Grund auf aus einzelnen Elementen angelegt sind, die durch eine Anziehungskraft aneinandergebunden sind. Durch diese Anziehungskraft offenbart sich der Zusammenhalt zwischen den Atomen der Bestandteile. Das Ergebnis ist eine Erscheinung niederer, zufälliger Art. Die Kraft des Zusammenhalts, die sich im Mineralreich ausdrückt, ist in Wirklichkeit Liebe oder Anziehung, wie sie auf einer niederen Stufe, den Notwendigkeiten der Mineralwelt entsprechend, offenbar wird. Wir steigen eine Stufe höher in das Pflanzenreich und finden dort, daß eine gesteigerte Anziehungskraft zwischen den die Erscheinungen bildenden Bestandteilen offenbar wird. Dieser Grad der Anziehung schafft ein Gemenge von Zellen aus den Elementen, die den Körper der Pflanze aufbauen. Deshalb gibt es auf der Stufe des Pflanzenreiches Liebe. Wir treten in das Tierreich ein und stellen dort die Anziehungskraft fest, die wie im Mineral einzelne Elemente miteinander verbindet, dazuhin das Zellgemenge wie in der Pflanze und weiterhin die Erscheinungen des Gefühls oder der Empfindung. Wir beobachten, daß die Tiere für eine gewisse Verbindung oder Kameradschaft empfänglich sind und daß sie eine natürliche Zuchtwahl üben. Diese elementare Anziehung, dieses Gemenge und diese Zuneigung aus Zuchtwahl ist Liebe, wie sie sich auf der Stufe des Tierreiches offenbart.

Schließlich kommen wir zum Reich des Menschen. Da es das höchste Reich der Schöpfung ist, strahlt hier das Licht der Liebe am hellsten. Im Menschen finden wir die Anziehungkraft unter den Elementen, die seinen stofflichen Körper zusammensetzen, dazuhin die Anziehung, die das Zellgemenge hervorruft, die Kraft des Wachstums, des weiteren die Anziehung, die die sinnliche Empfindungswelt des Tierreichs kennzeichnet; aber noch weit mehr und über alle diese niederen Kräfte hinaus entdecken wir im menschlichen Wesen die Anziehungskraft des Herzens, die Empfindsamkeit und Zuneigung, die Menschen aneinander bindet und sie befähigt, in Freundschaft und Solidarität zusammenzuleben und eine Gesellschaft zu bilden. Daraus wird augenscheinlich, daß in der Menschenwelt der höchste, königliche Souverän die Liebe ist. Würde die Liebe ausgetilgt, würde die Anziehungskraft hinweggenommen, würde die Zuneigung der Menschenherzen zerstört, dann verschwänden die Erscheinungen menschlichen Lebens.

Dies ist eine Beweiskette, die unseren Sinnen wahrnehmbar ist, unserem Verstand einleuchtet, mit den Überlieferungen und Lehren der [Seite 1225] heiligen Bücher übereinstimmt und von den Eingebungen des Menschenherzens bekräftigt wird. Es ist ein Beweis, den wir als absolut verläßlich und als vollständig erklären können. Aber hier handelt es sich nur um diejenigen Stufen der Liebe, die in der natürlichen oder stofflichen Welt vorkommen. Sie offenbaren sich dort jeweils nach den Erfordernissen der natürlichen Bedingungen und Maßstäbe.

Wahre Liebe ist die Liebe, die zwischen Gott und Seinen Dienern besteht, die Liebe, welche heilige Seelen aneinander bindet. Das ist die Liebe der geistigen Welt, nicht die Liebe von stofflichen Körpern und Organismen. Beobachten und bedenken Sie zum Beispiel, wie die Gnadengaben Gottes Stück für Stück auf die Menschen herniederkommen, wie die Strahlungen des Göttlichen ewig über der Menschenwelt scheinen. Es kann keinen Zweifel geben, daß diese Gnadengaben, diese Segnungen, diese Strahlen von der Liebe ausgehen. Wäre Liebe nicht der göttliche Beweggrund, könnte das menschliche Herz unmöglich diese Gaben erreichen oder aufnehmen. Gäbe es keine Liebe, könnte der göttliche Segen auf überhaupt keinen Gegenstand auftreffen. Wäre keine Liebe da, könnte der Empfänger göttlicher Ausstrahlung diese Ausstrahlung nicht seinerseits wiederspiegeln und auf andere Objekte weiterstrahlen. Wenn wir zu den Verständnisvollen gehören, erkennen wir, daß sich die Segnungen Gottes ununterbrochen offenbaren, wie die Sonnenstrahlen unaufhörlich von der Sonne ausgehen. Durch die leuchtende Strahlenfülle der Sonne ist die Welt der Erscheinung hell und glanzvoll. In derselben Weise wird das Reich der Herzen und des Geistes vom Strahlenkranz der Sonne der Wirklichkeit und von den Segnungen der Liebe Gottes erleuchtet und wiederbelebt. Von da her wird die Welt des Seins, das Reich der Herzen und des Geistes unaufhörlich zum Leben angeregt. Gäbe es nicht die Liebe Gottes, die Herzen wären unbeseelt, die Geister würden verdorren, die Wirklichkeit des Menschen wäre bleibender Gaben verlustig.

Bedenken Sie, in welchem Ausmaß sich die Liebe Gottes offenbart. Unter den Zeichen Seiner Liebe, wie sie in der Welt erscheinen, sind die Aufgangsorte Seiner Manifestationen. Welch ein unendliches Maß von Liebe strahlen die göttlichen Manifestationen auf die Menschheit aus! Um der Führung des Volkes willen, um die Menschenherzen neu zu beleben, haben sie willig ihr Leben geopfert. Sie haben das Kreuz auf sich genommen. Um es den Menschenseelen zu ermöglichen, die höchste Stufe des Fortschritts zu erreichen, haben sie ein Leben lang unvorstellbare Prüfungen und Schwierigkeiten erduldet. Hätte Seine Heiligkeit Jesus Christus nicht Liebe für die Menschenwelt besessen, Er hätte sicherlich nicht willig das Kreuz auf sich genommen. Um der Liebe zur Menschheit willen wurde Er gekreuzigt. Bedenken Sie die grenzenlose Weite dieser Liebe! Ohne Liebe zur Menschheit hätte Johannes der Täufer nicht sein Leben geopfert. Genauso war es mit allen Propheten und allen heiligen Seelen. Hätte Seine Heiligkeit der Báb keine Liebe zur Menschheit geoffenbart, Er hätte sicherlich Seine Brust nicht tausend Kugeln dargeboten. Wäre Seine Heiligkeit Bahá’u’lláh nicht von Liebe zur Menschheit entflammt gewesen, hätte Er nicht freiwillig vierzig Jahre Kerker erduldet.

[Seite 1226] Beobachten Sie, wie selten die Menschen ihr Vergnügen und ihre Bequemlichkeit für andere opfern, wie unwahrscheinlich es ist, daß ein Mensch einem anderen zuliebe ein Auge oder ein Körperglied einsetzt. Alle göttlichen Manifestationen jedoch haben Blut und Leben geopfert, ihre ganze Existenz, ihr Behagen und allen Besitz um der Menschheit willen hingegeben. Bedenken Sie deshalb, wie sehr diese Manifestationen geliebt haben. Ohne ihre Liebe zur Menschheit wäre geistige Liebe ein leeres Wort. Ohne ihre Erleuchtung könnten Menschenseelen nicht strahlen. Wie produktiv ist ihre Liebe! Sie ist ein Zeichen der Liebe Gottes, ein Strahl der Sonne der Wirklichkeit.

Deshalb müssen wir Gott lobpreisen, denn es ist das Licht Seiner Großmut, das durch Seine ewige Liebe auf uns strahlt. Seine göttlichen Manifestationen haben ihr Leben aus Liebe zu uns geopfert. Bedenken Sie demnach, was die Liebe Gottes bedeutet. Gäbe es nicht die Liebe Gottes, aller Geist bliebe leblos. Die Bedeutung dieses Satzes liegt nicht in einem körperlichen Tod, sondern in jenem Zustand, von dem Seine Heiligkeit Christus erklärte: „Laßt die Toten ihre Toten begraben, denn was vom Fleische geboren ist, ist Fleisch, und was vom Geiste geboren ist, ist Geist.“ Gäbe es nicht die Liebe Gottes, die Herzen würden nicht erleuchtet. Gäbe es nicht die Liebe Gottes, der Weg zu Seinem Reich würde nicht gebahnt. Gäbe es nicht die Liebe Gottes, die heiligen Bücher wären nicht geoffenbart worden. Gäbe es nicht die Liebe Gottes, die göttlichen Propheten wären nicht in die Welt gesandt worden. Die Grundlage aller dieser Gnadengaben ist die Liebe Gottes. Deshalb gibt es in der Menschenwelt keine größere Macht als die Liebe Gottes. Es ist die Liebe Gottes, die uns heute abend hier zusammengeführt hat. Es ist die Liebe Gottes, die den Osten mit dem Westen verbindet. Es ist die Liebe Gottes, die die Welt neu belebt. Wir müssen Gott Dank sagen, daß uns ein so großes Lehen und eine solche Strahlenfülle anvertraut worden ist.


Die Transzendenz des Bewußtseins

Wir kommen jetzt zu einem anderen Aspekt unseres Themas: Sind die Tätigkeit und die Wirkungen der Liebe auf diese Welt begrenzt oder erstrecken sie sich auch auf eine andere Seinsweise? Berührt ihr Einfluß nur unser irdisches Dasein oder auch das ewige Leben?

Wenn wir das Menschenreich beobachten, fällt uns ins Auge, daß es allen anderen Seinsweisen überlegen ist. In der Entwicklung der Welt des Seins gibt es vier Stufen oder Reiche: das Mineralreich, das Pflanzenreich, das Tierreich und das Menschenreich. Das Mineralreich ist mit einer Eigenschaft ausgestattet, die wir Zusammenhalt nennen. Das Pflanzenreich besitzt diese Kraft des Zusammenhalts und darüber hinaus die Kraft des Wachstums und der Vermehrung. Das Tierreich verfügt über die Vortrefflichkeiten des Mineral- und des Pflanzenreiches und zusätzlich über die Kraft der Sinne. Aber wenngleich das Tier mit Empfindungsvermögen begabt ist, fehlt ihm doch völlig das Bewußtsein; es steht in keinerlei Beziehung zur Welt des Bewußtseins und des Geistes. Das Tier besitzt keine Kräfte, durch die es Entdeckungen machen könnte, die über den Bereich der Sinne hinausreichen. Es hat keine intellektuelle [Seite 1227] Schöpferkraft. Zum Beispiel könnte ein in Europa lebendes Tier den Erdteil Amerika nicht entdecken. Es versteht nur Erscheinungen, die in den Bereich seiner Sinne und seines Instinkts treten. Es kann sich nichts abstrakt ausdenken. Das Tier kann nicht begreifen, daß die Erde ein Ball ist und sich um eine Achse dreht. Es kann nicht verstehen, daß die kleinen Sterne am Himmel riesige Welten sind, viel größer als diese Erde. Das Tier kann sich den Verstand nicht abstrakt vorstellen. Dieser Kraft ist es beraubt. Demnach sind diese Kräfte nur dem Menschen eigen, und wir haben verdeutlicht, daß es im Menschenreich eine Wirklichkeit gibt, die dem Tiere fehlt. Was ist diese Wirklichkeit? Es ist der Geist des Menschen. Durch ihn erhebt sich der Mensch weit über alle anderen Reiche der Erscheinung. Wenngleich er alle Vorzüge der niederen Reiche besitzt, ist er darüber hinaus mit der geistigen Fähigkeit, der himmlischen Gabe des Bewußtseins, ausgerüstet.

Alle materiellen Erscheinungen sind der Natur unterworfen. Alle stofflichen Organismen sind Gefangene der Natur. Keiner von ihnen kann auch nur im geringsten vom Naturgesetz abweichen. Diese Erde, die großen Berge, die Tiere mit ihren wundersamen Kräften und Instinkten können nicht über ihre natürlichen Grenzen hinausgehen. Alle Dinge sind Gefangene der Natur, ausgenommen der Mensch. Der Mensch ist Herrscher über die Natur; er bricht ihre Gesetze. Obwohl er ein Lebewesen ist, das seiner natürlichen Ausstattung nach auf der Erdoberfläche leben müßte, schwingt er sich wie ein Vogel in die Luft, segelt über den Ozean und taucht mit Unterseebooten tief in seine Wellen unter. Der Mensch besitzt eine Macht, mit der er Naturgesetze durchdringt, entdeckt und von der Welt des Unsichtbaren auf die Ebene des Sichtbaren holt. Die Elektrizität war einst eine verborgene Kraft der Natur. Nach den Naturgesetzen sollte sie ein Geheimnis bleiben, aber der Geist des Menschen entdeckte sie, holte sie aus ihrer geheimnisvollen Schatzkammer und machte ihre Erscheinungen sichtbar. Es ist klar und offenbar, daß der Mensch fähig ist, die Naturgesetze zu brechen. Wie kann er dies? Durch einen Geist, den Gott ihm bei seiner Erschaffung verliehen hat. Das ist der Beweis dafür, daß der Geist den Menschen über alle niedereren Reiche erhebt und ihn von diesen unterscheidet. Es ist dieser Geist, auf den sich der Vers des Alten Testaments bezieht, in dem es heißt, der Mensch sei „nach dem Bild und Gleichnis Gottes“ erschaffen worden. Nur der Geist des Menschen durchdringt die Wirklichkeiten Gottes und nimmt an den göttlichen Gaben teil.

Diese große Macht muß offensichtlich von dem stofflichen Körper oder „Tempel“ unterschieden werden, in dem sie sich offenbart. Beobachten und begreifen Sie, wie dieser menschliche Körper sich verändert; der Geist des Menschen jedoch bleibt immer im selben Zustand. Zum Beispiel wird der Körper manchmal schwach, manchmal stark und dick; bisweilen wird er kleiner oder verliert ein Glied, aber all dies hat keinen Einfluß auf den Geist. Das Auge mag blind werden, der Fuß kann abgenommen werden, aber keine derartige Unvollkommenheit beeinträchtigt den Geist. Das ist der Beweis dafür, daß der Geist des Menschen von seinem Körper zu unterscheiden ist. Wir kommen zu dem exakten Schluß, daß der Geist, wenngleich der ganze Körper einer radikalen Veränderung [Seite 1228] unterworfen wird, dennoch diese Verwandlung überlebt; selbst wenn der Körper des Menschen zerstört wird und dem Nichtsein anheimfällt, bleibt der Geist des Menschen unversehrt. Denn der Geist des Menschen lebt immerfort. Manchmal schläft der Körper, das Auge sieht nichts, das Ohr hört nichts, die Glieder hören auf, sich zu bewegen, jegliche Sinnesfunktion ist erloschen wie im Tod; dennoch sieht der Geist, er hört und schwingt sich in die Höhe, denn er besitzt Fähigkeiten, die ohne die Werkzeuge des Körpers wirksam sind. In der Welt der Gedanken sieht er ohne Augen, hört ohne Ohren und reist, ohne den Fuß zu bewegen. Ohne körperliche Kraft vollzieht er jede Funktion. Dies alles macht klar, daß während des Schlafs der Geist lebendig ist, wenngleich der Körper tot erscheint. In der Welt der Träume wird der Körper völlig passiv, aber der Geist ist aktiv tätig und besitzt umfassendes Empfindungsvermögen. Das führt zu dem Schluß, daß das Leben des Geistes vom Leben des Körpers nicht bedingt oder abhängig ist. Allenfalls läßt sich sagen, der Körper sei ein bloßes Gewand, das sich der Geist anlegt. Wird das Gewand vernichtet, bleibt sein Träger unversehrt und ist in der Tat geschützt.


Tod und ewiges Leben

Überdies sind alle Erscheinungen Veränderungen von einem Zustand zum anderen unterworfen; die Revolution, die von dieser fortschreitenden Umwandlung bewirkt wird, führt zu einer Art Nichtsein. Wenn zum Beispiel ein Mensch vom Menschenreich zum Mineralischen umgewandelt wird, sagen wir, er sei tot, denn er hat die stoffliche Form des Menschen aufgegeben und den Zustand mineralischer Substanzen angenommen. Diese Umwandlung oder Transmutation wird Tod genannt. Daraus folgt, daß kein Organismus der Erscheinungswelt zur gleichen Zeit zwei Formen besitzen kann. Wenn ein Gegenstand, eine Erscheinung, dreieckige Gestalt hat, kann er nicht zur gleichen Zeit die Gestalt eines Quadrats besitzen. Ist er kreisförmig, kann er nicht gleichzeitig fünf- oder sechseckig sein. Um eine neue Gestalt oder Form anzunehmen, muß unser Gegenstand seine frühere Gestalt oder Abmessung aufgeben; so muß man das Dreieck aufgeben, um ein Quadrat zu erhalten, das Quadrat muß sich ändern, um Fünfeck zu werden. Diese fortschreitenden Umwandlungen oder Veränderungen aus einem Zustand in den anderen entsprechen dem Tode. Aber die Wirklichkeit des Menschen, der menschliche Geist, besitzt gleichzeitig alle Formen und Gestalten, ohne einer von ihnen beraubt zu sein. Er braucht keine Umwandlung von einem Begriff zum anderen. Würde man ihn einer oder aller Gestalten berauben können, müßten wir sagen, er sei in eine andere Gestalt übergeführt worden, und dies wäre gleichbedeutend mit Tod. Da jedoch der menschliche Geist alle Gestalten gleichzeitig besitzt, kennt er keine Umwandlung und keinen Tod.

Weiterhin ist es nach der Naturphilosophie eine gesicherte Tatsache, daß die einzelnen, einfachen Elemente unzerstörbar sind. Wie die Natur unzerstörbar ist, so sind auch alle einfachen Bauteile der Natur dauerhaft und beständig. Tod und Nichtswerdung befallen nur Verbindungen und Zusammengesetztes. Das will besagen, Zusammensetzungen können [Seite 1229] vernichtet werden. Wenn die Auflösung Platz greift, tritt der Tod ein. Zum Beispiel wurden gewisse Elemente verbunden, um diese Blume hier zu bilden. Wenn die Verbindung sich auflöst, wenn das Zusammengesetzte auseinanderfällt, stirbt die Blume als Organismus des Pflanzenreichs. Die einzelnen Elemente jedoch, aus denen diese Blume zusammengesetzt ist, werden keinen Tod erleiden, denn alle diese Elemente sind dauerhaft, immerwährend und nicht der Vernichtung unterworfen. Sie sind unzerstörbar, weil sie elementar sind und nicht zusammengesetzt. So können sie nicht auseinanderfallen oder in ihre atomaren Bestandteile getrennt werden; vielmehr sind sie einzelstehend, einfach und deshalb beständig.

Wenn elementarer Stoff Beständigkeit besitzt, wie sollte da der menschliche Geist, die menschliche Wirklichkeit, weit über jeder Verbindung und Zusammensetzung stehend, zerstörbar sein? Nein, keineswegs! Dieser Geist ist alles in allem; er ist eine Einheit und nichts Zusammengesetztes. Seine Zerstörung ist deshalb unmöglich. Der Geist des Menschen übersteigt die Eigenschaften und Wesenszüge jedes natürlichen Elements. Er hat höhere Vorzüge als Gold, Silber oder Eisen — Elemente, die nicht zerstört werden können. Wenn sie frei von Zerstörung sind und sich durch Dauerhaftigkeit auszeichnen, wieviel mehr noch muß da der menschliche Geist frei und unsterblich sein! Wie könnte er jemals zerstört werden? Dies ist eine Frage von großer Bedeutung. Es gibt zahllose Beweise, die unsere Antwort unterstützen; Ich hoffe, daß wir die Untersuchung ein andermal fortsetzen können.

Bevor wir auseinandergehen, möchte Ich ein Gebet für Fräulein Farmer sprechen; denn sie ist die Begründerin dieser Institution, die Quelle dieser liebevollen Kameradschaft und unseres Zusammentreffens.

O Du gütiger Gott! Umfange diese Diener mit Deiner leuchtenden Vorsehung. Entflamme die Herzen in dieser Versammlung mit dem Feuer Deiner Liebe. Erleuchte die Gesichter mit dem Licht des Himmels. Erhelle die Herzen mit dem Strahl der höchsten Führung.

O Gott! Die Wolken des Aberglaubens haben die Horizonte der Herzen umzogen. O Herr! Zerstreue diese Wolken, auf daß das Licht der Sonne der Wirklichkeit scheine. O Herr! Erleuchte unsere Augen, damit wir Dein Licht sehen. O Herr! Richte unsere Ohren aus, damit wir den Ruf der höchsten Heerscharen hören. O Herr! Mache unsere Zungen beredt, damit wir uns für Dein Gedenken einsetzen. O Herr! Heilige und reinige die Herzen, damit der Glanz Deiner Liebe in ihnen strahle.

O Du gütiger Herr! Durch Deine Macht und Großmut verleihe der Begründerin dieser Vereinigung baldige Genesung. O Herr! Diese Frau hat Dir gedient, hat ihr Antlitz Deinem Reiche zugewandt und hat diese Lehrseminare ins Leben gerufen, damit die Wirklichkeit erforscht werde und das Licht der Wahrheit scheine.

O Herr! Sei Du für immer ihr Beistand. O Herr! Sei Du allezeit ihr Tröster. O Herr! Schenke ihr rasche Heilung. Wahrlich, Du bist der Milde. Wahrlich, Du bist der Barmherzige. Wahrlich, Du bist der Großmütige.


——————————
Aufzeichnungen von Edna McKinney, aus „The Promulgation of Universal Peace“, Vol. II, Wilmette/Ill. 1922/1943, S. 247 ff.


[Seite 1230]












Show für eine geeinte Welt
Mit ihrer Musical-Show „Plea for one World“ haben die „Dawnbreakers“, eine junge Bahá’í-Singgruppe, im Spätsommer 1970 in zahlreichen Städten Europas für die Einheit der Menschheit geworben. Die Tournee, die überall in der Öffentlichkeit auf viel Interesse stieß — wie das große Echo in der Presse bewies —, begann in Bonn-Bad Godesberg und endete in Apeldoorn in den Niederlanden. Grundgedanke der Show war, die Zuhörer auf das aufmerksam zu












[Seite 1231]











machen, was UN-Generalsekretär U Thant so ausdrückte: „Wir haben die Mittel und das Vermögen, um den Krieg und die Rüstung und die Armut und den Hunger und die Krankheit aus dem Antlitz der Erde zu beseitigen... Wir brauchen dazu nur den Willen.“ „Wollt!“, riefen deshalb die











[Seite 1232]











„Dawnbreakers“ ihrem Publikum zu. Und sie verkündeten dabei die Botschaft von Bahá’u’lláh, der lehrte, daß „Friede und Sicherheit unerreichbar sind, sofern und ehe nicht die Einheit der Menschheit fest begründet ist“. Unsere Fotos auf diesen Seiten geben Ausschnitte aus dem Programm und dem Auftreten der jungen Bahá’í, die sich aus verschiedenen Ländern zusammengefunden hatten, wieder. Vielfach erregten sie nicht nur bei ihren abendlichen Veranstaltungen Aufmerksamkeit — oft verwickelten sie bei einem Teach-In auf den Straßen und Plätzen der Städte die Menschen in lebhafte Diskussionen.











[Seite 1233]



Religion und Persönlichkeitsentfaltung[Bearbeiten]

Überraschende psychische Wirkungen des Glaubens / von James J. Keene


So, wie sie gemeinhin verstanden und praktiziert wird, ist die Religion häufig eine Quelle des Streits und der Verwirrung. Das gibt nicht nur den Geistlichen Rätsel auf. In dem Maße, wie die traditionelle Religiosität vor dem Ansturm der industriellen Zivilisation zurückweicht, sind auch Soziologen und Psychologen untereinander uneins, was die Rolle der Religion im modernen Leben betrifft.

Freud zum Beispiel dachte, die Religion sei eine illusionäre Auffassung der Wirklichkeit, die das Persönlichkeitswachstum behindert und deshalb abgeschafft werden muß. Im Gegensatz dazu war der berühmte Psychologe Carl Jung der Ansicht, Begriffe wie Opfer und Wiedergeburt, Allgemeinbegriffe des Religiösen, seien an den grundlegenden Prozessen der Persönlichkeitsentwicklung beteiligt. Allgemein läßt sich sagen, daß manche Sozialwissenschaftler die Religion für einen integrierenden und aufbauenden Einfluß auf das menschliche Bemühen, für eine wichtige, bedeutsame und eigenständige Kraft halten, während andere die Religion als eine Zerfalls- und Auflösungserscheinung oder als etwas Zweitrangiges ansprechen, das nur unter dem Aspekt von „grundlegenderen“ Ereignissen, dem Austausch vom Lustempfindungen oder Wirtschaftsgütern etwa, erklärt werden kann. Die Verwirrung beschränkt sich aber keineswegs auf die Sozialwissenschaftler: Auch die Laien, seien sie begütert, mittelständisch oder arm, auch der Nachbar von nebenan — alle sind skeptisch, verwirrt oder verunsichert, was die Auswirkungen ihrer eigenen religiösen Aktivität auf ihr Leben angeht.

Da die heutige Verwirrung die lawinenartige Folge von jahrhundertealten religiösen Spekulationen ist, besteht ein Bedürfnis nach einer vernunftsgemäßen, wissenschaftlichen Durchleuchtung der Wechselwirkungen zwischen religiöser Aktivität und persönlichem Wohlbefinden eines Menschen. Mit Hilfe systematischer sozialwissenschaftlicher Methoden habe ich Ermittlungen von fast 700 Personen aus fünf religiösen Gruppen unter 35 Aspekten ihres Glaubenslebens, wie Gebet, Beteiligung an Gottesdiensten und Glauben an Gott, sowie unter 74 Gesichtspunkten ihrer Persönlichkeit und ihrer gesellschaftlichen Beziehungen untersucht. Eine bescheidene Addition (35 + 74 = 109) und eine Multiplikation (109 X 700 = 76 300) zeigt, daß hier mehr als 70000 Einzel-Informationen über das religiöse, persönliche und gesellschaftliche Leben vieler Leute zusammengetragen wurde. Wollte man alle möglichen Beziehungen zwischen den untersuchten religiösen und psychosozialen Tätigkeiten durchleuchten und verstehen, hätte man es mit etwa 5886 Beziehungen zu tun (109 X 108/2 = 5886). Dies soll nur andeuten, wie weit und verwickelt religiöse Erscheinungen sind; es läßt sich leicht vorstellen, wie stark Individuen in ihrer Wahrnehmung und in ihrem Verständnis des Religiösen voneinander abweichen können.

[Seite 1234] In dem Bestreben, einfache und doch grundlegende Vorstellungen von der Religion in ihrem Leben zu entwickeln, fassen die Menschen in ihrem Bewußtsein sicherlich mehr als 70 000 Bits an Erfahrung zusammen. Oft achtet der Mensch jedoch nur auf eine kleine Auswahl oder gar nur auf einen einzigen Gesichtspunkt religiöser Erfahrungen — diejenigen, welche sich mit den eigenen persönlichen Vorurteilen und vorgefaßten Meinungen über das Wesen der Religion decken. Diese einseitige Auswahl religiöser Erfahrungen führt zu einer unvollständigen Vorstellung oder zu einer irrigen Auffassung der Religion in allen ihren Aspekten. Gewöhnlich trifft dies auf populäre Meinungen über die Religion und auf Verallgemeinerungen zu, die deshalb früher oder später zwangsläufig mit der Erfahrung in Konflikt geraten und zwischen den einzelnen Menschen sehr weit auseinanderklaffen.

Die Studie1) ist objektiv und wissenschaftlich, nicht weil sie keinerlei wichtige und bedeutsame menschliche Erfahrungen ausschließt, sondern weil ihre empirische Durchleuchtung solcher Erfahrungen ohne persönliche Vorurteile und vorgefaßte Meinungen vor sich ging. Auf einem Computer mit mathematischer Genauigkeit durchgeführt, benutzte das Projekt eine statistische Technik, die Faktoranalyse heißt und genau das tut, was sie besagt: Sie analysierte alle 5886 Beziehungen, die sich auf die 70 000 Bits an Erfahrung gründen, und bestimmte die Faktoren, Trends oder Grundhaltungen, die am besten alle Facetten des Erscheinungsbilds beschreiben. Durch Prüfung der wechselseitigen Beziehungen zwischen diesen Faktoren in jeder von fünf religiösen Gruppen versuchte ich, ein umfassenderes und verständlicheres Bild der Wechselwirkungen zwischen Religion und Persönlichkeit zu geben, als es meines Wissens in der Vergangenheit möglich war. Wichtig für den Leser dieser Ergebnisse ist die Feststellung, daß sich die Studie nicht notwendigerweise mit den Ansichten und Vorstellungen der anerkannten Vertreter der untersuchten Religionsgruppen befaßt; vielmehr gründet sie sich auf die wirkliche Lebenserfahrung und die Beobachtungen von Menschen, die diese Religionen ausüben, da ich das Ziel verfolgte, die tatsächlichen Wirkungen religiösen Verhaltens auf die Persönlichkeit und auf die gesellschaftlichen Gruppen zu entdecken.


Vier Grundhaltungen

Vier wichtige Grundhaltungen (oder Faktoren) wurden im Leben des modernen Menschen festgestellt; wir können sie hier nur kurz umreißen:

Neurotisch / anpassungsfähig: Mehr als die Hälfte aller gegenwärtigen Krankenhausinsassen sind wegen irgendwelcher Verhaltensstörungen dort. Das Problem der geistigen Gesundheit geht sowohl den einzelnen als auch die Gesellschaft an. Beim Individuum kommt es auf die beständige, ganzheitliche Entwicklung seiner Anlagen und Fähigkeiten durch immer weitere Interessen und durch die Einsicht in sein eigenes Leben an; dem steht die Selbstverteidigung gegenüber, in die sich ein Mensch unbewußt unter der Qual seiner eigenen bruchstückhaften, engen und kleinlichen Belange hineinmanövriert. Viele Menschen versagen nachhaltig vor der Aufgabe, den Spannungen und Herausforderungen des Lebens ins [Seite 1235] Gesicht zu sehen; sie vergeuden ihre Energie auf den Konflikt als solchen oder auf Versuche, der Herausforderung auszuweichen. Ein Verhalten, das diesen Wachstumsmangel ausweist, wollen wir neurotisch nennen. Gesund ist nicht notwendigerweise ein Mensch, der keine Konflikte hat, sondern ein Mensch, der mit Konflikten und Ängsten dadurch umgehen kann, daß er die damit verbundene Energie zu konstruktiver Tätigkeit hin kanalisiert.

Für die Gesellschaft soll geistige Gesundheit zur sozialen Integration führen, in deren Rahmen Gesellschaft und Individuum wechselseitig wachstumsfördernd wirken; dem steht gesellschaftliche Desorganisation in Gestalt von Krieg, Massenverfolgungen, Scheidung, Verbrechen und lebenslänglichem Aufenthalt in Nervenheilanstalten gegenüber.

Ungezwungen / gehemmt: Ungezwungenheit ist Ausdruck emotionaler oder unbewußter Erfahrungen: ein Lachen, ein Gefühl der Wärme oder Freude, eine plötzliche Eingebung oder neue Idee. In Verbindung mit anpassungsfähigem Verhalten ist Ungezwungenheit vielleicht am besten als Kreativität zu bezeichnen. Bei Neigung zu Neurose gibt der ungezwungene











Bahá’í aus den deutschsprachigen Ländern trafen sich am 28. und 29. November 1970 in Zürich zu einer Lehrkonferenz. Dr. A. Mühlschlegel wies dabei unter anderem auf das Vorrecht aller Bahá’í hin, am Aufbau einer neuen Gesellschaft mitzuarbeiten. Unser Bild zeigt einige der Teilnehmer.


[Seite 1236] Gefühlsausdruck bestenfalls den Versuch wieder, angepaßte Reorganisationen innerhalb der Persönlichkeit vorzunehmen. Schlimmstenfalls ist Ungezwungenheit in Verbindung mit neurotischer Neigung lediglich Flucht, wie es sich bei sexueller Zwanglosigkeit, unkontrolliertem Drogenkonsum und Sensationslüsternheit erweist. Der Gegensatz der Ungezungenheit ist psychologische und gesellschaftliche Härte und Gehemmtheit sowie die Furcht, zum Umgang mit der irrationalen Seite des Lebens unfähig zu sein.

Weltoffen / volkstümlerisch: Es ist eine Schlüsselfunktion für den modernen Menschen auf der gegenwärtigen Stufe seiner gesellschaftlichen Entwicklung, daß er ein Selbstbewußtsein als Weltbürger entwickelt, anstatt sich ausschließlich mit einer einzigen Nation, Religion oder Rasse zu identifizieren.

Selbstbezogen / gruppenbezogen: Hier geht es um ein kulturelles Anliegen in der Beziehung zwischen dem Individuum und der Gruppe. Selbstbezogenes Verhalten führt zu Wettbewerb, Individualität, Unabhängigkeit und Freiheit des Ausdrucks, während Gruppenbezogenheit die Zusammenarbeit, das Bemühen um eine Lebensführung nach den Wertmaßstäben der Gruppe, gegenseitige Abhängigkeit und Gefühlsbeherrschtheit mit sich bringt. Sowohl Selbst- wie Gruppenbezogenheit können, je nach der Situation, erwünscht oder unerwünscht sein. Schlimmstenfalls findet man Selbstbezogenheit zum Beispiel in dem gesellschaftswidrigen Verhalten eines Menschen, der etwas tut, das er will, obwohl dies schädliche Folgen für andere haben könnte. Günstigstenfalls ist Selbstbezogenheit im Spiel, wenn jemand denkt, was er für richtig hält, und dabei dem Druck der Gruppe widersteht. Die meisten werden mir beipflichten, daß Gruppenbezogenheit unerwünscht ist, wenn sie den Verlust der persönlichen Identität durch übertriebene Anpassung oder durch Massenaktionen zur Folge hat; sie ist erwünscht in Gestalt von Güte, Höflichkeit und Mitgefühl. Wir können sagen, daß die Belange sowohl des Individuums wie der Gesellschaft am besten bei Persönlichkeiten gewahrt sind, die die positiven Gesichtspunkte sowohl der Selbst- wie der Gruppenbezogenheit verkörpern. Wir werden später sehen, wie der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft, der in der volkstümlichen Weltanschauung unserer Tage so sehr im Vordergrund steht, bei einer der untersuchten religiösen Gruppen optimal gelöst wird.

Es stellte sich heraus, daß die Art und Weise, wie die Menschen diese vier psychosozialen Aufgaben in ihrem Alltagsleben lösen, in enger Beziehung steht

(1) zu den Formen religiöser Tätigkeit, an denen sie teilnehmen,
(2) zu den religiösen Gruppen, denen sie angehören.

Im folgenden will ich die grundlegenden Ergebnisse meiner Untersuchung beschreiben, wie sie sich für einen Leser darstellen, der sich um die Frage kümmert, welche Wirkungen seine eigene religiöse Aktivität unter der Oberfläche auf seine Persönlichkeit und seine gesellschaftlichen Beziehungen haben könnte. Was sich bei den 700 untersuchten Personen erwies, dürfte auch auf jeden Leser dieses Aufsatzes zutreffen.

[Seite 1237]

Was ist Religion?

Bevor die Wirkung der Religion auf die Persönlichkeit geklärt werden kann, müssen wir wissen, was diese Wirkung hervorruft. Was ist die Religion eigentlich? Eine große Vielfalt von Glaubenssätzen und Praktiken wird von vielen Menschen an vielerlei Orten als religiös bezeichnet. Das weist darauf hin, daß die Religion in verschiedenen religiösen Gruppen verschiedenartiger ist als die Leute denken.

Zum Beispiel neigen Katholiken dazu, an das Leben nach dem Tode, an die Seele und an Gott zu glauben und sich an religiösen Aktivitäten zu beteiligen, die sie in erster Linie als Lehre, Glaubensbekenntnis und Ritual verstehen. Trotz dieser allgemeinen Aktivität neigen die Katholiken gleichzeitig dazu, der Religion gegenüber skeptisch zu sein. Die Protestanten sind dem Religiösen gegenüber so skeptisch wie die Katholiken; die Protestanten glauben jedoch nicht so fest an das Leben nach dem Tode, an die Seele und an Gott wie die Katholiken, nehmen nicht so sehr an religiösen Aktivitäten teil und werten Lehre und Ritual nicht so hoch. Eine Auffassung von Religion, die Lehre, Glaubensbekenntnis und Ritual betont, ist unter Juden ebenso weit verbreitet wie unter Katholiken. Die Juden neigen jedoch weniger als die Katholiken dazu, an religiösen Aktivitäten teilzunehmen, an das Leben nach dem Tode, die Seele und Gott zu glauben oder die Gültigkeit der Religion in Frage zu stellen.

Zwischen Juden, Katholiken und Protestanten gibt es vier Hauptfragen oder Bereiche der Meinungsverschiedenheit über die Religion:

1. Soll man an religiösen Aktivitäten teilnehmen?

2. Soll man die unantastbaren Vorstellungen, die mit religiöser Aktivität unveränderlich verbunden sind, wie Leben nach dem Tod, Seele und Gott, akzeptieren?

3. Soll es überhaupt Religion geben?

4. Soll die religiöse Teilnahme auf Lehre, Glaubensbekenntnis und Ritual oder auf persönliche, innerliche Erfahrung gegründet sein?

Ich bezeichne die letztere Frage als Frage der Orthodoxie im Gegensatz zum persönlichen Zugang zur Religion. Der Begriff Orthodoxie gibt die Zustimmung zu den akzeptierten Maßstäben einer religiösen Gruppe wieder. Bei meiner Untersuchung verwende ich jedoch diesen Ausdruck in einer begrenzten Bedeutung, um mit ihm die Einwilligung in oder Wertschätzung von äußerlichen religiösen Formen — Lehrsätzen und Ritualen — in solchem Umfang zu bezeichnen, daß das Verständnis für den eigentlichen Sinn der Religion, der in der persönlichen Erfahrung und Überzeugung liegt, zum Opfer gebracht wird.

Die vorstehenden vier Hauptfragen sind denjenigen Bereichen des religiösen Lebens zuzuordnen, in denen die größten Gegensätze, Meinungs- und Verhaltensunterschiede bestehen. Jede dieser Fragen rief innerhalb der untersuchten Gruppen unterschiedliche Grade von Zustimmung oder Ablehnung hervor. Man nehme zum Beispiel die erste Frage: Sollte man an religiösen Aktivitäten teilnehmen? Es stellte sich heraus, daß weder Juden noch Katholiken oder Protestanten unter sich in diesem Punkt einig waren.

[Seite 1238] Des weiteren neigen Juden und Protestanten dazu, innerhalb ihrer Gruppen in solchen religiösen Fragen verschiedener Meinung zu sein, in denen die Katholiken am meisten zur Übereinstimmung neigen. Bei Juden wie bei Protestanten gibt es wenig Einigkeit darüber, ob sie das Leben nach dem Tode, die Seele und Gott annehmen oder ablehnen sollen, ferner ob sie einen orthodoxen oder einen persönlichen Zugang zur Religion suchen sollen. Demgegenüber herrscht bei den Katholiken relativ starke Übereinstimmung darüber, daß sie an das Leben nach dem Tode, an die Seele und an Gott glauben und die Lehre, das Glaubensbekenntnis und das Ritual als die wichtigsten Bestandteile ihrer Religion positiv bewerten sollen. Seltsamerweise sind die Katholiken mehr als Juden oder Protestanten unter sich darüber uneins, ob sie an religiösen Aktivitäten teilnehmen sollen, trotz ihrer relativ entschiedenen Haltung zur Existenz der Seele und Gottes sowie zur Bedeutung von Lehre und Ritual.

So unterscheiden sich verschiedene religiöse Gruppen in den religiösen Aktivitäten und Ansichten,



——————————

25 Jahre Vereinte Nationen
Die Botschaft des Präsidenten der UN-Vollversammlung, Edvard Hambro, zum Tag der Vereinten Nationen 1970
Vor fünfundzwanzig Jahren traten die Vereinten Nationen ins Leben. Empfangen, während der Zweite Weltkrieg noch tobte, und geboren, bevor die Kanonen kalt geworden waren, sollten die Vereinten Nationen dauernden Frieden und ein besseres Schicksal für die Menschen herbeizuführen suchen.
Die Vereinten Nationen haben noch nicht alle unsere Hoffnungen erfüllt, aber sie haben auch nicht alle Hoffnungen enttäuscht. Es ist an uns, dafür zu sorgen, daß die Verheißung von San Franzisko voll eingelöst wird.
Der Krieg mit seinem Gefolge von Leid und Elend hat in den letzten fünfundzwanzig Jahren viel zu viele Länder heimgesucht. Aber die Vereinten Nationen haben mitgeholfen, einen dritten Weltenbrand zu verhindern. Sie haben die internationale Gewalttätigkeit gemildert. Sie haben bei den Kernwaffen die ersten Beschränkungen durchgesetzt, auch wenn der entsetzlich teure Rüstungswettlauf weitergeht. Sie haben zu den armen Nationen die Hand ausgestreckt, haben internationales Recht geformt, um die Menschenrechte zu verteidigen, und zur Befreiung vieler Völker in Afrika und Asien beigetragen.
Dennoch halten Kampf, Unterdrückung, Armut und

——————————


[Seite 1239]

(1) an denen sich ein Mitglied typischerweise beteiligt und

(2) bei denen es zwischen seinen Mitgläubigen auf die größten Meinungs- und Verhaltensunterschiede trifft.

Diese Unterschiede sind wichtig für das Verständnis der psychosozialen Wirkungen der Religion, weil die besondere Entscheidung eines Menschen in den religiösen Hauptfragen, denen er seinen Willen unterordnet, verschiedenartige Folgen für seine Persönlichkeit und seine gesellschaftlichen Beziehungen, je nach seiner religiösen Gruppenzugehörigkeit, hat.

Wir wollen einen typischen Angehörigen der jüdischen Gruppe betrachten. Wenn er Lehre, Glaubensbekenntnis und Ritual seiner Religion besonders hoch wertet und an das Leben nach dem Tod, an die Seele und an Gott glaubt, ist er in der Mehrzahl der Fälle gruppenbezogen, volkstümlerisch und gehemmt. Wenn er sich jedoch entschließt, seine orthodoxe Auffassung von Religion, seinen Glauben an das Leben nach dem Tod, an die Seele und an Gott sowie seine Beteiligung am religiösen Leben aufzugeben, dann neigt er dazu, selbstbezogener, weltoffener und



——————————

Verzweiflung auch heute Millionen, ja Hunderte von Millionen in ihrem Griff.
Und neue Drohungen, neue Herausforderungen bestürmen uns: das unkontrollierte Bevölkerungswachstum, die Gefahren einer ziellos gewordenen Technik, die Verschmutzung unserer Umwelt, der Gifthauch der Drogen, die sich öffnenden Reiche der Meerestiefen und des Weltraums.
Wir brauchen noch stärkere Vereinte Nationen, um diesen großen Problemen, den alten wie den neuen, zu begegnen, und vor allem, um den Frieden zu sichern. Die Nationalstaaten müssen Schritt für Schritt ihre Ansprüche auf absolute Souveränität aufgeben und ihren Blick auf die Gemeinschaft aller Menschen richten.
„Kein Mensch ist eine Insel, die nur sich selber lebt; jeder Mensch ist Stück des Kontinents, Teil des Ganzen;... des ärmsten Mannes Tod schmälert mich, denn ich bin in die Menschheit verwoben.“
Diese Worte wurden Jahrhunderte vor der UN-Charta niedergeschrieben, aber sie können uns wohl in die Jahre vor uns leiten.
Wir wollen uns alle „geschmälert“ fühlen von dem Hunger, der Krankheit, der Unterdrückung, dem gewaltsamen Tode anderer Menschen, was immer sie sein mögen.
Wir wollen alle „verwoben“ sein in die Menschheit und in die Vereinten Nationen. Dann wird die Welt in den nächsten fünfundzwanzig Jahren nichts zu befürchten haben.

——————————


[Seite 1240] ungezwungener zu sein. Somit fällt die Wahl zwischen uneingeschränkter Beteiligung am religiösen Leben und weltoffener Haltung.

Die Situation eines typischen Katholiken ist ein wenig anders und vielleicht überraschend. Seine Beteiligung an religiöser Aktivität begünstigt in ihm selbst ein anpassungsfähiges Verhalten, seine orthodoxe Bewertung von Lehre, Glaubensbekenntnis und Ritual jedoch begünstigt eine neurotische Haltung und ein provinzielles Weltbild. Somit ist sein Persönlichkeitswachstum zwischen den entgegengesetzten Einflüssen seines orthodoxen Weltbilds und seiner religiösen Beteiligung eingeklemmt. Ein großer Teil der Motivation, die hinter den gegenwärtigen ökumenischen Strömungen steht, läßt sich vermutlich als ein Bemühen um die Verminderung dieser wesenhaften Spannung im zeitgenössischen Katholizismus verstehen.

Tatsächlich scheint es in meinen Datenreihen keinen Anhaltspunkt dafür zu geben, daß der Durchschnittskatholik diesen Konflikt innerhalb seiner Religion besonders gut meistert. Charakteristisch ist es für die Katholiken, daß sie mit diesem Konflikt leben, indem sie ihre religiöse Beteiligung aufrechterhalten und dabei Lehre und Ritual sowie den Glauben an das Leben nach dem Tod, die Seele und Gott voll akzeptieren. Dieses Grundschema religiöser Aktivität ist gewöhnlich von einer Kombination aus volkstümlerischen, gruppenbezogenen, neurotischen und ungezwungenen Verhaltensweisen begleitet. Unbefriedigend erscheint eine derartige Anpassung deswegen, weil ihre neurotischen und volkstümlerischen Komponenten darauf hindeuten, daß der negative Einfluß der orthodoxen Auffassung von Religion vorherrschend ist.

Ein anderer Zugang zu diesem Konflikt, den sehr viele Katholiken einschlagen, ist die Beibehaltung der Ansicht, daß Lehre und Ritual der wichtigste Teil ihrer Religion seien; gleichzeitig schränken sie jedoch ihre religiöse Beteiligung ein und verlieren den Glauben an das Leben nach dem Tode, an die Seele und an Gott. Diese Katholiken neigen zu einem Charaktermodell, das neurotisch, selbstbezogen, volkstümlerisch und gehemmt ist. In dieser offensichtlich nicht wünschenswerten Anpassungsweise sind wiederum die negativen Auswirkungen des orthodoxen Weltbildes vorherrschend. Alle diese Daten lassen sich dahingehend zusammenfassen, daß das persönliche Wohlergehen von Katholiken davon abhängt, daß sie Lehre und Ritual weniger betonen. Es läßt sich daraus folgern, daß die ökumenische Bewegung das Leben des Durchschnittskatholiken verbessern kann, nicht durch den bloßen Wechsel von einer Lehre oder einem Ritual zu einem anderen, sondern dadurch, daß die Bedeutung von Lehre und Ritual allgemein in den Augen der Katholiken gemindert wird.

Bei einem Protestanten liegt die wichtigste Folge religiöser Aktivität in gesellschaftlichen Beziehungen, wie sie durch die Grundfrage der Selbst- oder Gruppenbezogenheit beschreibbar sind. Wenn ein Protestant an religiösen Aktivitäten teilnimmt, an das Leben nach dem Tod, die Seele und Gott glaubt, die Religion als solche anerkennt und einen persönlichen Zugang zu ihr findet, dann wird er wahrscheinlich eine gruppenbezogene Persönlichkeit sein. Ist hingegen Selbstbezogenheit seine vorherrschende [Seite 1241] Form gesellschaftlicher Anpassung, dann wird er wahrscheinlich sowohl seinen Glauben an das Leben nach dem Tod, die Seele und Gott als auch seine religiöse Beteiligung in Frage stellen, weil beides für seine Art von Persönlichkeit unwichtig ist und als Lehre, Glaube und Ritual empfunden wird. Das wichtigste, worüber ein Protestant nachzudenken pflegt, ist vielleicht die Frage, warum seine religiöse Aktivität nicht in direkter Beziehung zu den anderen drei Hauptzielen steht: geistige Gesundheit, Ungezwungenheit und Weltoffenheit.

Insgesamt neigen die meisten Juden, Katholiken und Protestanten trotz aller veröffentlichten idealistischen Theorien dazu, die Religion in erster Linie als Lehre und Ritual zu sehen und die Welt mit volkstümlerischen Augen zu betrachten, unabhängig von dem Ausmaß ihrer Beteiligung an ihren jeweiligen Religionen. Zwei Spielarten kommen in diesem Sinnzusammenhang vor: Erstens neigen diejenigen, für welche Religion unwichtig und fragwürdig ist, auch dazu, neurotisch und selbstbezogen zu sein. Zweitens sind diejenigen, die sich religiös beteiligen und ihre Religion hoch schätzen, die an das Leben nach dem Tod, die Seele und Gott glauben, zugleich gruppenbezogen. Das ist die genaueste Beschreibung, die sich auf der Grundlage meiner Daten geben läßt. Im Zusammenhang mit der Lehre, dem Ritual und der volkstümlerischen Haltung einer überkommenen Religion führt das individuelle Streben nach persönlichem Wohlbefinden entweder

1. zu einer selbstbezogenen, neurotischen Haltung, wenn der Betreffende in einen skeptischen Mangel an religiöser Beteiligung versinkt, oder

2. zu einer Gruppenbezogenheit, die aufgrund der mit ihr verbundenen volkstümlerischen Haltung zur Abgrenzung gegen andere Gruppen neigt, soweit der Betreffende seine religiöse Beteiligung fortführt.


Religion im Fegfeuer

Da die zentrale Dynamik der überkommenen Religionen im Bereich von Lehre, Ritual und Volkstum wirkt, suchen Menschen, die sich nicht länger mit diesen Religionen verbunden fühlen, wahrscheinlich nach einer persönlicheren Hinwendung zur Religion oder nach einer weltoffeneren Gesamthaltung. Es ist nicht verwunderlich, daß jemand den Bruch der formalen Zugehörigkeit zu einer Religion vorzieht, wenn ihm sein skeptischer Mangel an Beteiligung eine selbstbezogene, neurotische Haltung eintrüge, oder wenn er sich mit einer ausschließlich gesellschaftlichen Aktivität im Rahmen seiner Beteiligung wegen der vorherrschend volkstümlerischen Züge nicht abfinden könnte.

Die Religion als aktive Kraft im Leben des Menschen scheint zeitweise verbannt und zu einem Zustand des Fegfeuers verurteilt zu sein — ein Zwischenstadium, in dem nicht nur die individuelle Seele, sondern heutzutage die Religion als solche durch sühnendes Leid auf ihr künftiges Leben vorbereitet wird. Die Reise durch das Fegfeuer beginnt, wenn die Seele sich von diesem Leben trennt, wie sich die Religion tatsächlich vom Leben der aus den Kirchen Ausgetretenen getrennt hat. Dann, so lautet die Überlieferung, kann die Seele — ebenso wie die Religion der Liebe, Einheit und Gerechtigkeit — erst wiedergeboren werden, wenn sie [Seite 1242] von dem, was nach dem „Gericht“ der ausgetretenenen Ehemaligen die „Sünden“ der übertriebenen Doktrin, des übersteigerten Rituals und einer volkstümlerischen Haltung sind, geläutert und gereinigt worden ist. In diesem Sinn sind die überkommenen Religionen in das Fegfeuer eingetreten, wo sie Leid tragen, um ihre Lehre und ihr Ritual so zu verändern, daß sie bereitet sind für das „Paradies“, die entscheidende Rolle im Leben der Menschen zu spielen.

Im Lichte meiner Daten erscheint es weder zufällig noch unpassend, daß das Konzept des Fegfeuers innerhalb derjenigen Religionsgemeinschaft entwickelt worden ist, die heute die am stärksten in die Öffentlichkeit dringenden Anstrengungen unternimmt, ihre Lehre zu verändern, und in welcher wir die widersprüchlichsten Auswirkungen der Religion auf das persönliche Leben ihrer Glieder feststellen mußten. Ein orthodoxes Weltbild widerspricht, wie unsere Untersuchung zeigte, der religiösen Beteiligung, weil beides entgegengesetzte Wirkungen auf die Anpassungsfähigkeit von Katholiken hat.

So lautet die erste Grundfrage zwischen den untersuchten religiösen Gruppen, ob es überhaupt Religion geben sollte. Die überkommenen Religionen sagen ja, die ernüchterten Ehemaligen sagen nein. Während sich die verbannten Religionen mühen, aus dem Fegfeuer zu kommen, in das sie die Mächte der modernen Gesellschaft gestoßen haben, kann der Ehemalige weltoffen sein und sich einer gewissen Anpassungsfähigkeit erfreuen, auch wenn er dazu neigt, die Vorstellungen vom Leben nach dem Tod, der Seele und Gott zu verwerfen, weil sie so eng mit der orthodoxen, von ihm abgelehnten Religion verknüpft sind.

Die folgende Überlegung weist jedoch darauf hin, daß diese unter den Ehemaligen gebräuchliche Einstellung keineswegs die empfehlenswerte Lösung des Problems ist. Nach der Erfahrung des Ehemaligen ist der Glaube an das Leben nach dem Tod, die Seele und Gott unlöslich mit einer unannehmbaren volkstümlerischen, orthodoxen Haltung in den überkommenen Religionen verbunden. Derselbe Glaube ist jedoch zugleich verknüpft mit seinem eigenen ungezwungenen Gefühlsausdruck. Wenn folglich die für Ehemalige typische selbstbezogene Einstellung mit der aus seinem Unglauben an das Leben nach dem Tod, die Seele und Gott herrührenden Gefühlsgehemmtheit verbunden ist, kann dies dazu führen, daß seine Beziehungen zu anderen Menschen abgewürgt werden.


Erneuerung des Menschen durch Erneuerung der Religion

Ein wesentlicher Unterschied zwischen den untersuchten Religionsgruppen kehrt bei jeder Datenanalyse wieder und trennt die Mitglieder der überkommenen Religionen insgesamt von denjenigen des Bahá’í-Glaubens. Übereinstimmend unterschieden sich die Bahá’í von Juden, Katholiken und Protestanten in folgenden Punkten:

1. Obwohl die untersuchten Bahá’í der Rasse, der Nationalität und dem religiösen Hintergrund nach verschiedenartiger waren als die anderen religiösen Gruppen, gab es wenig Meinungsunterschiede in den beiden Hauptfragen, die bei den anderen Gruppen strittig waren: Soll man sich an religiösen Aktivitäten beteiligen und soll man an das Leben [Seite 1243] nach dem Tod, die Seele und Gott glauben? Somit zeigen die Bahá’í größere religiöse Einheit inmitten ihrer größeren demographischen Verschiedenartigkeit.

2. In ihrer relativ einheitlichen Position zeigen die Bahá’í größere Festigkeit. In der Bahá’í-Gemeinschaft ist die Beteiligung des einzelnen viel größer, der Glaube an das Leben nach dem Tod, die Seele und Gott ist stärker, die skeptische Einstellung gegenüber der eigenen Religion und derjenigen von anderen ist viel geringer und der Zugang zur Religion ist persönlicher.

3. Mit dem Zugang eines Bahá’í zur Religion ist ein anpassungsfähiges Verhalten verknüpft. Der Zugang ist persönlich, weil die Betonung von Lehre, Glaubensbekenntnis und Ritual vermindert ist.

Diese Liste muß später, nach eingehender Behandlung einiger Untersuchungsergebnisse, vervollständigt werden. Da jedoch der Bahá’í-Glaube historisch eine junge Religion mit einem hohen Anteil an Mitgliedern der ersten Generation ist, legen die drei genannten Unterscheidungsmerkmale bereits hinreichend deutlich nahe, daß es eine Alternative zur Ablehnung der Religion in Bausch und Bogen gibt: die Bildung neuen Lebens durch eine neue Weltreligion. Meine wichtigsten Untersuchungsergebnisse, die die Bahá’í betreffen, lassen sich im Rahmen der neuen Form gesellschaftlicher Organisation wie auch unter dem Gesichtspunkt der Wandlung des individuellen Lebens durch diese neue Religion recht einfach beschreiben. Die Bahá’í-Gemeinschaft, die aus der Synthese dieser Neuerungen auf gesellschaftlicher und individueller Ebene hervorgeht, hat die Wesenszüge eines lebendigen Organismus.

Welches sind die Teile dieses neuen Organismus? Wenn man ein starkes Herz, eine große Lunge, ein Paar kräftige Beine usw. braucht, um körperlich leistungsfähig zu sein, was benötigt dann eine neue Religion, um ihre soziale und geistige Wirksamkeit in einer Gesellschaft zu sichern, die die überkommenen Religionen aus dem „Fegfeuer“ in die „ewige Hölle“ weiterzuverbannen droht? Ich stellte empirisch fest, daß die Bahá’í zwischen mehr Teilbereichen ihrer religiösen Aktivität unterscheiden, als es die anderen Religionsgruppen tun. Das ist vorteilhaft, weil die fünf Komponenten der Religion, die die Bahá’í nach meiner Analyse auszeichnen, zur Beantwortung der Frage beitragen, welche Arten religiöser Tätigkeit notwendig sind, um eine neue Religion zu formen, die zugleich Gesellschaft und Lebensweg ist.

Erstens fand ich eine erkenntnistheoretische Komponente: die Ideen und Leitbilder, welche die Bahá’í gemeinhin verfolgen, insbesondere den Glauben an die Seele und an Gott. Der Glaube an die Seele führt den Bahá’í zu der Ansicht, daß der Mensch im Verfolg dessen, wozu er bestimmt ist, die Entscheidung treffen kann, hohen Zielen und edlen Eigenschaften — wie Liebe, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit — den Vorrang vor Motivationen einzuräumen, die sich in reinen Wirtschafts-, Sexual- oder Machtkampftheorien vom Menschen beschreiben lassen. Die Bahá’í glauben an einen Gott, der nicht anthropomorph, sondern seinem Wesen nach unerkennbar ist. Da jedoch die rein [Seite 1244] empirische Forschung nicht ausreicht, Weltprobleme zu lösen, glauben die Bahá’í, daß Gott für die notwendige Erkenntnis und Autorität durch große religiöse Lehrer wie den Gründer des Bahá’í-Glaubens sorgt.

Ein zweiter hervorragender Wesenszug dieser neuen Religion ist der meditative Aspekt des religiösen Lebens. Die Bahá’í sind die einzige untersuchte Religionsgruppe, deren Mitglieder nicht nur an Gott glauben, sondern auch häufig beten und meditieren.

Die Bahá’í unterscheiden sich auch nach zwei Gesichtspunkten ihrer religiösen Beteiligung. Die administrative Komponente dieser Beteiligung bringt die Teilnahme am Bahá’í-Gemeindeleben mit sich: gewisse regelmäßige Versammlungen, Beiträge zum Bahá’í-Fonds, Wahlrecht, Dienst in gewählten oder ernannten Verwaltungskörperschaften. Andererseits befaßt sich die Religion für den Bahá’í auch mit Problemen und Problemlösungen, die in erster Linie alltäglich und persönlich sind. Diese experimentelle Form religiöser Beteiligung bringt die Bahá’í-Auffassung zum Ausdruck, daß der Wert der Bahá’í-Lehren Skeptikern gegenüber am besten nachgewiesen werden kann, wenn diese Lehren dazu führen, das persönliche Leben ihrer Verfechter besser und reicher zu gestalten.

Den fünften bedeutenden Bestandteil dieser neuen Religion bilden ganz einfach Menschen, die willens sind, die vier zuvor genannten Komponenten wirksam einzusetzen. Ich bezeichne dies als die Selbstbestätigungs-Komponente einer neuen Religion, weil hier ein Prozeß in Gang kommt, in dessen Verlauf die Mitglieder ihre Religion in sich aufnehmen, indem sie alte Bindungen und Vorstellungen aufgeben, wo es nottut, und neue Bindungen für die Ausbreitung und Entwicklung der Bahá’í-Weltgemeinde auf weltweiter, nationaler und örtlicher Ebene eingehen.

Nachdem wir somit die Anatomie dieser neuen Religion in ihren wesentlichen Bestandteilen umrissen haben, müssen wir untersuchen, was jeder Bestandteil tut und warum er nötig ist. Der Blutkreislauf, die Atmung und alle anderen Systeme in einem lebendigen Organismus, wie zum Beispiel einem Menschen stehen zueinander in wechselseitiger Beziehung und Abhängigkeit; es war deshalb keine besondere Überraschung festzustellen, daß die vorgenannten fünf Komponenten des Bahá’í-Lebens in einer funktionalen Wechselbeziehung zueinander innerhalb eines lebendigen Organismus, nämlich einer neuen Religion, stehen.

Die Selbstbestätigungs-Komponente führt zu einer wachsenden Mitgliedschaft im Bahá’í-Glauben und bringt den neuen Anhängern die Funktion der anderen vier Komponenten nahe. Dies setzt die aktive Entscheidung jedes einzelnen voraus, über alle Begrenzungen des Selbstverständnisses, etwa im Sinne der Zugehörigkeit zu einer Rasse, einer Klasse oder Nation, hinauszuwachsen und die eigenen Fähigkeiten, die eigene Identität dadurch zu entdecken, daß man sich die Freude, Bahá’í-Zielsetzungen zu erreichen, wie auch die Schwierigkeiten, für diese Ziele zu arbeiten, zur persönlichen Erfahrung macht.

[Seite 1245]


Organisatorisch Emotional
Persönlich Erkenntnisbezogen Experimentell
Gesellschaftlich Administrativ Mditativ


Unser Schaubild zeigt die vier Schwerpunkte, die wir bei den psychosozialen Funktionen der vier Grundkomponenten des Bahá’í-Lebens gefunden haben. Die Hauptfunktion der administrativen Komponente der Bahá’í-Gemeinschaft ist wohl die gesellschaftliche Organisation. Bahá’í, die an den administrativen Aspekten des Bahá’í-Lebens teilnehmen, neigen dazu, ein Selbstverständnis als Weltbürger zu entwickeln, so zu leben, wie sie wollen, anstatt so, wie jemand anderes will, den Menschen gegenüber freundschaftliche Gefühle zu hegen, anderen ihre Schüchternheit zu nehmen, genügend Anerkennung auf sich zu ziehen. Der Glaube an die Seele und an Gott innerhalb der erkenntnistheoretischen Komponente organisiert, kontrolliert und diszipliniert nach unseren Feststellungen das Verhalten eines Menschen, so daß er zum Beispiel nicht nachhaltig Dinge tut, die seine Selbstachtung schädigen; er gerät nicht leicht aus der Fassung, wird nicht schwermütig, vergeudet seine Zeit nicht. Im Rahmen der persönlichen Organisation, die von der erkenntnisbezogenen Komponente gefördert wird, kann der experimentelle Aspekt religiöser Tätigkeit — das ernsthafte Bemühen, die Bahá’í-Lehren zu leben — den Strom emotionaler Energie und Schöpferkraft in der tagtäglichen Persönlichkeitsentwicklung verstärken. Die meditative Komponente wird in unserer Untersuchung mit einem Gefühl der Stärke, der Unabhängigkeit, der Zuversicht und der Gemütsruhe bei gesellschaftlichen Beziehungen verbunden. Es hat mich selbst ein wenig überrascht festzustellen, daß der meditative Aspekt des religiösen Lebens in erster Linie dazu führt, die Wirksamkeit des einzelnen Menschen in gesellschaftlichen Situationen zu steigern, indem seine Gefühlskräfte gefestigt werden.

Die kurze Zusammenfassung gibt einen Eindruck davon, was jede Grundkomponente der Bahá’í-Religion im Leben der Bahá’í bewirkt. Die Funktionen religiöser Komponenten können so zusammenwirken, daß sich Ansammlungen von Individuen zu kreativen Gemeinden entwickeln, in denen die Mitglieder in allen fünf Komponenten der Bahá’í-Religion aktiv sind. Jede Komponente ist notwendig; wenn eine davon zu schwach ist, zerbricht die organische Integrität der Gemeinde. Soziale Umwälzungen und das Anwachsen geistiger Erkrankungen sind nur zwei Anzeichen solcher Schwächen und ihrer pathologischen Wirkungen auf die Gesellschaft.

Ein volles Gemeinschaftsleben setzt demnach voraus, daß die organisatorischen und emotionalen Komponenten auf persönlicher wie auf gesellschaftlicher Ebene (siehe Schaubild) so integriert werden, daß Individuum und Gruppe harmonisch zusammenwirken. Solch ein ausgeglichenes Gemeinschaftsleben, das durch Aktivität innerhalb aller fünf Komponenten der Religion gekennzeichnet ist, ist eine neue religiöse Erscheinung, weil es nur unter den Bahá’í festzustellen war. Diese totale religiöse Beteiligung ist überdies von einzigartiger Konsequenz für die Art und Weise, in der die Bahá’í die vier psychosozialen Grundhaltungen, die wir [Seite 1246] eingangs besprachen, ins Gleichgewicht bringen können: indem sie nämlich gleichzeitig weltoffen, ungezwungen und anpassungsfähig sind. Eine derartige persönliche Orientierung — sie tritt in dem Maße hervor, wie ein Bahá’í totale religiöse Beteiligung entwickelt — ist in den anderen religiösen Gruppen nicht typisch feststellbar und deshalb ein ausschließlicher Wesenszug der Bahá’í. Im ganzen ist es so, daß die Bahá’í sich selbst erneuern, indem sie die Religion erneuern. Wenn die Bahá’í Züge ihres Charakters entwickeln, die noch nicht allgemein so offenkundig waren, bevor sie mit der Zusammenarbeit begannen, dann setzen sie so in ihrem Leben die Teile einer neuen Religion zusammen, die vor mehr als einem Jahrhundert Bahá’u’lláh, der Begründer des Bahá’í-Glaubens, entworfen hat.


Religiöse und gesellschaftliche Reife

Diese neue Religion wird in dem Maße heranreifen, wie immer mehr Menschen zu ihrem Aufbau zusammenarbeiten und dabei selbst verwandelt werden. Wer im Sinn hat, sich selbst zu erneuern, indem er die Religion erneuert, wird ein letztes Untersuchungsergebnis wichtig finden: Wenn man den Einsatz einer der geschilderten Komponenten der Bahá’í-Religion im eigenen Leben vernachlässigt, kann das einzigartige Verhaltensmuster kombinierter Weltoffenheit, Ungezwungenheit und Anpassungsfähigkeit schwerlich in der eigenen Persönlichkeit aufkommen. Es leuchtet ein, daß die von den emotionalen Komponenten erzeugte Energie weder einen Sinnzusammenhang noch die nötige Zielorientierung findet, wenn sie nicht von den organisatorischen Komponenten her gesteuert wird. Andererseits könnte man ohne die emotionalen Komponenten der Organisation keine Bedeutung abgewinnen und nicht stark genug dazu motiviert werden, die Ziele zu erreichen. Wenn die persönlichen Komponenten dazu führen, die persönliche Organisation und Funktionsweise zu verbessern, dann würde das Fehlen dieser Komponenten vermutlich die eigene Wirksamkeit innerhalb des Lebens der Bahá’í-Gemeinde herabmindern. Ohne die gesellschaftlichen Komponenten hätte der Bahá’í-Glaube wahrscheinlich nur geringen Einfluß auf die Gesellschaft. Somit geht die gesamte Wirkung verloren, wenn eine der religiösen Komponenten fehlt.

Nach all diesen Erklärungen können wir die Zusammenfassung der Unterschiede fortsetzen, die wir zwischen den Mitgliedern der Bahá’í-Gemeinschaft und den Mitgliedern der überkommenen Religionsgemeinschaften festgestellt haben:

4. Die Bahá’í schenken den verschiedenen Gesichtspunkten ihres religiösen Verhaltens, wie sie durch die erkenntnistheoretische, die experimentelle, die selbstbestätigende, die administrative und die meditative Komponente umrissen werden, eine stärker differenzierte Aufmerksamkeit.

5. Diese Gesichtspunkte des religiösen Verhaltens spielen im Leben der Bahá’í eine einzigartige Rolle. So wird zum Beispiel nur in der Bahá’í-Gemeinschaft der Glaube an das Leben nach dem Tod, die Seele und Gott [Seite 1247] mit einem angepaßten Verhalten verknüpft. Da diese positive Beziehung in den überkommenen Religionen fehlt, ist es kein Wunder, daß der Glaube an die geistige Natur des Menschen und an Gott in diesen Religionen wie auch unter ihren ehemaligen Anhängern ausstirbt.

Überdies sind nur im Bahá’í-Glauben meditative und administrative religiöse Tätigkeiten mit einer weltoffenen Haltung verbunden. Weit entfernt von irgendwelchen Strömungen, die dem Gedanken der Welteinheit Widerstand leisten könnten, sind die Bahá’í die einzige untersuchte Religionsgruppe, die sowohl in ihrer gesellschaftlichen Struktur (administrativ) als auch in den tiefsten Hoffnungen ihrer Mitglieder (meditativ) ein Bewußtsein der völligen Einheit der Menschheit entwickeln.

6. Eine Beteiligung an allen fünf religiösen Komponenten gleichzeitig — totale, ausgeglichene religiöse Aktivität — war nur im Bahá’í-Glauben festzustellen.

7. Die Bahá’í stehen unter einer einzigartigen Wechselwirkung zwischen Persönlichkeit und Religion; ihre totale religiöse Beteiligung begünstigt ein Verhaltensmuster der Weltoffenheit, Ungezwungenheit und Anpassungsfähigkeit. Eine Abweichung von dieser totalen religiösen Beteiligung führt zum Bruch jenes einzigartigen Persönlichkeitsmusters, und umgekehrt gilt das gleiche.

8. Totale, ausgeglichene religiöse Beteiligung ist die Grundlage kreativer Gemeinden im Bahá’í-Glauben. Ausfälle oder pathologische Erscheinungen im Gemeindeleben können auf die unzureichende Verwirklichung von einer oder mehreren Komponenten der Bahá’í-Religion zurückgeführt werden.

Dies ist ein Konzentrat der Schwerpunkte, in denen sich die Bahá’í von den Anhängern der überkommenen Religionen unterscheiden. „Ich kann das nicht glauben! Man kann nicht an Unmögliches glauben“, mögen Sie sagen, wie Alice im Wunderland zu der Königin sagte. Unsere Antwort würde etwa ebenso lauten wie die der Königin: „Ich muß sagen, du hast noch nicht viel Übung. Weiß Gott, manchmal habe ich schon vor dem Frühstück sechs unmögliche Sachen geglaubt!“ Durch ihre einzigartigen Wesenszüge geben die Bahá’í der Religion einen neuen Sinn. Ich habe lediglich berichtet, was ich empirisch festgestellt habe; wenn etwas unmöglich klingt, sind Sie in der gleichen Weise wie ich selbst über die Erscheinungen einer Religion gestolpert, die das Unmögliche vollbringt.

Die Bahá’í-Religion vollbringt Unmögliches nicht in Alices Wunderland, sondern in der wirklichen Welt. Das Unmögliche besteht aus Dingen, die unmöglich scheinen, bis sie von Leuten verwirklicht werden, die an vorübergehend „unmögliche“ Dinge glauben. Wenn Sie einmal zufällig in eine Gruppentherapie-Sitzung kommen, werden Sie viele Alicen hören, die traurig sind, weil sie ihre eigene Persönlichkeitsentfaltung für [Seite 1248] unmöglich halten, mindestens so lange sie diese Entfaltung nicht spüren. Sie können kiloweise die populäre Auffassung nachlesen, daß der Weltfriede eines jener unmöglichen Dinge sei. Die Bahá’í sind Menschen mit der durchdachten Überzeugung, daß es die Mühe lohnt, das Unmögliche zu versuchen — für die Welt und für jeden von uns selbst.


——————————
aus „World Order, a Bahá’í Magazine“, Wilmette/Iil., USA, Winter 1967/68
1) Die Ergebnisse der hier umrissenen Studie sind in den Aufsätzen des Verfassers „Religious Behaviour and Neurotism, Spontaneity, and Worldmindedness“, Sociometry, Vol. 30, No. 2, Juni 1967, und „Bahá’í World Faith: Redefinition of Religion“, Journal for the Scientific Study of Religion, Oktober 1967, dokumentiert.


——————————



Kongreß im Engadin[Bearbeiten]

Es war in den ersten schönen Septembertagen, als in einem großen Hotel in Vulpera im Unterengadin sich eine Elite von etwa 150 Psychotherapeuten, Medizinern, Soziologen, Philosophen und Theologen zusammenfand, um eine Woche lang sich über „das Bild vom Menschen“, wie es heute ist und wie es werden soll, auszusprechen. Diese Absicht, sich — mit oder ohne Gott — Rechenschaft zu geben über ein adäquates, verpflichtendes Menschenbild, trug viel Erfreuliches, aber auch Tragisches in sich.

Es ist wohl ganz richtig, daß das Suchen nach einer neuen, besseren Zeit mit dem Suchen nach einem neuen, besseren Menschentum begonnen wird, in einer Zeit, wo das materialistische Menschenverständnis fast verbindlich geworden ist, das sein Heil nur vom Bedingten erwartet. Aber Nietzsches „Gott ist tot“ traf ja nicht zu. Der Natur des Menschen ist das Gottsuchen wesenseigen. Dies zu beweisen, es als einzigen Ausweg aus den vielen Sackgassen von heute klarzustellen, Rechenschaftsberichte aus der persönlichen Erfahrung und Forschung zu geben, das waren die tragenden Gedanken.

Hoch erfreulich war es darum, daß es dem Züricher Psychotherapeuten Balthasar Staehelin gelungen war, ein Team verschiedenster Fachgelehrter im „Engadiner Kollegium“ um das Leitthema „Mensch“ zu vereinen und dieses Kollegium zusammen mit prominenten Gästen von weither als Referenten in dieser Woche zum Wort kommen zu lassen. Ihnen scholl ein starkes Echo einer lebhaften Aussprache entgegen, bis tief in die Abende hinein. Die Vormittage waren programmfrei. Sie dienten der Erholung, der Besinnung und der Aussprache im kleinsten Kreise.

Tragisch freilich mutete die „babylonische Sprachverwirrung“ an, die nicht zu einer Synthese hin überwunden werden konnte. So viel Schönes und Wahres ist gesagt worden. Aber die von allen Teilen der Peripherie nach dem Kern vorstoßenden Denker und Forscher waren doch noch ziemlich weit von einer einheitlichen Aussage dessen geblieben, was das Bild des Menschen von morgen in seinem gesunden, wahren Wesen sein solle.

Wie dankbar dürfen wir Bahá’í doch Bahá’u’lláh sein, dessen göttliche Lehren uns nicht nur ein klares Bild des Bahá’í, des Menschen von morgen als Ziel gegeben, sondern auch eine Ordnung aufgerichtet haben, in der die Menschen von morgen in vollkommener Einheit leben und zugleich ihre besten Eigenschaften in Harmonie mit den Mitmenschen optimal entfalten können!

A.M.

[Seite 1249]











Als Vertreter des Bahá’í-Weltzentrums in Haifa hat John A. Robarts in den vergangenen Wochen die deutschen Bahá’í-Gemeinden besucht. Seine auf ungezählten Weltreisen gemachten Erfahrungen gaben seinen Zuhörern wertvolle Hinweise auf eine wirksame Lehrtätigkeit. (Bild links: John A. Robarts).
*
Der Arbeitskreis für Religion und Weltanschauung der Rheinisch-Westfälischen Auslandsgesellschaft e. V. veranstaltete 1970 zusammen mit der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit vier Seminare, die sich alle mit dem Wesen der im Heiligen Land vertretenen Religionen beschäftigten. Dabei hatten auch die deutschen Bahá’í eine ausgezeichnete Gelegenheit, einen Tag lang den Glauben und die Lehren Bahá’u’lláhs zu erläutern. Unser Foto unten zeigt die Besucher an diesem Seminar.











[Seite 1250]



Materielle und göttliche Zivilisation[Bearbeiten]

Folgen radikaler Einstellung / von Aminullah Ahmedzadeh


Es war ‘Abdu’l-Bahá, der vor etwa sechzig Jahren während Seiner Reisen in Europa und Amerika eindringlich die Unterscheidung zwischen „zweierlei Arten von Zivilisation“ betonte: Beide müssen nebeneinander bestehen, wenn die Welt zu Ruhe und wahrer Glückseligkeit kommen soll, wenn die Menschheit endlich und endgültig zu wahrem stetigem Fortschritt gelangen, wenn der Krieg, das größte Übel der Welt, aufhören und der allumfassende Friede seine wohltuenden Strahlen über die ganze Menschheit werfen soll. So sagte Er:

„Obschon auf dieser Reise offensichtlich klar geworden ist, daß die westliche Welt große Fortschritte in der materiellen Zivilisation erworben hat, ist doch die göttliche Zivilisation nahe daran, vollkommen vergessen zu werden; denn alle Gedanken sind mit der Welt der Natur beschäftigt. Die Welt der Natur ist es, die in allem und jedem in Erscheinung tritt. Die göttliche Zivilisation ist versteckt, während die Natur allenthalben den Vorrang genießt. Und da die stärkste Kraft in der Natur die Kraft des Kampfes ums Dasein ist, ist sie die Ursache aller Schwierigkeiten in der menschlichen Welt geworden: die Ursache des Krieges, des Zankes, der Eigenliebe, der Feindschaft und des Hasses unter den Menschen, die Ursache der Übergriffe in die Rechte der anderen, was zu den niedrigsten Eigenschaften der Tierwelt gehört...“ (Khitábát, S. 54/55)

Ausgehend von diesen Prämissen, warnte ‘Abdu’l-Bahá die Menschen vor den schrecklichen und gefährlichen Folgen dieser einseitigen, radikalen Einstellung, falls ihr nicht durch die Neubegründung der göttlichen Kultur Einhalt geboten würde. In solchen Zeiten der Gleichgültigkeit, ja Ablehnung gegen die göttlichen Lehren waren es immer die Gesandten und Offenbarer Gottes, die die Menschheit auf den wahren Weg riefen und schließlich die Rettung und Erlösung ermöglichten.

‘Abdu’l-Bahá ging bei diesen Ausführungen, Warnungen und Prophezeiungen so weit, daß er den Beginn des ersten Weltkrieges für 1914 im Jahre 1912 voraussagte als die in der Bibel prophezeite „Schlacht von Harmagedon“ (Esslemont, Bahá’u’lláh und das neue Zeitalter, S. 238). Zahlreich sind Seine Reden, Briefe und Sendschreiben, die alle warnend an die Menschheit und an die Führer der Welt gerichtet waren; aber kaum einer hat sich damals darum gekümmert, auch waren nur wenige bereit, wenigstens eine kleine Weile über all dies nachzudenken.

Es liegt wohl in der Natur des Menschen, Warnungen und Prophezeiungen gering zu schätzen, bis die Katastrophe ausbricht und der Mensch der Gefahr unmittelbar gegenübersteht. Erst dann, wenn jede Mühe vergebens und das Unglück nicht mehr zu beheben ist, fängt er gewöhnlich an, ernste Schritte dagegen zu unternehmen und Mittel und Wege zur Beseitigung zu suchen.

[Seite 1251] Heute, mehr als fünfzig Jahre später, nachdem die erste und die zweite Etappe dieses Unglücks bereits über die Menschheit hinweggefegt sind, werden die Stimmen vieler Denker laut, die dieselben Gedanken und Befürchtungen aussprechen, wie sie seinerzeit den Inhalt von ‘Abdu’l-Bahás Reden und Schriften darstellten. Es sind Philosophen, Soziologen und Politiker, die aufmerksam werden, nachdem die krassesten Formen der Kriminalität, der Rassendiskriminierung, des Rauschgift- und Alkoholmißbrauchs, der Unsicherheit vor dem Ausbruch eines alles vernichtenden Atomkrieges die Welt unmittelbar an den Rand des Chaos gebracht haben und eine Rettung so gut wie unmöglich erscheint.

Über den Wert solcher späten Einsichten äußerte sich Shoghi Effendi, der Hüter des Bahá’í-Glaubens, einmal so: „...man kann sich nicht vorstellen, daß nach 80 Jahren der Nachlässigkeit die Menschheit noch einen Ausweg aus der plötzlich eintreffenden Katastrophe findet...“ (Ruhíyyih Khánum, Die einzigartige Perle, S. 297).

Erst heute, zu so später Stunde, wo die Dinge schon ihren Lauf genommen haben und nicht mehr so einfach rückgängig zu machen sind, beginnt man allmählich, ernsthaft von der Notwendigkeit einer humanen Kultur und von menschlichem Ethos zu sprechen; so zum Beispiel Heinrich Schirmbeck in dem Buch „Ihr werdet sein wie die Götter“, S. 177 und 1921). Oder in der Tagespresse: Vor zwei Jahren las man da z.B. im „Schwarzwälder Boten“ vom 28. 8. 1968 diese Notiz: „... Jede ¾ Stunde ein Mord. In den Vereinigten Staaten wurde im vergangenen Jahr alle 43 Minuten ein Mensch ermordet, alle 19 Minuten eine Frau vergewaltigt... Seit 1960 haben die schweren Strafen um 89 % zugenommen, die Gewaltverbrechen um 73%“.


Shoghi Effendi über die Lage der Welt

Shoghi Effendi, der Hüter der Sache Gottes, beleuchtete und analysierte dieses Übel in seinen Briefen, Reden und Gesprächen. Seine tief gehende Betrachtungsweise erhellt uns erst den Grad der Verdorbenheit, des Verfalls und Chaos in der Welt von heute, in der wir leben. In dem soeben erschienenen Buch von Ruhíyyih Khánum, „Die einzigartige Perle“ (vorerst in englischer und persischer Sprache veröffentlicht) finden sich verschiedene Äußerungen hierzu, die ich im folgenden wiedergeben möchte, immer aus der persischen Fassung:

„Im Herzen der menschlichen Gemeinschaft sind die klaren Zeichen des unheilvollen Sturzes in die Sünde wahrnehmbar, die Abwesenheit des Schamgefühls in allen Handlungen...“ (S. 298)
„Der europäische Kontinent ist wohl die Wiege einer Zivilisation, aber diese ist bar der Erkenntnis des einzigen Schöpfers, der Verdorbenheit verfallen und prahlt leider auch noch damit. Doch die eigentlichen Verbreiter dieser zum Untergang verurteilten Zivilisation sind die Bewohner Amerikas. Wenn man die Verhältnisse in jenem Lande genauer betrachtet, wird man sehen können, wie die Erscheinungen dieser traurigen Zustände in allen Bereichen jenes Landes zu beobachten sind — ein zügelloser Materialismus hat die Menschen dort

[Seite 1252]

so umgeben und erfaßt, daß er die ganze Welt beeinflussen konnte...“ (S. 300/301).
„Die Krise (d. h. die geistige, soziale und politische) wird dort äußerst hart sein; so hart, daß man mit einem oberflächlichen Blick unmöglich die großen Gefahren genau abzuschätzen vermag, die in ihrem Inneren wühlen: das ist ein krebsartiger Materialismus, der seine starken Pranken bis zu den Völkern Asiens hin ausgestreckt hat... Jetzt hat dieser Krebs begonnen, das eigene Herz zu befallen, was Bahá’u’lláh mit äußerster Macht und Klarheit verurteilt und einer vernichtenden Flamme gleichgesetzt hat, die als eine Katastrophe hereinbrechen, mit ihren Flammen die Städte vernichten und im Herzen der Erdbewohner Angst, Furcht und Unsicherheit hinterlassen wird...“ (S. 302).
„Der Niedergang der Moral und das Sinken der Stufe der Religion ist es, was gleich einem Schreckgespenst allmählich mit seinen scharfen Zähnen den Untergrund des Daseins zerstückelt und die Grundsäulen des Lebens restlos zu Fall, Niedergang und Nichtsein bringt...“
...Im Jahre 1949 hat der Hüter nochmals den Zorn Gottes über die Gestalt der menschlichen Gesellschaft beschrieben und gesagt: ‚Das ist eine Welt, die durch politische Bewegungen erschüttert, deren wirtschaftliche Grundlage zerbrochen und deren soziales Leben auf den Kopf gestellt ist; die Welt des Sittlichen hat den dunkelsten Punkt erreicht. Eine solche Welt ist von geistigem Tod bedroht...“
Mit solchen Worten und Warnungen, schreibt Ruhíyyih Khánum selbst, wollte der Hüter die Freunde Gottes vor großen Gefahren, die sie von allen Seiten umgeben, schützen und bewahren, damit die Überschwemmungen der Verdorbenheit sie nicht vernichten (S. 300).
Er hat die Zustände in der Welt mit den göttlichen Maßstäben verglichen, schreibt sie, und mit einer wunderschönen Sprache die Schwächen des Menschen festgestellt. Niemals habe er geschmeichelt, und er meinte, die Irrtümer seien nicht einfach deshalb anzunehmen, weil sie allgemein üblich geworden seien. Kurz gesagt, es geht nicht an zu sagen, eine Gewohnheit sei zu akzeptieren, weil sie allgemein üblich und gebräuchlich geworden ist, und der Täter wäre dadurch entschuldigt; wenn die Führer und Leiter des Volkes oder seine Gelehrten und Fachleute eine Anschauung verbreiten, sei diese nicht schon deshalb anzunehmen. Solche Unachtsamkeit sei dem Hüter nicht eigen gewesen. „Er hat die Wissenschaften von der Politik, von Kunst, Musik, Literatur und Sitte, die Medizin und die Sozialwissenschaft jeweils mit höchster Aufmerksamkeit verfolgt und hat viele ihrer Maßstäbe mit den Prinzipien der göttlichen Lehre verglichen“, schreibt sie, „und wie oft hat er sie mit diesen Lehren nicht in Übereinstimmung gefunden, ja ihnen sogar entgegengesetzt...“ (S. 303).


Die Geschichte lehrt durch Beispiele

Bekanntlich sind in der Geschichte Perioden der Vorherrschaft des Materialismus und der Gottlosigkeit häufig aufgetreten. Jedesmal endeten sie mit der Zerstörung der Grundlagen großer Staaten und Imperien, und [Seite 1253] immer geschah solches zu einer Zeit, da ein neuer göttlicher Gesandter die Menschen davor gewarnt hatte. Daher erinnert auch Shoghi Effendi in seinen Schriften an den Verfall des alten römischen Imperiums zur Zeit Christi. Der Historiker Sallust charakterisierte den Materialismus jener Zeit mit folgenden Worten: „Am baren Geld, nach dem der Pöbel und die reichen Spekulanten gleich gierig waren, sind die Ehre und Größe Roms, seine Rasse, seine Idee, zugrundegegangen....“ (Spengler, Jahre der Entscheidung, S. 63). Einer der ersten Gelehrten, die die Meinung aussprachen, daß am Ende jeder Kultur der Materialismus wiederkehrt, war der Deutsche Oswald Spengler, der zwischen materialistischer Zivilisation und Kultur unterschied. „Jetzt,“ schrieb er, „wo die Kultur am Ende ist, beginnt die Zivilisation, und das uralte Barbarentum, jahrhundertelang unter der Formenstrenge einer hohen Kultur verborgen und gefesselt, wacht wieder auf...“ (ebda. S. 13).

Nach den Bahá’í-Lehren waren es die Gesandten oder Offenbarer Gottes, die auftraten, wenn eine solche Periode der göttlichen Kultur oder Zivilisation sich ihrem Ende zuneigte und damit die tierischen Instinkte in der menschlichen Welt wieder überhand nahmen. Durch die Macht des Heiligen Geistes im Offenbarer war es stets möglich, die materialistischen Tendenzen der Zeit zu bannen und den geistigen Strömungen erneut Bahn zu schaffen; damit wurde dem weiteren Fortschritt des menschlichen Geistes der Boden bereitet und seine Entfaltung zu noch größeren Höhen als bis dahin ermöglicht, obschon im Auf und Ab der Zeiten die Gottlosigkeit und der Materialismus nach Jahrhunderten sich wieder Platz machten und für eine kleine Zeit die Oberhand gewannen. Eine solche Zeit erlebt die Welt heute, eine Welt, deren Offenbarer Bahá’u’lláh ist.

Die Erscheinungen dieses Zeitabschnittes sind dank der Forschung und den Ergebnissen der Wissenschaften ins Unerhörte verstärkt. Die Zeichen des Verfalls treten daher schärfer und klarer denn je zutage. Den Gelehrten unserer Zeit ist die Bedeutung eines Moses, Christus, Muhammad und Buddha verborgen geblieben, denn sie wollen es unternehmen, ungeachtet der Offenbarung Bahá’u’lláhs, allein mit Hilfe der Errungenschaften des materiellen und intellektuellen Fortschritts und des Studiums der Naturkräfte und -gesetze, des Auflösungsprozesses Herr zu werden. Indessen, während die Macht des Menschen über die äußere Natur des Menschen unendlich gewachsen ist, üben die Triebe und Kräfte seiner eigenen Natur in Gestalt von Aggressionen, Machttrieben, Leidenschaften und Begierden animalischer Herkunft weiterhin ihre Gewalt über ihn aus2).


Wege tiefer in das Chaos

Die genannten Verfallserscheinungen machen vor keinem Bereich halt, sei es Politik, Wirtschaft, Handel und Verkehr, soziales oder sittliches Leben. Insbesondere ist bei diesem Vorgang eine hartnäckige Tendenz zur Verschlechterung zu beobachten; die Verdorbenheit dringt vor bis in das Knochenmark des sozialen Lebens, ungeachtet der Anwendung vielgelobter und anerkannter technischer Mittel und wissenschaftlicher Erkenntnisse. Die wundervollen Erkenntnisse der Biologie, der Psychologie, Soziologie und Technik vermögen diesen fortschreitenden Prozeß nicht [Seite 1254] einzudämmen, geschweige denn rückgängig zu machen. Dennoch hat man eine Biotechnik, Psychotechnik und Soziotechnik entwickelt, will man an das Gen herankommen und es im Sinne der Erzeugung eines besseren Geschlechts manipulieren, um der Entwicklung eines Supergehirns durch künstliche Mutationen den Weg zu bereiten3).

Große Erwartungen werden auch an die Anwendung der Psychotherapie und der Tiefenpsychologie geknüpft; die Hoffnungen reichen bis zur Lösung des Problems von Krieg und Frieden. An dieser Stelle wollen wir nochmals Ruhíyyih Khánum zu Wort kommen lassen, die über die Haltung des Hüters zu solchen Fragen berichtet:

„Eines der Probleme und eine der Anschauungen, die voll Irrtümern stecken und die heute die Geister überall beherrschen, aber absolut gegen die Lehren Bahá’u’lláhs sind, liegt in der Auffassung, daß die Menschen für ihre Taten nicht verantwortlich seien und daß das, was sie tun, von Bedingungen und Ursachen abhängt, die im Laufe der Zeitereignisse oder in ihrem Lebenslauf stattgefunden haben, die also außerhalb ihres Vermögens und Machtbereichs liegen und sie zu ihren Handlungen veranlaßt haben. Der Hüter verlor dabei jedesmal seine Geduld, denn dies war genau gegen die Lehren Bahá’u’lláhs, der sagt: ‚Die Ordnung der Welt ruht auf zwei Säulen: Belohnung und Strafe‘. Sowohl der einzelne als auch die Völker und Gemeinschaften der Welt sind verantwortlich für ihre Taten und werden dafür zur Verantwortung gezogen werden... Natürlich gibt es Verhältnisse, die einen Einfluß haben, darüber besteht kein Zweifel; aber die... Lehren Bahá’u’lláhs gehen dahin, daß Gott dem Menschen Zeit und Kraft und Möglichkeit gibt, sich zu entscheiden. Wenn seine Taten gemäß dem Maßstab Gottes geschehen, werden sie ihre Belohnung finden, wenn er aber in seinen Taten seine Schwäche zeigt, folgt die Strafe... (S. 304). Aber in den Wissenschaften von der Seele, wenn Sie darauf aufmerksam werden, wie diese gehandhabt werden, werden Sie solch ein Prinzip nicht finden; was man hier findet, ist entgegen der Meinung der heiligen Offenbarer...“


Was ist die Ursache — wo liegt der Irrtum?

Die Problemstellung liegt, das ist klar ersichtlich, in den höheren Bereichen des menschlichen Lebens, im Gebiet des Sittlichen, der Moral, der Verhaltensweise des Menschen: Der Mensch könnte die Ergebnisse der Technik und der Naturwissenschaften ebenso zum Allgemeinwohl und für die allgemeine Sicherheit verwenden, wie er sie mißbrauchen kann, um seinen Ehrgeiz und seinen Machttrieb zu befriedigen, selbst um den Preis, daß dabei Millionen von Menschen, Städte und Dörfer zugrundegerichtet werden. Demnach liegt das Problem im Geistigen, und der Begriff „Geist“ wäre im Lichte der Bahá’í-Lehren zu erhellen.

Auf Grund der Evolutionstheorie sind fast alle Gelehrten und Denker darin einig, daß der menschliche Geist das Produkt eines Millionen Jahre dauernden Cerebrationsprozesses ist, wobei die Materie durch Verfeinerung und Höherentwicklung das menschliche Hirn und den menschlichen [Seite 1255] Geist hervorgebracht hat. Somit sei der menschliche Geist nicht ein Produkt der stoff- und raumlosen geistig-göttlichen Sphäre und demnach immateriell, nicht ein qualitativ Anderes, sondern nur ein quantitativ höher entwickelter tierischer Geist, der ebenso wie beim Tier aus der Natur stammt.

‘Abdu’l-Bahá lehnt diese Auffassung ausdrücklich ab und bringt zahlreiche Beweise dafür, daß der menschliche Geist, der „Homo sapiens“ im Gegensatz zum Pflanzen- und Tiergeist nicht materiellen Ursprungs ist. „Der Unterschied zwischen Tier und Mensch“, sagt ‘Abdu’l-Bahá, „liegt darin, daß der Mensch geistige Kräfte besitzt, deren das Tier beraubt ist; der Mensch weiß von Gott, während das Tier keine Kenntnis von Ihm hat; der Mensch erkennt die Wirklichkeiten der Dinge, das Tier aber ist unwissend und nachlässig. Der Mensch ist fähig, kraft seines Willens die verborgenen Wirklichkeiten der Dinge ans Licht zu bringen; das Tier aber hat keinen Anteil daran... Diese Fähigkeiten und Vollkommenheiten strahlen gleich Lichtstrahlen aus der Wesenheit des Menschen hervor. Die Religion Gottes fördert das Hervortreten dieser Fähigkeiten im Menschen...“

Wenn nun der menschliche Geist nicht materiellen Ursprungs ist, dann sind auch alle Bemühungen der Naturwissenschaften in dieser Richtung verlorene Zeit und Mühe, denn sie haben lediglich die Mechanismen, die Werkzeuge des Geistes, entdeckt, nicht aber den Geist selbst. Über die Beziehungen des Geistes zum Körper findet sich eine Stelle von Bahá’u’lláh in der Ährenlese (LXXXIII), wo Er sagt:

„Denke an die geistige Fähigkeit der vernünftigen Seele, mit der Gott das Ich des Menschen begabt hat! Prüfe dich selbst und beachte, wie deine Bewegungen und deine Ruhe, Wille und Absicht, Gesicht, Gehör, Geruchsinn, Sprachvermögen und was weiter noch mit deinen leiblichen Sinnen oder deinem geistigen Erkenntnisvermögen zusammenhängt oder sie überragt, eben dieser Fähigkeit entspringt und ihr sein Dasein verdankt! So eng ist dies alles mit ihr verknüpft, daß jeder einzelne Sinn seine Tätigkeit sofort einstellt und die Kraft, den Beweis seiner Tätigkeit zu geben, verliert, sobald seine Verbindung mit dem menschlichen Körper auch nur für einen Augenblick gelöst wird. Es ist ohne Zweifel klar und augenscheinlich, daß jedes der genannten Werkzeuge, um seinen Zweck erfüllen zu können, von dieser Fähigkeit abhängt und immer abhängen wird...“

Die Vervollkommnung der höheren Kräfte des menschlichen Geistes muß also von anderer Quelle her geschehen: durch den Geist selbst, der die Materie schafft und bildet. Nach den Lehren Bahá’u’lláhs ist die Religion Gottes die Ursache, die Kraftquelle, die die geistigen Fähigkeiten im Menschen erweckt und fördert. ‘Abdu’l-Bahá erklärte einmal dazu:

„Die Strahlen des Heiligen Geistes sind es, die das ewige Leben verleihen... Christus sagte: Alles, was aus dem Geist geboren ist, ist Geist... Hier ist unter Geist die religiöse Wahrheit zu verstehen.“

An anderer Stelle sagt Er, daß unter „Religion Gottes“ nicht die überlieferten Nachahmungen zu verstehen sind, die man pflegt und die man [Seite 1256] Religion nennt, sondern die wahre Grundlage der Religion, die göttlich ist, nicht menschlich (siehe auch „Payámi-Malakút“, Kapitel ‚Die Welt braucht die Strahlen des Heiligen Geistes‘, S. 7).

Der Verstand ist also nicht die einzige Kraft des menschlichen Geistes, sondern es liegen noch weitere schöpferisch-dynamische Kräfte in ihm verborgen. Ohne Vermittlung dieser Kräfte wäre der Intellekt nicht zur Entdeckung der Geheimnisse der Natur fähig. Alle wunderbaren Errungenschaften der Wissenschaften sind durch diese Kräfte ermöglicht worden. Nach den Lehren Bahá’u’lláhs erfährt der Geist eine weitere Entfaltung (und auch darin liegt ein grundsätzlicher Unterschied zum tierischen Geist), wenn er in den Erziehungsbereich des Heiligen Geistes gelangt und zum Geist des Glaubens wird (siehe Beantwortete Fragen). Erst indem die göttlichen Tugenden und Vollkommenheiten geweckt und sichtbar werden, tritt eine Umwandlung und Vervollkommnung ein. Seine vollendete Entfaltung und Offenbarung erfährt der Geist nach Bahá’í-Auffassung im „vollkommenen Menschen“, dem Offenbarer Gottes, bei dem noch weitere Eigenschaften und Attribute des Geistes sichtbar werden — wie beispielsweise die Unfehlbarkeit und das von Gott verliehene Wissen — von denen Erziehung und Fortschritt, Kultur und Wissen in der menschlichen Welt abhängig sind.

Dies ist, kurz gefaßt, der Begriff des Geistes in der Bahá’í-Religion. Diese Vorstellungen und Begriffe harren noch der gründlichen wissenschaftlichen Untersuchung. Es steht zu hoffen, daß dieses Feld bald ernst genommen und leidenschaftslos erforscht wird. Es ist das Feld der „göttlichen Zivilisation“, auf dem die sittlichen, ethischen, moralischen, kulturellen Werte gepflanzt und erzogen werden. Einheit, Liebe, Gerechtigkeit, Erkenntnis Gottes, Dienst an der Menschheit nennt ‘Abdu’l-Bahá vor allem anderen und führt besonders vier Punkte aus:

1. Einheit in der Schöpfung,
2. Einheit in der Rasse,
3. Einheit des Vaterlandes,
4. Einheit in der Politik;

das heißt, es sollten keine Bevorzugungen persönlicher, rassischer, vaterländischer und politischer Art Platz greifen (Khitábát S. 94).

Mit diesen kurzen Ausführungen ist festgestellt: Solange der Geist nicht durch den Heiligen Geist geweckt und erneuert ist, kann es keinen Frieden geben, weil der Mensch nicht umgewandelt ist, weil er nicht aus der Sklaverei seiner Natur, seines Selbstes, seiner Hingezogenheit zur Welt, befreit ist. Keine andere Macht als der Heilige Geist in einer neuen Ausgießung vermag diese Umwandlung zu bewirken, weder die überlieferten Religionssysteme noch nationale, politische oder philosophische Systeme, denn alle diese Mächte sind begrenzt und einander derart entgegengesetzt, daß sie zu Streit und Krieg Anlaß geben.

Was ‘Abdu’l-Bahá in seinen Reden und Schriften mit der „göttlichen Zivilisation“ meinte, bezieht sich auf die Grundlage jeder Religion, auf das Wort Gottes, das allein fähig ist, durch Lehren und Gesetze einen neuen Menschen und schließlich auch den wahren Frieden zu schaffen.

[Seite 1257] Dieser Gedanke wird verständlicher, wenn man bedenkt, daß die Natur an sich — (entgegen der Meinung vieler Gelehrter) — unvollkommen ist, „unvollkommen“ hier im Sinne von „nicht entfaltet“ gebraucht. Auch die Natur oder die Welt des Menschen ist demnach unvollkommen, denn abgesehen von den Eigenschaften, Vortrefflichkeiten und Qualitäten an sich, die naturgemäß und ohne Einfluß von außen in den Dingen liegen, sind auch andere Eigenschaften vorhanden, die größeren und höheren Dimensionen angehören, aber innewohnend und verborgen sind und erst durch die Wirkung des Heiligen Geistes entfaltet werden und in Erscheinung treten. Allen Bereichen der Existenz sind diese zweierlei Fähigkeiten eigen, ob es sich um die Stufe des Minerals, der Pflanze, des Tieres oder des Menschen handelt. Jene Fähigkeiten, die auf allen Stufen als Möglichkeiten vorhanden sind, können erst durch die Macht der Kultivierung und Erziehung hervorgebracht werden; sonst bleiben sie unvollkommen, d.h. unvollendet im Ding verborgen. Darum sagt ‘Abdu’l-Bahá, die Natur sei, entgegen der allgemeinen Meinung, unvollkommen:

„Wäre die Welt der Natur erleuchtet und vollkommen, dann bräuchten wir keine Erziehung, keine Schulen, keine Techniker, denn dann wäre sie vollkommen. Wir hätten keine Propheten nötig, denn dann wäre die Welt der Natur vollkommen, und wir hätten auch keinen Gott nötig. All das brauchen wir aber, weil die Welt der Natur doch unvollkommen ist“ (Khitábát S. 16).

Wenn die in der Welt des Menschen herrschenden Triebe und Leidenschaften, die Aggressionen und der Kampf ums Dasein überwunden werden sollen, müssen also die im menschlichen Geist verborgenen Fähigkeiten zuerst entdeckt, erzogen und entfaltet werden. Dies war in allen Zeitaltern die Aufgabe der Religion Gottes, und durch sie wurde die Grundlage für die göttliche Zivilisation geschaffen.

Die Einstellung der modernen Welt und der Gelehrten ist dieser Auffassung diametral entgegengesetzt: Man nimmt an, der Geist selbst entstehe aus der Materie; d.h. man müsse nur auf die Natur und die körperliche Substanz zurückgehen, dann sei die Vervollkommnung des Geistes durch die Vervollkommnung dieser materiellen Substanz zu erreichen, beispielsweise durch Manipulation der Gene. Die Fähigkeiten und schöpferischen Eigenschaften des Geistes werden ignoriert; stattdessen wird versucht, die materielle, animalische Welt zu stärken und zu manipulieren. Höchst merkwürdig sind die diesbezüglichen Aussagen des englischen Biologen D. Morris in seinem Bestseller „Der nackte Affe“. Er kommt zu der Auffassung, wenn es dem Menschen im Laufe der Jahrmillionen dauernden Kultur nicht möglich geworden sei, sich nach den zunehmend verstärkten, außerordentlich hohen Anforderungen zu richten, die die Fortschritte im Technischen an ihn stellen (und er habe sich noch immer seiner animalischen Natur unterworfen), dann sei es besser, wenn er seine Zivilisation so forme, daß er nicht dauernd mit den in ihm angelegten animalischen Bedürfnissen in Konflikt gerate (Morris, Der nackte Affe, S. 37/38, Knaur). Mit anderen Worten: Wenn wir nicht ‚das Tier in uns‘ beherrschen und Mensch werden können, dann schlagen wir eben den umgekehrten Weg ein und werden endgültig zum Tier! Abgesehen [Seite 1258] davon, daß dieser Vorschlag zu den Ergebnissen und Forschungen derselben technisch fortgeschrittenen Welt auf Schritt und Tritt in Widerspruch gerät, beweist er, daß der Autor von den Errungenschaften der hohen Kulturen in der menschlichen Geschichte offenbar wenig Kenntnis besitzt, Kulturen, die diesen Riesenschritt vom Tierzustand bis zum heutigen Menschen erst ermöglicht haben, und zwar nicht im Laufe von Jahrmillionen, sondern in etwa sechstausend Jahren. Es ist ihm anscheinend nicht bekannt, daß es nachweislich Perioden und Zeitalter gab, in denen wahre göttliche Kulturen die hervorragendsten Leitbilder der Menschlichkeit, der höchsten Ethik, des Wissens, der Loslösung von materiellen und animalischen Bedürfnissen, hervorbrachten. Er übersieht die Kulturen der jüdischen, christlichen, islamischen, indischen und iranischen Religionen, die, wie heute erst vereinzelt erkannt wird, den Anstoß und die Ursache für all das gegeben haben, worauf wir heute so stolz sind.

Nachdem diese Leitbilder auf geschichtlich feststellbaren Tatsachen beruhen, wäre es angebracht, wenn die heutige Wissenschaft auf ihre Wirkungen aufmerksam würde, selbst wenn Leitbilder und Wirkungen bisher nur in begrenzten Räumen, nur für Gruppen und einzelne Völker der Erde, sichtbar wurden. Auf jeden Fall müßte die Wissenschaft die Gegebenheiten, Fähigkeiten, Kräfte und Möglichkeiten studieren, die jene Kulturen ausstrahlen. Es wäre dann womöglich nur noch ein kleiner Schritt zu der Wahrnehmung, daß dieselben Kräfte auch heute in der Welt am Werke sind und in der Bahá’í-Gemeinschaft bereits das Modell einer neuen Weltordnung liefern.

Man weiß heute nicht mehr, daß Grundlage der Kulturen in Wirklichkeit die Religionen Gottes waren, daß am Anfang das schöpferische göttliche Wort eine geistige Zivilisation hervorgerufen hatte. Es ist ebenso unbekannt, daß diese geistigen Schöpfungen einem ähnlichen Werden, Wachsen und Vergehen unterworfen sind wie die Dinge der materiellen Welt. Wie in der Natur auf die kalte Winterzeit stets Frühjahr und Sommer folgen, so folgt in der geistigen Welt der Eiseskälte einer materialistischen Periode der göttliche Frühling, indem eine neue Offenbarung ihr lebenspendendes Wasser, das Wort Gottes, über die Menschen ausgießt. Wir wollen hier noch einmal auf die Worte ‘Abdu’l-Bahás zurückkommen, die am Anfang dieser Ausführungen stehen: „Obschon.... offensichtlich klar geworden ist, daß die westliche Welt große Fortschritte in der materiellen Zivilisation erworben hat, so ist doch die göttliche Zivilisation nahe daran, vergessen zu werden...“

Indem ‘Abdu’l-Bahá auf die geistige, göttliche, umwandlungsfähige Kraft hinweist, die nur in den Offenbarern Gottes wirksam und für den Zivilisationsprozeß unbedingt erforderlich ist, spricht Er an anderer Stelle über diese Kraft in Christus: „Christus hat alle diese verschiedenen Völker geeinigt; das hat Er nicht mit Hilfe der nationalen Kraft, nicht im Namen des Vaterlandes, nicht durch politische Macht vollbracht, sondern kraft des göttlichen, des heiligen Geistes. Eine Einigung ist also nur durch diese Mittel möglich; im anderen Falle würden die Gegensätze und der Kampf bis in Ewigkeit fortdauern....“

[Seite 1259]

Die Ausgießung des Heiligen Geistes

Wenn die Verwirklichung dieser großen Taten durch die göttliche Kraft, die Strahlen des Heiligen Geistes und die Gnadengaben Gottes bedingt ist, könnte die Frage entstehen: Von wo sollen wir dies alles holen?

„Eine solche Frage könnte tatsächlich entstehen“, sagt ‘Abdu’l-Bahá, „deshalb sagen wir nur: Gott ist ein ewiger Gott — Er ist kein ‚neuer‘ Gott, das Reich Gottes ist ein ewiges Reich, kein neues Reich. Dieses Reich ist nicht sechstausend Jahre alt. Betrachten Sie dieses unendliche Weltall: So ein großes Unternehmen, so ein machtvolles Reich ist nicht das Ergebnis von ein paar Zeitaltern. Die Namen und Eigenschaften Gottes sind ewig. Die Namen und Eigenschaften Gottes an sich fordern die Existenz des Seienden, verursachen die Schöpfung, sie sind die Ursache für die Entstehung der Wirklichkeiten der Dinge. Wir sagen: Gott ist der Schöpfer, der Schöpfer aber bedingt ein Geschöpf, und wenn keine Geschöpfe da sind, wodurch kann dann die Schöpfungskraft Gottes sich bewahrheiten? Wir sagen: Gott ist der Ernährer. Wenn Er keine Nahrung gibt, wie kann Er dann ein Ernährer sein? Wir sagen: Gott ist der Herr. Wenn keine Untertanen sind, wie kann dann der Herr bewiesen werden?... Diejenigen, die sagen: Es war eine Zeit, wo Gott weder Untertanen noch Heerscharen noch Geschöpfe hatte, entthronen in Wirklichkeit Gott... Kurz gesagt: Seid der Gnaden Gottes und Seiner frohen Botschaft sicher! Der Gott, der die früheren Völker mit Seiner Güte und Gnade bedachte, jener Gott, der in vergangenen Zeiten den göttlichen Geist verschenkte, jener Gott, der den ewigen Überfluß gab, dieser Gott ist auch mächtig, jederzeit die Strahlen des Himmelreichs auf die menschliche Welt herniederfließen zu lassen... Wenn schon in den materiellen Dingen der Überfluß Gottes ununterbrochen vorhanden ist, wie kann man dann behaupten, daß jener göttliche Überfluß, jene Kraft des Heiligen Geistes, jene ewigen Gnadengaben abgebrochen seien? Es ist Klar, daß die Wirklichkeit der Gnadengaben größer ist als diejenige der materiellen Welt... Wenn wir die Dinge betrachten, sehen wir, daß jedes Ding durch alle anderen Seinsformen wandert... (Damit meint ‘Abdu’l-Bahá, daß das Mineral ins Pflanzenreich, von dort in das Tierreich, aus dem Tierreich in das Menschenreich gelangt; mit der Zersetzung des menschlichen Körpers beginnt der Kreislauf von neuem)... So strömt zum Beispiel der Ätherstoff durch alle Dinge hindurch. Überall, wo Wellen entstehen, ist dies durch die Wellenbewegung des Ätherstoffs bewirkt, und dann sieht man das Licht. Genauso ist es mit den Gnadengaben Gottes: Sie strömen durch alle Dinge, sie haben weder Anfang noch Ende. Überall, wo die Bereitschaft vorhanden ist, wird jener unbegrenzte Überfluß erscheinen...“ (Khitábát, S. 96/97).

In unserer Zeit bedeutet diese „Bereitschaft“ das Erreichen der Stufe der Reife des Menschen. „Alle erschaffenen Dinge haben ihren Grad oder ihre Stufe der Reife. Der Zeitpunkt der Reife im Leben eines Baumes ist die Zeit seines Fruchttragens... Der Mensch erreicht seine Reife, wenn [Seite 1260] das Licht seines Verstandes die größte Kraft und Entfaltung erlangt...“ (‘Abdu’l-Bahá, zitiert in „Die Entfaltung der neuen Weltzivilisation“). Alles, was der Mensch bis jetzt erreicht hat, gehört der früheren Begrenztheit und Vorerziehung an. „Dann aber“ sagt Er weiter, „muß er von neuen Tugenden und Kräften, von neuen sittlichen Wertmaßen, von neuen Fähigkeiten erfüllt sein“ (ebenda). Erst wenn diese Fähigkeiten des Geistes bewußt und evident geworden sind, wird der Mensch eine völlige Umwandlung und Vergeistigung erfahren. Erst das Erreichen dieser Stufe, die konform mit den Gegebenheiten und Beziehungen der Zeit gestaltet ist, wird die Bereitschaft schaffen, von der ‘Abdu’l-Bahá sagt, daß sie den Funken des Heiligen Geistes aufleuchten läßt und seinen Beistand anzieht. Erst dann kann dem Leidensweg der Menschheit ein Ende gemacht und, im Verein mit der schon vorhandenen technisch-materiellen Zivilisation, die Welt in das „Paradies Abhá“ umgewandelt werden, das durch die Offenbarung Bahá’u’lláhs errichtet wird.

Es ist also eine Bereitschaft, eine Zusammenballung der Elemente der Reife im Menschen und in allen Bereichen seines Lebens erforderlich. Dazu gehört eine gewisse Periode der vorwiegend wissenschaftlich durchgeführten Forschung im Bereiche der Offenbarungen Gottes, d.h. der gemeinsamen Struktur aller Religionen, ihrer Geschichte, Lehren, Gesetze und heiligen Bücher. Eine isolierte Wissenschaft wie die Theologie, die begrenzt, nach Religionen und Bekenntnissen getrennt, fern von jeder Objektivität und Toleranz gehandhabt wird, kann in einer Zeit ungeheurer Wandlung der Wissenschaftlichkeit nicht mehr genügen. Die heutige Zeit verlangt ein Zusammenfließen aller Theologien, damit wie in allen anderen wissenschaftlichen Disziplinen ein sämtliche Religionen umfassendes, einheitliches Wissen begründet werden kann. Dieses Prinzip ist im Kitáb-i-Iqán von Bahá’u’lláh niedergelegt.


——————————

Unsere Zeit schlägt sich in Sinnlosigkeiten herum, wie ein gefallenes Pferd in seinen Strängen. Durch äußere Maßnahmen und durch neues Organisieren sucht sie die schweren Probleme, mit denen sie es zu tun hat, zu lösen. Umsonst. Auf die Füße kommt das Pferd erst wieder, wenn man es abschirrt und beim Kopfe aufrichtet. Auf die Füße kommt unsere Welt erst wieder, wenn sie sich beibringen läßt, daß ihr Heil nicht in Maßnahmen, sondern in neuen Gesinnungen besteht.
Albert Schweitzer


(Kultur und Ethik, 1923, Kap. XVII)

——————————


[Seite 1261] ‘Abdu’l-Bahá erklärte, wenn die Gelehrten und Wissenschaftler nur einen Bruchteil jener Zeit, die sie für die Erforschung der Natur aufbringen, dem Suchen und der Forschung im Bereiche der göttlichen Kultur widmeten, dann würde die Wahrheit alle vereinen und einen gemeinsamen Boden für die Einigung der Völker und der Welt bilden.

Und tatsächlich: Wenn hier rein wissenschaftliche Forschungsmethoden angewendet würden, könnte man des Erfolges gewiß sein; aber die bisherigen Forschungen in dieser Richtung haben nicht einmal in der Metaphysik der verschiedenen philosophischen Schulen ein einheitliches Ergebnis erbracht. Auch Soziologen und Religionswissenschaftler bewegen sich nur am Rande des Stoffes, so daß das Problem im Kern unberührt bleibt. Andererseits stehen dem modernen Forscher Mittel und Wege zur Verfügung, das Gebiet der göttlichen Zivilisation und ihrer Offenbarungen an Hand der geschichtlichen Religionen einer exakten Untersuchung zu unterziehen.

Wenn der einschlägige Beitrag hinzugezogen würde, der aus der Offenbarungsquelle Bahá’u’lláhs stammt und von ‘Abdu’l-Bahá als ‚göttliche Philosophie‘ oder ‚göttliche Weisheit‘ bezeichnet wurde — ein Beitrag, der viele Bände umfaßt und die genannten Probleme und Fragen religiösen und wissenschaftlichen Ursprungs von einem neuen, einmaligen Standpunkt aus behandelt — dann könnte das Problem des Zusammenwirkens zwischen göttlicher und materieller Zivilisation gelöst, die Harmonie hergestellt und die Grundlage für eine neue Welt und einen neuen Menschen gelegt werden.

In diesem Sinne sprach ‘Abdu’l-Bahá:

„Genau so eifrig, wie ihr euch um den Fortschritt in der materiellen Welt bemüht, sollt ihr euch zu weiterem Fortschritt im Geistigen anstrengen. Ebenso, wie ihr den Körper pflegt und wichtig nehmt, sollt ihr es mit dem Geist halten: Wenn in der menschlichen Gestalt kein Geist ist, was nützt sie dann? Der Körper ist tot! Genauso ist der Körper der Welt. Ist sie des geistigen Fortschritts beraubt, so ist sie nichts anderes als ein Körper ohne Seele...“ (Aus dem Persischen, Payami-Malakút, Kapitel „Strahlen des Heiligen Geistes“, S. 7)


——————————

1) „... Die Spaltung zwischen Wissenschaft und Weisheit ist eine nachträgliche abendländische Erfindung... im Gegensatz zu Griechenland... Ehe sie nicht wieder dialektisch abgebaut ist, ehe der Mensch nicht wieder gelernt hat, das Wissen über sich selbst mit dem Wissen über die Natur in Einklang zu bringen, wird die Krise nicht gemeistert werden... Wissenschaft ohne menschliches Ethos entartet in Barbarei...“ (S. 177).
2) J. Gebser schreibt in „Abendländische Wandlung“ S. 55, Ullstein Berlin 1963: „Dem Menschen ist heute gegeben, auf der Erde Prozesse auszulösen, welche denen, die auf der Sonne stattfinden, entsprechen. Die Explosion einer Atombombe erzeugt Lichtstärken und Wärmegrade, die sich jener der Sonne nähern; der Mensch ist rein physisch über die Erde hinausgewachsen und steht im Begriff, das Planetensystem zu sprengen...“
3) Aber solche Geister wie „Bergson, Carrels, Klages und Theodor Lessing waren immer der Meinung, der menschliche Intellekt vermöge wohl mathematisch-technische Gebilde zu entwerfen und zu beherrschen, er könne sie aber nicht mit der Komplexität des Lebens, der Feinheit des gesellschaftlichen Netzes, der Bedürfnisse der Seele in Einklang bringen...“ (Heinrich Schirmbeck, Ihr werdet sein wie die Götter, S. 196)


[Seite 1262]



Das wirre Muster[Bearbeiten]

Auf einer Reise durch Burma bat A. Q. Faizi eine chinesische Bahá’í-Familie, die dort lebt, ihm aus dem Schatz der Erinnerungen an Konfuzius, der im Volke lebt, zu erzählen. Die folgende Geschichte war eine der interessantesten.

D. Red.


Als Konfuzius ein junger Mann im stürmischen Alter von 20 Jahren war, geriet er in die Gesellschaft junger Leute, die dem Alkohol und dem Opium frönten. Seine Mutter war über diese Entwicklung sehr betrübt. Sie war eine wunderbare Frau und verstand es, herrliche Stoffe mit feinen, geschmackvollen Mustern zu weben. Eine solche kostbare Arbeit hatte sie vor kurzem begonnen und bis zu einem Drittel vorangebracht. Eines Tages sah Konfuzius, als er nach Hause kam, daß der Stoff zu Ende gewebt, aber völlig verdorben war. Die Muster waren wirr, die zarten Blumen verzerrt, das Gewebe unregelmäßig und ohne Festigkeit. Konfuzius war bestürzt und fragte: „Liebe Mutter, warum hast du diesen wunderschönen Anfang so häßlich zu Ende geführt?“ Die Mutter antwortete: „Mein lieber Sohn, dies ist das Muster deines Lebens. Meine Liebe hat dich zu diesem wunderschönen Muster am Anfang erzogen. Dann gingst du weg in schlechte Gesellschaft und gabst dich den Lastern hin. Siehe selbst, was aus dem schönen Muster geworden ist und zu welchem Ende das Böse führt.“ Konfuzius begriff die liebevolle Lehre seiner Mutter und änderte sein Leben.



Neu auf unseren Büchertisch[Bearbeiten]

Manés Sperber, „Alfred Adler oder das Elend der Psychologie“, Verlag Fritz Molden, Wien/München/Zürich 1970, 302 S., Leinen DM 26,—.

Der Autor kam mit zehn Jahren nach Wien und war noch keine sechzehn, als er beim Besuch eines Kurses der Volkshochschule den damals einundfünfzigjährigen Alfred Adler kennenlernte. Er schreibt: „Auf der schwarzen Tafel zeichnet ein untersetzter Mann einen kreideweißen Strich, er zieht ihn sachte von unten nach oben. Mit einer Entschiedenheit, als ob er mit diesem Strich einen unwiderleglichen Beweis lieferte, fügt er hinzu: ‚Sie sehen, das ist also das seelische Leben; alles Seelische ist eine Bewegung, muß als eine Bewegung von unten nach oben verstanden werden.’ Es mag sein, daß nicht wenige der jungen Zuhörer Adlers nicht zuletzt wegen dieses Wortes wiederkamen: Bewegung. Es war einfach und doch ein Schlüsselwort ohnegleichen.“

Sperber beschreibt, wie Adler besonders auf die jungen Leute, die von ihm lernen wollten, so ermutigend wirkte, daß „jeder selbst nach einem ganz kurzen Gespräch mit inm gleichsam einen neuen Glauben an sich selbst davontrug... Man wußte auf einmal, daß man von sich selbst ungleich mehr fordern, mehr aus sich ‚herausholen‘ könnte, als man es [Seite 1263] vorher je für möglich gehalten hätte.“ „Seine Art befähigte ihn, auch dem unansehnlichsten Gesprächspartner das Gefühl ... der Gleichwertigkeit einzuflößen.“ Und noch ein anderes beeindruckte an Adler: daß er „... uns im gleichen Atemzug... über die unfaßliche Nichtigkeit und über die unübertreffliche Größe des Menschen“ belehrte.

Sperber war nicht nur der Schüler Adlers, sondern wurde auch sein Mitarbeiter, der bereits mit zwanzig Jahren sein erstes Buch schrieb: „Alfred Adler und seine Lehre“.

Schon nach sechs weiteren Jahren trat der Bruch in der Freundschaft zwischen Adler und Sperber ein. Sperber lehrte inzwischen in Berlin die Individualpsychologie Adlers an verschiedenen Fach- und Hochschulen. Dieser Bruch, den Sperber sachlich zu schildern versucht, ist einer der Hauptanlässe für seine nicht ausreichend optimistische Einstellung: „Das Elend der Psychologie“. Was er meint, ist das Elend der Psychologen, das heißt die Enttäuschung darüber, daß nach seiner Ansicht Adler infolge einer persönlichen Unzulänglichkeit den Bruch herbeigeführt hat.

Wie sehr auch Sperber darunter gelitten haben mag, in diesem Buch nimmt das Persönliche keinen allzugroßen Raum ein, dafür umsomehr die Lehren der Individualität in ihrem sozialen und soziologischen Zusammenhang. Die Schilderung der Lehre Adlers, die für jeden modernen Menschen von großer Bedeutung ist, erfolgt in einzigartiger Weise, immer im Hinblick auf unsere gegenwärtige Zeit. Jeder kann daraus sehr viel zum Verständnis des heutigen Menschen, der modernen Zeit entnehmen. Es ist ein ungeheuer aktuelles Buch, das alles, nur nicht einseitig ist.

Die Individualpsychologie wird in ihren Hauptprinzipien geschildert: Der Mensch ist eine zielgerichtete Persönlichkeit. Sein Denken, Glauben, Fühlen, Ahnen und Handeln sind auf Ziele gerichtet, die ihm allerdings meist nicht genügend bewußt sind. Jeder strebt der bestmöglichen Entfaltung der eigenen Kräfte und Fähigkeiten, dem Ziel der Vollkommenheit zu, ob er es weiß oder nicht, ob er es will oder nicht. (Adler nannte Gott die „glänzendste Manifestation des Zieles der Vollkommenheit‘“)

Ein weiteres Ziel ist das menschliche Bestreben, sich zugehörig zu fühlen, seinen Platz zu finden.

Außer diesen positiven gibt es eine Unzahl von negativen Zielen. Der Mensch ist ein soziales Wesen, das auf andere angewiesen ist (Erziehung!) und für andere eine Mitverantwortung trägt. Damit rückt der Begriff des Gemeinschaftsgefühls, das sinngebend für das Leben ist, in den Vordergrund.

Alle Menschen sind grundsätzlich sozial gleichwertig, das heißt, man sieht im anderen nicht den Konkurrenten, sondern den Mitmenschen, vor dem man Achtung hat.

Der Mensch ist eine Ganzheit, eine Einheit.

Der Mensch ist ein Entscheidungen treffendes Wesen, wenn sich auch die meisten Entscheidungen nicht zur bewußten Ebene erheben. Damit ist der Mensch für sein Verhalten und Tun verantwortlich. Seine Entscheidungen trifft der Mensch aufgrund seiner relativen Freiheit in der [Seite 1264] Bildung seiner Meinung. Tatsachen sind zweitrangig. Der Mensch „macht“, im wahrsten Sinn des Wortes, seine Erfahrungen selbst.

Die Individualpsychologie ist keine der üblichen Besitzpsychologien, sondern eine Gebrauchspsychologie: Es ist nicht so wichtig, was für Eigenschaften und Möglichkeiten der Mensch besitzt, bzw. was er von der Natur mitbekommen hat und was er ist, sondern wesentlich ist, wie und wozu er das, was er ist und das, was er hat, gebraucht.

Die Erkenntnis der ungeheuren Kraft unserer Erwartungen (unseres Glaubens) führt zum Optimismus der Individualpsychologie. Ziel der Individualpsychologie ist, durch neue, lehrbare Methoden der Erziehung zu größerer Einsicht und Bewußtheit und zum Ablegen der Vorurteile, zur Synthese zwischen Persönlichkeit und Gemeinschaft, zu verstärktem Wirklichkeitssinn, Verantwortlichkeit und Ersatz der latenten Gehässigkeit durch gegenseitiges Wohlwollen zu verhelfen.

Sperber arbeitet klar heraus, daß es Adler nicht um den ihm von seinen Gegnern unterstellten „Willen zur Macht“ ging, den Adler nur als eine von tausend möglichen Neuroseformen ansah, sondern: „Weitblickend und scharfsichtig erfaßte der Fünfzigjährige sodann, was die Psychologie, die er meinte, werden und was sie zustandebringen könnte und was Psychologen anstreben mußten — bis zu jener vielleicht ganz nahen Zukunft, ‚die nur eines kennen wird: Erziehung‘.“ Außerdem: „Adler bekannte sich (im Gegensatz zu anderen Psychotherapien, ganz besonders aber zu der von Freud) zur erzieherischen Funktion des Psychotherapeuten, dazu, daß dieser seinem Patienten aktiv bei der Selbsterziehung, das heißt bei der Umerziehung seiner selbst, helfen muß.“

Die heutige psychoanalytische Therapie wird der Adlerschen immer ähnlicher. „Man darf hier von einem immensen Sieg der Individualpsychologie sprechen, den Adler vorausgesehen hat; er hat aber auch vorausgesagt, daß Jahrzehnte vergehen würden, ehe die Psychoanalytiker es zugeben würden.“

Das Buch von Sperber ist auch deshalb für den denkenden Menschen unserer Zeit von ausschlaggebender Wichtigkeit, weil es im Rahmen der Adlerschen Lehre Aufschluß gibt über Erscheinungen der Gegenwart, die jeden angehen: Schuldgefühle, Angst, Depression, Aggression, Zusammenbruch der Autorität, Auswirkungen einer schrankenlosen Sexualität sowie des Kampfes zwischen den Generationen und den Geschlechtern. Im letzteren passiert Sperber allerdings ein Denkfehler, denn der sogenannte „männliche Protest“ (bei der Frau ihre Rebellion gegen die Unterlegenheit ihrer Geschlechtsrolle, beim Mann seine Angst, die ihm unterstellte Überlegenheit seiner Geschlechtsrolle nicht durchhalten zu können) wird zur Zeit nicht geringer, sondern wirkt sich durch die zunehmende Demokratisierung des Privatlebens immer stärker aus.

Was das Problem Autorität und Freiheit angeht, ist Sperber etwas zu allgemein, weil er nicht genügend zwischen äußerer und innerer Freiheit unterscheidet und auf der anderen Seite nicht ausreichend aufzeigt, daß die Individualpsychologie nur die Autorität einer Einzelperson ablehnt, [Seite 1265] dagegen die Autorität der Wirklichkeit, der Ordnung, des Lebens, der Gemeinschaft durchaus anerkennt und für notwendig hält.

Ein weiterer kleiner Hinweis: Als ursprünglicher Marxist ist Sperber vielleicht etwas voreingenommen, wenn er den Verzicht auf Privateigentum preist und die Verwirklichung der Idee des Kibbuz in Israel als ungefährdet ansieht. Denn gerade die Problematik des Verzichts auf Privateigentum zeigt die Schranken dieser Idee und hat schon andere Lösungen, wie z.B. die Siedlung Shave-Zion usw. hervorgebracht.

Solche Dinge mindern jedoch nicht den Wert des Buches, genau so wenig wie das größte Problem, an dem letztlich nicht nur Adler selbst, sondern auch Fritz Künkel und Viktor Frankl ebenso wie Sperber selbst, scheitern, der Problemkreis Tod, Sinn des Lebens, Religion, Gott. Adler und Sperber scheitern daran, daß sie die geistige Dimension, den Glauben, die Religion nicht einbeziehen konnten, Künkel und Frankl scheitern, weil sie den folgeschweren Unterschied zwischen Religion und Kirche nicht gesehen bzw. verstanden haben.

Sperber beendet für sich selbst diesen Problemkreis mit einer gewissen Trauer und einer immer wiederkehrenden Hinwendung zum Problem der Einsamkeit und stellt damit letztlich zwei der wesentlichen individualpsychologischen Begriffe, den Optimismus und das Gemeinschaftsgefühl, in eine Art Fragwürdigkeit. Und in diesem Punkt sieht er auch Adler nicht ganz richtig, wenn er ihn als entschieden ungläubig, ja total glaubenslos schildert. Allerdings berichtigt Sperber diese Aussage etwas: „...daß in Adlers späten Schriften eine andere Stellung zum Vorschein kommt, ein Wille zum Verständnis, vielleicht gar eine Hinneigung zum Glauben.“

Und zum Schluß schreibt Sperber: „In den letzten Jahren seines Lebens hatte er (Adler) begonnen, die Frage nach dem Sinn des Lebens neu zu stellen. Damit räumte er dem Glauben und der Metaphysik einen viel breiteren Platz ein, als er es, etwa zehn Jahre früher, für möglich, geschweige denn für nötig gehalten hätte... Wer wollte sagen, ob ihn diese zum Teil neuen Erwägungen über seinen gewohnten Bereich hinausgeführt und wohin sie ihn gebracht hätten? Wer wollte ermessen, ob der Siebenundsechzigjährige mit seinem unverminderten Elan nicht einen neuen Ausbruch ins Freie gewagt hätte? Jenen Ausbruch, mit dem ein Mensch seinem Leben die zumeist hoffnungslos ersehnte, zusätzliche Dimension verleiht, ohne die das Fragment, das unser Dasein jedenfalls bleiben muß, sich gar häufig zu einem zerschlagenen, zerfallenen Stückwerk degradiert.“

Adlers eigene Stellungnahme zur Religion möge aus Worten ersichtlich werden, die er vier Jahre vor seinem plötzlichen Tod geschrieben hat: „Fehlt der materialistischen Anschauung das Leben bedeutende Ziel, so der religiösen — die in diesem Punkt weit voraus ist — der kausale Unterbau. Gott ist nicht wissenschaftlich erweisbar, er ist ein Geschenk des Glaubens“.

Erik Blumenthal


[Seite 1266]



„Maßstäbe für die Zukunft. Neue Aspekte christlicher Ethik in einer veränderten Welt“, hgg. von Hans-Joachim Girock, Furche-Verlag H. Rennebach KG, Hamburg 1970, 138 Seiten, kart. DM 10,80.

Aus einer Sendereihe des Südwestfunks hervorgegangen, bietet diese Broschüre aufschlußreiche Überlegungen einiger Politiker, Hochschullehrer und Journalisten, vorwiegend aus dem protestantischen Bereich. Prof. Ernst Fuchs, Marburg, behandelt das „Doppelgebot der Liebe“ zu Gott und zum Nächsten, Klaus Lefringhausen die christliche Verantwortung vor der Entwicklungspolitik. Martin Schröter kommt mit dem „Zwang zum Frieden“ zu dem Ergebnis, daß „der Frieden der Zukunft kein Staaten-, sondern ein Gesellschaftsfrieden sein wird“ (S. 39). Konrad Jutzler versucht eine christliche Ethik des Informationswesens, ohne in allgemeine Fragen der Wissensvermittlung und der Erziehung hinein zu erweitern. Bundespräsident Heinemann spricht Gelassenheit und Offenheit als die wichtigsten christlichen Tugenden für den Politiker an; denjenigen, die umfassende neue Vorstellungen entwickeln, bringt er Anerkennung entgegen, auch wenn er selbst der Nüchternheit und der Taktik der kleinen Schritte zuneigt. Siegfried Keil, Universität Marburg, sieht die „Familie im sozialen Wandel“ und ist dabei großfamilienähnlichen Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaften nicht abgeneigt, selbstverständlich bei Aufrechterhaltung der „Lebenseinheit Vater — Mutter — Kind als Keimzelle menschlichen Lebens“ (S. 82). Karl Horst Wrage geht bei der „Beziehung der Geschlechter“ mit überlieferten christlichen Vorstellungen ins Gericht und betont die Freiheit der Entscheidung. Prof. Hans-Eckehard Bahr, Marburg, sieht den Problemkreis „Arbeit und Freizeit“ unter dem Aspekt der nach wie vor bestehenden Entfremdung, die aufzuheben eine „Revision der gesamten Erziehung“ und eine „Änderung der bisherigen Machtverhältnisse“ (S. 108) erforderlich macht. Seine Ansicht, „das Schreckgespenst beschäftigungsloser Massen“ blockiere eine technisch bereits mögliche Automation in weiten Wirtschaftsbereichen, ist ökonomisch absurd. „Gut ist, was Zukunft hat“, postuliert Vilma Sturm von der FAZ-Redaktion; das Prinzip Hoffnung sei zu lange das Aschenputtel unter den drei christlichen Kardinaltugenden gewesen; Teilhard de Chardins Kosmologie, aber auch der Alte Bund der Juden mit ihrem Gott — ein Bund, ein „Vertrag ist auf Zukunft bezogen“ (S. 115) — eröffnen neue Perspektiven. Mit einer Betrachtung über die Luthersche „Freiheit eines Christenmenschen“ beschließt Prof. Walter Kreck, Bonn, die Sammlung: „Und doch ist uns heute nichts so nötig wie die Stimme einer Vernunft, die nicht von egoistischen Gruppeninteressen oder verfestigten Ideologien diktiert wird“ (S. 132).

Das alles ist beachtlich, auch wenn durch die Bank das Wichtigste fehlt: die klare, umfassende Ordnungssvorstellung. Sie ist in 2000 Jahren noch nie so recht die Sache christlicher Denker gewesen. Von schwärmerischer Liebe zu Gott, zu Jesus und zum Nächsten erfüllt, hat man das harte Brot des Gesetzes und der Ordnung gern andere, weniger empfindliche Seelen brechen lassen, oder man hat die christliche Liebe beiseitegelegt, wenn man an wirtschaftliche und politische Entscheidungen heranging. Hier, im Mangel an Liebe zu den gesellschaftlichen Strukturen, liegt die [Seite 1267] christliche Ursünde. Durch die Überbetonung des Prinzips der Liebe gegenüber demjenigen der Gerechtigkeit, seinem notwendigen Pendant, durch die monomane Ausrichtung auf den persönlichen Glauben an den einzigen Sohn eines persönlichen Gottes hat man seit je versäumt, klare Vorstellungen von transzendenten, universalen Werten zu entwickeln und daraus eine Ordnung — die ja immer eine Prioritätsskala von Werten ist — abzuleiten. Krisen und Kriege werden wie Naturkatastrophen hingenommen; der Gedanke, daß sie einen erzieherischen Zweck im Heilsplan Gottes erfüllen könnten, wird nicht gedacht. All dies ist ein profunder Mangel an „Trachten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit“ (nicht „Liebe!“ Matth. 6, 33), wie es von Jesus als umfassende Pflicht des gläubigen Menschen vorgeschrieben worden ist.

Vilma Sturm spürt am Rande ihrer Überlegungen den geistigen Strukturen des Alten Bundes der Juden nach, aber sonst fühlt sich keiner der zehn prominenten Verfasser bemüßigt, über den christlichen Bereich hinauszudenken, zum Beispiel in den nachchristlichen Islam hinein, der zu unserer abendländischen Kultur mindestens ebenso viel beigetragen hat wie das Christentum selbst. Jeder beklagt das Versagen der christlichen Führung und Gemeinde vor den großen Problemen der letzten 200 Jahre, aber keiner sieht sich zu der Frage veranlaßt, ob das christliche Verständnis der Welt wirklich die einzig mögliche Grundhaltung ist. Fast jeder Verfasser bringt Wiederkunftshoffnungen zum Ausdruck, einzelne weisen sogar auf die apokalyptischen Züge in der Gegenwartskrise hin, aber keiner geht dem Gedanken nach, ob sich diese Wiederkunft nicht schon ereignet haben könnte und ob die Gegenwartskrise nicht gar eine kritische Phase der Anpassung an den neugeoffenbarten göttlichen Willen ist.

Die Christen müssen noch viel lernen, bevor sie richtig lernen können. Sie sollten weniger basteln und puzzeln und mehr suchen! Daß derjenige, der sucht, gewiß finden wird, ist uns allen schon seit zwei Jahrtausenden verheißen.

P.M.



George Lichtheim, „Ursprünge des Sozialismus“, Das moderne Sachbuch — dms —, Band 86, Bertelsmann Sachbuchverlag, Gütersloh 1969, 304 Seiten, Leinen DM 15,—.

Oft erhebt sich der Wunsch nach einer allgemeinverständlichen Einführung in die geistigen Grundlagen des Marxismus. Hier liegt ein durchdachtes Werk dieser Art vor, das von der ideengeschichtlichen Seite her vorgeht. Professor Lichtheim gilt als einer der bedeutendsten Kenner des Sozialismus. Deutscher Herkunft, emigrierte er nach England und lehrte zeitweilig an verschiedenen amerikanischen Universitäten.

Von der Französischen und der Industriellen Revolution ausgehend, zeigt Lichtheim die Ursprünge des marxschen Denkens im französischen Sozialutopismus, der englischen Wirtschaftswissenschaft und der idealistischen deutschen Philosophie. Was Marx daraus bereitet hat, feiert der Verfasser trotz aller klar dargestellten Widersprüche als eine Synthese. [Seite 1268] In seiner eigenen Kritik ist Lichtheim selbst stark der klassischen Philosophie verhaftet. Wenn er neuere Kulturphilosophien, den Strukturalismus oder gar religiöse Kategorien verarbeitet hätte, wären viele schiefliegende Pauschalierungen („Ist ein philosophisches System umfassend, dann ist es statisch, ist es kritisch, ist es nicht länger mehr total“, S. 206; „die Geschichte wiederholt sich nicht“, S. 227) zu vermeiden gewesen. Bei einem der größten deutschen Verlagshäuser dürften nicht so viele Druck- und Übersetzungsfehler vorkommen: Lasalle sprach nicht von dem „eisernen Gesetz der Löhne“ (S. 186), sondern von einem „ehernen Lohngesetz“, und Moses Heß war, zwei Generationen vor Erfindung der Glühbirne, sicher kein „geborener Elektriker“ (S. 197), sondern ein Eklektiker. Sehr wertvoll sind für jeden Studenten die ausführlichen Anmerkungen und die kritischen Literaturhinweise.

pmh.




——————————

Die „BAHA’I-BRIEFE“ werden vierteljährlich herausgegeben vom Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í in Deutschland e. V., 6239 Langenhain, Kohlgrubenstraße 3. Alle namentlich gezeichneten Beiträge stellen nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers oder der Redaktion dar.

Redaktion: Dipl.-Volkswirt Peter A. Mühlschlegel, 6104 Jugenheim, Goethestraße 14, Tel. (0 62 57) 74 67, u. Dieter Schubert, 7021 Oberaichen, Viehweg 15, Tel. (07 11) 74 97 67.

Vertrieb: Georg Schlotz, Bahá’í-Haus, 7 Stuttgart-Zuffenhausen, Friesenstraße 26, Telefon (0711) 87 90 58 oder (07 11) 87 32 48.

Druck: Buchdruckerei Karl Scharr, 7 Stuttgart-Vaihingen, Scharrstraße 13.

Preis: DM —.80 je Heft einschließlich Versandkosten, im Abonnement DM 3.20 jährlich. Zahlungen erbeten an Bahá’í-Verlag GmbH., 6 Frankfurt, Westendstr. 24, Postscheckkonto Stuttgart 35 768, mit dem Vermerk „BAHA’I-BRIEFE“.

An der Zeitschrift bestehen keine wirtschaftlichen oder finanziellen Beteiligungen im Sinne des Hessischen Pressegesetzes, § 5 Abs. 2.