Bahai Briefe/Heft 42/Text

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BAHA'I-

BRIEFE


BLÄTTER FÜR

WELTRELIGION UND

WELTBEWUSSTSEIN



AUS DEM INHALT:


Der Mensch und die Wirklichkeit

Religion der Entwicklung

Über das Unternehmertum

Erziehung zur Selbständigkeit


HEFT 42 OKT. 1970


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Sieh, wie die Beweise dieser Offenbarung in allen Dingen zutage treten und wie die Besserung aller Wesen davon abhängt. Diese Erziehung ist zweifacher Art. Die eine ist allumfassend. Ihr Einfluß durchdringt und erhält alle Dinge. Aus diesem Grund hat Gott die Benennung „Herr aller Welten“ angenommen. Die andere ist auf die beschränkt, die sich unter den Schatten dieses Namens begeben und den Schutz dieser mächtigsten Offenbarung gesucht haben. Wer es aber versäumt, diesen Schutz aufzusuchen, hat das Vorrecht verscherzt und ist außerstande, aus der geistigen Unterstützung Gewinn zu ziehen, die durch die himmlische Gnade dieses Größten Namens herniedergesandt worden ist.


Bahá’u’lláh


(Ährenlese XCIII)



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Der Mensch und die Wirklichkeit[Bearbeiten]

Ansprache ‘Abdu’l-Bahás am 10. Oktober 1912 in San Franzisko


Obwohl Ich Mich heute abend unwohl fühlte, hat Mich doch die Liebe zu Ihnen in diese Versammlung geführt. Ich habe nämlich gehört, dies hier sei ein offenes Forum, das die Wirklichkeit erforscht; Sie selbst seien frei von blinden Nachahmungen und bemühten sich, der Wahrheit der Dinge auf den Grund zu gehen, und Ihre Bestrebungen seien hochgemut. Deshalb dachte Ich Mir, es sei angebracht, zu Ihnen über das Thema „Philosophie“ zu sprechen, das den Osten wie den Westen im selben Maße beschäftigt, befähigt es uns doch, die Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen den Denkrichtungen des Orients und des Okzidents zu betrachten.

Der Erkenntnismaßstab, den die westlichen Philosophen schätzen, ist die Sinneswahrnehmung. Sie halten das, was die Sinne fassen oder wahrnehmen können, für eine Wirklichkeit, an deren Existenz kein Zweifel besteht. Wir beweisen zum Beispiel die Existenz dieses Lichtes hier durch den Gesichtssinn, wir machen uns ein Bild von diesem Raum, wir sehen die Sonne und die grünen Felder; wir benutzen unseren Gesichtssinn, um sie zu beobachten. Diese Philosophen sind nun der Meinung, daß diese Wahrnehmung Wirklichkeit sei und daß die Sinne der höchste Maßstab der Wahrnehmung und des Urteils seien, an dem es keinerlei Zweifel oder Ungewißheit geben könne. Nach Auffassung der östlichen Philosophen, besonders der Griechen und der Perser, ist der Verstand Maßstab der Erkenntnis. Sie sind der Ansicht, der Maßstab der Sinne sei fehlerhaft, und beweisen dies damit, daß die Sinne oft getäuscht und irregeführt werden. Was Fehlern unterworfen ist, kann nicht unfehlbar, kann kein Maßstab der Erkenntnis sein.

Der machtvollste und zuverlässigste unter den Sinnen ist das Gesicht. Dieser Sinn zeigt eine Fata Morgana als eine Ansammlung von Wasser und ist ihrer Merkmale völlig sicher, obwohl eine Fata Morgana etwas Nichtbestehendes ist. Der Gesichtssinn sieht Bilder in einem Spiegel als Wirklichkeiten, wo uns doch der Verstand erklärt, sie seien nichtbestehend. Das Auge sieht die Sonne und die Planeten sich um die Erde drehen, während in Wirklichkeit die Sonne fest in der Mitte steht und sich die Erde auf ihrer Kreisbahn um sie dreht. Der Gesichtssinn sieht die Erde als eine ebene Scheibe, während die Verstandeskräfte entdecken, daß die Erde eine Kugel ist. Das Auge sieht die Himmelskörper im grenzenlosen Raum als kleine, unscheinbare Punkte, wo uns doch der Verstand erklärt, daß sie ungeheuer große Sonnen sind. Der Gesichtssinn nimmt einen wirbelnden Feuerfunken als einen Lichtkreis wahr und hat keinen Zweifel darüber, während in Wirklichkeit kein derartiger Kreis besteht. Ein Mensch, der in einem Schiff fährt, sieht die Ufer auf beiden Seiten sich vorbewegen, wo sich doch das Schiff bewegt. Kurz, es gibt zahllose Einzelfälle und Beweise, die die Behauptung widerlegen, daß greifbare Dinge und Sinneseindrücke Gewißheiten seien, denn die Sinne [Seite 1179] sind häufig irreführend und fehlerhaft. Wie können wir da zu Recht behaupten wollen, sie würden die Wirklichkeit beweisen, wo doch der Maßstab, das Merkmal selbst fehlerhaft ist?


Der Verstand als das Menschliche

Die Philosophen des Ostens betrachten den Verstand oder Intellekt als den vollkommenen Maßstab, an dem die Wirklichkeit aller Objekte bewiesen werden könne, denn der Maßstab des Verstandes und des Intellekts, sagen sie, sei vollkommen, und alles, was durch den Verstand beweisbar ist, sei wirklich. Demnach betrachten diese Denker alle philosophischen Ableitungen als richtig, wenn sie nach den Maßstäben des Verstandes geprüft worden sind; die Sinne, so erklären sie, seien die Helfer und die Werkzeuge des Verstandes, und obgleich die Erforschung der Wirklichkeiten durch die Sinne geschehen möge, sei der Maßstab der Erkenntnis und des Urteils der Verstand. Auf diese Weise unterscheiden sich die Philosophen des Ostens und des Westens; hier sind sie verschiedener Meinung. Die materialistischen Philosophen des Westens behaupten, der Mensch gehöre zum Tierreich, während die Philosophen des Ostens, wie Plato, Aristoteles und die Perser, die Welt des Seins, die Erscheinungen des Lebens, in zwei allgemeine Kategorien oder Reiche teilen: Das eine ist das Tierreich oder die Welt der Natur, das andere das Menschenreich oder die Welt des Verstandes.

Der Mensch erhebt sich über die Tiere durch seinen Verstand. Die Wahrnehmungen des Menschen sind von zweierlei Art: gegenständlich oder sinnlich und verstandlich; die tierischen Wahrnehmungen hingegen sind auf das Sinnliche, Gegenständliche beschränkt. Die gegenständliche Wahrnehmung kann mit dieser Kerze verglichen werden, die verstandliche Wahrnehmung mit dem Licht. Die Lösung mathematischer Probleme, die Bestimmung der Kugelform dieser Erde geschehen durch verstandliche Wahrnehmung. Das Zentrum der Schwerkraft ist eine verstandliche Hypothese. Der Verstand selbst ist nicht greifbar oder wahrnehmbar für die Sinne. Der Verstand ist eine intellektuelle Wahrheit oder Wirklichkeit. Alle Werte sind ideelle Wirklichkeiten, keine greifbaren Wirklichkeiten. Zum Beispiel sagen wir, dieser Mann sei ein Gelehrter. Erkenntnis ist eine ideelle Errungenschaft, die für die Sinne nicht wahrnehmbar ist. Wenn Sie diesen Gelehrten vor Augen haben, können Sie seine Erkenntnis nicht sehen; Ihr Ohr kann seine Wissenschaftlichkeit nicht hören, noch können Sie diese durch den Geschmackssinn wahrnehmen. Es handelt sich nicht um eine greifbare Wahrheit. Wissenschaftlichkeit ist eine ideelle Wahrheit. Es ist deshalb klar, daß die Wahrnehmungen des Menschen von zweierlei Art, verstandlich und greifbar oder sinnlich, sind.

Was das Tier anbelangt, so ist es nur mit der Sinneswahrnehmung begabt. Es geht der verstandlichen Wahrnehmung verlustig. Es kann die ideellen Wirklichkeiten nicht begreifen. Das Tier kann sich die Erde nicht als Kugel vorstellen. Die Intelligenz eines in Europa wohnenden Tieres hätte niemals die Entdeckung des amerikanischen Kontinents vorausplanen können. Das Tierreich ist außerstande, die verborgenen [Seite 1180] Geheimnisse der Natur, wie die Elektrizität, zu entdecken und sie aus dem Bereich des Unsichtbaren auf die Ebene des Sichtbaren zu bringen. Es ist offenkundig, daß Entdeckungen und Erfindungen die tierische Intelligenz übersteigen. Das Tier kann nicht die Geheimnisse der Schöpfung und der Entstehung der Arten durchdringen. Sein Gehirn ist unfähig, sich die Wirklichkeit des Äthers vorzustellen. Es kann die Geheimnisse des Magnetismus nicht erkennen, weil die Gaben des abstrakten Denkens und des Intellekts in seiner Grundausstattung fehlen. Das will besagen, das Tier ist von seinem Schöpfungszweck her ein Gefangener der Sinne. Jenseits der greifbaren Dinge und seiner Sinneseindrücke kann es nichts wahrnehmen. Es leugnet alles. Es ist ideeller Wahrnehmungen unfähig.


Die Arten und ihre Entwicklung

Tugend und Vollkommenheit gehören dem Menschen an, der sowohl die Fähigkeit der sinnlichen wie diejenige der ideellen Wahrnehmung besitzt. Zum Beispiel sind astronomische Entdeckungen Errungenschaften des Menschen. Er hat dieses Wissen nicht durch seine Sinne erworben. Der größte Teil davon ist durch den Verstand, durch seinen ideellen Sinn, erworben worden. Die Erfindungen des Menschen sind über die Straße seiner Verstandesfähigkeiten in die Erscheinung getreten. Alle seine wissenschaftlichen Errungenschaften sind durch seine verstandliche Begabung Wirklichkeit geworden. Kurz, die Zeichen des Intellekts, des Verstandes, sind im Menschen offenbar. Durch sie unterscheidet er sich vom Tier. Deshalb ist das Tierreich abgesondert und minderwertig gegenüber dem Menschenreich.

Trotz alledem haben die Philosophen des Westens gewisse Gedankengänge und Nachweise, mit denen sie zu beweisen suchen, der Mensch habe seinen Ursprung im Tierreich. Obwohl er heute ein Wirbeltier sei, habe er ursprünglich im Meer gelebt. Von dort sei er aufs Land übergewechselt und zum Wirbeltier geworden. Nach und nach seien in seiner anatomischen Entwicklung Füße und Hände aufgetreten. Er habe begonnen, auf allen Vieren zu gehen, bis er schließlich die menschliche Gestalt erlangt habe und aufrecht gegangen sei. Sie stellen fest, die menschliche Anatomie habe nacheinander Veränderungen durchgemacht, bis sie schließlich menschliche Form annahm; die Zwischenformen oder Veränderungen seien miteinander verbunden wie die Glieder einer Kette. Zwischen dem Menschen und dem Affen fehle lediglich ein letztes Glied; bis zum heutigen Tag waren die Wissenschaftler außerstande, es zu entdecken.

Der höchste Beweis dieser westlichen Theorie der menschlichen Entwicklung ist demnach anatomischer Art; er geht davon aus, daß im Menschen gewisse Reste von Organen zu finden seien, die dem Affen und den niedereren Tieren eigentümlich sind. Daraus sei zu schließen, daß der Mensch zu einer gewissen Zeit in seiner Aufwärtsentwicklung diese Organe, die heute nicht mehr arbeiten, sondern als bloße Reste und Überbleibsel in Erscheinung treten, besessen habe.

[Seite 1181] Die Schlange zum Beispiel hat einen Stummel, der darauf hinweist, daß sie einstmals lange Glieder hatte; da dieses Geschöpf aber dazu überging, seine Behausung in den Erdhöhlen zu suchen, wurden diese Glieder nicht länger gebraucht. Sie schrumpften und bildeten sich zurück, so daß sie heute nur noch als Rest oder Stummel übrig sind, lediglich ein Zeichen dafür, daß sie einmal lang und gebrauchsfähig waren. So wird behauptet, auch der Mensch habe gewisse Organreste in seinem Körperbau, was beweise, daß es eine Zeit gab, in der seine anatomische Struktur verschieden von seinem gegenwärtigen Organismus war, und daß eine entsprechende Umwandlung oder Veränderung in dieser Struktur stattgefunden habe. Das Steißbein zum Beispiel, das Ende der menschlichen Wirbelsäule, soll der Rest eines Schwanzes sein, den der Mensch früher besessen hat, der jedoch nach und nach verschwand, nachdem er aufrecht ging. Diese Feststellungen und Darlegungen drücken den Grundgehalt der westlichen Philosophie zur Frage der menschlichen Entwicklung aus.

Die Philosophen des Orients erwidern den Denkern der westlichen Welt: Angenommen, der menschliche Körperbau sei ursprünglich anders als heute gewesen, er sei stufenweise von einem Zustand in den anderen umgewandelt worden; einmal sei er einem Fisch ähnlich gewesen, später einem wirbellosen Tier, schließlich von menschlicher Gestalt, dann ändere oder berühre diese körperliche Entfaltung nicht die Feststellung, daß die Entwicklung des Menschen immer der Grundform nach menschlich, dem Fortschreiten nach biologisch gewesen sei.

Wenn wir den menschlichen Embryo mikroskopisch untersuchen, ist er zunächst nur ein Bazillus oder ein Wurm. Schritt für Schritt entwickelt er sich und zeigt gewisse Unterteilungen. Ansätze von Händen und Füßen treten auf, das heißt, ein oberer und ein unterer Teil sind zu unterscheiden. Danach macht er bestimmte deutliche Veränderungen durch, bis er seine eigentliche menschliche Gestalt erlangt und in diese Welt geboren wird. Aber zu allen Zeiten, selbst als der Embryo einem Wurm glich, war er der Möglichkeit und dem Wesen nach menschlich, nicht tierisch. In dieser ganzen Entfaltung gab es eine Verlagerung der Gestalt, jedoch eine Bewahrung der Gattung oder der Art. Wenn wir uns dies bewußt machen, können wir gern die Tatsache eingestehen, daß der Mensch einstmals ein Meeresbewohner war, zu einer anderen Zeit ein wirbelloses Tier, dann ein Wirbeltier und schließlich ein aufrecht stehendes menschliches Wesen. Auch wenn wir diese Veränderungen zugestehen, können wir doch nicht sagen, der Mensch sei ein Tier. Auf jeder dieser Stufen gab es Zeichen und Beweise für seine menschliche Existenz und seine Bestimmung. Ein Nachweis hierfür liegt in der Tatsache, daß der menschliche Embryo heute noch einem Wurm gleicht. Dieser Embryo schreitet heute noch von einem Zustand zum anderen fort; er durchläuft verschiedene Formen, bis das, was als Möglichkeit in ihm liegt, das Menschenbild nämlich, zum Vorschein kommt. Deshalb ist selbst im Protoplasma der Mensch ein Mensch. Die Erhaltung der Arten erfordert dies.

Das „missing link“, das fehlende Bindeglied der Theorie Darwins (zwischen Tier und Mensch) ist seinerseits ein Beweis dafür, daß der Mensch [Seite 1182] kein Tier ist. Wie wäre es möglich, daß alle Glieder der Entwicklungskette vorhanden sind und dieses wichtige Glied fehlt? Sein Fehlen ist ein Zeichen dafür, daß der Mensch nie ein Tier war. Es wird nie zu finden sein.


Der Mensch steht über der Natur

Die Bedeutung all dessen liegt darin, daß sich die Menschenwelt deutlich vom Tierreich unterscheidet. Das ist die Lehre der orientalischen Philosophen. Sie haben einen Beweis dafür: Die Tiere sind Gefangene der Natur. Alle Seinsweisen und Erscheinungen der niedereren Reiche sind Gefangene der Natur. Die machtvolle Sonne, die zahllosen Sterne, das Reich der Pflanzen und der Minerale — nichts darin kann auch nur um Haaresbreite über die Grenzen der Naturgesetze treten. Sie waren allezeit und sind weiterhin von der Hand der Natur gefesselt. Der Mensch jedoch bricht die Gesetze der Natur und macht sie seinen Zwecken dienstbar. Zum Beispiel ist der Mensch ein erdgebundenes Lebewesen, in gleicher Weise wie die Tiere. Die Sachzwänge der Natur fordern, daß er sich auf der Erde aufhält; aber er bricht die Naturgesetze und schwingt sich hoch in die Luft. Durch den Gebrauch seines Verstandes überwindet er Naturgesetze und taucht mit Unterseebooten in die Meere oder überquert sie in Schiffen. Er fesselt mächtige Naturkräfte wie die Elektrizität und bannt sie in eine Glühlampe. Nach dem Naturgesetz sollte er sich nur über eine Entfernung von rund tausend Fuß verständigen können; durch seine Erfindungen und Entdeckungen jedoch tauscht er Nachrichten mit dem Osten und dem Westen innerhalb weniger Augenblicke. Das ist ein Bruch der Naturgesetze. Der Mensch fesselt die menschliche Stimme und gibt sie in einem Phonographen wieder. Seine Stimme sollte allenfalls ein paar hundert Fuß entfernt hörbar sein; er aber erfindet ein Instrument, das sie tausend Meilen weit überträgt. Kurz, alle Künste und Wissenschaften, Erfindungen und Entdeckungen, die der Mensch in unserer Zeit vollbracht hat, waren einst Geheimnisse, welche die Natur versteckt und verborgen halten wollte; der Mensch jedoch hat sie von der Ebene des Unsichtbaren weggenommen und auf die Ebene des Sichtbaren gebracht. Dies geschah entgegen den Naturgesetzen. Die Elektrizität sollte ein verborgenes Geheimnis bleiben; aber der Mensch entdeckt sie und macht sie zu seiner Sklavin. Er reißt der Natur ihr Schwert aus der Hand und wendet sich damit gegen die Natur selbst; er beweist, daß eine Macht in ihm steckt, die über die Natur hinausreicht, weil sie imstande ist, die Naturgesetze zu brechen und zu unterwerfen. Wäre diese Macht nicht übernatürlich und außergewöhnlich, die Errungenschaften des Menschen wären nie möglich gewesen.

Des weiteren liegt es auf der Hand, daß die natürliche Welt kein Bewußtsein hat. Die Natur hat keine Erkenntnis, während der Mensch bewußt lebt. Die Natur hat keine Erinnerung; der Mensch besitzt sie. Die Natur hat weder Willen noch Vorstellung; der Mensch besitzt beides. Es ist klar, daß dem Menschen Tugenden innewohnen, die es in der Welt der Natur nicht gibt. Das ist von jedem Standpunkt her beweisbar.

Wenn behauptet wird, die verstandliche Wirklichkeit des Menschen gehöre zur Welt der Natur, sie sei der Teil eines größeren Ganzen, dann [Seite 1183] fragen wir, ob der Teil Werte enthalten könne, die das Ganze nicht besitzt. Kann zum Beispiel ein Tropfen Werte besitzen, deren das Meer als Ganzes beraubt ist? Kann ein Blatt mit Werten ausgestattet sein, die im ganzen Baum fehlen? Ist es denkbar, daß die außergewöhnliche Fähigkeit des Verstandes im Menschen dem Wesen und der Art nach etwas Tierisches sei? Auf der anderen Seite ist es klar und wahr, auch wenn es höchst überraschend ist, daß im Menschen jene übernatürliche Kraft oder Fähigkeit gegenwärtig ist, die die Wirklichkeiten der Dinge entdeckt und die Macht der Vergeistigung und der Begriffsbildung umschließt. Sie kann wissenschaftliche Gesetze entdecken, und wir wissen, daß die Wissenschaft keine greifbare Wirklichkeit ist. Die Wissenschaft besteht im Bewußtsein des Menschen als eine ideelle Wirklichkeit. Das Bewußtsein selbst, der Verstand selbst, ist eine ideelle Wirklichkeit und nicht greifbar.

Dessen ungeachtet sagen manche besonders Scharfsinnige: Wir haben die höchste Stufe des Wissens erreicht. Wir sind in das Laboratorium der Natur eingedrungen, haben Wissenschaften und Künste studiert. Wir haben den höchsten Rang der Erkenntnis in der Menschenwelt erlangt. Wir haben die Tatsachen erforscht, wie sie sind, und sind zu dem Schluß gekommen, daß nichts zu Recht annehmbar ist außer dem sinnlich Wahrnehmbaren. Dies ist die einzige Wirklichkeit, die Glauben verdient. Alles, was nicht sinnlich wahrnehmbar ist, ist Einbildung und Unsinn.

Seltsam ist es in der Tat, daß der Mensch nach zwanzig Jahren Ausbildung in Hochschulen und Universitäten einen Punkt erreichen sollte, wo er die Existenz des Ideellen leugnet und alles ablehnt, was die Sinne nicht wahrnehmen können. Haben Sie schon einmal innegehalten und bedacht, daß das Tier bereits diese Art von Universität hinter sich gebracht hat? Haben Sie sich bewußt gemacht, daß die Kuh schon eine emeritierte Professorin von dieser Universität ist? Denn ohne harte Arbeit, ohne Studien ist die Kuh bereits eine Philosophin von höchsten Graden in der Schule der Natur. Die Kuh verleugnet alles, was sie nicht sinnlich wahrnehmen kann, und sagt: „Ich kann sehen! Ich kann fressen! Deshalb glaube ich nur an das, was greifbar ist!“

Warum sollten wir da noch die Hochschulen besuchen? Laßt uns zur Kuh gehen!


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Aufzeichnungen von Bijou Straun, aus „The Promulgation of Universal Peace“, Vol. II, Wilmette/Ill. 1922/1943, S. 349 ff.




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Glücklich der Mensch, der sich erhebt, um Meiner Sache zu dienen und Meinen herrlichen Namen zu preisen! Ergreife Mein Buch mit der Kraft Meiner Macht und halte dich beharrlich an jedes Gebot, das dein Herr, der Verordner, der Allweise, darin bestimmt hat.
Bahá’u’lláh


Ährenlese XXVIII
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Religion der Entwicklung[Bearbeiten]

Die Wege des Suchers / von Robert L. Gulick jr.


Religion kann vernünftig sein, ohne ihr Feuer zu verlieren. Wahre Religion vermeidet magischen Putz und achtet des Menschen Hoffnung auf ein reicheres Leben. Mit dem Schild des Glaubens bewaffnet, können wir diese Erde von ihrem Fluch befreien: von vernichtendem Krieg, von entwürdigender Armut, von nutzlosem Leiden, von Gewaltherrschaft. Zu viel Nachdruck auf Sinnbilder und Rituale zehrt die Lebenskraft des Gottesglaubens aus. Die Bahá’í wissen, daß „die Menschenwelt im Dunkeln tappt, weil sie die Fühlung mit der Welt Gottes verloren hat“.

Die Bahá’í bezeugen die Erhabenheit und den veredelnden Einfluß aller Propheten. Ihr Ziel ist die Vereinigung aller Völker in einer umfassenden Bewegung, einem gemeinsamen Glauben. Der Prophet Gottes kommt zur Welt und lebt unter den Menschen, „um eine ständig fortschreitende Kultur voranzutragen“. Gehorsam gegenüber dem Propheten ist die Triebfeder menschlichen Fortschritts. Der Gesandte Gottes kann die Krankheiten der Welt heilen und das Volk zu „einer Herde“ mit „einem Hirten“ einigen.

Die Begründer der großen Religionen hatten zwei Aufgaben. Die eine bestand darin, den Pfad Gottes von dem Schutt zu säubern, den die Menschen aufgehäuft hatten. Die andere war, Ziele für den gesellschaftlichen Fortschritt zu setzen. Jeder Religionsstifter gab dieselben Grundlehren: den Glauben an einen einzigen Gott, das Gesetz der Liebe, die Brüderlichkeit der Menschen und das ewige Leben. Das Hauptbedürfnis unserer Zeit ist eine gerechte Weltordnung, und höchstes Ziel jedes Bahá’í ist es, die Einheit der Menschheit zu fördern.

Die Bahá’í-Religion ist eine unabhängige Offenbarungsreligion, keine Sekte und kein Ableger eines früheren Bekenntnisses. Sie entstand in der Nacht des 22./23. Mai 1844, als in Shíráz, Persien, ‘Alí Muhammad, ein Nachkomme des Propheten Muhammad, Seinen jungen Gast, Mullá Husayn, durch die Erklärung bestürzte, Er sei ein Bote Gottes. Er nahm den Titel Báb (das Tor) an. Wie Johannes der Täufer verkündete Er, der Vorläufer eines anderen, Größeren, zu sein. Darüber hinaus beanspruchte Er den Rang eines unabhängigen Propheten, ausgestattet mit der Vollmacht, vorherrschende religiöse Bräuche zu ändern und Gebete und Gesetze zu offenbaren. Später werde Seine Sendung abgelöst durch die Sendung „Dessen, den Gott offenbaren wird“.

Der Báb war in Shíráz, der Stadt der Dichter Háfiz und Sa’dí, am 20. Oktober 1819 geboren worden. Als Kind setzte Er Seinen Lehrer durch Tugendhaftigkeit und angeborenes Wissen in Erstaunen. Später setzten Seine Redlichkeit und Sein Gerechtigkeitssinn als Kaufmann in der Geschäftswelt hohe Maßstäbe.

[Seite 1185] Die Jahre nach der Erklärung des Báb waren erfüllt von Unruhe. Innerhalb eines Jahres mordeten die unwissenden persischen Muslim in ihrem blinden Fanatismus 4000 Bábí. Den ersten, der an Ihn glaubte, traf eine Kugel aus dem Hinterhalt; Sein bedeutendster Jünger, Quddús, wurde auf dem Markt von Bárfurúsh (Bábul) in Stücke zerrissen. Táhirih, die Dichterin und wichtigste Frau unter den Bábí, schleuderte ihren Mördern entgegen: „Ihr könnt mich töten, wann ihr wollt, aber die Gleichberechtigung der Frauen könnt ihr nicht aufhalten!“ Der Rest von 313 Gläubigen, die im Grabmal des Shaykh Tabarsí in einem Wald am Kaspischen Meer Zuflucht gesucht hatten, wurde niedergemacht oder als Sklaven verkauft; ein Prinz brach sein Versprechen, sie frei nach Hause ziehen zu lassen.

Unter den vielen Büchern des Báb, die Er teilweise als Gefangener in den Bergen von Adhirbáyján schrieb, ragen der Persische Bayán, der Arabische Bayán und das Qayyúmu’l-Asmá’ hervor. Den Persischen Bayán übersetzte A. L. M. Nicolas, der im Iran geborene französische Konsul in Tabríz, der sich für den Lebenslauf und die Lehren des Propheten aus Shíráz begeisterte, in die französische Sprache.

Wofür der Báb Sein Leben opferte, das war die Liebe zu Bahá’u’lláh, der Herrlichkeit Gottes. Sein dramatischer Märtyrertod ereignete sich auf dem windgepeitschten Kasernenhof von Tabríz zur Mittagsstunde des 9. Juli 1850. Mit einem Seil wurde Er an einen Pfeiler gefesselt; 750 Mann feuerten auf Ihn, aber der Báb blieb unverletzt und führte eine Unterhaltung mit Seinem Sekretär zu Ende. Das Feuerkommando war nicht bereit, die Exekution zu wiederholen; ein anderes Regiment mußte anrücken. Als der Báb starb, erhob sich ein heftiger Sturm über der Stadt und blendete ihren Menschen die Augen, bis die Nacht hereinbrach. Innerhalb weniger Jahre kamen sämtliche Angehörigen des zweiten Exekutionskommandos grausam um: 250 Mann samt Offizieren starben in einem schlimmen Erdbeben, die übrigen erlitten als Strafe für eine Meuterei „das gleiche Schicksal, das ihre Hand dem Báb bereitet hatte“1).


Die Sonne der Wahrheit

Im Mittelpunkt des zweiten Abschnitts der Bahá’í-Geschichte steht Bahá’u’lláh als derjenige, den der Báb angekündigt hatte. Er war am 12. November 1817 in Tihrán, der Hauptstadt Persiens, geboren worden und bekam den Namen Husayn ‘Alí. Später nahm Er den geistigen Namen Bahá’u’lláh an, was auf arabisch „die Herrlichkeit Gottes“ bedeutet und in der Offenbarung Johannis mit einem neuen Himmel und einer neuen Erde in Verbindung gebracht wird.

Husayn ‘Alí entstammte einer hochangesehenen, reichen Adelsfamilie. Eine glänzende Laufbahn im Staatsdienst stand Ihm offen, aber Er kümmerte sich nicht um die Tagespolitik und um äußerliche Macht. Sein Reich war nicht von dieser Welt. Dem Luxusleben Seiner Umgebung abgewandt, setzte Er sich spontan für die Sache des Báb ein. Er wußte wohl, daß dies Entbehrung, Leid und Verfolgung für Ihn selbst und Seine Lieben bedeutete. Der Schicksalsschlag traf Ihn, als Er im August 1852 in das [Seite 1186] Schwarze Loch, den Kerker von Tihrán, geworfen wurde. In diesem unterirdischen Verlies, umgeben von Dieben und Mördern, in schweren Ketten, die sich Ihm tief ins Fleisch schnitten und lebenslänglich Narben hinterließen, inmitten des Schmutzes, des Schreckens und des peinvollen Düsters wurde die Offenbarung Bahá’u’lláhs geboren. „Eines Nachts im Traum waren von allen Seiten diese erhabenen Worte zu hören: ‚Wahrlich, Wir werden Dich durch Dich selbst und durch Deine Feder siegreich machen. Sei nicht traurig über das, was Dir widerfahren ist, und fürchte Dich nicht, denn Du bist in Sicherheit. Binnen kurzem wird Gott die Schätze der Erde offenkundig machen — Menschen, die Dir beistehen werden durch Dich selbst und durch Deinen Namen, durch welchen Gott die Herzen derer belebt, die Ihn erkannt haben‘“ 2).

Im Januar 1853 wurde Bahá’u’lláh mit Seiner Familie aus Persien verbannt. Er wandte sich nach Baghdád. Die Reise mitten im Winter ging über Kirmansháh gewundene Pfade durch das vereiste Gebirge westwärts nach der Stadt am Tigris. Die Jahre gingen ins Land, Bahá’u’lláhs Ansehen wuchs, viele Gelehrte besuchten Ihn, wandelten mit Ihm am Flußufer und erforschten Seine Ansichten.

Auf diesen Spaziergängen am Tigris und bei gelegentlichen Ruhepausen in einer Moschee, die als Zeuge jener Tage verblieben ist, verfaßte Bahá’u’lláh die „Verborgenen Worte“, Sinnsprüche über die Wesenszüge wahrer Religion. Sein wichtigstes Werk aus Baghdád ist das „Buch der Gewißheit“. Es behandelt Seine Lehre der fortschreitenden Gottesoffenbarung, wonach Propheten das Wort Gottes nach den Bedürfnissen und der Fassungskraft der Menschen offenbaren. Sein Einfluß wurde stärker, als es den Herrschern Persiens und der Türkei genehm war; sie beschlossen, Ihn weiter von Seinem Vaterland zu entfernen.

Am 22. April 1863 verließ Bahá’u’lláh Seinen Wohnsitz, überquerte den Tigris und pflanzte Sein Zelt in einem Garten auf, den Er Ridván, den Garten des Paradieses, nannte. Hier erklärte Er sich Seinen Vertrauten als die Manifestation Gottes, die der Báb angekündigt hatte und die das seit Anbeginn der Geschichte verheißene Reich des Friedens einleiten soll.

Die nächsten Stationen Seines Verbannungsweges waren Konstantinopel (Istanbul) und Adrianopel (Edirne), wo Bahá’u’lláh öffentlich Seine Sendung verkündete. In Adrianopel offenbarte Er das Sendschreiben an die Könige: Er warnte die Herrscher des Ostens und des Westens, ihr Ungehorsam gegen Gott werde sie in den sicheren Untergang treiben. Sein mächtigster Feind, Násiri’d-Din Sháh, wurde später am Vorabend seines Regierungsjubiläums ermordet, ‘Abdu’l-‘Aziz, der Sultan der Türkei, fiel schon 1876 in seinem Harem einem Anschlag von Ministern und Generälen zum Opfer.

Schließlich wurde Bahá’u’lláh 1868 in der Gefängnisstadt ‘Akká, der alten Kreuzritterfestung, eingekerkert. Selbst das Klima dieses verpesteten und verseuchten Flecks Erde schien sich während Seines Aufenthalts zu bessern. Dort, im Heiligen Land, schrieb Er das Buch Aqdas, Sein [Seite 1187] „Heiligstes Buch“. In diesem Gesetzeswerk schafft Er viele überholte Gebote der alten Religionen ab, verordnet Pflichtgebete, legt einen neuen Kalender, Fest- und Fastentage fest, verurteilt üble Nachrede, Müßiggang und Grausamkeit gegenüber Tieren. Das Buch verbietet den Genuß von Rauschgiften und Alkohol, außer für wissenschaftliche Zwecke, ferner Sklaverei, Bettelei, Mönchstum und Glücksspiele. Die Einehe wird vorgeschrieben, die Abfassung eines Testaments zur Pflicht gemacht. Jeder Bahá’í hat seiner Regierung zu gehorchen. Unter den Bahá’í-Tugenden sind Sauberkeit, Keuschheit, Vertrauenswürdigkeit, Gastfreundschaft, Höflichkeit und Gerechtigkeitssinn besonders hervorgehoben.

Den einzigen Besuch aus dem Westen stattete 1890 Professor Edward G. Browne von der Universität Cambridge Bahá’u’lláh ab. Ein Satz aus Brownes Aufzeichnungen genügt, um den Eindruck zu ermessen, den dieser Besuch bei ihm hinterlassen hat: „Hier bedurfte es keiner Frage mehr, vor wem ich stand, als ich mich vor einem Manne neigte, der Gegenstand einer Verehrung und Liebe ist, um die Ihn Könige beneiden könnten und nach der sich Kaiser vergeblich sehnen“ 3).


Das vollkommene Beispiel

Vor Seinem Hinscheiden 1892 schrieb Bahá’u’lláh ein Testament, in dem Er Seinen Sohn ‘Abdu’l-Bahá bevollmächtigte, Seine Lehren auszulegen. ‘Abdu’l-Bahás ursprünglicher Name war ‘Abbás Effendi; Er war in Tihrán in derselben Nacht des 22. Mai 1844 geboren worden, in der sich der Báb in Shíráz erklärte. Gefängnis und Verbannung teilte Er mit Seinem Vater. Noch als Kind wurde Er aufgefordert, einen Vers des Qur’án zu kommentieren; Er schrieb ein literarisches Meisterwerk. Seine hervorragende soziologische Arbeit war „Das Geheimnis göttlicher Kultur“ 4).

Während einer kurzen Periode der Freiheit reiste ‘Abdu’l-Bahá 1911 bis 1913 nach Ägypten, Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika. In Universitäten, Kirchen und Klubs, vor einer Vielzahl von Zuhörern, hielt Er Ansprachen, und viele Prominente suchten Seine Gegenwart auf. Professor Dr. David Starr Jordan, ein bedeutender Wissenschaftler und Präsident der Stanford University, sagte: „Sicherlich wird Er den Osten und den Westen vereinen, denn Er beschreitet den Pfad der Mystik mit praktischen Füßen“. Ein hoher Beamter der amerikanischen Bundesregierung suchte Seinen Rat, und Er empfahl ihm: „Sie können Ihrem Land am besten dienen, indem Sie in Ihrer Eigenschaft als Weltbürger bestrebt sind mitzuhelfen, daß das Prinzip des Föderalismus, das der Regierung Ihres eigenen Landes zugrundeliegt, endlich auf die Beziehungen angewandt wird, die jetzt zwischen den Völkern und Nationen der Welt bestehen“ 5). In Sacramento, Kalifornien, sagte Er 1912 den Ausbruch des Ersten Weltkriegs für das Jahr 1914 voraus, brachte aber auch die Hoffnung zum Ausdruck, daß „das erste Banner des Weltfriedens“ in diesem Land, in dem später die Charta der Vereinten Nationen unterzeichnet wurde, aufgerichtet werde. Die Freiheit war das, was Er in Amerika am meisten schätzte. „Amerika wird alle Nationen geistig führen“, prophezeite Er.

[Seite 1188] In Anerkennung Seiner langjährigen Dienste an der Sache der internationalen Versöhnung und am öffentlichen Wohl verlieh die britische Regierung ‘Abdu’l-Bahá in Haifa im April 1920 die Ritterwürde. Im November des folgenden Jahres starb Er. Dr. J. E. Esslemont schrieb zu Seinem Andenken: „Er zeigte, daß es auch inmitten der Unrast und Hetze des modernen Lebens, inmitten der ringsum herrschenden Eigenliebe und des Kampfes um materiellen Wohlstand möglich ist, das Leben völliger Hingabe an Gott und des Dienstes am Mitmenschen zu führen, das Christus, Bahá’u’lláh und alle Propheten vom Menschen gefordert haben“.


Das Zeichen Gottes

Die Bahá’í glauben an ein Größeres Bündnis, nach welchem Gott verheißen hat, dem Menschen allezeit einen göttlichen Boten zu senden, einen Baum der Führung an der Straße des Fortschritts. In einem Kleineren Bündnis sagt jede Manifestation Gottes das Kommen des nächsten Gottgesandten voraus, wie Jesus Christus in der Prophezeiung über den „Geist der Wahrheit“, der die Gläubigen ‚in alle Wahrheit leiten werde“. Zum erstenmal in der Religionsgeschichte sind nun, durch Bahá’u’lláh selbst und in Seiner Nachfolge durch ‘Abdu’l-Bahá, diese Bündnisse zu einer umfassenden Gesellschafts- und Verwaltungsordnung gestaltet worden. Grundlage und Zentrum des Gemeindelebens ist das Neunzehntagefest: Alle 19 Tage, einmal in jedem Bahá’í-Monat, trifft sich jede örtliche Gemeinde zu einem Fest, das aus drei Teilen besteht: Lektüre heiliger Texte und gemeinsames Gebet, Berichte über Gemeindeangelegenheiten und Beratung, gemeinsamer Imbiß und Geselligkeit. Auf der Grundlage dieser Geistigkeit und Personenkenntnis können die örtlichen Geistigen Räte jedes Frühjahr ohne Kandidaturen und ohne jedwede Wahlbeeinflussung gewählt werden; die Wahl ist ein wichtiger Akt des Gottesdienstes, der in Gebetshaltung vollzogen wird. Die Räte selbst sind nur Gott und Seinem geoffenbarten Willen gegenüber für Ihre Entscheidungen verantwortlich; außerhalb der Ratssitzungen haben die Ratsmitglieder keine Vorrechte und Sonderbefugnisse. Die Nationalen Geistigen Räte und das Universale Haus der Gerechtigkeit, das als international leitende Körperschaft des Bahá’í-Glaubens 1963 erstmals gebildet wurde, werden nach den selben Regeln gewählt.

Neben diesem republikanischen Element lebte auch die persönliche Nachfolge der Manifestation Gottes fort. ‘Abdu’l-Bahá ernannte Seinen ältesten Enkelsohn, Shoghi Effendi, zum Hüter des Gottesglaubens und nannte ihn „das Zeichen Gottes“ auf Erden. Niemand dürfte mehr überrascht gewesen sein als Shoghi Effendi selbst, der damals, 1921, in Oxford studierte.

Das Wirken Shoghi Effendis bis zu seinem Tode im November 1957 war von vielfältigen Projekten gekrönt. Am meisten Zeit verwendete er auf seine umfangreiche Korrespondenz mit Bahá’í-Zentren und Einzelpersonen in aller Welt. Er richtete persönlich die internationalen Bahá’í-Archive in Haifa, Israel, dem Weltzentrum des Glaubens, ein. Seine historischen und analytischen Schriften umfassen unter anderem die Werke „Gott geht vorüber“, „Der verheißene Tag ist gekommen“ und [Seite 1189] „Die Weltordnung Bahá’u’lláhs“. Zu seinen unvergleichlichen Übersetzungen aus dem Persischen und Arabischen ins Englische zählen „Gebete und Meditationen Bahá’u’lláhs“, „Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs“, „Verborgene Worte“, „Das Buch der Gewißheit“, „Brief an den Sohn des Wolfes“ und das Geschichtswerk „The Dawn Breakers“ von Nabil. Shoghi Effendi besorgte die Herausgabe der Jahrbücher „The Bahá’í World“ und traf Entscheidungen zu mannigfaltigen Problemen.

Während des Wirkens des Báb (1844—1853) breitete sich der Glaube nur in Persien und dem ‘Iráq aus. Elf Länder kamen unter der Führung Bahá’u’lláhs (1853—1892) hinzu. ‘Abdu’l-Bahás Leitung brachte die Zahl der Länder und Territorien auf 33; um 1950 hatte die Bahá’í-Religion in 101 Ländern Fuß gefaßt; ihr Schrifttum war in 60 Sprachen übersetzt. Mit elf Neugründungen waren es im Mai 1970 insgesamt 94 Nationale Geistige Räte, auf die sich das Universale Haus der Gerechtigkeit bei der Durchführung des gegenwärtigen Neunjahrplanes 1964 bis 1973 für die Verbreitung des Bahá’í-Glaubens stützen kann.


Glaube in Freiheit

Grundlage dieses Glaubens ist die Einheit Gottes und die Einheit der Menschheit. Erkenntnis ist die größte Gabe Gottes an den Menschen; die Suche nach ihr muß frei und unbehindert sein. Religion und Wissenschaft müssen für das Wohl des Menschen zusammenwirken; sonst degeneriert die Religion zu Aberglauben, und die Wissenschaft wird ein Frankenstein-Ungeheuer. Die Erziehung muß umfassend sein und zur allgemeinen Pflicht werden. Eine Weltsprache muß auf demokratische Weise bestimmt und neben den Nationalsprachen in allen Schulen der Welt gelehrt werden. Die Frauen sollen auf allen Gebieten dieselben Chancen wie die Männer haben. Die häßlichen und haßerzeugenden Vorurteile der Nation, der Rasse, des Glaubens und der Klasse müssen ausgetilgt werden. Die Religion muß die Quelle einer wahren Liebe sein, die weit über Toleranz hinausgeht. Die Beseitigung von Armut ist nicht lediglich eine Frage der Verteilung; sie ist ein geistiges Problem, das alle Menschen guten Willens angeht. Es muß Arbeit für alle geben, so daß keine untätigen Armen und keine untätigen Reichen übrigbleiben. Dienst an der Gesellschaft ist Gebet; ehrbare Arbeit wird zum Rang des Gottesdienstes erhoben. Bahá’u’lláh drängte schon vor über hundert Jahren auf die Einschränkung der nationalen Kriegsrüstungen. Internationale Streitigkeiten müssen durch ein Weltgericht entschieden werden; hinter seinem zwingenden, endgültigen Urteilsspruch muß eine internationale Streitmacht stehen. Die Macht muß zur Dienerin der Gerechtigkeit werden.

„Der Herr ist gekommen! Christus ist wiedergekehrt in der Herrlichkeit des Vaters!“ Das ist der herausfordernde Anspruch und der höchste Lehrsatz des Bahá’í-Glaubens. Welche Beweise werden angeboten? Warum hat nicht jedes Auge den Herrn der Heerscharen erkannt? Der ungeschulte Verstand mißversteht Symbole als etwas Reales und bringt poetische Wahrheit mit praktischer Wahrheit durcheinander. Die Israeliten weigerten sich, Christus anzuerkennen, weil Er ihre Erwartungen, [Seite 1190] der Messias käme von einem unbekannten Ort, ein Schwert in der Hand, er würde König der Juden und befreite Israel vom römischen Joch, nicht buchstäblich erfüllte. Die herkömmliche Einstellung zu der Verheißung, „jedes Auge werde Ihn sehen“, geht buchstäblich und bildlich von der Vorstellung aus, die Erde sei eine flache Scheibe.

Beweise für Bahá’u’lláh liegen darin, daß Seine Lehren nicht von Menschen übernommen sind, daß Seine Prophezeiungen eingetreten sind, daß Seine Lehren die weltweite Bahá’í-Gemeinde hervorgebracht haben, in der sich alter Haß in dauerhafte Liebe verwandelt hat. Die Weltordnung Bahá’u’lláhs ist das Reich Gottes, um das die Christen beten, das neue Jerusalem. Nicht auf die buchstabengläubigen, sondern die „wartenden Knechte“, die „hungern und dürsten nach Gerechtigkeit“, wird gerechnet: Sie sollen sich die Herausforderung, Baumeister einer neuen Weltkultur zu werden, ans Herz wachsen lassen.

Die Bahá’í wissen, daß eine Wandlung der Herzen, eine Bekehrung im besten Sinne des Wortes, bei genügend vielen starken Persönlichkeiten die einzige Veränderung ist, die der Menschheit dauerhaften Frieden und Gerechtigkeit bringt.


Der Kadi von Khániqayn

Die „Sieben Täler“ von Bahá’u’lláh können als Gipfelpunkt im Reiche mystischer Verdichtung angesprochen werden. Dieser tiefgreifende Essay entstand als Antwort auf Fragen des Shaykh Muhyi’d-Dín, des Richters von Khániqayn, einer kleinen Stadt in Kurdistan. Offensichtlich war der Kadi ein Student und Anhänger der Súfí-Philosophie, einer mystischen Bewegung, die vor 1200 Jahren innerhalb des Islám entstand. Ziel des Súfí ist es, durch Meditation und Gebet, Kontemplation und Ekstase in die Gegenwart Gottes zu gelangen. Eine besondere Begriffswelt wurde entwickelt, um die Stufen geistigen Fortschritts darzustellen. Manche Súfí faßten die Lehrmeinung, sie könnten direkt, ohne die Hilfe Muhammads oder anderer Propheten, zu Gott gelangen. Diese Ansicht führte sie folgerichtig zu der Behauptung, sie seien vom religiösen Gesetz befreit, und im Unterschied zur großen Masse der Gläubigen sei das Gewissen für sie selbst eine zuverlässige Führung. Die größten persischen Mystiker, Jalálu’d-Dín Rúmí und al-Ghazzáli, wandten sich gegen diese Theorie; sie bestätigten, daß der Mensch nur durch den Gehorsam gegen die vom Gesandten Gottes geoffenbarten Gesetze in die göttliche Gegenwart gelangen könne.

Shaykh Muhyi’d-Dín war zweifellos mit den Schriften des großen persischen Súfí aus dem 12. Jahrhundert, Farídu’d-Dín ‘Attár, vertraut. ‘Attár hatte den richtigen Namen; er war ein Parfumeur, bevor er Philosoph wurde. Sein bekanntestes Werk war „Mantiqu’t-Tayr“ oder „Die Sprache der Vögel“. Darin wird die Reise der Seele durch sieben Täler beschrieben: Suche, Liebe, Erkenntnis, Loslösung, Vereinigung, Bestürzung und Nichtswerdung. Bahá’u’lláh verwendet ein ähnliches, wenn auch keineswegs gleiches Muster in Seinen persischen „Sieben Tälern“, um die sieben Stufen des Fortschritts der Seele zum Ziel ihres Daseins anzudeuten. Er schrieb dieses Werk nach Seiner Rückkehr aus der Einsamkeit der Berge um Sulaymáníyyih. Das Thema ist seinem Wesen [Seite 1191] nach zeit- und raumlos; es geht um die innersten Wahrheiten der Religion. Die geistige Wirklichkeit ist dieselbe in allen fest gegründeten Religionen, und sie ist die Grundlage des Glaubens. Das meint Bahá’u’lláh, wenn Er über Seinen Glauben sagt: „Dies ist der unwandelbare Glaube Gottes, ewig in der Vergangenheit, ewig in der Zukunft“. Die gesellschaftlichen Lehren Bahá’u’lláhs sind deutlich dem 20. Jahrhundert und den nachfolgenden Generationen angepaßt; sie weichen klar von den Werten vergangener Kulturen und Religionssysteme ab. Aber die „Sieben Täler“ behandeln das Reich, das nicht von dieser Welt ist, und unterscheiden sich nicht grundlegend von der Bergpredigt oder von Muhammads Beschreibung Gottes, des Allerbarmers, des Allbarmherzigen.

Die „Sieben Täler“ lehren, der Weg in die Gegenwart Gottes führe über das Hören auf die Botschaft der Manifestation Gottes für unsere Zeit. Ein gewöhnlicher und selbst ein außergewöhnlicher Mensch kann niemals hoffen, ein Christus zu werden. So sehr er sich auch müht, kann doch keiner seiner Körpergröße einen Zoll hinzufügen; ein Distel wird niemals Feigen tragen. Keiner kann beanspruchen, mit der Wesenheit Gottes identisch zu sein; denn keiner besitzt unendliche Macht, Erkenntnis und Güte. Aber jeder Mensch, wie niedrig auch seine Herkunft sei, kann die Attribute Gottes erwerben, indem er sich den göttlichen Gesetzen unterwirft und das Wort Gottes, wie es durch Seine Manifestationen geoffenbart wurde, aus seinem eigenen Wesen heraus wiederspiegelt. Der Mensch, der an das Ziel der mystischen Suche, in die Gegenwart Gottes, gelangt, ist derjenige, der die Manifestation Gottes für sein Zeitalter anerkennt und sich durch die Befolgung ihrer Gebote mit solchen himmlischen Eigenschaften bekleidet, die es ihm ermöglichen, seinem Geliebten näherzukommen. Ein solcher Mensch wird niemals von sich behaupten, er sei gottähnlich; vielmehr werden seine Taten für ihn sprechen. In Persien erzählt man sich die Geschichte eines Mannes, der seinen Sohn mit sich in einen Garten nahm, wo viele Leute zum Gebet versammelt waren. Nach einer Stunde voll Gebeten und Gesängen sah sich der Knabe um und bemerkte, daß viele Andächtige nicht dem Gebet, sondern dem Schlaf hingegeben waren. Er fragte seinen Vater: „Sind wir nicht besser als alle, die schlafen, statt zu beten?“ Der Vater antwortete schlicht: „Du könntest besser gewesen sein, hättest du nicht diese Frage gestellt.“

Die Verse von Rúmí im Tal der Einheit über Khidr beziehen sich auf die Erzählung im Qur’án (18:59—81) über den göttlichen Boten, dem sich Moses anschloß, um von ihm Führung zu erlangen. Sie bestiegen ein Schiff, in das Khidr ein Loch machte. Moses wundert sich darüber: „Hast Du ein Loch hinein gemacht, damit Du seine Mannschaft ertränkst?“ Später erklärt Khidr, „das Schiff gehörte armen Leuten, die auf dem Meere arbeiten, und ich wollte es beschädigen, da hinter ihnen ein König war, der jedes Schiff mit Gewalt nahm“. Diese Erzählung hat eine zweifache Bedeutung. Die erste ist, daß das Geschöpf die Taten seines Schöpfers nicht mit den eigenen, fehlerhaften Maßstäben messen sollte; die zweite, daß ein Unglück, das der Himmel schickt, gnädig und barmherzig sein kann.

Im Tal des Staunens wird ein Vers von Saná’í über die Unfähigkeit der reinen Vernunft, das Wort Gottes zu begreifen, zitiert. Der Dichter fragt, [Seite 1192] ob eine Spinne in ihrem Netz einen Phönix fangen könne. Der Phönix, ein mythischer Vogel mit tausend Jahren Lebenserwartung, spielt in der Gottesgelehrsamkeit zahlreicher Völker eine große Rolle. Er soll allein leben und einen flötengleichen Schnabel mit hundert Löchern haben; jedes Loch öffnet sich und bringt einen mystischen Laut hervor. Wenn der Tod naht, bereitet sich der Phönix einen Scheiterhaufen, tönt sein tragisches Lied und entzündet das Feuer mit seinen Federn. Die Kohlen verglühen bis auf einen letzten Funken, und dann erhebt sich wundersam ein neuer Phönix aus der Asche. Auf eine Anfrage hin erklärte Shoghi Effendi, der Hüter des Bahá’í-Glaubens, das Symbol des Phönix „hat nichts mit der Manifestation Gottes zu tun, aber es wird dichterisch gebraucht, um den Gedanken an etwas Unsterbliches oder an etwas aus der Zerstörung Aufsteigendes auszudrücken...“

Auch wenn der Inhalt der „Sieben Täler“ esoterisch und dem Alltagsleben in der rauhen Wirklichkeit fern erscheint, gibt es eine breite, allgemeine, praktische Anwendung für dieses Entwicklungsdenken. Leitmotiv ist dabei, daß ein wahrhaft gott-trunkener Mensch in seinem Auftreten spontan seine Liebe zu Gerechtigkeit, Wahrheit, Echtheit, Güte und all den anderen Eigenschaften äußert, die von der Manifestation des Geliebten hervorgerufen werden.

Zu oft hat die Gesellschaft in ihrer Geschichte unter äußerlich frommen Menschen gelitten, die Säulen ihrer Kirchen und Zierrat ihrer Gemeinden und vor allem fest davon überzeugt waren, daß sie das „Heil“ hätten und ungestraft gegen die Grundregeln anständigen Betragens verstoßen könnten. Diese „Erlösten“ führten doppelte Sittenmaßstäbe ein, mit anderen Regeln für sich selbst als für das Fußvolk. Die Selbstgerechten waren auch immer bemerkenswert unaufgeschlossen für die Lehren und Gebote eines neuen Propheten. Jesus versuchte nicht, die „Gerechten“, die angesehenen Pharisäer und Schriftgelehrten, zu retten. Er spendete Seinen Segen nicht denjenigen, die überzeugt waren, sie hätten das Heil in Händen, sondern den Sündern, die dennoch nicht aufhörten, nach Gerechtigkeit zu hungern und zu dürsten. Wahre Mystik ist nicht die Zuflucht des Schurken, der Hafen des Selbstbewunderers oder das Asyl dessen, der der gesellschaftlichen Verantwortung entflieht. Durch die Sieben Täler geht die Straße des Fortschritts, die zur Erkenntnis Gottes und zum Dienst an der Menschheit führt.

Die „Vier Täler“, ein Sendschreiben, das in Baghdád nach den „Sieben Tälern“ verfaßt wurde, waren an den gelehrten Shaykh ‘Abdu’r-Rahmán aus Karkúk, einer Stadt im irakischen Kurdistán, gerichtet. Sie legen vier Wege dar, auf denen das Ungeschaute gesehen wird, die vier Stufen des menschlichen Herzens und die vier Arten mystischer Wanderer auf der Suche nach dem Ersehnten, dem Gepriesenen, dem ewig Anziehenden, dem Geliebten. Die vier göttlichen Zustände kommen in dem Qur’án-Vers (57:3) zum Ausdruck: „Er ist der erste und der letzte, der Sichtbare und der Verborgene, und Er weiß um alle Dinge“.


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1) Shoghi Effendi, „Gott geht vorüber“, Oxford/Frankfurt 1954, S. 59
3) Bahá’u’lláh, „Brief an den Sohn des Wolfes“, Frankfurt 122/1966, S. 34
3) wie 1), S. 221
4) auszugsweise in „BAHA’I-BRIEFE“, Heft 4-7, S. 92-154
5) vgl. Shoghi Effendi, „Das Ziel: die neue Weltordnung“, „BAHA’I-BRIEFE“ 40, S. 1101


[Seite 1193]



„Filosofie“ der Faktorkombination[Bearbeiten]

Über das Unternehmertum als das eigentlich Menschliche / von Peter Mühlschlegel


Wir wollen „Filosofie“ treiben, nicht Philosophie. „Filosofie“ ist etwas Angewandtes, Praxisorientiertes wie Grafik oder Fotografie, keine systembildende Überzüchtung des Denkapparates. Es geht, bildlich gesprochen, um Sofie, die Dienerin, die ihrer Rolle als Magd der Theologie, einer wiedergeborenen Gottesgelehrsamkeit, bewußt geworden ist — nicht um Sophia, die emanzipierte große Dame, die ihre Starallüren auf der Weltbühne produziert. „Filosofie“ hilft uns, die Erkenntnis der Einheit Gottes, der Einheit Seiner Wertordnung und der Einheit Seiner Offenbarung im Gang der Weltgeschichte auf unsere täglichen Entscheidungen anzuwenden, die Hochspannung der Universalbegriffe sozusagen auf produktiv verwertbare Spannungen herabzutransformieren. „Filosofie“ ist die notwendige Frucht der Meditation, des strukturierten Nachdenkens, das jedem gläubigen Menschen zur Pflicht gemacht ist.

Es ist nicht ungefährlich, das unternehmerische Denken in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken, und es mit einer religiösen Transzendental-„Filosofie“ zu verbinden, handelt es sich doch um die konzentrierte, mit den höchsten subjektiven Vorstellungen harmonisierte Anwendung der Macht des Menschengeistes in einer Weise, die zahllosen Menschen möglich ist. Die Sozialgeschichte ist voll von mißbräuchlichen Interpretationen des Religiösen im Bereich der Wirtschaft, vor allem zum Zweck der moralischen Rechtfertigung des unternehmerischen Egoismus. Nur die beständige, ethisch fundierte Selbstkritik und die gewissenhafte Befolgung des göttlichen Gesetzes bewahren vor Fehlschlüssen und Fehlentscheidungen.

Der universalen Betrachtungsweise Bahá’u’lláhs nähern wir uns am besten dadurch, daß wir allgemeingültige Thesen aufstellen und durch deren Erläuterung unsere enge Begriffswelt erweitern:


1. Faktorkombination ist das Instrument unternehmerischen Denkens und Handelns

Die Wissenschaft definiert das Wirtschaftsgeschehen als die organisierte Bereitstellung von Mitteln zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Von einem kritischen, erzieherisch engagierten Standpunkt her läßt sich ergänzen, daß es sich um objektiv angemessene Bedürfnisse handeln sollte.

Unternehmerisches Denken und Handeln setzt hier ein, indem es

a) sich an (angemessenen) menschlichen Bedürfnissen orientiert;
b) produktive Faktoren zur Bereitstellung von Produkten, die mehr sind als die Summe der Aufwendungen und Bestandteile, kombiniert;
c) auf optimale Weise vorgeht, d. h. ein vorgegebenes Ziel mit dem geringstmöglichen Aufwand oder mit einem vorgegebenen Aufwand den größtmöglichen Ertrag zu erreichen sucht;
d) Risiken bereitwillig übernimmt;
e) Gewinn aus der eigenen Tätigkeit erwartet und vorausberechnet.

[Seite 1194] Alle hier auftretenden Begriffe lassen sich universalisieren, d.h. ins Außerökonomische, Allgemeingültige erweitern und transzendieren, d.h. ins Überökonomische, rein Geistige ausdehnen. Ökonomie ist Sachgerechtigkeit und damit ein wesentliches Element des Prinzips der Gerechtigkeit, das „in den Augen Gottes das Kostbarste“ ist 1).

Unternehmer ist also, wer die Mittelbereitstellung selbständig, auf eigenes Risiko und mit der Absicht, daraus für sich selbst Gewinn zu ziehen, organisiert. Der Weg, auf dem dies geschieht, ist die optimale Kombination produktiver Faktoren. An sich ist solche Faktorkombination das Wesen jeglicher Arbeit. Eine Hausfrau, die einen Kuchen backt und dafür nach dem bekannten Kindervers Eier und Schmalz, Butter und Salz, Milch. Mehl und Safran kombiniert, handelt unternehmerisch, ein Lehrer, Forscher, Künstler, Arzt, Handwerker, Arbeiter ebenfalls, insoweit sie selbständig tätig sind. Der Begriff des Unternehmers im engeren Sinn, als Handelsherr oder Industrieller, ist folglich quantitativer Natur: Das Risiko der backenden Hausfrau, daß der Kuchen mißlingt, macht ein paar Mark und vielleicht einige wenige enttäuschte Gesichter von Mann, Kindern und Gästen aus; beim eigentlichen Unternehmer kann es um Millionen gehen. Die Hausfrau lenkt in ihrem „Betrieb“ vielleicht die Arbeitskraft ihrer kleinen Tochter, die wißbegierig beim Backen hilft und ein paar Groschen Taschengeld dabei verdient: der Unternehmer dirigiert das Arbeitsleben von Hunderten oder Tausenden und setzt Daten für Hunderttausende von Lieferanten, Abnehmern und Konsumenten. Da es sich hierbei, entwicklungsgeschichtlich gesehen, um relativ junge Strukturen handelt — Unternehmer mit großer Entscheidungsmacht gibt es, von wenigen Ausnahmen abgesehen, erst seit etwa 200 Jahren — ist auch der Begriff des Unternehmers nicht älter als die erste Industrielle Revolution und weitgehend im Gegensatz zum Begriff des Arbeiters, des unselbständigen, entfremdeten, wenig ausgebildeten Lohnempfängers, der die vom Unternehmer installierte Maschinerie bedient, entstanden.

Diese Neuartigkeit und Wandelbarkeit der wesentlichsten Begriffe unseres Gesellschaftslebens sollten wir immer im Auge behalten. Wenn uns heute eine zweite industrielle Revolution mit Wachstumsraten von 4—8 % im Jahr in eine Überflußgesellschaft hineinkatapultiert, ergibt sich als natürliche Konsequenz, daß sich alle Grundbegriffe erneut ändern, miteinander verschmelzen und verfeinert wieder aufsteigen, daß die sozialen Gegensätze zusammenwachsen — nicht etwa dadurch, daß Unternehmer zu Arbeitern degenerieren, sondern dadurch, daß Arbeiter, Hausfrauen, Lehrer, Forscher, Künstler, Ärzte und Handwerker das Unternehmerische in ihrer Tätigkeit, das bislang nur den Besten unter ihnen intuitiv bewußt war, klar als ein wesentliches Element ihres schöpferischen Menschseins entdecken.

Was wir als produktive Faktoren betrachten, ist weitgehend unsere subjektive Angelegenheit. Die klassische Wirtschaftswissenschaft mit ihren harten, positivistischen Begriffen ist zu wenig differenziert, wenn sie von „Natur“, „Arbeit“, „Kapital“, „gesellschaftlicher Umwelt“ und dergleichen spricht. Gewiß ist man dabei, das Unternehmerbild psychologisch, soziologisch und philosophisch anzureichern, aber ohne die Einbettung in eine umfassende Wertordnung führen solche Bemühungen nur zu begrenzten [Seite 1195] Resultaten. Einstweilen ist, von den allgemeinen, positiven Daten abgesehen, ein produktiver Faktor ganz einfach das, was der Unternehmer als produktiven Faktor erkennt. Friedrich Schiller brauchte faule Äpfel in seiner Schreibtischschublade, um zu den höchsten Dichtungen inspiriert zu werden; folglich waren für ihn — und nur für ihn — faule Äpfel, Gegenstände ohne Marktwert, natürliche produktive Faktoren. Gläubige Menschen wissen, daß es jenseits aller menschlichen Vernunftstätigkeit im Wort Gottes produktive Faktoren gibt, die von der Schulwissenschaft noch gar nicht als solche erkannt werden.

Festhalten sollten wir in diesem Zusammenhang, daß mit fortschreitender wirtschaftlicher Entwicklung die subjektiven, menschlichen, persönlichen Faktoren im Verhältnis zu den objektiven, sachlichen, unpersönlichen Faktoren immer wichtiger werden, auch wenn vielfach der Anschein in die entgegengesetzte Richtung weist. Je konsumnäher eine Produktion oder Dienstleistung ist, desto stärker kommt es darauf an, daß nicht nur Waren oder Leistungen verteilt, sondern Problemlösungen verkauft werden, und das ist eine Frage der Kombination von technischen Faktoren mit persönlichem Einsatz. Derjenige wird den größten Erfolg haben, dem es gelingt, sachliche Faktoren zu verpersönlichen und persönliche Faktoren — erzieherisch — zu versachlichen. Public Relations im weitesten Sinn, die Imagebildung konsumnaher Unternehmen, das Franchising und andere moderne Entwicklungen gehören hierher.


2. Faktorkombination ist die Grundlage allen Lebens

Was der unternehmerische Mensch im wesentlichen erst seit 200 Jahren vollzieht, leistet die Natur seit Anbeginn der Welt. Der Aufbau des Lebens vom ersten Eiweißmolekül bis zum leiblich-seelischen Organismus des Menschen als dem kompliziertesten unter allen Naturprodukten ist eine fortschreitende Entfaltung immer höherer Faktorkombinationen. Wir wissen heute, daß das natürliche Leben nicht nur durch das Recht des Stärkeren im Kampf ums Dasein, sondern auch durch gegenseitige Hilfe gekennzeichnet ist, und daß sich der Entwicklungsprozeß nicht nur in fortschreitender Anpassung an die Umweltbedingungen, durch größere Überlebens- und Fortpflanzungschancen des besser angepaßten Individuums vollzieht, sondern auch in plötzlichen Mutationssprüngen, die einzelne Organismen wesentlich ändern und selbst für den fachlich geschulten Beobachter oft ans Wunderbare grenzen.

Was der unternehmerische Mensch bei seinen Faktorkombinationen der Natur voraus hat, ist sein Bewußtsein. Kein zweites Lebewesen ist so weit über instinktive Steuerungen hinausgewachsen, kein anderes kann gedanklich abstrahieren, Beobachtungen zu Regel- und Gesetzmäßigkeiten durchbilden, Werkzeuge entwickeln, Werte erkennen und realisieren, Träume und Visionen entfalten. Kein anderes Lebewesen „nimmt der Natur das Schwert aus der Hand und versetzt ihr einen schweren Schlag“ 2).

Weil er ein gesellschaftliches Lebewesen ist und weil ihm der Schutzmantel natürlicher Instinkte fehlt, ist der Mensch einerseits auf administrative Hierarchien, andererseits auf umfassende, allgemeinverbindliche Wertordnungen angewiesen. Nur innerhalb des Schutzes leidlich [Seite 1196] zuverlässiger Verwaltungs- und Wertordnungen kann er seine subjektiven Produktionsfaktoren optimal entfalten. Um optimal zu sein, müssen diese Herrschafts- und Wertordnungen transzendent, über das individuelle und gesellschaftliche Leben hinausgehend, und universell, alle Menschen, ja die gesamte belebte und unbelebte Welt umfassend, sein.

Je reicher und entwickelter das persönliche und gesellschaftliche Leben ist, desto stärker ist es in allen schöpferischen Faktorkombinationen auf immer vielfältigere Faktoren, insbesondere auf den produktiven Beitrag anderer Menschen und auf geordnete gesellschaftliche Verhältnisse, angewiesen. Die Zuordnung des Produktwerts auf einzelne Faktoren nach anderen als marktkonformen oder ordnungspolitisch vertretbaren Maßstäben ist so absurd wie zum Beispiel die Frage, ob an einem Automobil der Motor, die Räder oder das Chassis die wichtigsten Bestandteile sind. In dem Maße, wie das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, sind die produktiven Faktoren, welche die Teile bereitstellen, dem Ganzen als dem Produkt ihrer schöpferischen Funktion verpflichtet; anders verlieren sie diese schöpferische Funktion selbst. Jedes Faktorkombinat, d. h. jedes sinnvolle Arrangement produktiver Faktoren sowie jedes höher entwickelte Produkt, das aus solchen Arrangements hervorgeht, ist tendenziell etwas durch schöpferischen Willen Entstandenes, Lebendiges, auf eine spezifische Funktion Angelegtes, der Wiederauflösung und dem Tode Geweihtes. Die Begriffe „Seele“ und „schöpferische Funktion“ sind weitgehend identisch. Insofern haben auch „tote“ Produkte schöpferischer menschlicher Tätigkeit so lange Anspruch auf ein gewisses Maß an „Ehrfurcht vor dem Leben“, wie sie eine wesentliche Funktion erfüllen.


3. Das Reich Gottes ist das umfassende optimale Faktorkombinat

Der Prozeß der Faktokombination führt zu Faktorkombinaten, unter denen wir sinnvolle Arrangements von produktiven Faktoren oder Produktionsmitteln wie auch die aus ihnen hervorgehenden Produkte verstehen können. Das Gemeinsame von Produkten und Produktionsmitteln ist ihre Funktionalität, ihre Zweckhaftigkeit. Alles Geschöpfliche, alles Produzierte, ist funktional angelegt und dient einem höheren Zweck; nichts ist an sich und in sich selbst existent. Positive Funktionen sind ihrem Wesen nach einfach; auch die kompliziertesten Fragen lassen sich einfach lösen, wenn man die beteiligten Kräfte auf ihre positiven Funktionen prüft. Nur wer zu wenig Glauben hat, empfindet denjenigen, der so vorgeht, als „terrible simplificateur“.

Die umfassende Funktion des Menschen ist es, Ebenbild Gottes zu werden oder, wie es in dem von ’Abdu’l-Bahá oft zitierten Qur’án-Vers heißt, die Stufe des „Gepriesen sei Gott, der Herrlichste der Schöpfer“ zu erreichen. Für die inhaltliche Interpretation des Ebenbildcharakters sind dem schöpferischen Gestaltungswillen innerhalb eines weiten Rahmens fast keine Grenzen gesetzt. Im gesellschaftlichen Bereich ergibt die Ebenbildlichkeit vieler einzelner eine Einheit in der Mannigfaltigkeit, d.h. ein optimales Faktorkombinat, in dem nach einem übergeordneten Plan diejenigen Teilfunktionen der einzelnen Glieder geordnet und notfalls beschnitten werden, die wesentliche Funktionen anderer Glieder beeinträchtigen könnten. Oft verwandtes Modell für die Einheit in der [Seite 1197] Mannigfaltigkeit ist ein Garten mit verschiedensten Pflanzen und Tieren, deren Symbiose dem gestaltenden Willen eines Gärtners unterworfen ist. Vergessen wir nicht, daß der Schöpfungsmythos mit einem Paradiesesgarten beginnt, daß die Jenseitsvorstellungen der Bibel und insbesondere des Qur’án von Gartenlandschaften geprägt sind, daß die biblischen Bilder des künftigen Friedensreiches, vor allem bei Jesaia, Daniel und in der Offenbarung des Johannes, die ästhetische und ökonomische Begriffswelt von Kulturlandschaften wiederspiegeln.

Was der Idealtypus des Ebenbildes Gottes für den einzelnen Menschen ist, das ist das Reich Gottes für die menschliche Gesellschaft als Ganzes, die Menschheit, als Krone und Regent der gesamten bekannten Schöpfung. Aus dem Urwaldgarten des verlorenen Paradieses wurde der Mensch verbannt, als er, vermutlich erst vor wenigen Jahrtausenden, langsam zum Bewußtsein seiner selbst erwachte. Wir stehen heute im revolutionären Abschluß dieser Pubertätsphase der Gattung Mensch, die durch die Möglichkeit ihrer kollektiven Selbstvernichtung „reif“ geworden ist, wie denn das Wissen um die jederzeitige Möglichkeit des eigenen Todes ein wesentliches Merkmal des erwachsenen Bewußtseins ist. Die Alternative zur Selbstvernichtung ist die bewußte Anpassung an die schlagartig geänderten technischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse — ein Lernprozeß, der einerseits durch die wachsende Muße innerhalb der Wohlstands- und Freizeitgesellschaft, andererseits durch leichtere und schwerere Krisen und Katastrophen beschleunigt wird.

Wie der Idealtypus Ebenbild Gottes, so ist auch der Begriff des Reiches Gottes einer großen Bandbreite von Auslegungen zugänglich, zumal dann, wenn man den Weg zu diesem Idealzustand als einen langwierigen Anpassungsprozeß versteht. Neben der Einheit in der Mannigfaltigkeit — d. h. Übereinstimmung in den Grundfragen der Wertordnung, Freiheit in der Vielfalt der Lebensäußerungen, Höherbewertung der gemeinsamen Grundsätze gegenüber den verschiedenartigen sonstigen Ideen — empfiehlt sich vor allem das Denkmodell des dynamischen Gleichgewichts: Produktive Leistung entsteht aus der Bewegung, die eine hohe Elastizität, Flexibilität und Mobilität der Faktoren und ihrer Kombinationen voraussetzt. Statik bedeutet Stillstand, Zyklik die ewige Wiederkehr des Gleichen. Nur die Bereitschaft der wichtigsten Entscheidungsträger, neue Daten sachgerecht zu berücksichtigen, das Gemeinsame über das Verschiedenartige zu stellen und allgemein vertretbare Ziele anzustreben, wird letztenendes Gleichgewichtszustände herbeiführen, die den Makel der Trägheit und der Dekadenz vermeiden.

Mit Sicherheit kann gesagt werden, daß eine reife Gesellschaft fundamentaldemokratisch aufgebaut, d. h. auf den weitestmöglichen Konsensus aller Beteiligten in allen wesentlichen Fragen hin orientiert ist, daß sie eine Gesellschaft von ständig Lernenden ist, daß sie das Lernen durch attische Diskussionsfreude erleichtert und ermutigt und daß sie im Zuge dieser weltweiten Lernprozesse eine umfassende Umwertung aller Werte vollzieht. In dem Maße, wie sich ihre Individuen aus rücksichtslosen Konkurrenz- und Daseinskämpfern zu kooperativen Verehrern allgemeingültiger Zielvorstellungen und zu Nutznießern allgemein anwendbarer Werte und Einrichtungen wandeln, wächst organisch das Bild des Reiches Gottes

(Fortsetzung Seite 1200)


[Seite 1198]











In der Zeit von August 1970 bis September 1971 finden acht Ozeanische beziehungsweise kontinentale Bahá’í-Konferenzen statt, in deren Mittelpunkt die weitere Verbreitung des Glaubens in aller Welt steht. Die











[Seite 1199]











ersten Konferenzen vereinten in Maritius (linke Seite) und La Paz (rechts) Bahá’í aus zahlreichen Ländern.











[Seite 1200] als einer universalen, die ganze gestaltbare Schöpfung umschließenden Weltordnung. Ihre wesentlichen Strukturen sind einfach und klar; jeder Gebildete kann sie heute schon als Zielvorstellungen realisieren, wenn er nur bereit ist, persönliche und gesellschaftliche Vorurteile abzulegen, interessenfrei zu denken, alle Alleinvertretungsansprüche zu meiden und seine bisherigen Wertvorstellungen zu kritisieren, zu transzendieren und zu universalisieren.


4. Die Manifestation Gottes ist die höchste Verkörperung des Unternehmergeistes

Wir haben festgestellt, daß mit fortschreitender wirtschaftlicher Entwicklung das unternehmerische Denken und Handeln zum tragenden Element schöpferischer Lebensgestaltung wird. Wir haben das Ebenbild Gottes als die Zielfunktion menschlicher Existenz erwähnt, das Reich Gottes als höchstes Kombinat produktiver Faktoren angedeutet. Die logische Folge ist, daß die unternehmerische Haltung eine göttliche Eigenschaft sein muß, daß diese Haltung in der Manifestation Gottes, Seinem „Sohn“, Gesandten und Sprachrohr, im besonderen Maße zum Ausdruck kommen muß und daß sie sich im geoffenbarten Wort Gottes umso stärker niederschlagen muß, je weiter sich die Menschheit zu ihrer wahren Bestimmung hin entwickelt.

Wenn wir die heiligen Schriften mit aufgeklärten Augen lesen, finden wir genau dies bestätigt. Während die östlichen Religionen die kontemplativen Elemente des geistigen Lebens betonen und auf eine Schematisierung der Gesellschaftsstrukturen und Verhaltensweisen zielen, sind die westlichen Offenbarungsreligionen ausgesprochen dynamisch und unternehmerisch angelegt: Sie verfolgen ein Unternehmen, das im Gang von Jahrtausenden planmäßig vorangetrieben und bis zur „Marktbeherrschung“ ausgebaut worden ist. In der Tat könnte man sich keine höhere unternehmerische Leistung als die Vorbereitung des Reiches Gottes vorstellen, mit einem Investitionszeitraum von 4000 Jahren, in welchem die Hoffnung auf ein schließliches Gelingen unter unsäglichen Opfern und Belastungen durchgehalten wurde. Wie Abraham als einziger in einer Welt von Götzendienern die Idee der Einheit Gottes hochhielt und die Regression in die nomadische Lebensweise auf sich nahm, um diese Idee unverfälscht seiner Nachkommenschaft weiterzugeben, wie Moses die Glaubensgemeinschaft sammelt, ihr eine umfassende Lebensordnung gibt und sie in den ihr bestimmten Lebensraum führt, wie Jesus die harte Schale der Äußerlichkeiten durchbricht und die persönlichen Beziehungen zum Göttlichen und zur Umwelt in den Mittelpunkt des Bewußtseins rückt, wie Muhammad schließlich einer degenerierten Gesellschaft die Disziplin der ersten nationalstaatlichen Ordnung anlegt und sie in kürzester Zeit zu höchster Kulturentfaltung führt — das alles zeigt neben vielen anderen Tugenden ein Höchstmaß an unternehmerischer Tatkraft. Tausend andere große Gestalten der Religions- und Geistesgeschichte bieten ergänzende Vorbilder.

Die Wortzeugnisse sind nicht minder anspornend. Viele Gleichnisse Jesu handeln von Grundherren, die sachgerechte unternehmerische Entscheidungen treffen und begründen. Die klarste Hinführung zur richtigen Einstellung gegenüber Wirtschaftsproblemen, die je aufgezeichnet worden [Seite 1201] ist, dürfte der Abschnitt aus der Bergpredigt (Matth. 6) sein, wo zunächst die übertriebene Ängstlichkeit um die Befriedigung der — meist zu hoch geschraubten — Bedürfnisse verurteilt und auf die Vögel in der Luft, die nicht säen und ernten und doch von ihrem himmlischen Vater versorgt werden, sowie auf die Lilien des Feldes, die nicht spinnen und weben und doch schöner gekleidet sind als Salomo, verwiesen wird. Diese Haltung steht natürlich dem Menschen nicht an; er soll vielmehr sein Trachten umfassend „auf das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit richten; dann wird ihm alles andere zufallen“. Lassen wir die Frage nach dem Unterschied zwischen dem vorgegebenen Soll und dem tatsächlichen Verhalten der Wirtschaftssubjekte beiseite. Achten wir lieber darauf, was das Trachten nach dem Reich und seiner Gerechtigkeit praktisch zum Inhalt hat. Diese Gerechtigkeit schließt ja einen gesunden Kern von Egoismus keineswegs aus, nur daß hier der Erwerbssinn nicht mehr zum Erwerbstrieb degeneriert ist. Heute, da uns die Zusammenhänge und gegenseitigen Abhängigkeiten klar und wissenschaftlich vor Augen liegen, können wir leicht nachvollziehen, daß Jesus eigentlich nur die Theorie der produktiven Umwege, mit der man den Einsatz von Anlagegütern und Maschinen im Produktionsprozeß erklärt, vorwegnimmt und transzendiert: Wenn die spezifischen Zwecke — hier die subjektive Bedürfnisbefriedigung — auf dem geistigen Umweg über ihre Einbettung in die Gerechtigkeit des Gottesreiches gesehen und verfolgt werden, wenn sich das Bewußtsein rein, strahlend und ordnend über die organischen Strukturen erhebt, statt sich kämpferisch und zerstörend gegen sie durchzusetzen, lassen sich berechtigte Interessen mit geringem Aufwand realisieren, und die Früchte fallen dem wirtschaftenden Menschen mehr oder weniger zu.

Das Trachten nach der Gerechtigkeit des Gottesreiches ist in seinem Kern nichts anderes als eine ständige latente Bereitschaft zu optimalen Faktorkombinationen um der Kombination, der schöpferischen Tätigkeit selbst willen. Es ist eine Fortentwicklung derjenigen Geisteshaltung, die manchen Unternehmer sagen läßt, das Geld liege auf der Straße, man brauche es nur aufzuheben. Auch wenn dieses „Aufheben“ nicht einfach ist, sondern Mut, Energie und Durchsetzungsvermögen erfordert — die Chancen sind groß und weit.

Das produktivste Ergebnis des Trachtens nach dem Gottesreich und seiner Gerechtigkeit im Bewußtsein des Wirtschaftssubjekts ist Vertrauenswürdigkeit. Es wird viel zu wenig beachtet und praktiziert, daß „Glaube“, „Vertrauen“ und „Kredit“ fast deckungsgleiche Begriffe sind. Bahá’u’lláh ist sehr sparsam damit, menschliche Tugenden zu personifizieren oder eigene mystische Erlebnisse auszubreiten. Umso bedeutungsvoller ist sein Bericht darüber, wie Er nach entbehrungsreicher Kerkerhaft in der Steinwüste von ‘Akká „Seine grüne Insel“, einen von ‘Abdu’l-Bahá für Ihn vorbereiteten Garten, betritt und dort die Vertrauenswürdigkeit als „eines der herrlichen Wesen des Erhabensten Paradieses, auf einer Säule reinen Lichtes stehend“, erlebt3). Wenn wir diese Erzählung vor dem Hintergrund Seines Grundsatzes sehen: „Alle Menschen wurden erschaffen, eine ständig fortschreitende Kultur voranzutragen“ 4), wenn wir Seine fortgesetzten Aufforderungen bedenken: „Wendet euch der Förderung des Wohlergehens und der Ruhe der Menschenkinder zu! Widmet euren Geist [Seite 1202] und Willen der Erziehung der Völker und Geschlechter der Erde...!“ 5), wenn wir überlegen, daß mit fortschreitender Kultur die Lebensäußerungen und Lebensbeziehungen immer vielfältiger werden und demnach eines integrierenden Elements, eben jener Gläubigkeit und Vertrauenswürdigkeit, bedürfen, dann erleben wir erneut, wie umfassend der unternehmerische Weitblick einer Manifestation Gottes ist, die alle produktiven Faktoren ausnahmslos auf ihre Wertigkeit prüft und sie von einem absolut reinen Willen her, durch sparsamen und doch kraftvollen Ausdruck im göttlichen Logos, optimal kombiniert.


5. Privatwirtschaftlicher Gewinn ist nicht die Hauptfunktion unternehmerischer Tätigkeit, aber die optimale Steuerung für ihre Aktivierung

Glauben und Vertrauen in einem neuen, geläuterten Sinn sind die höchste, aber schlechterdings nicht die einzige Motivation unternehmerischen Denkens und Handelns. Gewinnerwartungen der Wirtschaftssubjekte sind in einem sehr hohen Maße natürlich, zweckmäßig und berechtigt. Nur sollte ein Unternehmer bewußtseinsmäßig so weit entwickelt sein, daß er sich, zumindest mit einem kleinen Teil seines Denkapparats, sozusagen auch von außen her, in seiner gesamtwirtschaftlichen Funktion sieht. Dann muß er erkennen, daß die Steuerung der Wirtschaft über die Gewinne selbständiger Unternehmen keineswegs die einzig denkbare Wirtschaftsverfassung ist; sie kann durch das Fehlverhalten mächtiger Wirtschaftssubjekte in ihrer Wirksamkeit so herabgedrückt werden, daß andere Wirtschaftsverfassungen, zumindest in Teilbereichen, zweckmäßiger sind. Zweitens sollte man sich des (übergebührlichen) Gewinnstrebens, von einer ethischen Warte her gesehen, eher ein wenig schämen, anstatt es an einer rechenhaften Auffassung des Erfolges aufzuhängen und mit diesem zusammen durch wirtschaftswissenschaftliche Dogmen aus der Zeit des Laissez-faire zu vergolden. Drittens sollte man sich eingestehen, daß ein gewisser, schwer quantifizierbarer Teil der Gewinne weniger das Produkt zweckmäßiger Unternehmensführung als das Ergebnis von zufälligen oder herbeigeführten Marktverengungen und Marktverformungen ist.

Gesamtwirtschaftlich erfüllt der Unternehmergewinn Funktionen wie die des Blütennektars bei der Pflanzenbestäubung oder die des Tachometers beim Kraftfahrzeug. Man kann Pflanzen zur Not auch künstlich bestäuben und ohne Tachometer fahren, nur eben nicht so bequem. Jedenfalls sind die Hummel, die nur an den Nektar denkt und ihrer Bestäubungsfunktion nicht innewird, und der Halbstarke, der sich waagrecht auf sein Moped legt und voll aufdreht, nur damit die Tachometernadel hochgeht, im Grunde bemitleidenswerte Geschöpfe. Ein gebildeter Unternehmer sollte geistig etwas weiter vorangeschritten sein.

Wie weit dieser geistige Fortschritt gediehen ist, zeigt sich in der Qualität der Faktorkombination im weitesten Sinn, und diese beruht in steigendem Maße auf der Qualität der subjektiven, persönlichen Faktoren. Gereifte, in sich selbst gefestigte Persönlichkeiten, denen die Ehrfurcht vor gewachsenen Strukturen so viel bedeutet wie ein starkes Empfinden [Seite 1203] für das ökonomische Prinzip, werden es ablehnen, das Diktat der Fakten und Sachzwänge als die höchste Orientierungsgröße für ihre Entscheidungen anzuerkennen.


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1) Bahá’u’lláh, „Verborgene Worte“, arab. 2
1) ‘Abdu’l-Bahá, Brief vom 21. Sept. 1921 an Prof. Dr. Auguste Forel, „BAHA’I-BRIEFE“ 1/Juli 1960, S. 8
1) Tablet Tarázát, vgl. Bahá’u’lláh, „Brief an den Sohn des Wolfes“, Frankfurt 122/1966, S. 121, und „BAHA’I-BRIEFE“ 9/Juli 1962, S. 204
1) „Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs“, CIX
1) „Ährenlese“ CLVI



Erziehung zur Selbständigkeit[Bearbeiten]

Ein Brief von A. Q. Faizi


Als ich 1965 die europäischen Sommerschulen besuchte, fand ich, daß die Vorträge über Bahá’í-Erziehung viele Herzen gewannen. Unter den vielen Fragen, die gestellt wurden, stand die des unabhängigen Forschens nach Wahrheit im Vordergrund. Wir verbrachten viel Zeit mit dem Austausch von Meinungen und dem Nachlesen von Texten; unsere Augen wurden geöffnet und unsere Herzen erbaut von der Majestät und Herrlichkeit unseres kostbaren, allumfassenden Glaubens. Nun habe ich nochmals die Gelegenheit, mein Herz denen von Ihnen zu öffnen, die so weit entfernt leben und doch geistig meinem Herzen und meiner Seele so nahe sind.

Die Frage ist, ob Bahá’í-Eltern ihren Kindern gegenüber so eingestellt sein sollen, daß sie die Kinder als Bahá’í großziehen, oder ob sie die Kinder sich selbst überlassen sollen in der irrigen Annahme und mit der vagen Hoffnung, daß sie den Glauben von selbst fänden.

Das letzte ist eine Mißdeutung des göttlichen Worts, einer der schlimmsten Faktoren für die zahlenmäßige Abnahme von Gemeinden, den geistigen Zerfall von Bahá’í-Familien und für den Mangel an Fortschritt in der Lehrtätigkeit vieler Länder.

Es ist in der Tat bedauerlich, daß manche neue Gläubige aus ihrem mangelhaften Wissen über unseren allumfassenden Glauben heraus, in ihrem Wunsche, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen und die Stimme ihres Gewissens zu besänftigen, dieses für das ewige Leben des Menschen grundlegende Prinzip mißdeuten. So wird die Gabe Gottes — uns anvertraut, damit wir sie als Fackel auf dem finsteren Pfade des Lebens benützen — in ein Feuer verwandelt, das jede Faser unseres geistigen Wesens verzehrt und nichts übrig läßt als das Skelett unseres körperlichen Seins, das dazu bestimmt ist, zu Staub zu zerfallen.

Zu meinem großen Kummer stellte ich fest, daß manche Bahá’í-Eheleute, selbst aktive Mitglieder von Bahá’í-Gemeinden, aufgrund ihres besorgniserregenden Mißverständnisses für dieses grundlegende Prinzip [Seite 1204] ihren Kindern gegenüber kein Wort über unser ewiges Vermächtnis, diesen herrlichen Glauben, äußern. Ungeachtet der Folgen solcher Unwissenheit in den Herzen und Seelen ihrer Lieben benehmen sie sich, als gehörten sie einer Geheimgesellschaft an. Es gibt kein einziges Anzeichen für ihren Glauben in ihren wohlausgestatteten Häusern. Ich stellte sogar fest, daß manche von ihnen sich schämen, ihre Glaubensbrüder und -schwestern zu erwähnen. So bleibt der Glaube ihren Kindern unbekannt; sie werden aus ihrem Elternhaus in die Welt ziehen, ohne jemals auf den weiten Horizont zu schauen, der im Flutlicht der aufsteigenden Sonne der Wahrheit erstrahlt. Wenn man diese Eltern fragt, haben sie stets die Antwort: „Wir möchten, daß die Kinder den Glauben selbst finden und ihn unabhängig erforschen.“ Diese Antwort belud mein Herz mit so viel Kummer, daß ich keine passenden Worte finden konnte, meine Gefühle auszudrücken.

„...den Glauben selbst finden“: Was für ein falscher Spruch! Wie sollen sie ihn finden? Durch wen und woher, wenn nicht zuhause unter der liebevollen, wachsamen Anleitung ihrer Eltern? Wenn uns unsere Kinder nicht leid tun, wenn wir sie in die reißenden Wogen dieses stürmischen Meeres, der Gesellschaft werfen, wie können wir von anderen erwarten, daß sie ihnen leid tun, daß sie unsere Kinder an der Hand nehmen und sie an das sichere Ufer retten?

Wenn es das ist, was wir unter „unabhängigem Forschen“ verstehen, warum geben wir uns dann größte Mühe um ihre Schulbildung, warum lassen wir sie Jahre im voraus bei bekannten Lehranstalten vormerken? Warum nötigen wir sie das ganze Jahr, keine Schulstunde auszulassen? Warum ermutigen wir sie zu besserer Leistung und sind stolz über ihre Kleinen täglichen Fortschritte in dem, was man Künste und Wissenschaften nennt? Warum lassen wir ihnen nicht die Freiheit, ihren eigenen Weg durch die Erziehungseinrichtungen zu finden, ohne sie zu fragen, ob sie ihre Tage in der Schule oder in Bars und Spielhöllen zugebracht haben?

Um der materiellen Erziehung willen drängen wir unsere Kinder sicherlich, besondere Kurse zu besuchen; wir verlangen Disziplin und passen gut auf, daß sie keine Gelegenheit versäumen. Aber ach! In der wichtigsten Sache, die wie der Sonnenschein für alle Lebensäußerungen unserer Lieben ist und ihnen ewiges Glück sichert, bleiben wir achtlos, gleichgültig und unbesorgt.


Das Wesen der Selbständigkeit

Von allen Grundsätzen Bahá’u’lláhs für den Schutz der Weltordnung und die Einheit der Menschheit, ist dieses Prinzip des unabhängigen Forschens nach Wahrheit eines der wenigen, die sich ausschließlich an den einzelnen wenden; die anderen sind im Grunde kollektiver Natur und bringen in erster Linie gesellschaftliche Veränderung mit sich. Beispielsweise sind die Einzelmenschen nicht dafür verantwortlich, daß eine Weltsprache eingeführt wird oder daß ein allgemeines System der Erziehung festgelegt wird; aber sie haben die Wahrheit zu erforschen und dabei unabhängig von anderen vorzugehen. Es ist jedoch bedeutungsvoll für uns zu erkennen, daß dieses Prinzip ein zweischneidiges Schwert ist: Die eine Schneide trennt das Falsche vom Wahren, die andere schützt den einzelnen [Seite 1205] Gläubigen vor dem eigenen Ich, wenn er mit göttlichen Prüfungen konfrontiert wird.

Dieses Prinzip bezieht sich nicht nur auf das geistige Leben des Menschen; es ist wichtig zu wissen, daß es auf alles anwendbar ist, was wir tun wollen. Bei allen kleineren und größeren Tätigkeiten machen wir diesen Prozeß des Forschens durch. Selbständiges Forschen ist in der Tat unumgänglich und eines der grundlegenden Erfordernisse für jeden einzelnen Menschen.

Wenn wir uns darauf beschränken, uns selbst aus der Qual des Unglaubens, des Zweifels und der Skepsis zu Anerkennung, Glauben und Gewißheit in der Wahrheit der Sendung Bahá’u’lláhs durchzuringen, dann ist die erste Etappe unserer Reise zu Ende, so bald wir dieses höchste Ziel erreicht und Ihn als den göttlichen Erzieher erkannt haben. Das bedeutet, daß anschließend jede Handlung Bahá’u’lláhs und jede von Ihm geoffenbarte Äußerung als Manifestation der Wahrheit angenommen werden muß. Der Geist des Forschens wird sodann dem Wanderer, der sich aufgemacht hat, helfen, den Schmutz der Falschheit von den Perlen der Wahrheit zu trennen und auf diesem Pfade fortzuschreiten, bis jedes Glied seines stofflichen Tempels, ja jedes Haar Zungen findet, den in seinem Herzen entzündeten Glauben auszudrücken.

Aber die Reise geht weiter. Hat der Wanderer die Stufe des Glaubens erreicht, sieht er sich am Ufer eines endlosen, unergründlichen Meeres göttlicher Äußerung. Da muß er hineinspringen: nicht um die Wahrheit jedes Wortes, Verses, Grundsatzes und Gebotes nachzuprüfen, sondern ganz im Gegenteil. Mit einem Herzen voller Gewißheit und in einer Haltung völliger Ergebenheit und bittender Demut wird der Gläubige nachdenken und beten und dann die Perlen der Weisheit zu entdecken suchen. Dabei wird er die ewige Schönheit und die unermeßlichen Geheimnisse schauen, die in jedem Wort verwahrt sind.


Hujjat und die freie Glaubensentscheidung

Ehe wir uns dem Hauptthema dieses Briefes zuwenden, wollen wir die beiden nachfolgenden Auszüge aus dem unsterblichen Bericht Nabíls in uns aufnehmen, um unsere Erinnerung an die ruhmreichen Taten der Helden und Heiligen unseres geliebten Glaubens aufzufrischen. Diese Auszüge veranschaulichen die beiden Aspekte unseres Problems und werden sicherlich viel Licht auf unsere Untersuchung werfen.

Sobald Hujjat der Ruf aus Shíráz zu Ohren kam, entsandte er einen seiner Schüler, Mullá Iskandar, in den er volles Vertrauen setzte, damit er die ganze Angelegenheit untersuche und ihm das Ergebnis seiner Nachforschungen vortrage. Gleichgültig gegenüber dem Lob oder Tadel seiner Landsleute, deren Aufrichtigkeit er anzweifelte und deren Urteil er gering achtete, schickte er seinen Vertrauten nach Shíráz mit der ausdrücklichen Weisung, genaue und selbständige Untersuchungen anzustellen. Mullá Iskandar gelangte in die Gegenwart des Báb und fühlte sofort die belebende Kraft Seines Einflusses. Er verweilte 40 Tage in Shíráz, nahm in dieser Zeit die Grundsätze des Glaubens in sich auf und verschaffte sich seiner Fassungskraft entsprechend Kenntnis über das Ausmaß der Herrlichkeit dieser neuen Offenbarung.

[Seite 1206] Mit Zustimmung des Báb kehrte er nach Zanján zurück. Als er ankam, waren gerade alle führenden Ulama (Geistlichen) bei Hujjat versammelt, und Hujjat fragte ihn unumwunden, ob er an die neue Offenbarung glaube oder sie ablehne. Mullá Iskandar legte die Schriften des Báb, die er mitgebracht hatte, vor und versicherte, was immer das Urteil seines Meisters sei, wolle er als verbindlich betrachten. „Was?“ rief Hujjat ärgerlich aus. „Wenn diese edle Versammlung nicht hier wäre, würde ich dich streng bestrafen. Wie kannst du es wagen, Glaubenssachen der Billigung oder Ablehnung anderer zu unterwerfen?“ Er nahm seinem Boten eine Abschrift des Qayyúmu’l-Asmá, des ersten Offenbarungswerks des Báb, aus der Hand, und nachdem er eine Seite des Buches überflogen hatte, fiel er ausgestreckt zu Boden und rief: „Ich bezeuge, daß die Worte, die ich hier gelesen habe, derselben Quelle entströmen wie die des Qur’án. Wer die Wahrheit dieses heiligen Buches erkannt hat, muß sich unbedingt den Geboten seines Urhebers unterwerfen. Sie, die Mitglieder dieser Versammlung, sind meine Zeugen: Ich gelobe dem Urheber dieser Offenbarung solche Treue, daß ich mich, sollte Er die Nacht zum Tag erklären und die Sonne zum Schatten, vorbehaltslos Seinem Urteil fügte und es als die Stimme der Wahrheit betrachtete. Wer Ihn verleugnet, den werde ich als Gottesleugner ansehen.“ Mit diesen Worten beendete er die Ratsversammlung.

Kurz darauf kam Hujjats besonderer Bote, Mashadí Ahmad, den er insgeheim mit einer Bittschrift und persönlichen Geschenken für den Báb nach Shíráz gesandt hatte, wieder in Zanján an und überreichte ihm, während er zu seinen Schülern sprach, einen versiegelten Brief seines Geliebten. In diesem Tablet verlieh ihm der Báb zu seinen anderen Titeln hin den Namen Hujjat und drängte ihn, die grundlegenden Lehren Seines Glaubens ohne den geringsten Vorbehalt von der Kanzel herab zu verkünden. Kaum hatte er die Wünsche seines Meisters zur Kenntnis genommen, als er schon seinen Entschluß erklärte, alle Anordnungen dieses Tablets unverzüglich auszuführen. Er entließ seine Schüler, befahl ihnen, ihre Bücher zu schließen, und bekundete seine Absicht, seine Seminare nicht weiterzuführen. „Welchen Zweck“, fragte er, „haben Studien und Forschungen für diejenigen, die die Wahrheit schon gefunden haben, und warum sollten wir nach gelehrter Erkenntnis streben, wenn Er, das Ziel aller Erkenntnis, Sich geoffenbart hat?“


Der Schatzberg des Menschenherzens

Jeder menschliche Tempel, ungeachtet der Rasse, der Farbe, des Landes oder des Klimas, ist nach Bahá’u’lláh ein Schatzberg, in welchem Gott in Seiner unergründlichen Weisheit und Seiner grenzenlosen Liebe Edelsteine verwahrt hat, die durch den Prozeß einer sachgerechten, göttlichen, umfassenden Erziehung entdeckt, poliert und geschliffen werden müssen. Bei diesen Edelsteinen handelt es sich um die unerschlossenen Kräfte und Talente, mit denen jeder einzelne Mensch begabt ist. Wenn diese Kräfte und Fähigkeiten entdeckt und richtig geschult werden, dann wird die Menschenwelt zu einem himmlischen Spiegel, aus dem alle göttlichen Vollkommenheiten herrlich widerstrahlen.

[Seite 1207] Das große Thema der Bahá’í-Erziehung hat viele Verzweigungen, die sich über alle Aspekte des menschlichen Lebens erstrecken. Unsere Bahá’í-Literatur ist voll von Erklärungen, die unseren Augen die verborgensten Winkel der menschlichen Seele enthüllen. Wie kläglich, daß die Menschheit den Überfluß dieser göttlichen Gaben starrköpfig von sich weist und den Pfad der Schande und des Verderbens wählt!

Aber noch bedauerlicher ist es, wenn jene, die an die Höchste Manifestation Gottes glauben, sich selbst ihres liebevollen Rats berauben. Für die Zeit bis wir offizielle Klassifikationen und Übersetzungen aller heiligen Texte haben werden, will ich mich in diesem Brief auf Aussagen über die elterlichen Pflichten gegenüber den Kindern beschränken.


Erziehung und Unterricht

Zunächst müssen wir wissen, daß zwischen Erziehung im Sinn der Charakterbildung und Unterricht ein riesengroßer Unterschied besteht. Der geliebte Meister hat nachdrücklich betont, daß Erziehung immer den Vorrang vor dem bloßen Ansammeln von Wissen haben muß. Viele Tatsachen zu wissen, zahllose Lehrsätze auswendig zu lernen und wie ein Papagei wissenschaftliche Theorien wiederzugeben ist keine Ehre für den Menschen. Wahre Ehre liegen in des Menschen geistiger Erziehung und in seinem sittlichen Verhalten, die ihn befähigen, ein Spiegel göttlicher Vollkommenheiten zu sein und wie ein Leitstern zu strahlen, eher zum Sterben bereit als dazu, sein Wissen für die Zerstörung der Menschheit zu mißbrauchen.

Diesem letzten Ziel zuzustreben, werden wir alle ermutigt. Göttliche Erziehung bewertet Bahá’u’lláh als „das erhabenste“ unter allen Seinen Geboten und als „einen starken Schutz“ für die Sache Gottes. Erziehungseinrichtungen müssen den Herzen und Seelen der Kinder als erstes die göttlichen Gesetze und Gebote einflößen. So wachsen die Kinder dazu auf, Gott zu verehren und sich gegenseitig als Seine Söhne und Töchter zu lieben. Unmittelbar nachdem Er uns diesen Befehl gibt, warnt uns Bahá’u’lláh vor der übermäßigen Anwendung von Systemen, die individuell oder kollektiv Vorurteile und Unduldsamkeit in die unschuldigen Herzen unserer Kinder einimpfen.

Aus den Texten erfahren wir klar, daß es keinerlei Zwang im Glauben geben darf. Unter keinen Umständen dürfen Eltern ihre Kinder zwingen, Bahá’í zu werden, aber nach den deutlichen Texten sind sie für die geistige Geburt und das geistige Wachstum ihrer Kinder verantwortlich.

Lassen Sie uns hier von der Natur lernen. Wenn eine Mutter empfängt, schafft die Natur besondere Verhältnisse in ihrem stofflichen Tempel, der dem wachsenden Embryo Heimstatt ist. In dieser zweckmäßigen Umgebung beginnt das körperliche Wachstum des Kindes. Obwohl die Eltern darauf brennen, ihr Kleines von Angesicht zu Angesicht zu sehen, werden sie doch seine Geburt nicht erzwingen. Im Gegenteil warten sie geduldig, bis die Stunde kommt, die die Vorsehung bestimmt hat; sie achten darauf, daß alles andere mit dem natürlichen Ablauf in Einklang steht. Wenn durch das Wirken der natürlichen Kräfte der gesegnete Augenblick da ist, wird das Kind in diese unermeßliche Welt hineingeboren.

[Seite 1208] Wir wollen nun die gleichen Regeln auf die zweite Heimat anwenden, in die das Kind durch seine körperliche Geburt eingeführt wird. Unter göttlicher Erziehung zuhause verstehen wir die Schaffung einer Atmosphäre, in der das Kind die geistigen Kräfte dieses Zeitalters atmen kann, um zur rechten Zeit wie eine Rose aufzublühen, sich zu entfalten und sein Dasein im Garten Gottes unter der Fürsorge und dem Schutz des göttlichen Gärtners kundzutun. Durch Gewalt oder durch irgendeine Art von Zwang kann dies nicht erreicht werden, so wenig wie die Geburt des Kindes durch äußere Kräfte bewerkstelligt werden kann. Wir versuchen ja auch im Winter nicht, die Blüte aus dem Stengel herauszuziehen. Zur rechten Zeit werden die Stengel von Blüten geschmückt, den Regeln und Gesetzen entsprechend, die der Schöpfer für die Pflanzen bestimmte.

Lassen Sie uns dies durch ein weiteres Beispiel veranschaulichen. Kinder, die in Häusern leben, in denen oft die Musik von Mozart oder Beethoven gespielt wird, wachsen sicherlich dazu heran, diese Art Musik gern zu haben. Dies kommt daher, daß die Atmosphäre des Hauses von solchen Melodien erfüllt ist. Das Kind hat sie eingeatmet. Dieses gemeinsame Anliegen ist überdies ein Brennpunkt, der die Eltern einander nahebringt.

Wenn nun die Eltern jeden Morgen und jeden Abend in den heiligen Schriften lesen, wie es die Altehrwürdige Schönheit gebot, wenn sie in ihrer Wohnung Ausspracheabende halten, bei denen sie den Menschen ohne Rücksicht auf Rasse, Klasse oder Herkunft Liebe, Achtung und Ehrerbietung entgegenbringen, wenn sie die Pflichtgebete sprechen, wenn sie fasten, das Neunzehntagefest besuchen, die neun Feiertage einhalten und bei allen diesen Feiern ihren Kindern deren Bedeutung und Wichtigkeit erklären, dann brauchen die Eltern nichts zu befürchten. Voll Stolz werden sie die Blumen in ihrem eigenen Heim wachsen sehen; der Geist der Sache Gottes wird die ganze Atmosphäre des Hauses durchdringen. Licht und Wärme der göttlichen Liebe, die von einem solchen Heim ausstrahlen, werden den Kleinen sicherlich helfen, zu fruchtbaren Bäumen im Garten Gottes heranzuwachsen, und zu gegebener Zeit werden sie nicht nur in Worten, sondern durch die Reinheit ihrer Taten bekunden, daß sie unter dem Banner des Größten Namens versammelt sind, Soldaten in der Armee des Lebens, die in der vordersten Schlachtlinie des Lehrens, der Festigung und der Pionierarbeit siegreich sind.

Unsere Schriften raten den werdenden Müttern weiterhin, sie sollen die Worte Gottes aufsagen, um das geistige Wachstum der Kinder, die sie unter dem Herzen tragen, zu begünstigen. Auch nach der Geburt des Kindes wird die Mutter ermahnt, Gebete zu sprechen, während sie ihre Lieben zu Bett bringt. Der Einfluß dieser Worte auf das kindliche Herz wird mit dem Einfluß des Sonnenlichts und der Sonnenwärme auf die heranwachsende Blume verglichen. Während die Kinder heranwachsen, sind die Eltern gehalten, ihnen die Worte Gottes zu lehren. Vom fünften Lebensjahr an sollen sie zusammengeholt werden, um religiöse Erziehung zu erhalten. Klar erkennen wir, wie diese Erziehung betont wird und Vorrang in der Wertskala genießt. Ausdrücklich wird uns anempfohlen, den Kindern zuerst Höflichkeit und Ehrerbietung zu lehren; erst dann kommt der Erwerb von Kenntnissen.

[Seite 1209]

Religion als Lernhilfe

Sachwissen muß mit göttlicher Erziehung Hand in Hand gehen; sonst wird der Lernprozeß von Habgier und Begehrlichkeit regiert. Diese Laster verwandeln die Wissenschaft in Schande und führen letztlich zur Zerstörung aller menschlichen Errungenschaften. ‘Abdu’l-Bahá bittet die Freunde in Seiner Liebe zu den Kindern inständig, ihren Lieben eine richtige Bahá’í-Erziehung angedeihen zu lassen, damit sie von der Wichtigkeit der Anwendung der göttlichen Gebote in ihrem Leben durchdrungen seien. Er verspricht, daß Kinder, die in den göttlichen Gärten der Liebe und in Wohnungen leben, die vom Bahá’í-Geist erfüllt sind, in einem Monat das lernen können, was andere in zwölf Monaten lernen. Er legt den Eltern nahe, die zarten Schritte ihrer Kleinen auf dem Pfade ewigen Ruhms sorgfältig zu lenken. Dies alles muß mit zärtlicher Zuneigung, mit liebevoller Fürsorge und mit Güte getan werden. Er warnt uns davor, die Kinder zu schlagen, sie zu Opfern von Strafpredigten oder scharfen Verweisen zu machen. Die Erfahrung zeigt, daß eine solche Behandlung dem richtigen Wachstum der seelischen, geistigen und sogar der körperlichen Kräfte des Kindes schadet; sie hemmt den Durchbruch und den Strom seiner verborgenen Fähigkeiten. Außerdem kommt es dazu, sein Elternhaus und alles, was dazu gehört, zu hassen.

Immer sollten wir uns an die grundlegende Einsicht des Meisters erinnern, daß die Erziehung eines Heranwachsenden von mehr als 15 Jahren überaus schwierig, ja in manchen Fällen sogar unmöglich ist. Können wir einen Zweig kräftigen, wenn er bereits hart und steif geworden ist? Solche Kinder, warnt uns der Meister, werden dem Abgrund des Elends überlassen bleiben, Opfer des Frevels, des Hochmuts, des Stolzes und der Unkenntnis, oft sogar mit geistigen Schäden. Verachtet und gedemütigt, krank und untauglich werden sie sein und sich fortgesetzt ihrer selbst schämen. Die Prüfungen des Lebens werden sie kaum durchstehen können. Was werden diese Kinder über ihre Eltern denken, die die Fackel der Führung in Händen hielten und nicht versuchten, sie ihren Lieben zu zeigen?

Eltern, die durch Fahrlässigkeit ihre Nachkommen zu solchen Tiefen des Elends herabwürdigen, werden sich zweifellos vor Gott zu verantworten haben. Nachdrücklich werden wir von der Urewigen Schönheit gewarnt, Er werde den Eltern ihre Versäumnisse zur Last legen und diese als große Sünden behandeln — Sünden, die nie vergeben werden.


Höchste Verantwortung der Eltern

Bahá’u’lláhs Befehl an die Eltern, ihren Kindern göttliche Erziehung angedeihen zu lassen, ist so eindringlich, daß Er hervorhebt, jene, die diese Verantwortung mißachten, gingen in den Augen Gottes aller Rechte ihrer Elternschaft verlustig.

Ich appelliere an die Herzen der Eltern, die nur das Wohl ihrer Kinder wünschen, die ihre Augäpfel sind oder, wie die Araber sagen, „die Teile ihrer Herzen, die auf Erden wandeln“. Ich flehe sie an, über die [Seite 1210] Verhältnisse in der Welt nachzudenken und bei sich selbst herauszufinden, ob Kinder Schutz brauchen oder ob sie sich selbst und den grausamen Einflüssen des Lebens überlassen werden sollen.

Daß die Welt nur zu sehr in uns steckt und daß die Gesellschaft von vielen sozialen Krankheiten befallen ist, kann kein gesunder Verstand bezweifeln. Nicht nur die Luft und das Wasser, sondern auch der Mensch mit allen Poren seiner Existenz ist von der Verseuchung bedroht; die Sümpfe sittlicher Korruption haben die entferntesten und trockensten Wüsten und die entlegensten Winkel der dürrsten Einöde überflutet. Fleischliche Lüste und tierische Leidenschaften sind entfesselt und zielen alle darauf ab, befriedigt zu werden. Mit allen Mitteln sucht dieses Tier der Wollust seine Befriedigung, selbst auf die Gefahr hin, daß jeder geheiligte Maßstab im menschlichen Leben gebrochen wird. Den Wünschen des niederen Ichs nachzugeben, ist zum umfassenden Gebot geworden.

Hineingestürzt in diese unverhüllt sittenlose Welt, die von der rasenden Bestie der Lust regiert wird, verstrickt in den Kampf mit ihren teuflischen Machenschaften, unfähig, das Teuflische vom Göttlichen zu unterscheiden, und fast abgestumpft gegen wohlwollende Liebe, Mitleid und Ehrerbietung, finden sich unsere Kinder, unsere armen Kinder, von ihren eigenen Trieben fortgerissen und von den blendenden, verlockenden Lichtern um sie her hypnotisiert. Brauchen sie nicht Lampen zu ihren Füßen, eine eingeborene, machtvolle Kraft, die sie befähigt, wahrhaft als Menschen zu leben, voll himmlischen Stolzes einherzugehen und ein klares, heiliges und reines Leben zu führen, als Vorspiel zum ewigen Leben?

Welche Erklärung die Welt auch bietet und wie immer sie ihre gegenwärtige Notlage deuten mag, den Anhängern unseres Glaubens ist es kristallklar, daß die Straße durch diese vom Dunkel verhüllte Welt, die Bahá’u’lláh erbaut hat, von den Schutzmaßnahmen Seiner Lehren erhellt und geschützt wird. Die unverzeihliche Achtlosigkeit und Nachlässigkeit von Eltern in ihrer Haltung gegenüber ihren Kindern ist das Ergebnis falscher Schlußfolgerungen; es wird die Kinder in einen Abgrund von Schmach und Schande stürzen und sie im kommenden Leben der Gerechtigkeit Gottes ausliefern.

Wenn wir in einem Haus ohne Lampen wohnen, werden zweifellos die Folgen in Form von unvorhersehbaren Schwierigkeiten oder gar von Unglücksfällen über uns kommen. Wenn wir das Feuer des Glaubens nicht in den Herzen unserer Kleinen entzünden, wird der Zerfall ihres seelischen, körperlichen und geistigen Lebens sogleich einsetzen. Wo Licht ist, kann alles an den richtigen Platz gestellt und deutlich gesehen werden, und die Hausbewohner können alles im richtigen Sinn benützen. Dasselbe gilt für das Licht des Glaubens, wenn es in den Herzen und Seelen der Kinder entflammt wird. Dann werden sich alle ihre von Gott verliehenen Gaben, Talente und Fähigkeiten harmonisch und wirksam entfalten.

Während sich der Horizont des Lebens vor unseren Kindern weitet, sehen wir sie von zwei Kräften hin- und hergerissen. Die eine zieht sie zu dem Punkt, wo sich ihre ganze Lebensfreude in Todesangst verwandelt; [Seite 1211] die andere wird durch eine Stimme in ihrer eigenen Brust versinnbildlicht, die sie zu strahlenden Gipfeln zu erheben sucht, wo selbst der Tod Ruhm und Ewigkeit bedeutet. Seht sie euch an mit ihren erwartungsvollen, unschuldigen, staunenden Augen, unentschlossen zwischen den widersprüchlichen, alles verschlingenden Kräften des Lebens. Können wir da wie die vornehmen Römer bequem in unserer Loge sitzen und uns ansehen, wie Menschenleben im Rachen von wilden Bestien verschwindet? Oder stehen wir ihnen als redliche Eltern bei, führen wir sie und helfen ihnen, die Augen zu erheben und die aufgehende Sonne der Herrlichkeit zu schauen?


Üble Nachrede, ein schlimmer Hausfreund

Aus meiner Erfahrung kenne ich ein Unheil, das den wachsenden Geist unserer Kinder erbarmungslos Stück für Stück abtötet. Dieses Unheil ist oft ein ungebetener Gast, aber leider auch manchmal ein geladener Hausfreund, dem der beste Platz im Haus, der Platz in unseren Herzen, eingeräumt wird und dem die besten Gelegenheiten unseres kostbaren Lebens gewidmet werden. Er ist wie der frostige Odem des tiefsten Winters, der durch den Mandelhain bläst, die Blüten zerstört und die Bauern, die gemütlich in ihren warmen Zimmern sitzen, verarmt und sorgenvoll zurückläßt.

Dieser gräßliche Eindringling ist die üble Nachrede. Wie sehr wir uns auch bemühen, unsere Kinder im Geist des Glaubens zu erziehen, ihnen seine Gesetze, Prinzipien und Gebote zu lehren — wenn in unseren Wohnungen auch nur das geringste Flüstern von übler Nachrede umgeht, können wir sicher sein, daß uns die lieben Kleinen für immer entfremdet und unwiederbringlich verloren sind.

Die gefährlichen Wirkungen sind so fein, daß man ihrer selbst nicht gewahr wird und die Eltern sich von den Anzeichen des um sich greifenden geistigen Leidens nicht gewarnt fühlen. Ein alter Bahá’í-Lehrer pflegte zu sagen, wir suchten eine schwere Last in das Obergeschoß unseres Hauses hinaufzuziehen, und wenn sie oben ist, drückt irgendein Dummkopf die scharfe Schneide seines Messers auf das gespannte Seil. Der Sturz ist sicher; alle Mühe der vielen Arbeiter, die die Last emporgezogen haben, ist in einem Nu und für immer verloren. Dasselbe gilt von der giftigen Atmosphäre, die der heimtückische Gast in unserem Hause schafft.

Wir glauben, die Kinder spielten mit ihren Sachen und achteten nicht auf das, was gesprochen wird. Es mag sein, daß sie nicht bewußt auf das Gespräch der Erwachsenen reagieren; aber mit Augen und Ohren nehmen sie die Dinge auf, um sie innerlich zu registrieren. Die Herzen und Seelen der Kinder sind wie reine Spiegel, wie Behälter mit reinem, kristallklarem, durchsichtigem Wasser. Jedes Wort, das wir negativ über andere Freunde sprechen, ist wie ein Tropfen Tinte, der tief in die klaren Herzen sinkt. Zunächst scheint sich die Farbe nicht zu verändern, aber wir müssen wissen, daß sie mit allen ihren giftigen Auswirkungen aufgenommen wurde. Wenn sich die giftigen Tropfen häufen, fällt das ganze [Seite 1212] Dasein des Kindes einer geistigen Krankheit zum Opfer. Ihre ersten Anzeichen sind sein Widerwillen, Bahá’í-Klassen zu besuchen, und sein geheimer Groll, manchmal sogar sein Haß gegen andere Bahá’í.

Was erwarten wir von unseren Kindern, wenn wir als Erwachsene zuhause sitzen und hinter anderen Bahá’í herreden, die vielleicht Mitglieder eines Ausschusses, des örtlichen oder gar des Nationalen Geistigen Rates sind? Die Kinder schauen zu diesen göttlichen Institutionen auf, und wir ziehen diese Institutionen in den Staub vor ihrem wachsenden Verstand und ihrem liebevollen Herzen. Wenn sie dann groß sind, empfinden sie keinerlei Sicherheit und Geborgenheit in den Häusern anderer Freunde, noch haben sie Vertrauen zu Bahá’í-Ausschüssen, örtlichen oder nationalen Geistigen Räten. Und wenn wir sie auffordern, an Studienklassen oder Sommerschulen teilzunehmen, ist ihre Reaktion unverkennbar ablehnend. Das ist gerade so, als ob wir das Kind lähmten und es dann aufforderten zu laufen, oder als ob wir es aushungerten und dann zu athletischen Leistungen zwängen.


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aus „Canadian Bahá’í News“ Juli 1967



Ewige Wahrheit — neues Gesetz[Bearbeiten]

Presseinterview mit Ali Akbar Furutan



Ali Akbar Furutan, einer der profiliertesten Bahá’í-Lehrer, besuchte im April 1970 als Vertreter des Bahá’í-Weltzentrums die 40. deutsche Nationaltagung und reiste im Mai und Juni 1970 durch fast alle deutschen Bahá’í-Gemeinden. Am 28. Mai 1970 gab er in Hamburg eine Pressekonferenz. Wir bringen nachstehend die vollständige Tonbandaufzeichnung.
D. Red.


Die Bahá’í-Religion nennt sich die neue Weltreligion. Was ist das für eine Religion? Können Sie sie kurz umreißen?

Unsere Religion basiert auf drei Einheiten: der Einheit Gottes, der Einheit der Religion und der Einheit der Menschheit.

Wenn ich Bahá’í werde, muß ich dann meine Religion aufgeben?

Wir verstehen unter Religion etwas anderes, als es hier üblich ist. Als Bahá’í verlieren Sie Christus nicht, sondern bekommen das Verständnis für alle anderen Propheten dazu. In Japan schrieb eine Zeitung: „Zum erstenmal in der Geschichte Japans begegnet uns eine Religion, die Buddha als Offenbarer anerkennt. Das ist die Bahá’í-Religion“. Wir fügen Bahá’u’lláh zu den andern hinzu, denn die Religion Gottes hat eine Wurzel. Aber der Baum der Religion hat viele Äste, und unglücklicherweise sagen die Anhänger der einzelnen Zweige: „Nur meiner ist richtig!“ Von oben gesehen streben alle dem gleichen Lichte zu. Die Bahá’í-Religion will die Herzen aller vereinen.

[Seite 1213] Die zwölf Grundsätze der Bahá’í, unter anderen den Weltfrieden zu verwirklichen, die sozialen Fragen zu lösen, eine Einheitssprache und -schrift für die ganze Welt einzuführen oder die Errichtung eines Weltschiedsgerichtshofes, scheinen illusionistisch, wenn nicht die Menschen geändert werden.

Genau das haben wir vor! Das ist unser Ziel! Wissen Sie, wie wir das anfangen wollen? Ihre Herzen, ihren Geist zu ändern! Wie hat Christus das vollbracht? Um die Menschheit zu ändern, müssen wir den einzelnen wandeln. Wir vertreten die Ansicht, daß wir die Menschen ändern, indem wir den Problemen auf den Grund gehen, sie erklären und damit die Vorurteile beseitigen.

Aber die Menschen haben 2000 Jahre lang Kriege geführt, sich getötet und gehaßt!

Sie haben recht, früher war es so, aber da waren die Menschen noch nicht reif. Sie lebten im Kindheitsstadium und stritten sich, wie Kinder um ein Spielzeug streiten. Jetzt hat das Zeitalter der Reife begonnen. Bahá’u’lláh kam, um die Hindernisse und Schwierigkeiten zu beseitigen. Deshalb verkündete Er die internationale Liebe und Grundsätze wie z.B. die internationale Schrift und Sprache. Das bedeutet keine Gleichmacherei. Jeder soll sein Land, seine Traditionen, seine Literatur usw. lieben und pflegen, aber gleichzeitig sollen wir unseren Kindern weltweite Liebe nahebringen. Als Lehrer weiß ich, welch großen Einfluß die Erziehung hat. Bringen Sie einmal schwarze, rote und weiße Kinder zusammen — sie werden spielen und sich mögen. Nur die Eltern bringen sie durch ihre Vorurteile auseinander. Diese Vorurteile sind nicht von Gott, die Menschen machen sie. Unsere Pläne sind keine Utopien. Bahá’u’lláh hat viele Symbole erklärt, um religiöse Mißverständnisse zu beseitigen. Er zeigte, daß wir zusammenleben können, obwohl wir Deutsche, Franzosen, Perser usw. sind. Wir bleiben dabei, was wir als Individuen waren. Sie werden gerne Kartoffeln essen; ich esse lieber Reis — und das ist gut so. Aber in einem Punkt müssen wir zusammenkommen: in der universalen Liebe zur Menschheit.

Das ist totaler Humanismus!

Stimmt! Die Philosophen des Humanismus wollten die Menschen durch ihr Denken vereinen, aber Bahá’u’lláh vereint sie durch ihre Herzen, durch die Religion, die Kraft Gottes. Als ich in Moskau studierte, lernte ich so viele deutsche Philosophen kennen, daß ich behaupten möchte, Deutschland sei die Wiege der Philosophie, aber sie konnten die Menschen dennoch nicht zusammenbringen. Christus konnte es durch die Kraft Gottes. Bahá’u’lláh hat die gleiche Kraft, weil Er ebenfalls ein Offenbarer des Willens Gottes ist.

Es fällt uns schwer, daran zu glauben.

Den Juden fiel es auch schwer, an Christus zu glauben. Aber diese Kraft des Glaubens hilft der Bahá’í-Sache.

Sie begannen 1953 einen Welt-Lehrfeldzug. Tun Sie das noch immer oder immer wieder?

Im Bahá’í-Glauben gibt es keine Priester und keine bezahlten Missionare. Alle Bahá’í sind dazu berufen und aufgerufen, die Lehren [Seite 1214] Bahá’u’lláh’s zu verbreiten. Wir haben keine Zeremonien und Riten. Wenn Sie einmal das Haus der Andacht in Langenhain bei Frankfurt besuchen, werden Sie es sehen.

Gibt es noch mehr Bahá’í-Tempel in Europa?

Noch nicht, aber später wird es sie in jeder Stadt geben. Heute stehen Bahá’í-Häuser der Andacht in Sydney (Australien), Kampala (Afrika), Frankfurt (Europa), Wilmette (Amerika), und einer ist in Panama im Bau.

Wieviele Anhänger haben Sie in der Welt?

Wir wissen es nicht genau. Unser Glaube wächst so schnell, daß unsere letzten Stastiken heute schon nicht mehr stimmen.

Aber Sie müssen eine Menge Anhänger haben, denn allein der Tempel in Frankfurt kostete Sie 4 Millionen.

Wissen Sie, alle Bahá’í der Welt haben mitgeholfen, selbst wenn es nur mit einer Mark war. Ebenso haben die deutschen Bahá’í viel beim Bau des Tempels in Kampala z. B. geholfen, und jetzt helfen alle dem Aufbau in Panama. Die Bahá’í sind wie eine Familie auf der Erde, und so helfen sie in allen Vorhaben zusammen.

Unter Ihren Prinzipien ist die Lösung der Sozialen Frage. Könnten Sie dies etwas genauer beleuchten?

Wir glauben nicht an eine Gleichheit, die alle Menschen ganz gleich machen möchte. Das ist unmöglich. Selbst die sozialistischen Länder konnten das nicht. Bahá’u’lláh sagt, daß die Bahá’í-Gemeinschaft auf Gerechtigkeit basieren muß. Jeder muß ein menschenwürdiges Leben haben. Ränge und Unterschiede werden immer sein, aber Er gibt viele Richtlinien zur Lösung der Wirtschaftsprobleme.

Die Baha’i sind wohl noch nicht in der Lage, dies zu verwirklichen.

Im Augenblick nicht, aber in der Zukunft sicher. Es gibt eine Menge Literatur über das Wirtschaftsprogramm des Bahá’í-Glaubens. Es beginnt mit den Bauern, befaßt sich dann mit den Arbeitern und dann immer weiter mit den andern Tätigkeiten: Wir können die heutigen Systeme nicht gutheißen. Aber alles wird sich ändern, wird erneuert werden. Wenn Sie diese Literatur studieren, sehen Sie, welch große Wichtigkeit solchen Problemen beigemessen wird. Für uns ist Religion nicht nur Zeremonie. ‘Abdu’l-Bahá sagt: „Die Bahá’í-Religion ist ein Schutzgeleit der Wirtschaftssubjekte.“ Das hat mich persönlich sehr beeindruckt, besonders nachdem ich in Moskau viele Wirtschaftssysteme und -probleme studiert hatte.

Was halten Sie von Sozialismus?

Der Bahá’í-Glaube basiert auf Sozialismus im menschlichen Leben, aber nicht so extrem wie die heutigen Formen. Der Bahá’í-Sozialismus bildet einen goldenen Mittelweg zwischen rechts und links.

Was soll ein Bahá’í z. B. tun, wenn er so reich wie Henry Ford wäre?

Ein Bahá’í soll sein Vermögen testamentarisch in 32 verschiedenen Teilen unter 7 verschiedene Erben, darunter die Lehrer, aufteilen. Bahá’u’lláh’s Plan ist, große Vermögenskomplexe stufenweise aufzulösen. [Seite 1215] Heute können wir diese Empfehlungen nur in unseren eigenen Reihen verwirklichen. Für uns bedeutet Religion nicht nur Beten, sie muß auch die materiellen Probleme lösen helfen. Der Mensch besteht aus Geist und Körper, wir müssen uns um beide gleichzeitig kümmern. Bahá’u’lláh sagt: „Arbeit ist Gottesdienst.“ Dies gibt der Arbeit eine neue Ethik.

Noch sind die größten Geldmittel in den Händen der Regierungen, die damit ihre Politik machen. Was halten Sie davon?

Wir sind nicht für eine konzentrierte nationale Geldmacht. Bahá’u’lláh legt großes Gewicht auf die Entwicklung der Gemeinden durch einen gesunden Sozialismus. Kein Mensch soll mehr das Betteln nötig haben. Das ist nicht einfach, aber wir alle sind verantwortlich für unsere Entwicklung. Ich kann Ihnen hier nur diese kurzen Informationen geben; Sie sollten einmal einige Bahá’í-Bücher aufmerksam studieren.

Gibt es Bilder von Baha’u’llah?

In der Bahá’í-Religion ist es verboten, Bilder von Bahá’u’lláh zu machen. Nicht einmal im Haus der Andacht hängt ein Bild von Ihm.

Glauben Sie an die Dreifaltigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist?

Wir können das Wesen Gottes nicht erfassen, nur Seine Offenbarer können wir verstehen. Als ‘Abdu’l-Bahá in Paris war, hatte er ungefähr folgendes Gespräch mit Prof. Henri Bergson. Prof. Bergson: „Was ist Gott?“

‘Abdu’l-Bahá: „Stellen wir erst fest: Was ist Materie?“

Prof. Bergson: „Wir kennen Moleküle, Atome, Elektronen ...“

‘Abdu’l-Bahá: „Und was ist Elektrizität?“

Prof. Bergson: „Wir wissen es nicht.“ — (Sogar Einstein sagte, daß niemand weiß, was Elektrizität wirklich ist.)

‘Abdu’l-Bahá: „Solange wir noch nicht alles über die Materie wissen, wie wollen wir da Gott definieren?“

Wir kennen die phänomenalen Auswirkungen der Elektrizität, ohne ihre Wirklichkeit zu kennen. Wir sehen die phänomenale Schöpfung, ohne ihren Schöpfer in Seiner Wirklichkeit zu erkennen. Alles in der Schöpfung ist eine Manifestation Gottes. Von Zeit zu Zeit ist einer unter den vielen Menschen zu der überragenden Stufe ausersehen, als höchste Manifestation, als Prophet, als Sprachrohr Gottes zu wirken. Aber wie Gott selbst ist, weiß niemand. Die Bahá’í-Philosophie ist sehr tief.

Sie sagten, alle Religionen seien gleich. Aber man findet doch so viele unterschiedliche Meinungen in den Religionen.

Es gibt keinen Unterschied in den Religionen, der Unterschied liegt in ihren Anhängern. Sehen Sie, als Lehrer kennt man den ganzen Stoff des Unterrichts. Wenn Sie nun eine 1. Klasse unterrichten, können Sie dann Algebra oder Philosophie lehren? Nein, Sie fangen mit dem ABC an. In den höheren Klassen ändern Sie Ihre Methode, ebenso auf der Universität. Sie sagen immer die Wahrheit, aber relativ zu Ihren Schülern. Als meine Tochter etwa 4 Jahre alt war, fragte sie mich: „Vater, was sind Sterne eigentlich?“ Sollte ich ihr von Newton oder Keppler erzählen? Ich fragte sie: „Wieviele Lampen haben wir?“ Sie sagte: „Vier“. Ich fragte: „Machen wir sie alle an, wenn es dunkel wird?“ Sie sagte: „Ja.“ Darauf [Seite 1216] ich: „Schau, Gott hat viele Millionen Lampen, er läßt sie alle so schön leuchten in der Nacht!“ Sie war darüber sehr glücklich. Ich hatte ihr die Wahrheit gesagt, aber relativ! Bahá’u’lláhs Lehren für die heutige Zeit sind logisch, wissenschaftlich und klar. Er sagt uns ganz deutlich, daß Seine Lehren für die nächsten tausend Jahre ausreichen. Dann wird wieder ein Prophet kommen. Aber zunächst müssen wir Seine Prinzipien verwirklichen und Gerechtigkeit auf der Erde walten lassen.

Glauben die Bahá’í an das Leben nach dem Tode?

Ja, daran glauben wir, nur können wir es uns nicht vorstellen. Die Bahá’í-Literatur zu diesem Thema ist sehr interessant und tief.

Ich hörte, daß Sie das Böse als nicht existent betrachten. Wie begründen Sie das?

Können Sie sich vorstellen, daß Gott etwas Schlechtes erschaffen hat? Seine Schöpfung ist vollkommen, aber Er ließ den Menschen den freien Willen, sich nach Seinen Geboten zu richten oder nicht. Wenn ein Mensch böse ist, so ist das eine Folge falscher Erziehung, die sich über Generationen verschleppen kann. Daran sehen Sie, warum Bahá’u’lláh der Pflicht zur guten Erziehung so große Bedeutung für die ganze Menschheit, die ja aus einzelnen besteht, beimißt. Für die Bahá’í ist das Schlechte die Folge der Abwesenheit des Guten, so wie die Dunkelheit die Abwesenheit des Lichtes ist. Sicher verstehen Sie jetzt, warum wir das Prinzip des selbständigen Forschens nach der Wahrheit jedem zur Pflicht machen.

Mir scheint, daß die Bahá’í-Religion so viele Gesetze und Vorschriften hat, daß man sich nicht mehr frei fühlen kann.

Empfinden Sie als Christ die Gebote Christi als Last?

Nein — soweit sie von Christus sind und nicht von sonst jemandem.

Das ist richtig. Wir glauben, daß Bahá’u’lláh ein Offenbarer Gottes ist, genau wie Christus. Deshalb sind für uns Seine Worte gleich bindend und wichtig wie die von Christus. Aber wir kennen für den einzelnen keine Inquisition. Jeder Mensch ist nur Gott gegenüber verantwortlich.

Darf ich Sie noch auf eine Tatsache aufmerksam machen: Die Bahá’í-Religion verfügt über viele, viele Bände authentischer Schriften, die alle wichtigen Lehren und Richtlinien für dieses Zeitalter enthalten. Das bedeutet für uns keine Bürde, sondern gerade darin liegt der große Reichtum der Bahá’í-Religion. Glauben Sie mir, es lohnt sich, sich ernsthaft damit zu befassen!



Neu auf unserem Büchertisch[Bearbeiten]

Erich Buchholz, „Alternative Gottesreich. Unterwegs zur künftigen Gesellschaft“, Verlag Hinder + Deelmann, Bellnhausen über Gladenbach (Hessen), 300 Seiten, Paperback DM 16,80.

„Den Märtyrern des Gottesreiches“ ist dieses feinsinnige Buch gewidmet. Der Verfasser, 1896 in Leipzig geboren, Theologe, Psychologe, [Seite 1217] Pädagoge und Schriftforscher, legt damit die Ernte seines lebenslangen Suchens vor: Eine tiefempfundene Hinführung zu vielen — nicht allen — Gottesreichversuchen in der Menschheitsgeschichte, eine lehrreiche Konfrontation zum Historisch-Faktischen und seiner „normativen Kraft“, vor allem aber ein zartes Antönen wesentlicher Elemente des geistigen „Überbaus“, den sich die Menschheit hier und heute schaffen muß, um nicht innerlich wie äußerlich zugrunde zu gehen.

Der erste Eindruck, das Buch sei vielschreiberisch, unstrukturiert, leichtgläubig und unkritisch, verflüchtigt sich in dem Maße, wie man es lernt, zwischen den Zeilen zu lesen. Gleichwohl fehlt es vor allem für denjenigen, dem die Gottesreichidee bislang noch nicht so tief unter die Haut gedrungen ist, am roten Faden, am Abwägen von Gutem und weniger Gutem nach einfachen, klaren Maßstäben. Das ist vom christlichen Standpunkt her besonders schwer, fast unmöglich: Verklärung und Verblendung liegen ja — schon der Wortbedeutung nach — ganz dicht beieinander; vor dem Hintergrund der auch hier allgegenwärtigen christlichen „Alleinvertretungsanmaßung“ ist ein Hinüberfließen des einen zum anderen geradezu strukturbedingt. Auf alle Fälle wird jeder, der Anlaß dazu hat, sich noch als Schmalspur-Bahá’í zu fühlen, sehr gut daran tun, dieses Buch gründlich durchzuarbeiten, weil er daraus erkennt, wie groß und bunt der Kreis derjenigen ist, die berufen waren und sind. Inwieweit Auserwähltheit dazu kommt, bestimmt sich nach anderen Kriterien als nach dem Anspruch, in alle Wahrheit geleitet zu sein.

Zwei große Fehler nehmen dem Buch viel von dem Wert, den es haben könnte: Die beiden wichtigsten Gottesreichversuche, Byzanz und der Islam, werden so gut wie völlig verschwiegen. Der Großmogul Akbar (1555—1605) wird zwar erwähnt, aber eigentlich nur unter dem Aspekt der Jesuiten, die er an seinen Hof zog (S. 32). Die Christen müssen wohl noch viele „Verunsicherungen“ und schmerzhafte Lernprozesse durchstehen, bis sie erkannt haben, wie herrlich und wahrhaft optimal die Konzentration auf das Wesentliche ist, die Muhammad dem politischen Versagen des Christentums in der ausgehenden Antike gegenübergestellt hat, auch wenn der Islam durch den Nachfolgestreit sofort nach Muhammads Tod an der Wurzel getroffen wurde. So sind auch die „säkularen Reiche“ der Philosophen, der idealistischen Romantiker und der Nationalisten zu oberflächlich dargestellt und aus ihrem Zusammenhang mit dem Islam, der von der Antike zu Renaissance, Barock und Aufklärung nicht nur vermittelt, sondern fortentwickelt hat, herausgelöst. Aufschlußreich ist das unterentwickelte Verhältnis, das Martin Luther, einer der wichtigsten Gestalter des gesellschaftlichen Bewußtseins in Mitteleuropa, zum Reich Gottes hat: Er „sieht seine Sendung darin, die unbedingte Trennung der beiden Reiche, des Geistigen vom Weltlichen, ‚einzubleuen’“ (S. 73) und ist damit einer der Hauptschuldigen an der abendländischen Bewußtseinsspaltung. Mit der Auffassung, Monarchen und Geistliche hätten um die Mitte des 19. Jahrhunderts eine Sternstunde der Menschheitsgeschichte verpaßt, stehen wir Bahá’í keineswegs allein da. Buchholz verweist auf den bekannten jesuitischen Theologen Karl Rahner, der „die Macht des Marxschen Königsgedankens, ‚die Welt zu verändern’, [Seite 1218] betonte; er warf Kirche und Christentum (in Salzburg) vor, im vorigen Jahrhundert den ‚geschichtlichen Augenblick’ verpaßt zu haben, jenen Stand der menschlichen Dinge zu erkennen, ‚wo die menschliche Gesellschaft reflex und geplant organisiert werden kann, wo der Mensch also sein Schicksal gesellschaftlich aktiv planend in die Hand zu nehmen imstande ist’“ (S. 123).

Kann man Institutionen, die jahrhundertelang so repressiv taktiert und so gründlich versagt haben, heute noch Vertrauen schenken, wenn sie an den Explosionen der Menschheitskatastrophe erwacht zu sein scheinen? Ist es nicht sinnvoller, auf der ganzen Welt zu suchen, bis man eine Autorität findet, die den Gedanken der Einheit Gottes in moderner, verständlicher, widerspruchsloser und pragmatischer Weise darzustellen versteht? Buchholz trägt dazu bei, die Frage nach dem Wesen des Gottesreiches zu präzisieren. Die Antworten und das Reich selbst, die „Kraft“ und die „Herrlichkeit“, muß, nachdem die „Obrigkeit“ vor einem Jahrhundert versagt hat, jeder selbst finden.



Elias Auerbach, „Pionier der Verwirklichung. Ein Arzt aus Deutschland erzählt vom Beginn der zionistischen Bewegung und seiner Niederlassung in Palästina kurz nach der Jahrhundertwende“, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1969, 414 Seiten mit Namensregister, Leinen DM 25,—.

Haifa ist nicht nur das Weltzentrum der Bahá’í-Gemeinschaft, sondern nach Theodor Herzls Roman „Altneuland“ (1904), der die zionistische Bewegung maßgeblich beeinflußte, „die Vision der Zukunft, das Symbol der Verwandlung des Landes durch jüdische Arbeit“ (S. 203). Auerbach, aus den kleinen jüdischen Gemeinden der preußischen Provinz Posen hervorgegangen, ließ sich 1909 als 27jähriger Arzt in Haifa nieder und gründete dort das erste jüdische Krankenhaus. Neben seiner ärztlichen Tätigkeit nahm er 60 Jahre lang aktiven Anteil an der Entwicklung der Stadt und ihrer Umgebung, zunächst allerdings nur bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Damals schlug er sich auf einem abenteuerlichen Marsch durch Vorderasien nach Deutschland durch, um in vaterländischer Treue seinen Kriegsdienst zu leisten. Mit der Demobilisierung 1918 endet der Bericht.

Den Hauptteil des Buches bilden lebendige Milieuschilderungen aus dem alten Haifa, dargebracht in einem recht selbstbewußten Pionier- und Kolonialstil. Der Verfasser ist ein Mann der Tat, der Bedeutendes zu Wege bringt; darunter leidet das Einfühlungsvermögen in die Bewußtseinsstrukturen der sich begegnenden Religionen und Kulturen. Von den schwäbischen Templern am Fuße des Berges Karmel ist viel die Rede, von ‘Abdu’l-Bahá, den Bahá’í und den späteren „Persischen Gärten“ eigentümlicherweise gar nicht, obwohl dies alles doch vor Auerbachs Tür lag und schon damals eine gewisse Aufmerksamkeit erregen mußte. Als Ergänzung früher Pilgerberichte aus der Bahá’í-Welt ist das Buch lesenswert.

[Seite 1219] „Ein Harem in Bismarcks Reich. Das ergötzliche Reisetagebuch des Nasreddin Schah“, herausgegeben von Hans Leicht, Horst Erdmann Verlag, Tübingen/Basel 1969, 288 Seiten, Leinen DM 19,80.

Vor dem Hintergrund der Bahá’í-Geschichte nimmt sich das Reisetagebuch Nasreddins, der die meisten der 20 000 Bahá’í-Märtyrer auf dem Gewissen hat, eher makaber als „ergötzlich“ aus: Was offenbart sich hier doch für eine arrogante, ichsüchtige und oberflächliche Figur, zum Gaudium des abendländischen Publikums! Damit rückt der schlimmste Feind Bahá’u’lláhs in die Nähe von Produzenten unfreiwillig komischer Literatur, etwa seiner Zeitgenossin Friederike Kempner.

Immerhin nahm Nasreddin von seiner Europareise 1873 nicht nur dieses Tagebuch mit nach Hause, das im besten Stil der modernen Regenbogenpresse geschrieben oder redigiert ist. Er holte sich auch Anregungen zu Reformen, die das Volk ein klein wenig aus der Umklammerung seiner Despotie befreiten; sie regten Bahá’u’lláh zu mehreren Tablets, darunter das „Sendschreiben über die Welt“1), ‘Abdu’l-Bahá zu Seinem Buch „Das Geheimnis göttlicher Kultur“2) an. Wie wenig sich dadurch die Verhältnisse in Persien und die Motivationen des Herrschers, der 1896 ermordet wurde, auch änderten, wir haben auf diese Weise entwicklungspolitische Grundsatzdokumente bekommen, wie wir sie uns umfassender und klarer nicht vorstellen können.

Die Bábi-Bewegung und die Bahá’í-Religion hat der Herausgeber in der Einleitung kurz dargestellt. Das Glossar am Schluß des Buches enthält Schreibfehler und spricht von einer „religiösen Sekte Irans“.



Sigrid Hunke, „Europas andere Religion. Die Überwindung der religiösen Krise“, Econ Verlag, Düsseldorf/Wien 1969, 536 Seiten, Ln. DM 28,—.

„Die andere Religion Europas“, eine „Religion der Einheit“ als „Religion der Zukunft“, sucht die durch ihr Buch „Allahs Sonne über dem Abendland“ bekannt gewordene Religionsforscherin gegen den „hurritischen“ orientalischen Dualismus im christlichen und im platonischen Denken aufzubauen. Mit einem reichen, bildhaft dargestellten Zitatenschatz konzentriert sie sich dabei auf eine geschickte Auswahl von bedeutenden Freigeistern, die in den anderthalb Jahrtausenden von der kirchlichen Machtübernahme bis zum Durchbruch der Aufklärung in Nord- und Westeuropa systematisch verketzert worden waren: Der Brite Pelagius protestiert gegen seinen Zeitgenossen Augustin und dessen Erbsündendogma und betont die Willensfreiheit des Menschen. Johannes Scotus Eriugena wendet sich gegen die Abwertung des Diesseits im Verhältnis zum Jenseits. Meister Eckhart verherrlicht die Geburt Gottes in der Menschenseele und hält Sakramente für überflüssig. Nikolaus von Cues lehrt die Einheit aller Gegensätze in Gott und befruchtet damit die gesamte idealistische Philosophie. Viele andere große Geister, von Seuse, Böhme, Bruno bis Rilke und Teilhard de Chardin, sind in dieses Kompendium des Protestes gegen das kirchliche Dogma aufgenommen.

Frau Dr. Hunke bemüht sich wacker, Ordnung in die Vielfalt dieses Protestes zu bringen. Fiel ihr dies bereits bei der Gegenüberstellung des Islam mit der abendländischen Zivilisation schwer, weil sie den Islam [Seite 1220] zu sehr als eine Emanation des arabischen Nationalgeistes und zu wenig als eine Offenbarungsreligion anerkennt, so schießt sie mit ihrem neuen Buch aus demselben Grund am Christentum vorbei. Sie vergißt, daß Religion mehr ist als das artikulierte Weltgefühl von Persönlichkeiten, die die Kraft und die Muße haben, über „Gott“ zu denken und zu reden. Was dabei zusammenläuft, ist allenfalls eine Privatreligion für engagierte Edelketzer, verwaschen, ungenau und nur für eine Handvoll Gebildete nachvollziehbar.

Mit ihrem frühgriechischen Logosbegriff kommt die Autorin nicht an den Wesenskern der Offenbarungsreligion heran, der in der Selbstdarstellung und gegenseitigen Bestätigung einer Kette von archetypischen Führergestalten im Gang der Weltgeschichte liegt, die von ihrer überragenden Stellung her nicht nur individuelle Gottsucher, sondern alle Menschen, auch die geistig weniger Bemittelten und die menschliche Gesellschaft als Ganzes, den rechten Weg leiten. Dualistische Schwarz-Weiß-Zeichnungen von wesentlichen Lehraussagen sind dabei didaktisch bisweilen notwendig, selbst wenn ihre dogmatische Verkrustung uns heute bedauerlich erscheint.

Im übrigen muß jemand, der sich im ausgehenden 20. Jahrhundert auf 500 Seiten über eine „Religion der Einheit“ ausläßt und dabei Bahá’u’lláh mit keinem Wort erwähnt, an geistigen Sehstörungen leiden. Sie sind im Fall Hunke nur aus einem idealistischen Überindividualismus zu erklären, der trotz Weltkriegen und Weltkrisen die Religion Gottes als schöngeistige Ersatzbefriedigung mißbraucht, wo sie doch der Inbegriff menschlichen Denkens und Handelns und damit bei aller Toleranz und Selbständigkeit die umfassende Ordnungsmacht zu sein hat.

Peter Mühlschlegel




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