Bahai Briefe/Heft 41/Text

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BAHA'I-

BRIEFE


BLÄTTER FÜR

WELTRELIGION UND

WELTBEWUSSTSEIN



AUS DEM INHALT:


Das Mysterium des Opfers

Die Geschichte von Ahmad

Bahá’í-Religion und Fortschritt

Was die Geschichte lehrt

40. Nationaltagung der Bahá’í


HEFT 41 JULI 1970


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Das Buch Gottes

ist weit aufgeschlagen, und Sein Wort lädt die Menschheit zu sich. Aber nur eine knappe Handvoll hat sich willens gefunden, Seiner Sache zu folgen oder zum Werkzeug ihrer Verbreitung zu werden. Diese wenigen haben das göttliche Elixier erlangt, das allein die Schlacken dieser Welt in lauteres Gold verwandeln kann, und sie wurden ermächtigt, die unfehlbare Arznei für alle Leiden der Menschenkinder zu reichen. Nur der kann das ewige Leben gewinnen, der die Wahrheit dieser unschätzbaren, wundersamen und erhabenen Offenbarung annimmt.


O Freunde Gottes, neigt euer Ohr der Stimme Dessen, der von der Welt so viel Unrecht erfuhr, und haltet euch an das, was Seine Sache erhöht! Er führt wahrlich jeden, der Ihm beliebt, Seinen geraden Pfad. Dies ist eine Offenbarung, die den Schwachen Kraft verleiht und die Armen mit Reichtum krönt.


Beratet mit äußerster Freundlichkeit und im Geiste vollkommener Kameradschaft und verbringt die kostbaren Tage eures Lebens damit, die Welt zu verbessern und die Sache Dessen voranzutragen, der der ewige und höchste Herr über alles ist! Er befiehlt allen Menschen, was recht ist, und Er verbietet, was ihre Stufe herabsetzt.


Bahá’u’lláh


(Ährenlese XCII)



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Das Mysterium des Opfers[Bearbeiten]

Ansprache ‘Abdu’l-Bahás am 29. November 1912 in New York


Heute abend möchte Ich über das Geheimnis des Opfers zu Ihnen sprechen. Es gibt zwei Arten von Opfer, eine leibliche und eine geistige. Die Erklärung der Kirchen über dieses Thema ist in Wirklichkeit Aberglauben. Zum Beispiel steht im Evangelium geschrieben, daß Seine Heiligkeit Christus sagte: „Ich bin das Brot des Lebens, das vom Himmel herniedergekommen ist; wer von diesem Brot ißt, wird ewig leben“ (Joh. 6). Er sagte auch: „Dieser Wein ist Mein Blut, das für die Vergebung der Sünden vergossen wird.“ Solche Verse wurden von den Kirchen auf derart abergläubische Weise ausgelegt, daß es dem menschlichen Verstand unmöglich ist, diese Auslegung zu verstehen oder anzunehmen.

Es heißt, Seine Heiligkeit Adam sei ungehorsam gegen das Gebot Gottes gewesen und habe von der Frucht des verbotenen Baumes gekostet, dadurch habe Er eine Sünde verübt, die als Erbsünde auf Seine Nachkommen übergegangen sei. Man lehrt, der Sünde Adams wegen hätten alle Seine Nachfahren gleichfalls gesündigt und seien durch Erbfolge schuldig geworden; die ganze Menschheit verdiene demnach Strafe und Vergeltung; Gott habe indessen Seinen Sohn als Opfer entsandt, damit dem Menschen vergeben werde und die Menschenrasse von den Folgen der Sünde Adams erlöst werde.

Wir wollen diese Erklärungen vom Standpunkt der Vernunft betrachten. Können wir uns vorstellen, daß Gott, der Höchste, der die Gerechtigkeit selbst ist, über die Nachkommenschaft Adams Strafen verhängt, nur Adams Sünde und Adams Ungehorsams wegen? Selbst wenn wir einen Regenten, einen irdischen Herrscher sähen, der einen Sohn für die Verfehlungen seines Vaters bestrafte, würden wir diesen Herrscher als ungerecht betrachten. Gesetzt, der Vater hätte gefehlt, was hat der Sohn Übles getan? Es gibt keinen Zusammenhang zwischen den beiden. Adams Sünde war nicht die Sünde Seiner Nachkommenschaft, zumal da Adam vom heutigen Menschen her tausend Lebensalter zurückliegt. Wenn der Stammvater von tausend Generationen eine Sünde beging, kann man da gerechterweise fordern, die gegenwärtige Generation sollte unter den Folgen zu leiden haben?

Wir müssen noch andere Fragen und Beweise einbeziehen: Seine Heiligkeit Abraham war eine Manifestation Gottes und ein Nachkomme Adams; ebenso gehörten Seine Heiligkeit Ismael, Isaak, Jeremia und die ganze Reihe der Propheten einschließlich Davids, Salomons und Aarons zu Adams Nachkommenschaft. Waren alle diese Heiligen zu einem Reich der Sühne verurteilt, nur der Tat eines Urvaters wegen, nur für den Fehler, den ihr gemeinsamer ferner Vorfahre, Seine Heiligkeit Adam, begangen haben soll? Es wird erklärt, als Seine Heiligkeit Christus kam und sich opferte, sei die ganze Reihe der Propheten, die Ihm vorangegangen sind, der Sünde und der Strafe ledig geworden. Nicht einmal ein Kind könnte eine solche Behauptung mit Recht aufstellen. Diese Auslegungen und Erklärungen sind darauf zurückzuführen, daß die Bedeutungen der Bibel mißverstanden wurden.

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Der Kreuzestod Christi

Um die Wirklichkeit des Opfers verstehen zu lernen, wollen wir die Kreuzigung und den Tod Seiner Heiligkeit Christi betrachten. Es ist wahr, daß Er sich um unseretwillen geopfert hat. Als Seine Heiligkeit Christus erschien, wußte Er, daß Er sich im Widerspruch gegen alle Nationen und Völker der Erde verkünden mußte. Er wußte, die Menschheit würde sich gegen Ihn erheben und Ihm Leiden aller Art zufügen. Zweifellos erweckt jemand, der einen solchen Anspruch verkündet, wie Christus es tat, die Feindschaft der Welt und ist persönlichen Beleidigungen ausgesetzt. Christus erkannte, daß Sein Blut vergossen und Sein Leib in Stücke gerissen würde. Trotz dieser Kenntnis all dessen, was über Ihn käme, erhob Er sich, Seine Botschaft zu verkünden; Er litt alle Drangsal und Bedrückung aus den Händen des Volkes und brachte schließlich Sein Leben zum Opfer, um die Menschheit zu erleuchten; Er gab Sein Blut, um die Menschenwelt zu führen. Jede Schwierigkeit, jede Not nahm Er auf sich, um die Menschen zur Wahrheit zu leiten. Hätte Er Sein eigenes Leben retten wollen, hätte Er sich nicht aufopfern wollen, dann wäre es Ihm unmöglich gewesen, auch nur eine einzige Seele zu führen. Es gab keinerlei Zweifel. daß Sein gesegnetes Blut vergossen, Sein Leib gebrochen würde. Trotzdem nahm diese heilige Seele Not und Tod in ihrer Liebe zur Menschheit auf sich. Dies ist eine der Bedeutungen des Opfers.

Über die zweite Bedeutung sagte Er: „Ich bin das Brot, das vom Himmel herniedergekommen ist.“ Es war nicht der Leib Christi, der vom Himmel kam. Sein Leib kam aus dem Schoß Mariens, aber die Vollkommenheiten Christi stiegen vom Himmel hernieder; die Wirklichkeit Christi kam vom Himmel herab. Der Geist Christi und nicht der Leib kam vom Himmel. Der Leib Christi war nur menschlich. Es steht außer Frage, daß der stoffliche Leib aus dem Schoß Mariens geboren wurde. Aber die Wirklichkeit Christi, der Geist Christi, die Vollkommenheiten Christi kamen alle vom Himmel. Wenn Er sagte, Er sei das Brot, das vom Himmel gekommen ist, meinte Er folglich, daß die Vollkommenheiten, die Er aufzeigte, göttliche Vollkommenheiten sind, daß die Gnadengaben in Ihm selbst himmlische Gaben und Segnungen sind, daß Sein Licht das Licht der Wirklichkeit ist. Er sprach: „Wer von diesem Brot ißt, wird ewig leben.“ Das will heißen: Wer sich diese göttlichen Vollkommenheiten, die in Mir sind, aneignet, wird niemals sterben; wer Anteil hat an diesen himmlischen Segnungen, die Ich verkörpere, wird ewiges Leben finden; wer dieses göttliche Licht in sich aufnimmt, wird immerfort leben. Wie offenkundig ist doch die Bedeutung, wie augenscheinlich! Die Seele, die aus den Lehren Christi göttliche Vollkommenheiten erwirbt und himmlische Erleuchtung sucht, wird zweifellos ewig leben. Dies ist ein weiteres Mysterium des Opfers.

In Wirklichkeit opferte sich auch Seine Heiligkeit Abraham; denn Er brachte der Welt himmlische Lehren und gab der Menschheit himmlische Speise.

Die dritte Bedeutung des Opfers ist diese: Wenn Sie ein Samenkorn in den Boden pflanzen, wird ein Baum aus diesem Samen offenbar werden. Der Samen opfert sich dem Baum, der aus ihm hervorgeht. Äußerlich ist [Seite 1136] der Samen verloren und zerstört, aber derselbe Samen, der sich opfert, wird in dem Baum, seinen Blüten, Früchten und Zweigen, aufgenommen und verkörpert. Würde der Samen in seiner Nämlichkeit dem Baume, der aus ihm offenbar wird, nicht geopfert, kämen die Zweige, Blüten oder Früchte nicht ans Licht. Äußerlich verschwand Seine Heiligkeit Christus. Seine persönliche Nämlichkeit verbarg sich vor den Augen, wie die Nämlichkeit des Samens verschwindet, aber die Segnungen, die göttlichen Eigenschaften und Vollkommenheiten Christi offenbarten sich in der christlichen Gemeinschaft, die Christus gründete, indem Er sich opferte. Wenn Sie auf den Baum schauen, werden Sie erkennen, daß die Vollkommenheiten, Segnungen, Eigenheiten und Schönheiten des Samens in den Ästen, Zweigen, Blüten und Früchten offenbar geworden sind; folglich hat sich der Samen dem Baum geopfert. Hätte er es nicht getan, wäre der Baum nie entstanden. Seine Heiligkeit Christus opferte sich wie dieser Samen für den Baum der Christenheit. Seine Vollkommenheiten, Segnungen und Vorzüge, Sein Licht und Seine Gnadengaben offenbarten sich in der christlichen Gemeinschaft, für deren Kommen Er sich opferte.


Jede Entwicklung fordert Opfer

Bei der vierten Bedeutung des Opfers handelt es sich um das Prinzip, daß eine Wirklichkeit ihre eigenen Wesenszüge opfert. Der Mensch muß sich von den Einflüssen der stofflichen, natürlichen Welt und ihren Gesetzen lösen; denn die materielle Welt ist die Welt des Zerfalls und des Todes. Sie ist die Welt des Bösen und der Finsternis, der wilden Tierhaftigkeit, der Blutgier, der Ehrsucht und des Geizes, der Selbstvergottung, der Ichsucht und der Leidenschaft; es ist die Welt der Natur. Der Mensch muß sich aller dieser Unvollkommenheiten entkleiden; er muß diese Neigungen, die der äußeren, stofflichen Welt des Seins zugehören, opfern.

Andererseits muß der Mensch himmlische Eigenschaften erwerben und göttliche Merkmale erlangen. Er muß das Ebenbild und das Gleichnis Gottes werden. Er muß die Wohltaten der Ewigkeit suchen, die Liebe Gottes offenbaren, das Licht der Führung, der Baum des Lebens und die Schatzkammer der Gnadengaben Gottes werden. Das will sagen: Der Mensch muß die Eigenschaften und Merkmale der natürlichen Welt um der Eigenschaften und Merkmale der göttlichen Welt willen opfern.

Betrachten Sie als Beispiel den Stoff, den wir Eisen nennen. Nehmen Sie seine Eigenschaften wahr: Es ist fest, schwarz und kalt. Dies sind die Kennzeichen des Eisens. Wenn dieses nämliche Eisen vom Feuer Hitze aufnimmt, opfert es seine Eigenschaft der Festigkeit für die Eigenschaft der Flüssigkeit. Es opfert seine Eigenschaft der Schwärze für die Eigenschaft des Leuchtens, die das Feuer kennzeichnet. Es opfert seine Eigenschaft der Kälte für die Eigenschaft der Hitze, die das Feuer besitzt; so bleibt in dem Eisen keine Festigkeit, Schwärze oder Kälte mehr zurück. Es wird erleuchtet und verwandelt, nachdem es seine Eigenschaften den Eigenschaften und Merkmalen des Feuers geopfert hat.

Wenn sich nun der Mensch von den Merkmalen der natürlichen Welt trennt und löst, opfert er die Eigenschaften und Sachzwänge jenes [Seite 1137] sterblichen Reiches und offenbart statt dessen die Vollkommenheiten des Reiches Gottes, ebenso wie die Eigenschaften des Eisens verschwunden sind und die Eigenschaften des Feuers an ihre Stelle traten.

Jeder Mensch, der durch die Lehren Gottes erzogen und vom Lichte Seiner Führung erleuchtet wird, der an Gott und Seine Zeichen glauben lernt und vom Feuer der Liebe zu Gott entflammt ist, opfert die Unvollkommenheiten der Natur um der göttlichen Vollkommenheit willen. Folglich steht jede entwickelte Persönlichkeit, jeder aufgeklärte, himmlische Mensch auf der Stufe des Opfers.

Ich hege die Hoffnung, daß Sie sich durch die Hilfe und Vorsehung Gottes und durch die Gnadengaben des Reiches Abhá völlig von den Unvollkommenheiten der natürlichen Welt lösen, daß Sie sich reinigen von selbstischen, menschlichen Begierden, um Leben aus dem Reiche Abhá zu empfangen und himmlische Anmut zu erwerben. Möge das göttliche Licht auf Ihrem Antlitz leuchten, möge der Duft der Heiligkeit Sie erfrischen, möge der Odem des Heiligen Geistes Sie mit ewigem Leben erfüllen.


Aufzeichnungen von Esther Foster, aus „The Promulgation of Universal Peace“, Vol. II, Kap. VI, Wilmette/Ill. 1922/1943, S. 444 ff.



Der Reinste Zweig[Bearbeiten]

Am 23. Juni 1970 jährte sich zum hundertsten Male ein Ereignis, das einen Tiefpunkt auf dem Leidensweg Bahá’u’lláhs bedeutete. Shoghi Effendi schreibt darüber in seinem Geschichtswerk „Gott geht vorüber“:

„Zu dem lastenden Gewicht aller Kümmernisse kam nun noch der bittere Schmerz eines plötzlichen tragischen Ereignisses hinzu — der frühe Verlust des edlen und frommen Mirzá Mihdí, des Reinsten Zweiges, des zweiundzwanzigjährigen Bruders von ‘Abdu’l-Bahá und Sekretärs Bahá’u’lláhs, der von Kindheit an seit den Tagen, da er von Tihrán nach Baghdad gebracht worden war, nach seines Vaters Rückkehr aus Sulaymániyyih dessen Verbannung teilte. Als er eines Abends in der Dämmerung auf dem Dach der Kaserne (in ‘Akká) auf und ab schritt und ganz in seine Andachtsübungen versunken war, stürzte er durch den unbedeckten Lichtschacht auf einen hölzernen Packkorb, der nebenan auf dem Gang stand; dabei wurde sein Brustkorb durchbohrt, und nach zweiundzwanzig Stunden erlag er am 23. Rabí’u’l-Avval 1287 A. H. (23. Juni 1870) dieser Verletzung. Seine letzte Bitte an seinen bekümmerten Vater war, daß sein Leben als ein Opfer angenommen werde für die, die man daran hinderte, in die Gegenwart ihres Geliebten zu gelangen.

„In einem bedeutsamen Gebet, das Bahá’u’lláh zum Gedächtnis an Seinen Sohn geoffenbart hat — einem Gebet, das seinen Tod in eine Reihe stellt mit den großen Sühneopfern, wie sie z. B. die beabsichtigte Opferung des Sohnes Abrahams, die Kreuzigung Jesu Christi und der Märtyrertod des Imáms Husayn darstellen — lesen wir folgendes: „Ich habe, o mein Herr, hingegeben was Du Mir geschenkt hast, auf daß Deine Diener erquickt würden und alle, die auf Erden wohnen, vereinigt werden möchten’“1).

(Fortsetzung Seite 1139)


[Seite 1138]











Mirzá Mihdi, der „Reinste Zweig“


[Seite 1139] „Auf dir, o Zweig Gottes“, so segnet Bahá’u’lláh in einem Tablet Seinen Sohn, „sei das Gedenken Gottes und Sein Lobpreis und das Lob aller, die in den Reichen der Unsterblichkeit wohnen, und aller Bürger im Königreich der Namen. Glücklich bist du, daß du dem Bunde Gottes und Seinem Testament die Treue bewahrtest, bis du dich vor dem Angesicht deines Herrn, des Allmächtigen, des Unbezwungenen, zum Opfer brachtest. Dir wurde in Wahrheit Unrecht zugefügt, und dies bezeugt Seine, des Selbstbestehenden Schönheit. Du hast in den frühen Tagen Meines Lebens ertragen, was alle Dinge stöhnen und jeden Pfeiler erzittern ließ. Glücklich, wer sich deiner erinnert und durch dich zur Nähe Gottes, des Schöpfers des Morgens, hingezogen wird.“

„Selig bist du“, bestätigt Er in einem anderen Tablet, „und selig ist, wer sich dir zuwendet und dein Grab besucht und sich durch dich Gott nähert, dem Herrn all dessen, was war und was sein wird. Ich bezeuge, daß du in Demut an deine Wohnstatt zurückgekehrt bist. Groß ist deine Glückseligkeit und die Glückseligkeit derer, die sich fest an den Saum deines ausgebreiteten Gewandes halten... Du bist wahrlich der Vertraute Gottes und Sein Schatz in diesem Land. Binnen kurzem wird Gott durch dich Seinen Wunsch kundtun. Wahrlich, Er ist die Wahrheit und der Kenner unsichtbarer Dinge. Als du zur Ruhe in die Erde gelegt wurdest, zitterte die Erde selbst in ihrem Verlangen, dir zu begegnen. So wurde es verordnet, und doch nehmen es die Menschen nicht wahr... Würden wir die Geheimnisse deiner Himmelfahrt wiedergeben, so würden die Schlafenden erwachen, und alle Dinge würden in Flammen versetzt durch das Feuer der Erwähnung Meines Namens, der Mächtige, der Liebevolle“ 2).


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1) Shoghi Effendi, „Gott geht vorüber“, Oxford/Frankfurt 1954, S. 214.
2) Shoghi Effendi, „Guidance for Today and Tomorrow“, London 1953, S. 73; vgl. „Bahá’í Holy Places at the World Centre“, Haifa 1968, S. 73.



„Sei wie eine Feuerflamme”[Bearbeiten]

Die Geschichte des Tablets an Ahmad / von A. Faizi


Es gibt zwei Tablets, die beide den Namen „Ahmad“ tragen: eines in persisch, das andere arabisch. Das letztere wird in der ganzen Bahá’í-Welt benützt, und Shoghi Effendi, der Hüter des Bahá’í-Glaubens, bezeichnete es als mit besonderer Kraft ausgestattet.

Das persische Tablet ist ziemlich lang und an Ahmad von Káshán gerichtet. Hájí Mirzá Jání, der als erster Bürger von Káshán den Glauben des Báb angenommen hatte und in dessen Haus der Báb einige Tage verweilte1), erlitt in Tihrán den Märtyrertod. Er hatte drei Brüder, von denen einer niemals vom Glauben seines Bruders beeindruckt wurde, so sehr dieser sich auch bemühte, ihn zu lehren. Er blieb ein Moslem und starb als solcher. Der zweite hieß Ismai’l, von Bahá’u’lláh Dhabíh’2) („Opfer“) oder auch Anís („Gefährte“) genannt. Der dritte, der nach [Seite 1140] Baghdád ging, hieß Ahmad. Er blieb bei Bahá’u’lláh und hatte die Ehre, unter denen zu sein, die von Ihm ausgewählt wurden, Ihn in die Verbannung nach Istanbul zu begleiten. Aber unglücklicherweise wich dieser Ahmad unter dem Druck der Prüfungen und Bedrängnisse vom rechten Pfad ab und ging auf die Seite Azals über. So brachte er großes Leid über die Gesegnete Schönheit, Seine Familie und Seine Freunde. Um diesen Mann von solchen üblen Taten und ihren schädlichen Folgen für den jungen Glauben zu warnen, sandte ihm Bahá’u’lláh jenes lange persische Tablet voll von Warnungen, Erklärungen über die göttliche Macht und Ratschlägen, wie der wahre Sucher handeln und leben sollte. Ahmad achtete dessen nicht, blieb unbewegt und unverändert. Als er jedoch merkte, daß er nicht länger in der Türkei bleiben konnte, kehrte er nach dem Iráq zurück, wo er seine alten Kumpane wiederfand, mit denen er sein frevelhaftes Leben wieder aufnahm. Eine seiner schlimmsten Gewohnheiten war, Menschen zu beleidigen und sie in höchst bitteren und gemeinen Ausdrücken zu verfluchen. In einer der Streitereien mit seinen üblen Freunden verletzte er sie so mit seiner scharfen Zunge, daß die Opfer ihn eines Nachts töteten, um ihn los zu werden. Teile dieses persischen Tablets sind in der „Ährenlese“ zu finden3).


Ahmad beginnt seine Suche

Der Ahmad, dem zu Ehren das wohlbekannte Tablet geoffenbart ist, wurde um 1805 in Yazd als Sohn einer angesehenen und wohlhabenden Familie geboren. Sein Vater und seine Onkel waren führende Männer in der Stadt, aber Ahmad zeigte schon mit vierzehn Jahren eine große Neigung zur Mystik und war bemüht, neue Wege zur Wahrheit zu finden. Als Fünfzehnjähriger — er hatte bereits seine Forschungen begonnen — hörte er von einigen Leuten über heilige Männer, die besondere Gebete kannten; wenn man diese las und viele Male in Verbindung mit gewissen Ritualen wiederholte, sollten sie dem Leser mit Sicherheit ermöglichen, daß Antlitz des verheißenen Qá’im, des Messias, zu erkennen.

Dies entflammte von neuem das Feuer seiner wachsenden Sehnsucht. Er begann, ein asketisches Leben zu führen, sprach lange Gebete, fastete tagelang und zog sich von den Menschen und der Welt zurück. Mit solcher Lebensführung waren seine Eltern und Verwandten nicht einverstanden; sie verboten ihm, sich weiterhin abzusondern, da dies ihren Lebensgewohnheiten und ihrem Ehrgeiz widersprach. Aber ein Mann wie Ahmad konnte solchen Widerstand nicht dulden; denn sein ganzes Sehnen, sein Herzenswunsch, war die Wiedervereinigung mit seinem Ewig-Geliebten. So verließ er eines Tages unter dem Vorwand, ein öffentliches Bad aufzusuchen, früh am Morgen mit einem kleinen Bündel aus wenigen Kleidungsstücken und einigen Habseligkeiten sein Vaterhaus und begann die Suche nach dem Offenbarer Gottes.

Als Bettler gekleidet, wanderte er von Dorf zu Dorf, und wo immer er einen „Pir“ — einen geistigen Führer — fand, saß er ihm mit großer Hingabe und Aufrichtigkeit zu Füßen in der Hoffnung, einen Weg zu den geheimnisvollen Welten der Wahrheit zu finden. Unermüdlich erbat er von diesen Menschen immer wieder jenes besondere Gebet, welches ihn [Seite 1141] dem Hofe seines Geliebten näher bringen würde. Wann immer man ihm gewisse Übungen anriet, entflammte seine Sehnsucht neu, und alle Vorschriften hielt er unbeirrbar und aufrichtig ein, wie zeitraubend und schwierig sie auch sein mochten. Aber alles war vergebens.

Schließlich gab er alle Hoffnung und den Glauben an diese Art des Suchens auf und machte sich auf den Weg nach Indien, einem Land, das für Mystiker und Einsiedler mit besonderen Gaben bekannt war. Er erreichte Bombay, wo er sich niederließ und weiter nach jemandem forschte, der ihm einen Blick auf den herrlichen Hof des Verheißenen ermöglichen würde.

Er hörte, wenn er besondere Waschungen vornähme, fleckenlose weiße Gewänder anlegte, sich demütig niederwürfe und den Vers des Qur’án „Es gibt keinen Gott außer Gott“ zwölftausendmal wiederholte, würde er unweigerlich sein Ziel erreichen und seinen Herzenswunsch erfüllt sehen. Nicht nur einmal, sondern viele Male wiederholte er, demütig hingestreckt, den erwähnten Vers zwölftausendmal, aber immer noch fand er sich im Dunkel.

Entmutigt kehrte er nach Persien zurück, jedoch nicht in seine Heimatstadt Yazd. Er ließ sich in Káshán nieder, wo er eine Tuchweberwerkstatt eröffnete. In kürzester Zeit war er ein erfolgreicher Geschäftsmann; aber im Innersten seines Herzens suchte er unermüdlich weiter.

„Klopfe an, so wird dir aufgetan.“ „Bitte, so wird dir gegeben.“ Kein wahrer Sucher wurde je enttäuscht und ohne Antwort vor Gottes Tor der Gnade abgewiesen.


Ein Fremder weist den Weg

In Káshán vernahm Ahmad das Gerücht von Einem, der den Anspruch erhob, der verheißene Qá’im zu sein. Rastlos in seinen Bemühungen und aufrichtig in seiner Suche, fragte er viele Menschen auf die verschiedenste Art und Weise. Doch keiner gab ihm einen Hinweis.

Dann kam eines Tages ein unbekannter Reisender in die Stadt und quartierte sich in demselben Gasthof ein, in dem Ahmad sein erfolgreiches Geschäft eingerichtet hatte. Ein bestimmter innerer Drang zog Ahmad zu diesem Mann. Im Laufe einer Unterhaltung kam das Gespräch auch auf das Gerücht, das sich nun schon verbreitet hatte. „Warum fragst du das?“, wollte der Reisende wissen. „Ich möchte wissen, ob es wahr ist. Wenn dem so ist, will ich es mit aller meiner Kraft verfolgen“, antwortete Ahmad.

Ein Lächeln des Triumphes erhellte das Gesicht des Fremden, als er Ahmad riet, nach Khurásán zu gehen und dort einen berühmten Gelehrten, Mullá ‘Abdu’l-Kháliq, ausfindig zu machen. Dieser werde ihm die ganze Wahrheit mitteilen.

Schon am nächsten Tag war Ahmad auf dem Weg nach der Provinz Khurásán. Die Besitzer der benachbarten Läden waren sehr überrascht, als sie Ahmad nicht wie üblich bei seiner Arbeit fanden. „Was ist zwischen ihm und dem fremden Reisenden vorgefallen?“, fragten sie einander; doch keiner wußte die richtige Antwort.

[Seite 1142] Zu Fuß durchquerte Ahmad Wüsten und Gebirge, und sein Herz war zum Überfließen erfüllt von Freude und Sehnsucht. Mit jedem Schritt fand er sich dem Zeitpunkt näher, da alle seine Bemühungen die ersehnten Früchte tragen würden — die Wiedervereinigung mit seinem Geliebten, auf der Suche nach dessen Gegenwart er keine Anstrengung scheute und kein Opfer zu groß fand.


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Bahá’u’lláh
Tablet an Ahmad
Er ist der König, der Allwissende, der Weise!
Sieh, die Nachtigall des Paradieses singt auf den Zweigen des Baumes der Ewigkeit. Mit heiligen und lieblichen Weisen verkündet sie den Aufrichtigen die frohe Botschaft der Nähe Gottes. Sie beruft alle, die an die Einheit Gottes glauben, an den Hof der Gegenwart des Großmütigen. Sie macht alle, die reinen Herzens sind, mit dem Auftrag bekannt, den Gott, der König, der Herrliche, der Unvergleichliche, enthüllt hat. Sie leitet die Liebenden zum Throne der Heiligkeit hin und zu dieser strahlenden Schönheit.
Wahrlich, dies ist die Erhabenste Schönheit, die verheißen wurde in den Büchern der Boten. Durch Ihn wird die Wahrheit vom Irrtum geschieden und die Weisheit jedes Gebotes geprüft. Wahrlich, Er ist der Baum des Lebens, der Früchte von Gott, dem Erhabenen, dem Machtvollen, dem Großen, hervorbringt.
O Ahmad! Sei du Zeuge, daß wahrlich Er Gott ist und kein Gott außer Ihm ist, dem König, dem Schirmherrn, dem Unvergleichlichen, dem Allmächtigen, und daß Der, den Er aussandte mit Namen ‘Alí (d. i. Seine Heiligkeit der Báb) der Wahrhafte Gottes war, dessen Befehlen wir alle entsprechen.
Sprich: O Menschen, gehorchet den Verordnungen Gottes, die euch im Bayán durch den Herrlichen, den Weisen, auferlegt worden sind. Wahrlich, Er ist der König der Boten und Sein Buch ist das Mutterbuch, wenn ihr es nur wüßtet!
Also erhebt die Nachtigall ihren Ruf an dich aus diesem Gefängnis. Nur diese deutliche Botschaft hat sie zu künden. Wer immer es wünscht, den lasse von diesem Ratschlag sich wenden, und wer immer es wünscht, den lasse den Pfad zu seinem Herrn erwählen.
O Menschen, wenn ihr diese Verse abweiset, auf welchen Beweis hin glaubt ihr dann wohl an Gott? Bring ihn hervor, du Rotte der Falschen!
Nein, bei dem Einen, in dessen Hand meine Seele ist, sie können
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[Seite 1143] Er erreichte Mashhad in Khurásán erschöpft und so krank, daß er sich zu Bett legen mußte. Nach zweimonatigem Ringen um Gesundheit nahm er den letzten Rest seiner Kraft und seines Mutes zusammen und ging geradewegs zur Tür des ersehnten Hauses. Hören wir seine eigenen Worte, wie er seinen damaligen Freunden und Gefährten berichtete: „Als ich das Haus errichte, klopfte ich an die Tür, und der Diener erschien.


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es nicht und werden es niemals können, und würden sie sich gleich zu gegenseitiger Hilfe verbünden.
O Ahmad! Vergiß Meine Gaben nicht, während Ich ferne bin. Gedenke Meiner Tage in deinen eigenen Tagen und Meiner Not und Verbannung in diesem entlegenen Kerker und sei so standhaft in Meiner Liebe, daß dein Herz nimmer wanke, selbst wenn der Schwerterregen der Feinde über dir prasselt und die Himmel alle und die Erde wider dich aufstehen.
Sei wie eine Feuerflamme für Meine Feinde und ein Strom des ewigen Lebens für Meine Geliebten und zähle nicht zu den Zweifelnden.
Und wenn Kummer dich anfällt auf Meinem Pfade oder Erniedrigung um Meinetwillen, so sorge dich nicht.
Vertraue auf Gott, deinen Gott und den Herrn deiner Väter; denn die Menschen wandern auf den Wegen des Wahns, der Einsicht beraubt, Gott mit eigenen Augen zu schauen oder Seine Weise mit eigenen Ohren zu hören. Also haben Wir sie befunden, wie auch du es bezeugst.
Also ist ihr Aberglaube zum Schleier zwischen ihnen und ihren eigenen Herzen geworden und hat sie abgehalten vom Pfade Gottes, des Erhabenen, des Großen.
Sei du in dir selbst gewiß, daß wahrlich der, der sich von dieser Schönheit wendet, sich damit zugleich von den Boten der Vergangenheit wendet und hoffärtig ist vor Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Lerne dieses Tablet gut, o Ahmad! Singe es in deinen Tagen und enthalte dich seiner nicht, denn Gott hat wahrlich für den, der es singt, den Lohn für hundert Märtyrer und Dienst in beiden Welten verordnet. Diese Gunst haben Wir dir erwiesen als Unsere Freundesgabe und als Gnade aus Unserer Gegenwart, damit du zu denen gehörest, die dankbar sind.
Bei Gott! Sollte jemand, der traurig oder bekümmert ist, dieses Tablet mit aufrichtigem Herzen lesen, so wird Gott seinen Kummer zerstreuen, seine Schwierigkeiten lösen und seine Pein hinwegtun.
Wahrlich, Er ist der Gnädige, der Mitleidvolle. Preis sei Gott, dem Herrn aller Welten!
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[Seite 1144]

Die Türe halb offen haltend, fragte er mich: „Was willst du?“ „Ich muß deinen Herrn sehen“, antwortete ich. Der Mann ging zurück ins Haus, und dann kam der Mullá selbst heraus. Er ließ mich in sein Haus eintreten, und als wir uns gegenüberstanden, erklärte ich ihm alles, was mir zugestoßen war. Als ich geendet hatte, ergriff er sogleich meinen Arm und sagte zu mir: „Sag hier nicht solche Dinge!“ Damit schob er mich zur Tür hinaus. Mein Kummer war unsagbar. Bestürzt und gebrochenen Herzens sagte ich zu mir: „Sind alle meine Bemühungen vergebens? Zu wem soll ich gehen? An wen soll ich mich wenden?... Doch ich werde niemals von diesem Mann lassen. Ich werde ausharren, bis die Zeit gekommen ist, daß er mir sein Herz öffnen und mich auf den rechten Weg Gottes führen wird. Es ist die Pflicht dessen, der sucht, den bitteren Kelch der Not bis zur Neige zu leeren.“ Am nächsten Morgen war ich wieder an der Tür desselben Hauses. Ich klopfte heftiger als am Tag zuvor. Diesmal kam der Mullá selbst zur Tür, und in dem Augenblick, als er öffnete, sagte ich: „Ich werde nicht fortgehen, ich werde dich nicht verlassen, bis du mir die volle Wahrheit gesagt hast.“ Diesmal erkannte er, daß ich es ernst meinte und ehrlich war. Er war nun sicher, daß ich nicht an seine Tür gekommen war, um zu spionieren oder um ihm und seinen Freunden Schwierigkeiten zu machen.“

Ahmad wurde angewiesen, dem Abendgebet in einer bestimmten Moschee beizuwohnen, wo derselbe Mullá das Gemeindegebet leitete und eine lange Predigt hielt. Er solle dem Mullá folgen, wenn die Predigt zu Ende sei. Am folgenden Abend versuchte Ahmad sein Äußerstes, den Mullá nach dem Gebet und der Predigt zu finden, aber der war von einer solchen Menschenmenge umgeben, daß Ahmad nicht in seine Nähe kommen konnte. Als die beiden sich am nächsten Tag wieder trafen, wurde Ahmad angewiesen, bei Nacht in eine andere Moschee zu gehen; eine dritte Person würde ihm den Weg zeigen. Folgsam stellte sich Ahmad bei Sonnenuntergang in der Moschee ein, und wie versprochen kam nach dem Abendgebet jemand zu ihm und winkte ihm zu folgen. Ohne Zögern und Furcht ging Ahmad mit. Zu dritt huschten sie schattengleich in der Finsternis durch enge und düstere Gassen. Obwohl Ahmad völlig fremd in der Stadt war, wankte er nicht, noch zauderte oder floh er. Er tat jeden Schritt mit großer Entschlossenheit, zu allem bereit, was auch immer geschehen würde.

Schließlich erreichten sie ein bestimmtes Haus. Sie klopften leise an die Tür, und es wurde sofort geöffnet. Die Neuangekommenen schlüpften schnellstens hinein. Sie durchschritten einen überdeckten Gang, kamen auf einen kleinen Hof, stiegen einige Stufen hinauf und waren an der Tür einer Kammer, in der eine sehr vornehme Gestalt saß. Der Mullá näherte sich dieser Persönlichkeit voll Demut und Ehrerbietung; auf Ahmad zeigend, der in Ehrfurcht und gespannter Erwartung auf der Schwelle verweilte, sagte er höflich flüsternd: „Das ist der Mann, von dem ich Ihnen erzählte.“ „Willkommen! Bitte, tritt herein und setze dich!“ sagte der Mann. Ahmad betrat daraufhin das Zimmer und setzte sich auf den Boden.

Der Gastgeber war kein anderer als Mullá Sádiq („der Wahrhafte“), einer der ersten Gläubigen während der Zeit des Báb, hoch angesehen [Seite 1145] wegen seiner Gelehrsamkeit, Kühnheit und Standhaftigkeit. In der Zeit Bahá’u’lláhs entfaltete er so großen Eifer und so große Begeisterung, daß Bahá’u’lláh ihm den Titel ‘Asdáq („der Wahrhaftigste“) gab4).


Ein Schatz ist gefunden

Ahmad, der fünfundzwanzig Jahre lang die Täler des Suchens durchwandert hatte, ohne auch nur mit einem Tropfen seinen Durst löschen zu können, fand nun den Weg zum Urquell. Mit ausgedorrten Lippen und unersättlichem Verlangen trank er den duftenden Strom der Verse Gottes durch Seine neue Manifestation in sich hinein. Drei Zusammenkünfte genügten, dann nahm er den Glauben von ganzem Herzen und ganzer Seele an. Er sah so erregt, verzückt und hellbegeistert aus, daß ‘Asdáq ihn ermahnte, zu seiner Familie nach Káshán zurückzukehren und keinem Menschen, nicht einmal der eigenen Frau gegenüber, seinen Glauben zu erwähnen.

Jene Tage waren für den jungen Gottesglauben Tage außerordentlicher Gefahr. Die wenigen Anhänger aus den Reihen der Armen dieser Welt waren pausenlos die Zielscheiben vieler Greueltaten. Sogar die Luft war erfüllt von Argwohn, Spionage und Verleumdung. Deshalb mußten die Freunde sich in acht nehmen, daß nicht die geringste Unachtsamkeit oder ein einziges unbedachtes Wort eine Feuersbrunst entfachten, die mit ihren Flammen die Gläubigen verzehrt hätte. ‘Asdáq, der wußte, was Ahmad durchgemacht hatte, merkte, daß dieser kein Geld hatte, um nach Hause zurückkehren zu können. So gab er ihm ein paar kleine Geschenke für seine Familie und drei Tumán (vier Mark) und ermahnte ihn nochmals, sehr weise zu sein. Über seine Rückkehr berichtete Ahmad: „Als ich in Káshán ankam, fragten mich alle, was geschehen sei, daß ich alles so plötzlich verlassen hätte. Ich sagte ihnen: ‚Mein Verlangen nach einer Pilgerreise war so groß, daß ich nicht widerstehen konnte, und das war gut so. Was sonst als dieses innerste Sehnen hätte mich veranlassen können, mein Haus, meine Arbeit, meine Familie zu verlassen? Als ich von dem Reisenden jene Worte hörte, verließ mich augenblicklich die Geduld.’“

In Káshán nahm er seine Arbeit wieder auf, aber er sehnte sich danach, den Glauben zu lehren. Gerüchtweise hörte er, daß ein gewisser Hájí Mirzá Jáni seinen Glauben gewechselt hätte und Anhänger einer neuen, obskuren Religion geworden sei. Er forschte nach ihm, und als die beiden sich gefunden hatten, da war kein Ende ihrer Freude und Begeisterung. Sie wurden enge Freunde, ständige Gefährten und die ersten und einzigen Bábi in dieser Stadt.

Eines Tages (im März 1847), kam Hájí Mirzá Jáni zu Ahmad und fragte ihn voll Begeisterung und grenzenloser Erregung: „Möchtest du gern das Antlitz deines Herrn schauen?“ Ahmads Herz schlug höher. Mit großer Freude sprang er aufgeregt auf und fragte: „Wie und wann?“ Der Hájí erzählte ihm nun, welche Vereinbarungen er mit der Eskorte des Báb getroffen habe, um den Báb für zwei oder drei Nächte in seinem Haus beherbergen zu können. So ging Ahmad zur verabredeten Stunde in des Hájís Haus.

[Seite 1146] Als er eintrat, fielen seine Augen auf ein Antlitz, dessen Schönheit Himmel und Erde übertraf. Ein junger Siyyid (Nachkomme des Propheten Mohammed) saß dort in solcher Demut, Hoheit und Majestät, daß man nichts anderes als das Licht Gottes in Seinem Antlitz wahrnehmen konnte. Einige Geistliche und Würdenträger der Stadt saßen am Boden im Kreis um Ihn her, und die Diener standen an der Tür.

Einer der Mullás sah den Báb an und sagte: „Wir haben gehört, daß ein junger Mann in Shiráz den Anspruch erhob, der Báb zu sein. Ist das wahr?“ „Ja“, antwortete der Báb. „Und offenbart er auch Verse?“, fragte derselbe Mann. Der Báb antwortete: „Und Wir offenbaren auch Verse.“

Ahmad erzählte weiter: „Diese klare und mutige Antwort genügte für jeden, der Ohren hatte zu hören und Augen zu sehen, um die ganze Wahrheit sogleich zu erfassen. Sein wunderbares Antlitz, Seine machtvollen Worte und Seine Gegenwart taten allen Dingen Genüge. Als der Tee gereicht und dem Báb eine Tasse davon angeboten wurde, nahm Er sie, rief den Diener desselben Mullá und überreichte ihm voll Anmut den Tee. Am folgenden Tag kam dieser bescheidene Diener zu mir und beklagte sich über die Torheit seines Herrn. Eine kurze Erläuterung über die Stufe des Báb genügte, ihn in unsere Gruppe zu bringen, und nun waren wir drei.“

Der kleine Kern begann zu wachsen, und die Zahl der Gläubigen nahm zu. Das erboste die Geistlichen, die ihr ganzes Geschick aufboten, dem Fluß des machtvollen Lebensstromes Einhalt zu gebieten. Sie stachelten die grausame, unwissende Menge auf. Jeden Tag pflegten sie wutentbrannt vor eines anderen Bábis Haus zu ziehen, Türen und Fenster einzuschlagen, das Gebäude zu plündern und zu zerstören. Am Abend lagen dann die Leichen in den Straßen und Gassen und selbst über die benachbarten Berge und Ebenen verstreut. So ging es wochenlang, und Ahmads Haus bildete keine Ausnahme. Ahmad mußte sich vierzig Tage lang in einem Turm verstecken, und die Freunde brachten ihm, was er zum Leben brauchte.


Die Reise zur „Wohnstatt des Friedens“

Als er das Leben in Káshán nicht mehr ertragen konnte und hörte, daß Baghdád ein Anziehungspunkt geworden war, entschloß sich Ahmad, dorthin zu gehen.

„Und Gott ruft zur Wohnstatt des Friedens (Baghdád) und Er führt, wen Er will, auf den rechten Pfad“ 5).

Im Dunkel der Nacht gab Ahmad sein Versteck auf, kletterte über die Mauern der Stadt und machte sich auf den Weg nach Baghdád. Er reiste zu Fuß, erfüllt von Liebe, Begeisterung und dem heißen Verlangen, das Antlitz Dessen zu schauen, den Gott nach der Verheißung des Báb offenbaren werde. Als er so dahinwanderte, begegnete er einem anderen Mann, der in der selben Richtung reiste. Ahmad fürchtete weitere Verfolgungen; darum beachtete er den Fremden nicht und sprach kein Wort mit ihm. Doch der Mann blieb beharrlich an seiner Seite. Ahmad war sehr auf der Hut, niemals seinen Glauben oder den Zweck seiner Reise auch nur zu erwähnen. In Baghdád angekommen trennte sich [Seite 1147] Ahmad von seinem Weggefährten und machte sich sogleich auf die Suche nach Bahá’u’lláhs Haus. Als er es gefunden hatte und eintrat, entdeckte er zu seinem größten Erstaunen, daß sein Reisegefährte auch da war. Nun wurde ihm klar, daß sein Freund ebenfalls ein Bábi und unterwegs gewesen war, in die Gegenwart der Gesegneten Schönheit zu gelangen.


Ahmad in der Gegenwart Bahá’u’lláhs

Für einen Mann wie Ahmad, der sein ganzes Leben nach diesem unermeßlichen geistigen Urquell gesucht hatte, war es ein atemberaubendes Erlebnis, als er zum ersten Mal das jugendliche Antlitz Bahá’u’lláhs erblickte — ein Antlitz voll Liebreiz, frischer Farbe und durchdringender Geisteskraft. Er war überwältigt! Erst durch die heitere Bemerkung der Ewigen Schönheit: „Er wird ein Bábi und versteckt sich dann im Turm!“, kam er wieder zu sich.

Bahá’u’lláh erlaubte Ahmad, in Baghdád zu bleiben und ganz nahe Seinem Hause zu wohnen. Sogleich stellte Ahmad seinen kleinen Webstuhl auf und war der glücklichste Mann der Welt. Was will der Mensch mehr? In der Zeit der Höchsten Manifestation Gottes leben, Ihn anbeten, von Ihm geliebt werden und Seinem Herzen, Seiner Seele und sogar Seinem Wohnsitz so nahe sein!











In der Nähe von Panama City wächst das für die Bahá’í von Mittelamerika bestimmte Haus der Andacht aus dem Boden. Auf einer Anhöhe gelegen, wird es einmal weithin sichtbar sein. Unser Bild zeigt die Baustelle.


[Seite 1148] Als er später einmal über die Ereignisse jener Zeit, die er in so unmittelbarer Nähe Bahá’u’lláhs verbrachte, befragt wurde, sagte Ahmad mit Tränen in den Augen: „Wie unzählbar, wie groß, wie überwältigend machtvoll waren die Ereignisse jener Jahre! Unsere Nächte waren erfüllt von denkwürdigen Episoden. Freudig, zu Zeiten auch traurig, waren unsere Erlebnisse; aber es ist unmöglich, sie zu beschreiben. Als zum Beispiel6) eines Tages die Gesegnete Schönheit spazieren ging, näherte sich Ihm ein Regierungsbeamter und berichtete, einer Seiner Anhänger sei getötet und ans Flußufer geworfen worden. Die Zunge der Kraft und Macht antwortete: ‚Niemand hat ihn getötet. Durch siebzigtausend Lichtschleier zeigten Wir ihm die Herrlichkeit Gottes in einem Ausmaß, winziger als ein Nadelöhr; darum konnte er die Bürde seines Lebens nicht länger tragen und hat sich selbst als Opfer dargebracht.“ Als Bahá’u’lláh der Erlaß des Kalifen überbracht wurde, wonach Er aus Baghdád nach Istanbul gehen mußte, verließ Er die Stadt am zweiunddreißigsten Tag nach Naw-Rúz und schlug Sein Zelt im Garten Ridván auf. An demselben Tag trat der Fluß über die Ufer, und erst nach neun Tagen war es Seiner Familie möglich, mit Ihm im Garten zusammenzukommen. Dann trat der Fluß ein zweitesmal über die Ufer, und als dann das Wasser am zwölften Tage sank, gingen alle zu Ihm. Ahmad bat Bahá’u’lláh inständig, unter den Gefährten, die Sein Exil mit Ihm teilten, sein zu dürfen, aber Bahá’u’lláh erfüllte seine Bitte nicht. Er wählte einige wenige aus und gab den anderen Anweisung dazubleiben, die Sache zu lehren und sie zu beschützen, und Er betonte, daß dies besser für den Glauben Gottes wäre. Als Er abreiste, standen die Zurückbleibenden in einer Reihe da und waren von ihrer Trauer so überwältigt, daß sie in Tränen ausbrachen. Bahá’u’lláh ging noch einmal zu ihnen, tröstete sie und sagte: „Es ist besser für die Sache. Einige dieser Menschen, die Mich begleiten, neigen dazu, Unheil zu stiften; deshalb nehme Ich sie mit Mir.“ Einer der Freunde konnte seinen Kummer und seinen Schmerz kaum beherrschen. Er wandte sich zu der Menge und sprach dieses Gedicht von Sa’dí:

„Laßt uns alle klagend weinen
wie der Frühlingswolken Regen!
Müssen Liebende voll Jammer
vom Geliebten schmerzlich scheiden,
hört man selbst der Steine Wehruf
weithin über Berg und Tal.“

Da sagte Bahá’u’lláh: „Wahrlich, das wurde für diesen Tag gesagt.“ Dann bestieg Er Sein Pferd. Einer der Freunde legte einen Beutel voll Münzen vor Seinen Sattel, und Bahá’u’lláh begann, diese Münzen unter die jammernden Armen, die umherstanden, zu verteilen. Als sie auf Ihn zuliefen und einander drängten, griff Er in den Beutel, schüttete alle Münzen aus und sagte: „Sammelt sie selber auf!“

Ahmad sah seinen Geliebten entschwinden, einem unbekannten Ziel entgegen. Er ahnte nicht, daß Er, der Sonne gleich, zum Gipfel der Macht und Kraft aufstieg. Traurigen Herzens und in tiefster Seelenpein kehrte Ahmad nach Baghdád zurück, das ihn nun in keiner Weise mehr anzog. Er versuchte wieder glücklich zu werden, indem er die Freunde versammelte [Seite 1149] und sie ermutigte, sich zu verteilen und den Glauben zu lehren, der soeben erklärt worden war. Obgleich er im Dienste dieser Sache sehr tätig war, wurde er doch nicht froh. Nur die Nähe seines Geliebten hätte ihn glücklich machen können.


Das Tablet

Nach ein paar Jahren verließ er wieder sein Heim und seine Arbeit und begab sich zu Fuß nach Adrianopel, der Stadt seiner Liebe und Sehnsucht.

In Istanbul erreichte ihn jenes Tablet Bahá’u’lláhs, das wir heute als das „Tablet an Ahmad“ kennen. Er beschreibt den Empfang dieses Tablets folgendermaßen: „Ich erhielt das Tablet der ‚Nachtigall des Paradieses‘, und nachdem ich es wieder und wieder gelesen hatte, wurde mir bewußt, daß mein Geliebter wünschte, ich solle gehen, um Seinen Glauben zu lehren. So zog ich es vor, Ihm zu gehorchen, anstatt Ihn zu besuchen.“

Er hatte den besonderen Auftrag bekommen, durch Persien zu reisen, die alten Bábi-Familien zu finden und ihnen die neue Botschaft des Herrn zu überbringen. Daher der wunderbare Hinweis auf den Báb in diesem Tablet. Es war eine unbeschreiblich schwierige Aufgabe, daher auch solche Ermahnungen wie: „Sei wie eine Feuerflamme für meine Feinde und ein Strom des ewigen Lebens für Meine Geliebten und zähle nicht zu den Zweifelnden.“ Der Pfad, den er verfolgen mußte, würde ein blutiger sein, es würde Dornen und Mühsal zu ertragen geben; doch dann folgten solche seelenbewegenden Ermahnungen wie: „Und wenn Kummer dich anfällt auf Meinem Pfade oder Erniedrigung um Meinetwillen, so sorge dich nicht.“

Mit diesem göttlichen Amulett in seinem Besitz — einem kleinen Stück Papier, „von Bahá’u’lláh mit besonderer Macht und Bedeutung ausgestattet“ — und im unscheinbaren Gewand eines Bettlers machte sich Ahmad auf den Weg zurück nach Persien. Er betrat das Land in dem Bezirk, in dem der Báb gefangen gewesen war und wo Er den Märtyrertod gefunden hatte, und er durchquerte diese Gegend wie der Odem des Lebens. Viele Bábi konnten dadurch die Sonne sehen, die von Adrianopel her schien, und sogar viele Moslem nahmen den Glauben von ganzem Herzen an.


„Die frohe Botschaft der Nähe Gottes“

Ahmad wurde zur Verkörperung des Tablets, das seinen Namen trägt. Solche Ausdauer, solch unerschrockener Mut, solche Zähigkeit und Standhaftigkeit wie die seine ist kaum ein zweites Mal in den Annalen des Glaubens zu finden. Wenn er mit jemandem in Berührung kam, pflegte er, obwohl „Kummer und Erniedrigung ihn anfielen“, immer wieder zurückzukehren, um die noch halboffenen Fragen zu Ende zu führen.

Als er, um ein Beispiel anzuführen, durch die Provinz Khurásán reiste, besuchte er eine wohlbekannte Bábi-Familie, deren Haupt kein anderer als Furúghí7) war — einer der Überlebenden des Aufstandes von Tabarsí. Ahmad ging hin und brachte nach und nach die Sprache auf sein Anliegen. Er erklärte offen, eifrig und mit Nachdruck, daß Der, den Gott offenbaren [Seite 1150] werde, kein anderer als Bahá’u’lláh sei, dessen Licht nun vom Horizonte des „entlegenen Kerkers“ — Adrianopel — leuchtete.

Furúghí, der so verwegen bei Tabarsí gekämpft hatte, fing auch hier an zu kämpfen. Die Aussprache wurde mit der Zeit immer heftiger. Furúghí wurde zornig, griff Ahmad an, schlug ihm einen Zahn ein und warf ihn aus dem Haus.

Ahmad zog gebrochenen Herzens ab, kehrte jedoch später mit neuem Mut zurück, klopfte an und sagte, er werde nicht eher gehen, als bis dieser Gegenstand völlig durchgesprochen und endgültige Schlüsse gezogen worden wären.

Wir dürfen nicht vergessen, in welch großer Gefahr die Bábi waren. Hätte man auch nur ein Stück Papier mit den Versen des Báb in irgendeinem Haus gefunden, so hätte dies genügt, das Haus zu zerstören, seine Bewohner ins Gefängnis zu werfen oder sogar in den Märtyrertod zu treiben. Deshalb versteckten viele Freunde ihre Bücher und Schriften in den Mauern ihrer Häuser. Als Ahmad zum zweitenmal zu Furúghís Haus ging, um die Aussprache wieder aufzunehmen, betonte er mit Nachdruck, der Größte Name BAHÁ sei vom Báb in allen Seinen Schriften oft erwähnt worden. Furúghí stellte die Wahrheit dieser Behauptung in Frage. Um Ahmad zu widerlegen, riß er einen Teil der Mauer nieder und brachte ein Bündel hervor, das die Schriften des Báb enthielt; er versprach, nicht ein Wort gegen die klaren Texte zu sagen. Ahmad berichtet: „Der erste Vers, den wir aufschlugen, bezog sich auf den Namen BAHÁ.“ Wie versprochen nahmen Furúghí und alle Mitglieder seiner Familie den Glauben Bahá’u’lláhs an, wurden seine eifrigen Verteidiger und leisteten Hervorragendes für seine Verbreitung und seinen Schutz.


„Eine Feuerflamme“

Nachdem er das ganze Land Khurásán durchquert hatte, entschloß sich Ahmad, noch einmal nach Baghdád zu gehen, um allen Freunden dieser wichtigen Stadt Bahá’u’lláhs Botschaft der Liebe und Seine Grüße zu überbringen. Aber leider wurde er auf dem Wege wiederum krank und konnte Baghdád nicht erreichen. Dazu kam, daß ihn Geistliche aus Káshán in Tihrán wiedererkannten und am Hofe des Königs, der immer bereit war, über die Anhänger des neuen Glaubens harte Strafen zu verhängen, Klage gegen ihn erhoben. Ahmad wurde einem jungen Offizier überantwortet, der seinen Fall zu untersuchen und, wenn er sich überzeugen konnte, daß sein Opfer vom rechten Wege abgewichen sei, ihn sofort zu töten hatte.

Der junge Offizier wollte Ahmad nicht lästig fallen und forderte ihn auf, seinen Glauben zu widerrufen. Ahmad berichtet: „Damals erreichte ich den Höhepunkt meines Glaubens und meiner Begeisterung und dachte keinen Augenblick daran zu widerrufen.“ Immer bereit, sein Leben auf dem Pfade des Glaubens niederzulegen, diente er mit einer solchen Selbstaufopferung, daß er darauf bestand, kein Bábi, sondern ein Bahá’í zu sein, ein Anhänger der Höchsten Manifestation Gottes. Er wurde abgeführt. Im Gefängnis hörte er, die Frau des Offiziers sei plötzlich schwer erkrankt. Entsetzt und tief traurig kam der Offizier zu Ahmad: „Sollte [Seite 1151] meine Frau wieder gesund werden, werde ich dich entlassen.“ Nach drei Tagen brachte der junge Mann, ungeachtet der schlimmen Gefahren für ihn selber, Ahmad zum Stadttor von Tihrán und ließ ihn ziehen.


„Ein Strom des ewigen Lebens“

Frei wie ein Vogel ging Ahmad zunächst in Dörfer, wo einige Weizensieber lebten, die Bábi waren. Sie empfingen ihn voll Liebe und Höflichkeit und nahmen ihn gastlich auf; Ahmad führte sie auf den rechten Pfad Gottes, um sich nach einigen Tagen wieder auf den Weg zu machen: nach der Provinz Fárs, deren Hauptstadt Shiráz ist.

In dieser Provinz lebte er fast ein Vierteljahrhundert. Er wurde der ständige Gefährte der Mißhandelten und Betrübten. Er tröstete sie in Zeiten der Verfolgung, gab ihnen Hoffnung und einen Ausblick auf den stetig sich weitenden Horizont der Siege und Triumphe.

Von alten Leuten dieser Gegend hörte der Verfasser wie ein fernes Echo Berichte über einen wunderbaren Derwisch, der unter den Dorfbewohnern gelebt hatte und ihnen ein Engel des Schutzes, der Führung und des Erbarmens gewesen war. Solche Gerüchte veranlaßten mich, dieser verehrungswürdigen Gestalt nachzuforschen, und da entdeckte ich, daß es kein anderer als unser unschätzbarer Ahmad war, dessen Namen heute auf der ganzen Welt mit so viel Liebe und Verehrung erwähnt wird.

Ahmad nahm viele der reisenden Bahá’í-Lehrer, die durch diesen Teil Persiens kamen, bei sich auf, bewirtete sie in seinem bescheidenen Heim, sprach mit ihnen über Gott und Seinen Glauben und erzählte ihnen von seinen Erlebnissen mit den vielen anderen Lehrern, die in jenen Tagen die Seelen zu neuem Leben erweckten.

Einer der rührendsten Vorfälle, von Ahmad selbst berichtet, war der folgende: „Eines Tages kam ein Mann, nur notdürftig bekleidet und fast barfuß, zur Türe meines Hauses. Er war völlig erschöpft und übermüdet. Seine Kleider waren braun und steif von einer Mischung aus Staub und Schweiß. Dieser Mann war, wie sich herausstellte, Hájí Mírzá Haydar-‘Alí8). Ich half ihm sogleich aus seinen Kleidern, wusch sie und breitete sie zum Trocknen in der Sonne aus, während er ruhte und auf die Freunde wartete, die ihn bei mir treffen wollten.“


„Standhaft in Meiner Liebe“

Die Jahre gingen dahin, angefüllt mit ereignisreichen Tagen. Als neue Wogen der Verfolgung sich über ganz Persien ausbreiteten, bemühten sich die Freunde in ihrer Liebe und Bewunderung für Ahmad, ihn gegen lebensgefährliche Angriffe zu schützen. Nach langen Beratungen machten sie ihm den Vorschlag, diesen einsamen Winkel des Landes umgehend zu verlassen und in eine dichter bevölkerte Gegend zu ziehen. Wohin immer sich Ahmad wandte, überall gaben ihm die Freunde denselben Rat. Er war weit und breit im Lande so bekannt, daß seine bloße Gegenwart unter den fanatischen Moslems Erregung hervorzurufen drohte und ihre ersten Angriffe sich gegen Ahmad richten würden. Nachdem er seinen Wohnort mehrmals gewechselt hatte, ließ er sich in Tihrán nieder. Er [Seite 1152] zauderte niemals, noch war er je etwas anderes als eine „Feuerflamme“ und „der Strom ewigen Lebens“. Nachdem er ein Jahrhundert gelebt und sich stets guter Gesundheit erfreut hatte, ging er 1905 in Tihrán in die Gegenwart seines Geliebten ein.

Ahmad hatte zwei Kinder: einen Sohn mit Namen Mírzá Muhammad und eine Tochter, Khánum Guhar. Als Ahmads Haus beschlagnahmt wurde, verließ Muhammad mit Frau und Kindern die Stadt Káshán und ging nach Tihrán. Auf dem Weg dorthin starben er, seine Frau und die kleine Tochter. Die Spuren ihrer Gräber — wenn es je welche gab — sind für immer verloren.

Nur ihr fünfjähriger Sohn Jamál überlebte. Maultiertreiber, die Lebensmittel aus den Provinzen nach Teheran brachten und nicht wußten, daß Jamál der Sohn eines Bábi war, hatten Mitleid mit dem verlassenen, heimatlosen Kind, setzten es auf eine ihrer Ladungen und brachten es nach Tihrán. In dieser großen Hauptstadt wurde das arme Kind ausgesetzt, und niemand erzählte ihm je von seinen ruhmreichen Vorfahren, noch von dem Glauben, für den seine Familie so viele Leiden und unsagbare Not ertragen hatte, bis seine Tante, Khánum Guhar9), ebenfalls nach Tihrán kam. Als auch Ahmad die Hauptstadt erreichte, erhielt er Nachricht über seinen Enkelsohn und gewann ihn sehr lieb. Er nahm ihn unter seine Fittiche, und Jamál entwickelte sich zu einem wundervollen Bahá’í.

Gegen Ende seines Lebens vertraute Ahmad das Original des berühmten Tablets Jamál an, der es dann seinerseits in der Reinheit seines Herzens und in seiner Ergebenheit für den Glauben Gottes der Hand der Sache, dem Treuhänder des Huqúq, Sohn und Bruder zweier erleuchteter Märtyrer, Jináb-i-Valiyu’lláh Varqá, zum Geschenk machte. Als Jináb-i-Varqá im Auftrag des Hüters 1953 der Eröffnungsfeier des Hauses der Andacht in Wilmette beiwohnte, brachte er das kostbare Tablet als Geschenk für das Archiv der Bahá’í in den Vereinigten Staaten mit. Nun sind die amerikanischen Freunde Treuhänder dieses wunderbaren Gottesgeschenkes für die Menschheit.


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aus „Bahá’í News“ (USA), Nr. 432/März 1967 und Nr. 433/April 1967.
1) „The Dawn-Breakers, Nabíl’s Narrative of the Early Days of the Bahá’í Revelation“, Wilmette/Ill. 1962, S. 217-222.
2) „Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs“, Frankfurt/Main 1961, CXV.
3) wie 2), CLIII
4) wie 1), S. 100 u. 144
5) Qur’án 10:25
6) Shoghi Effendi, „Gott geht vorüber“, Oxford/Frankfurt 1954, S. 154 f.
7) Eines der Mitglieder dieser Familie trug Shoghi Effendi zusammen mit achtzehn anderen frühen Bahá’í als „Apostel Bahá’u’lláhs“ in eine Ehrenrolle ein, die in „The Bahá’í World“, Band III, S. 80, veröffentlicht ist: „Mírzá Mahmud, ein unzähmbarer Geist und eifriger Verteidiger des Glaubens“.
8) Hájí Mírzá Haydar-‘Alí, einer der bedeutendsten Bahá’í-Lehrer des ersten Jahrhunderts, war der Empfänger von Bahá’u’lláhs Tablet „Worte des Paradieses“ (vgl. BAHA’I-BRIEFE 10, S. 226 ff.) und wurde von ‘Abdu’l-Bahá mit der Benennung „der Engel des Berges Karmel“ geehrt.
9) Khánum Guhar, die ruhmreiche Tochter Ahmads, war eine sehr aktive Bahá’í. Die Geschichte dieser tapferen Frau ist nur in groben Zügen festgehalten worden, aber es ist sicher, daß es ganz wenige Seelen von solcher Reinheit gab.
In hohem Alter hörte Khánum Guhar, daß das Töchterchen einer Bahá’í-Familie auf den Tod lag. Sie ging hin und betete am Krankenbett: „Herr, ich habe mein Teil am Leben gehabt. Bitte, nimm mich und laß dieses Kind seinen Eltern.“ In der Nacht darauf starb Khánum Guhar; das kranke Mädchen wurde gesund.


[Seite 1153]



Motivation des Fortschritts[Bearbeiten]

Über Wesen und Ziele des Bahá’í-Glaubens / von Peter Mühlschlegel


Unser Bewußtsein orientiert sich an quantitativen und qualitativen Maßstäben. Voraussetzung für eine Entwicklung zur Leistungsfähigkeit ist die weitestmögliche Abstraktion dieser Maßstäbe. In der Abstraktion des Quantitativen und ihrer technischen Anwendung haben wir es erstaunlich weit gebracht. Die höhere und höchste Mathematik erlaubt uns zum Beispiel, die Flugbahnen der größten Himmelskörper ebenso exakt zu berechnen wie die Bewegungen kleinster Elektronen und Quanten, und riesige Elektronengehirne ermitteln in Sekundenschnelle, was menschlicher Geist nur in jahrelanger Mühe auszurechnen fähig wäre. Anders ist es mit der Abstraktion des Qualitativen — des Guten, Wahren und Schönen, das unserem Leben Sinn und Ziel verleiht. Schon die Tatsache, daß wissenschaftliche Theorien, die sich mit dem Menschen, seinen geistigen und gesellschaftlichen Ausdrucksweisen befassen, dem Hirngespinst einer „Wertfreiheit“ nachjagen konnten und zum Teil noch können, ist ein ewig gültiger Beweis für das Versagen des abendländischen Denkens vor den wesentlichsten Fragen menschlicher Existenz, ganz zu schweigen von den Zusammenballungen partikularistischer Machtinteressen, die durch diesen Mangel an allgemeingültigen Wertmaßstäben zu einer Bedrohung von planetarischem Ausmaß geworden sind.

Seitdem das scholastische Weltbild des Mittelalters auseinandergebrochen ist, war es keiner Institution möglich, die Spannungen und Spaltungen des abendländischen Bewußtseins zu überwinden. Geist und Materie, Offenbarung und Empirie, Tradition und Aufklärung, Religion und Wissenschaft, Ordnung und Freiheit, Individuum und Gesellschaft sind Gegensätze geworden, und alle Reformationen, Konzilien und Entmythologisierungen konnten nichts daran ändern, daß sie es geblieben sind.

Der Kern dieses zentralen Problems unserer Existenz liegt darin, daß wir das von der Wissenschaft her weitgehend aufgeklärte Phänomen der Entwicklung alles geistig und sinnlich Wahrnehmbaren in unsere höchsten gedanklichen Bezugssysteme einschließen müssen. Wir müssen noch viel gründlicher als bisher damit Schluß machen, die Chiffre „Schöpfung“ mythisch-halbbewußt als ein Geschehnis zu betrachten, das irgendwann vor einigen tausend Jahren durch eine anthropomorphe Gottheit inszeniert wurde und sich über sechs abgeschlossene Tage erstreckte. Wir müssen uns vor allem von der Vorstellung lösen, Gott habe einmalig vor nicht ganz zweitausend Jahren seinen eingeborenen Sohn auf dieses winzige Staubkorn von einem Planeten gesandt, um die hier befindliche Menschheit zu erlösen, und damit sei ein für allemal Schluß mit allen weiteren Offenbarungen Gottes, die ja nun nicht mehr nötig seien. Wir müssen uns klar machen, wie absurd und heidnisch, wie vor-kopernikanisch das geistige Weltbild ist, [Seite 1154] in dem die Mehrzahl der abendländischen Wohlstandsbürger heute dahinvegetiert. Wir müssen einen eindeutigen, klaren, philosophisch vertretbaren Gottesbegriff gewinnen, wie er, nebenbei bemerkt, im Judentum und im Islam immer nahezu selbstverständlich war: Wenn wir von der Existenz eines Gottes ausgehen, dann ist es nichts weiter als logisch und sinnfällig, daß dieser Gott das einzig Absolute ist, daß alles andere relativ, geschöpflich, entwicklungsbedingt ist — auch die religiöse Offenbarung. Zwischen diesem absoluten, unzugänglichen, unerforschlichen Gott und Seinem Offenbarer, Seinem „Sohn“, Seiner „Fleischwerdung“, bestehen ebenso wichtige begriffliche Unterschiede wie zwischen diesem Offenbarer als relativ-absolutem, weil zeitbedingtem Richtmaß und der übrigen Schöpfung, deren Krönung der Mensch ist. Die Verengung dieser Zusammenhänge im christlichen Dreieinigkeitsdogma ist entwicklungsgeschichtlich verständlich, zumal die Begriffe „Sohn“ und „Vater“, aus der menschlichen Perspektive betrachtet, in der gleichen Richtung liegen. Aber das fortgeschrittene Bewußtsein des heutigen Menschen läßt sich nicht mehr in dieses Denkschema pressen, so wenig wie man Hochschulstudenten mit denselben didaktischen Methoden wie Sextaner unterrichten kann.

Mit einem Wort: Wir müßten das Prinzip der Wissenschaftlichkeit auf das scholastische Denken anwenden können. Wir brauchen eine Religion, die das Prinzip des Fortschritts, das die Wissenschaft seit über zweihundert Jahren beherrscht, mit dem Prinzip des Glaubens in Einklang bringt. Wir müßten eine solche Religion erfinden, wenn es sie nicht schon gäbe — seit gut 125 Jahren.

Von christlicher Seite ist versucht worden, die Bahá’í-Religion damit abzuwerten, daß sie „nicht eine gewachsene neue Religion sei, sondern etwas halb Künstliches, halb Natürliches wie das Esperanto1). Das ist ein grundlegendes Mißverständnis. Unabhängig davon, daß die Bahá’i sich um ein ebenso klares wie einfaches Weltbild mit wissenschaftlichen Methoden bemühen, umfassen die 127 Jahre Bahá’í-Geschichte Persönlichkeiten und Geschehnisse, die an organischem Wachstum, individueller Ausprägung und Symbolkraft den alten Religionen in nichts nachstehen.

Die Bahá’í-Religion steht zum schiitischen Islam, der eine geistige Erbfolge des Propheten Muhammad durch seine Nachkommen vertritt, in einem ähnlichen Verhältnis wie das Christentum zum Judentum. Im Persien des frühen 19. Jahrhunderts waren die adventistischen Erwartungen, die auch im christlichen Raum Parallelen hatten, besonders lebendig. So war es nicht verwunderlich, daß 1844 die Erklärung des Báb (arab. „das Tor“, 1819—1850) in Schiras, der von den überkommenen Religionen verheißene Offenbarer Gottes und zugleich der Wegbereiter einer noch umfassendereren „Manifestation Gottes“ zu sein, im ganzen mittleren Osten ein wahres Lauffeuer religiöser Erneuerung auslöste, dessen Vehemenz den gleichzeitigen politischen Bewegungen in Westeuropa nicht nachstand, das aber rasch die Reaktion der herrschenden Mächte auf sich zog. Der Báb wurde [Seite 1155] gefangengesetzt, verbannt und 1850 in Täbris hingerichtet. Mehr als 20000 Seiner Anhänger wurden mit so barbarischer Grausamkeit hingemordet, daß zahlreiche abendländische Schriftsteller, Diplomaten, Reisende und Gelehrte voll Entsetzen, Mitgefühl und Bewunderung darüber berichteten.

Bahá’u’lláh (arab. „Herrlichkeit Gottes“, 1817—1892), dessen Kommen der Báb verkündet hatte, war der Sohn eines Staatsministers aus altem persischem Hochadel. Er hatte sich spontan zum Báb bekannt, wurde 1852 in Teheran gefangengenommen und erlebte in den Verliesen des Schah Seine Berufung. 1853 mit Seiner Familie nach Baghdad verbannt, zog Er sich einige Jahre in die Einsamkeit der kurdischen Berge zurück, bevor Er im Irak die Reste der Bábi-Gemeinschaft um sich sammelte. In dieser Frühzeit Seiner vierzigjährigen Verbannung und Gefangenschaft verfaßte Er zahlreiche religionsphilosophische und entwicklungspsychologische Werke. Vor Seiner Weiterverbannung aus Baghdad erklärte Er sich im April 1863 in einem Park bei Baghdad vor zahlreichen Anhängern und Freunden öffentlich als die von allen Religionen der Vergangenheit erwartete umfassende Offenbarung Gottes in der „Zeit des Endes“, die einen neuen Entwicklungsabschnitt in der Menschheitsgeschichte, ein Zeitalter des Friedens und der Einheit, einleiten sollte.

Es liegt nahe, daß sich Bahá’u’lláh mit Seinem Aufruf zur Anerkennung und Verwirklichung einer organischen Einheit der ganzen Menschheit in erster Linie an die Könige und Herrscher, die geistlichen und weltlichen Würdenträger Seiner Zeit wenden mußte. Von Seinen Verbannungsorten Konstantinopel und Adrianopel und von der berüchtigten Gefängnisstadt ‘Akká in Palästina aus wandte Er sich, nachdem Seine Gespräche mit den Würdenträgern der Hohen Pforte nichts gefruchtet hatten, in zahlreichen Appellen an die Herrscher der damaligen Zeit, einzeln und insgesamt. „Ihr seid nur Vasallen, o Könige der Erde! Er, der König der Könige, ist im Gewande Seiner wunderbarsten Herrlichkeit erschienen... Bei der Gerechtigkeit Gottes! Es ist nicht Unser Wunsch, Hand an eure Königreiche zu legen. Unsere Bestimmung ist, die Herzen der Menschen zu ergreifen und zu besitzen.“

Bahá’u’lláhs Aufrufe zu politischer Mäßigung, zur Überwindung imperialistischer Machtpolitik und partikularistischer Eigeninteressen, zur Verminderung der Rüstungen, zur Vertiefung der Prinzipien der Beratung und der kollektiven Führung, zur Einberufung einer weltweiten verfassunggebenden Versammlung sind nicht die wohlgemeinten Ratschläge eines weltfremden Philosophen, der aus einem finsteren Winkel Asiens anmaßende Briefe an die Prominenten seiner Zeit verschickte. Sie sind, wie Er ein Menschenalter lang in flammenden Worten betonte, das „Jüngste Gericht“ über ein sterbendes Zeitalter, die Einleitung eines neuen Entwicklungsabschnitts der Menschheitsgeschichte. Die stürmische Entfaltung der Wissenschaft und der Technik in den letzten 250 Jahren kommt nicht von ungefähr. Bahá’u’lláh ist der einzige, der eine umfassende [Seite 1156] kosmologische Erklärung dafür gibt, was z. B. der große russische Dichter und Orientalist Leo Tolstoi 1908 würdigte, wenn er schrieb, Bahá’u’lláh bringe „den Schlüssel zum Geheimnis des Universums“ und „die höchste und reinste Form religiöser Lehre“. Der äußerliche Fortschritt schafft die materiellen Voraussetzungen dafür, daß die Menschheit ihren Zustand der Reife erreicht. Die geistigen Grundlagen dieses Reifezustands sind in den Lehren Bahá’u’lláhs gegeben. Sie müssen und werden verwirklicht werden — entweder durch die Einsicht in den Willen Gottes, den Bahá’u’lláh neu präzisiert hat, oder durch ein immer dichteres Netz von Konflikten, Krisen, Katastrophen und Kriegen, das der Menschheit schließlich keinen anderen Ausweg mehr läßt. Es ist wie mit dem Kind, das entweder auf den Rat seines liebevollen Vaters hört und die Finger vom Ofen läßt oder erst durch leidvolle Erfahrung klug wird, nachdem es sich gebrannt hat. „Wir haben euch eine Zeit bestimmt, o Menschen!“ ruft Bahá’u’lláh aus. „Wenn ihr versäumt, euch zur festgesetzten Stunde Gott zuzuwenden, wird Er wahrlich gewaltig Hand an euch legen und euch mit schmerzlicher Trübsal von allen Seiten bedecken. Wahrlich, streng ist die Züchtigung, mit der euch euer Herr dann heimsuchen wird!“

Die ganze Zeitgeschichte gewinnt vor diesem Hintergrund ein neues Gesicht. Daß jenes halbe Dutzend Herrscherpersönlichkeiten, das von Bahá’u’lláh vor hundert Jahren im besonderen angesprochen wurde — Schah Nasreddin von Persien, Sultan ‘Abdu’l-Aziz in der Türkei, Zar Alexander II. von Rußland, Napoleon III. von Frankreich, Kaiser Franz Joseph von Österreich-Ungarn, Kaiser Wilhelm I. von Deutschland, Papst Pius IX. und Königin Viktoria von England — diesen machtvollen Ruf fast völlig unbeachtet ließ, wäre vielleicht verständlich gewesen, wenn die Offenbarung Bahá’u’lláhs sozusagen aus heiterem Himmel, ohne jede Vorgeschichte aufgetreten wäre. Aber abgesehen von den adventistischen Erwartungen, die in der Romantik das ganze Abendland durchbebt hatten, war die Sendung Bahá’u’lláhs durch die Offenbarung des Báb vorangekündigt worden — nicht nur durch eine Fülle von Büchern und Schriften, sondern auch durch eine Volksbewegung, die den mittleren Osten in Atem hielt und sich in zahlreichen Berichten, Aufsätzen und diplomatischen Dossiers der übrigen Welt niedergeschlagen hatte. Bei einigem Scharfblick hätten die Empfänger jener Sendschreiben die Tragweite und die göttliche Vernunft erkennen müssen, die aus diesen Botschaften sprachen. Gerade die Zeit um 1870 war eine Sternstunde in der politischen, wirtschaftlichen und geistigen Entwicklung des Abendlandes. Wären damals die Weichen anders gestellt worden — in die Richtung eines religiös motivierten Universalismus statt auf das Abstellgleis der Anti-Ideologien — die Welt sähe heute anders aus.

Wie wenig die fortschrittlichsten Äußerungen des Establishments an die umfassende Konzeption Bahá’u’lláhs heranreichen, kann und soll jeder durch einfache Textvergleiche selbst feststellen. Auch die Päpste lieben es zum Beispiel, die menschliche Gesellschaft mit einem Organismus [Seite 1157] zu vergleichen, aber selbst die neuesten Enzykliken führen diese Analogie nicht weiter als bis zum Organismus eines Nationalstaats und zur „Völkerfamilie“. Demgegenüber Bahá’u’lláh vor hundert Jahren in Seinem Appell an die Parlamentarier aller Länder, der dem Sendschreiben an Königin Viktoria eingegliedert ist:

„Betrachtet die Welt wie einen menschlichen Körper. Obwohl er bei seiner Erschaffung gesund und vollkommen war, ist er aus verschiedenen Ursachen von schweren Störungen und Krankheiten befallen worden. Keinen einzigen Tag lang wurde ihm Linderung zuteil, nein, im Gegenteil, sein Übel verschlimmerte sich, weil er in die Behandlung unwissender Ärzte fiel, die ihren persönlichen Wünschen nachgaben und sich schmählich irrten...
Was der Herr als höchstes Mittel und mächtigstes Werkzeug für die Heilung der ganzen Welt bestimmt hat, ist die Vereinigung aller ihrer Völker in einer allumfassenden Sache, einem gemeinsamen Glauben. Dies kann nicht anders erreicht werden als durch die Kraft eines erfahrenen, allgewaltigen und erleuchteten Arztes. Wahrlich, das ist die Wahrheit und alles andere nichts als Irrtum.“

Auf die Frage, wie man den wahren Propheten von einem falschen unterscheiden könne, sagte Jesus Christus: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“ Die Bahá’í wissen, daß die Geschichte ihres Glaubens keine faule Frucht ist. Es gibt in der Religionsgeschichte keine zweite Gemeinschaft, die 127 Jahre nach ihrer Begründung ein solches Maß an organischer Einheit, dynamischer Aktivität und praktischer Weltoffenheit aufgewiesen hat.

Nachdem Er bei den Herrschern Seiner Zeit kein nachhaltiges Echo gefunden hatte, wandte sich Bahá’u’lláh verstärkt dem Aufbau Seiner Gemeinschaft zu. Mit Seinem „Buch der Gesetze“ überwand Er die starren Formen der überkommenen Religionen, insbesondere der islamischen Scharia. Er legte die Prinzipien der unverbrüchlichen Loyalität gegenüber den Staatsgewalten, der Nichteinmischung in die Tagespolitik und der Gewaltlosigkeit bei der Verbreitung Seiner Lehren fest — Prinzipien, die Hunderte von weiteren Märtyrern im Mittleren Osten mit ihrem Blut besiegelt haben. Und Er setzte Seinen Sohn 'Abdu'l-Bahá (arab. „Diener der Herrlichkeit“, 1844—1921) vor Seinem Tod als Seinen Nachfolger und als bevollmächtigten Ausleger Seiner Lehren ein. Erst 1908 durch die Jungtürkische Revolution aus der Gefangenschaft befreit, unternahm 'Abdu'l-Bahá vor dem Ersten Weltkrieg Reisen nach Europa und Amerika, in deren Verlauf Er die Lehren Seines Vaters einem breiten Publikum darlegte und vor den drohenden Katastrophen warnte.

In Seinem Willen und Testament hinterließ ‘Abdu’l-Bahá die Charta einer Gemeinschaftsordnung, die die bewährtesten Prinzipien der Demokratie mit einem tiefempfundenen Verantwortungsbewußtsein vor Gott und der Zukunft der Menschheit vereinigt. Sie wurde von den Bahá’í unter Führung des als „Hüter des Glaubens“ eingesetzten Enkels ‘Abdu’l-Bahás, Shoghi Effendi (1896—1957), systematisch zum Modell [Seite 1158] einer künftigen Weltordnung ausgebaut. Am hundertsten Jahrestag der Erklärung Bahá’u’lláhs wurde 1963 das Universale Haus der Gerechtigkeit als international leitende Körperschaft des Bahá’í-Glaubens gewählt — die erste aus einer weltweiten allgemeinen Wahl hervorgegangene Legislative.

Alle Institutionen Bahá’u’lláhs sind darauf angelegt, den sozialen Rahmen für die Selbstverwirklichung geistig freier, nur an den geoffenbarten Willen Gottes gebundener Menschen zu schaffen. Askese, Mönchtum und Priestertum gibt es nicht mehr; denn jeder ist verpflichtet, selbständig nach der Wahrheit zu forschen und gemeinschaftsbezogen zu handeln, durch nichts anderes beeinflußt als durch die bestmögliche Erziehung, die zur vornehmsten Öffentlichen Aufgabe erklärt wird. Ein neuer Kalender sieht 19 Monate zu je 19 Tage vor; das Jahr beginnt mit dem Frühlingsanfang am 21. März. Alle 19 Tage kommt die örtliche Bahá’í-Gemeinde zu einem Fest zusammen, dessen drei Teile der Andacht, der Beratung von Gemeinschaftsangelegenheiten und der Geselligkeit gewidmet sind. Auf dieser Grundlage ist es jedem Gemeindemitglied möglich, sich ein Urteil darüber zu bilden, welche neun Gläubigen am besten für die Mitgliedschaft im örtlichen Geistigen Rat geeignet sind. Ohne Kandidatur wird dieser Rat alljährlich in allgemeiner, gleicher und geheimer Wahl gebildet. Er beschließt über alle Fragen und Unternehmungen der Gemeinde, notfalls mit Stimmenmehrheit, berichtet über seine Beschlüsse der Gemeinde und nimmt deren Anregungen entgegen, ist aber nicht der Gemeinde, sondern allein Gott für seine Entscheidungen verantwortlich. Nach denselben Prinzipien werden Nationale Geistige Räte und das Universale Haus der Gerechtigkeit gebildet und geführt.

Eine Einrichtung sui generis ist der Mashriqu’l-Adhkár (arab. „Aufgangsort der Anbetung Gottes“), in dessen Mittelpunkt das Haus der Andacht steht. Bahá’u’lláh hat dafür vorgeschrieben, es müsse ein Kuppelbau mit neun Seiten, Toren und Gärten sein, der den Anhängern aller Glaubensrichtungen offensteht; es dürfe darin nur die menschliche Stimme ohne instrumentale Begleitung erklingen, und nur das Wort Gottes nach den heiligen Büchern aller Hochreligionen dürfe gelesen oder gesungen werden. Bis jetzt wurden fünf Häuser der Andacht in jedem Erdteil errichtet. Das erste europäische Bahá’í-Haus der Andacht steht in Langenhain über Hofheim im Taunus; Öffentliche Andachten finden zur Zeit jeden Sonntag um 15 Uhr statt. Später werden diese Andachtshäuser von humanitären Einrichtungen aller Art — Schulen, Krankenhäuser, Altersheime usw. — umgeben sein.

Die Bahá’í-Weltgemeinschaft ist heute in fast allen Ländern verbreitet und nimmt besonders in den Entwicklungsländern einen raschen Aufschwung. Die Hundertjahrfeier der Verkündigung Bahá’u’lláhs an die Könige und Herrscher der Welt wurde zum Anlaß genommen, die Öffentlichkeit auf die Tragweite Seiner Sendung eindringlich hinzuweisen. Das Universale Haus der Gerechtigkeit hat die wichtigsten Sendschreiben Bahá’u’lláhs in einem [Seite 1159] Buch zusammengefaßt, das in den letzten Monaten 140 Staatsoberhäupter in aller Welt überreicht wurde. Im Vorwort dieses Buches heißt es:

Bahá’u’lláhs Botschaft ist eine Botschaft der Hoffnung, der Liebe und der praktischen Erneuerung. Heute ernten wir die erschreckenden Ergebnisse der Zurückweisung Seines göttlichen Rufes durch unsere Vorfahren. Doch gibt es heute andere Herrscher und Menschen, die vielleicht hören und die Schwere der drohenden Katastrophe aufheben oder mildern können. Aus dieser Hoffnung und aus dem Gefühl einer heiligen Verpflichtung heraus verkündet das Universale Haus der Gerechtigkeit... erneut den Geist dieses mächtigen Rufes von vor einhundert Jahren. Mit derselben Hoffnung und Überzeugung werden die Bahá’í in der ganzen Welt während dieser Periode der Jahrhundertfeier ihr Äußerstes tun, um die erlösende Tatsache dieser erneuten Ausgießung göttlicher Führung und Liebe dem Bewußtsein ihrer Mitmenschen nahezubringen. Wir sind überzeugt, daß ihre Mühe nicht vergeblich sein wird.“ 2).


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1) Kurt Hutten, „Seher, Grübler, Enthusiasten“, Stuttgart 1962. S. 282.
2) „Die Verkündigung Bahá’u’lláhs“, Frankfurt/Main 1967, S. 13.



Offenbarung: Motor der Kulturgeschichte[Bearbeiten]

Was die Geschichte lehrt / von Gerhard Bender

Zwischen Vogelsberg und Rhön, in der gastlichen Mühle von Oberkalbach, traf sich an Ostern 1970 eine Handvoll Bahá’í zu einem Lehrseminar, das in mehrtägigen Kursen zahlreiche Aspekte der Lehraussagen und Lehrmethodik Bahá’u’lláhs erarbeitete. Das zentrale Prinzip der fortschreitenden Gottesoffenbarung im Gang der Weltgeschichte, das eigentlich Neue in der Bahá’í-Religion, stand im Mittelpunkt der Überlegungen eines Arbeitskreises, der von Gerhard Bender geleitet wurde. Das nachfolgende Arbeitspapier ist das Ergebnis dieser Aussprache.
Die Red.


„Trennung von Staat und Kirche“ ist ein politisches Prinzip, das seit den Tagen der Aufklärung bis heute zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Wir könnten uns das Leben nicht mehr anders vorstellen. Dieses Prinzip hat aber auch die Religion ganz unmerklich aus dem praktischen Leben verdrängt und zu einer Angelegenheit des Sonntagvormittags gestempelt. So hat Bertrand Russell, der scharfsinnige Kritiker der christlichen Kirchen und Atheist par excellence, behauptet, Religion habe noch nie die Kultur gefördert. Diese Behauptung Russells steht im Widerspruch zu Bahá’u’lláhs Lehre von der fortschreitenden Gottesoffenbarung und zur Aussage ‘Abdu’l-Bahás, die Manifestation Gottes sei der Erzieher der Menschheit. Wir müßten folglich Menschen, die wie Russell denken — und deren gibt es nicht wenige —, das Gegenteil beweisen können. Dies möchte ich hier versuchen.

[Seite 1160] Zunächst müssen wir uns klar darüber sein, daß der moderne Mensch. sofern er kein religiöser Mensch ist, alle Berichte der „Heiligen Schriften“, also der Bibel, des Qur’án, der Zend Avesta usw., nicht als historische Wahrheit anerkennt. Geschichte im wissenschaftlichen Sinne ist also nur das, was durch Ausgrabungen und Funde oder schriftlich überlieferte Berichte einwandfrei nachzuweisen ist. Während wir z. B. einen Bericht wie die „Hochzeit von Kana“ (Johannes 2, V. 1—11) wissenschaftlich in den Bereich der Legende oder der Symbolik verweisen müssen, kann an der Existenz Jesu Christi nicht gezweifelt werden, da die Volkszählung zur Zeit der Geburt Jesu unter Kaiser Augustus sowie die Kreuzigung durch Pontius Pilatus aus römischen Quellen nachweisbar sind.

Als Offenbarer oder Manifestationen Gottes bezeichnet Bahá’u’lláh die Persönlichkeiten, die von Gott dazu berufen waren und sind, den Menschen das Wort Gottes und Seine Gebote weiterzugeben, also eine Religion zu begründen. Dies sind im westlich-mittelmeerischen Kulturkreis, auf den wir uns hier beschränken wollen: Adam, Henoch, Noah, Abraham, Joseph, Moses, Zarathustra, Jesus Christus, Muhammad, der Báb und Bahá’u’lláh. Welches sind nun die geschichtlichen Tatsachen, die ihr Wirken beweisen?

Die symbolträchtigen Geschichten der Schöpfung, von Adam und Eva, Kain und Abel wie auch die Sintflut, Noahs Arche und seine wunderbare Rettung müssen wissenschaftlich in den Bereich der Legende oder des Mythos verwiesen werden. Bei den alten Babyloniern finden wir einen Flutmythos, der teilweise fast wörtlich dem biblischen Bericht gleicht. Auch in Melanesien, in China, auf Formosa sowie bei amerikanischen Indianerstämmen finden wir ähnliche Flutmythen. Daß Muhammad im Qur’án (Sure 71) Noah erwähnt, daß Bahá’u’lláh und ‘Abdu’l-Bahá Ihn bestätigen, ist einem Wissenschaftler kein Beweis für die Glaubwürdigkeit.

Ähnlich ist es mit Henoch. Sein Leben, die Zeit Seines Wirkens, sind uns unbekannt. Um 1890 aber hat man Schriften von Ihm gefunden. Somit ist Henoch geschichtlich beweisbare Persönlichkeit. Muhammad erwähnt in Sure 2, V. 59 die Sabier (= Sabäer) und zählt sie zu den Schriftbesitzern. Man nimmt an, daß Henoch der Offenbarer der altmesopotamischen Religion ist, also der Kulturen der Sumerer, Akkadier und Chaldäer, die zu den ältesten im westlich-mittelmeerischen Kulturkreis gezählt werden. Genaueres aber ist nicht bekannt.

Abraham trat um 2000 v. Chr. auf. Bei den Chaldäern erschien Er und verkündete den Glauben an einen Gott. Da man in Seiner Heimat an viele Götter glaubte, mußte Abraham außer Landes ziehen und ließ sich in Kanaan, dem „Heiligen Lande“, nieder. Der berühmte „Kodex des Hammurabi“, Königs von Babylon um 1750 v. Chr., das älteste Gesetzeswerk, das schriftlich erhalten ist und manche Ähnlichkeiten mit dem mosaischen Gesetz aufweist, wird auf den Einfluß Abrahams zurückgeführt. Doch ist, streng geschichtlich gesehen, auch dies nicht zu beweisen.

Joseph, der Sohn Jakobs, wurde von Seinen Brüdern ebenfalls abgelehnt und mußte fliehen. Auf wundersame Weise kam er nach Ägypten, wo Er den Posten eines leitenden Ministers innehatte und segensreich [Seite 1161] für das Land wirkte. Er veranlaßte auch die Umsiedlung Seiner Landsleute nach Ägypten, was aber nach Josephs Tod einer Sklaverei gleichkam.

Historisch klarer ist schon das Bild des Moses. Bewiesen ist, daß Er am Hofe des Pharao erzogen wurde, also im Vergleich zu Seinen versklavten Landsleuten eine hervorragende Erziehung genoß und politisch geschult war. Geschichtliche Tatsache ist auch der Auszug der Israeliten aus Ägypten, ihr längerer Aufenthalt auf der Halbinsel Sinai und die schließliche Eroberung des Landes Kanaan. Eine unleugbare Tatsache ist ferner das Gesetzeswerk Mosis am Berge Sinai. Dieses Gesetzbuch ist vom Offenbarer selbst verfaßt, und dies, wie wir als religiöse Menschen glauben, in göttlichem Auftrag, von Gott inspiriert. In strengen Gesetzen wird auf Monotheismus — Gott hat nicht einmal einen Namen und darf nicht abgebildet werden —, keusches Leben, Nächstenliebe und Einhalten genau festgelegter Riten geachtet. Wer nicht gehorcht, wird sofort bestraft: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, auf vielen Vergehen liegt die Todesstrafe durch Steinigen.


Die Wirkung der Religion

Diese mosaische Religion spornte das kleine Volk zu militärischen Leistungen, zu politischer Macht und einer hohen Kultur an. Die Blüte des Staates Israel war um 1000 v. Chr. unter den Königen David und Salomo. Kraft seiner Religion konnte sich das kleine Völkchen rund 1400 Jahre lang trotz vieler Rückschläge zwischen den rivalisierenden Großmächten sowohl politisch als kulturell in verhältnismäßiger Selbständigkeit halten. Selbst die Zerstreuung der Juden in alle Welt — veranlaßt religiös durch ihre Ablehnung Jesu, politisch durch die Eroberung Jerusalems unter Titus nach einem Aufstand — konnte dieses Volk nicht auslöschen. So stark wirkte die Religion in diesen Menschen und treibt sie im heutigen Staat Israel aufs neue zu hohen Leistungen.

Zeitlich nach Moses folgt der altpersische Prophet Zarathustra. Von seinem Lebenslauf wissen wir nichts Sicheres. Nicht einmal die Daten seines Lebens sind bekannt, die Schätzungen liegen zwischen 1000 und 600 v. Chr.; jeder Forscher hält eine andere Zeit für wahrscheinlich. Legendär sind Sein Lebenslauf, Seine Berufung zum Propheten, die Bekehrung des Königs Wischtaspa, der dann die Religion durchsetzte, und der Märtyrertod des Propheten. Bekannt aber sind die Zend Avesta, die Heilige Schrift Zarathustras, und die Tatsache, daß die von Ihm gestiftete Religion Sein Volk, das bis dahin völlig unbekannte und politisch bedeutungslose Hirtenvolk der Perser, zur Kulturnation und Weltmacht erhob. Obwohl griechische Berichte die persischen Erzfeinde oft genug lächerlich machen, ist der hohe Stand dieser Kultur nicht zu leugnen. Bekannt ist die hervorragende Nachrichtenübermittlung durch Reiterstaffetten auf wohlausgebauten Straßen, weiter kennen wir viele Bildwerke an Ruinen, besonders denen von Persepolis, und die Tafeln des Königs Darius I. Daß die Eroberung des Perserreichs durch Alexander den Großen eine Vereinigung der griechischen und persischen Kulturen auslöste, die zum Hellenismus führte, jahrhundertelangen Bestand hatte und in die byzantinisch-christliche ebenso wie in die islamische Kultur hineinwirkte, beweist den hohen Stand dieser Kultur.

[Seite 1162] Das Perserreich der Achämeniden bestand von seinem Gründer, König Kyros (559—525) an bis zur Eroberung durch Alexander. Schon um 200 v. Chr. bildet sich ein neupersisches Reich unter den Sassaniden, das sich gegen die Römer halten konnte und erst nach der Eroberung durch die Moslem unterging. In beiden Perserreichen war die Religion Zarathustras Staatsreligion. Nur eine kleine Gruppe von Zoroastrern zog vor den Moslems nach Indien und siedelte sich um Bombay an; ihre Nachkommen leben, als Parsen (Perser) bezeichnet, dort noch heute.

Neben diesen kulturellen und politischen Leistungen beeindruckt bei Zarathustra „eine Religiosität von solcher Reinheit und Größe der Seele und des Geistes, daß sie auch heute noch nicht in ihrer ganzen Tiefe und Bedeutung erfaßt ist“ (P. Eberhard in „Religionskunde“, 1920). Ahura Mazda, vorher höchster vieler Naturgötter, wird einziger Gott, der in Ahriman, dem Teufel, einen Gegenspieler hat. Zarathustra ruft die Menschen auf, durch gute Taten dem Ahura Mazda zu helfen, denn böse Taten helfen dem Ahriman. Er legt größten Wert auf Wahrheitsliebe und Aufrichtigkeit. Den Lohn für gute und die Strafe für böse Taten erhält man erst im Jenseits, wo die Bösen in einer Art Fegefeuer geläutert werden, bis der Saoschyant, der Weltheiland, kommt, alle erlöst und in Sein Reich aufnimmt.

Die nächste Manifestation Gottes im westlichen Kulturkreis ist Jesus Christus. An Seiner Existenz ist, wie eingangs erwähnt, nicht zu zweifeln, wenn auch das Jahr 1 unserer Zeitrechnung wohl nicht das Geburtsjahr Jesu war. Im Gegensatz zu Zarathustra vorher und Muhammad nachher erschien Jesus bei dem Kulturvolk der Juden, zu einer Zeit, da die alte mosaische Religion im Niedergang war. Die Pharisäer, eine Theologenschule jener Zeit, wurden zum Symbol der damals üblichen Orthodoxie, einer genau festgelegten Werkgerechtigkeit. Die Pharisäer wußten, daß ihnen die Gnade Gottes sicher war, da sie ja alle Gebote bis ins kleinste einhielten, und ließen das die anderen spüren, waren hochmütig und sprachen nicht mit jedem. Jesus aber „predigte gewaltig und nicht nach der Schriftgelehrten Art“. Gerade in der Bergpredigt (Matth. 5—7) wird dies deutlich. Sie ist eine einzige Aufforderung zu Demut, Bescheidenheit und Gerechtigkeit und eine Warnung vor ungerechtfertigtem Richten. Jesu Leben war ein Beispiel dafür. Er half jedem, der in Not war, hatte selbst nicht, wo Er Sein Haupt hinlegte, und erklärte es für leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher in das Himmelreich komme. Zum höchsten Gebot erhebt Er die Nächstenliebe, die zum Angelpunkt der Religion wird. Dazu wird — ähnlich wie bei Zarathustra — die Belohnung wie die Strafe ins Jenseits verlegt, ein Fortschritt gegenüber der mosaischen Lehre.

Der Israelit tut Gutes, damit er nicht auf dieser Welt bestraft wird, der Christ, damit er in den Himmel kommt. Auch die Personifizierung des Bösen — der Teufel — entspricht dem Ahriman des Zarathustra. Im Alten Testament ist der Teufel nicht zu finden.

Die Wirksamkeit Jesu ging schon zu Seinen Lebzeiten, mehr noch nach seinem Opfertod, besonders durch Paulus, über das Volk Israel hinaus und strahlte in das Römerreich hinein, also wieder in eine hochstehende Zivilisation. Der Monotheismus der Christen verbot die Verehrung des [Seite 1163] Gottkaisers, ihr Begriff von der Nächstenliebe erlaubte keine Sklaverei. So untergrub das Christentum, ohne eigentlich politisch wirksam zu sein („Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“), das Reich an seinen Grundfesten, und man versteht, daß die Kaiser die Christen verfolgten. Trotzdem zerfiel dieses Reich nach und nach, bis Konstantin das Christentum zur Staatsreligion erhob. Das verzögerte den Untergang des Westreichs, während das Ostreich mit der Hauptstadt Konstantinopel eine neue Blütezeit christlich-hellenistischer Kultur erlebte, die erst im Jahre 1453 von den Türken zerstört bzw. „islamisiert“ wurde. Das Erbe dieses christlichen Ostkaisertums übernahmen die Großfürsten von Moskau, die sich jetzt Zaren nannten und weltliches wie geistliches Oberhaupt der griechisch-orthodoxen Kirche wurden. Im Westen gab es zwei Erben: Der Bischof von Rom wurde als Nachfolger Petri Papst, d. h. geistliches Oberhaupt, der römisch-deutsche Kaiser seit 800 weltliches Oberhaupt der Christenheit. Schon nach zweieinhalb Jahrhunderten begannen sie sich zu bekriegen, wer der Höhere sei. Die Kultur von Byzanz ist als eigentlich christlich zu bezeichnen, auch Karl dem Großen schwebte ein christliches Großreich vor, doch schon seine Enkel teilten das Reich auf und legten den Grund für spätere Nationalstaaten.

Paulus brachte bereits Dogmen in die junge Religion, machte aus der schlichten Lehre des Nazareners eine Wissenschaft über Christus, erhob Geburt und Erlösertod Jesu zur Hauptsache und drängte dadurch — sicher ohne böse Absicht — das Leben und die Lehren Jesu in den Hintergrund. Wenige Jahrhunderte später stritt man sich um den Charakter Jesu, ob Er gottgleich oder nur gottähnlich sei (Streit um ein Jota im griechischen Wort: homousios oder homoiousios). Konstantin berief das Konzil von Nicäa ein (325), wo der Streit mit der Fixierung des Dreieinigkeitsdogmas zugunsten des „gottgleich“ entschieden wurde. Dieses Dogma aber war es wieder, das später zu dem entscheidenden Mißverständnis zwischen Christen und Moslems führte.

Der nächste Gottesoffenbarer, der unseren westlichen Kulturkreis sehr wesentlich beeinflußte, war Muhammad. Der Prophet, um 570 n. Chr. in Mekka geboren, begann 610 zu predigen, mußte 622 (Beginn der moslem. Zeitrechnung) nach Medina fliehen und starb 632. Er war bei dem damals in viele sich gegenseitig bekriegende Stämme zerrissenen Hirtenvolk der Araber erschienen, die zahllose Stammesgötter verehrten, in Vielweiberei lebten und sittlich und kulturell sehr tief standen. Nur die Kaaba, der bekannte Meteor in Mekka, war gemeinsames Nationalheiligtum, in dessen engerer Umgebung alle Kriege ruhten; hier gaben sich alle Stammesgötter ein Stelldichein. Muhammad lehrte, daß es nur einen Gott, eben Gott, auf Arabisch Allah, gibt, der nie einen Sohn gezeugt hat; Er erzog seine Gläubigen zum Gehorsam Gott und dem Propheten gegenüber, erhob Gebet und rituelle Waschungen zur Pflicht und beschränkte die Zahl der Frauen auf vier, wobei zu einer Zweit-, Dritt- oder Viertehe die Zustimmung der Gattinnen nötig ist, wie auch die materielle Lage des Ehemannes gesichert sein muß. Die Kaaba behielt Er als Nationalheiligtum bei und hatte in wenigen Jahren die Araberstämme zu einem einheitlichen Volk vereint.

[Seite 1164] Zu wenig bekannt ist bei den Christen, daß Muhammad selbst seinen Gläubigen die Christen und Juden zu schützen empfahl, daß ferner zwar der arabische Machtbereich mit Waffengewalt in einem Siegeszug ohnegleichen erweitert wurde, aber dabei niemand gezwungen wurde, den Islam anzunehmen. Andersgläubige mußten nur Steuern dafür bezahlen, daß sie vom Kriegsdienst befreit waren. Der arabische Großstaat unter den Kalifen (arab. = Nachfolger) besaß aber eine einzigartige Kultur, von der unsere Geschichtsbücher leider viel zu wenig berichten. Die hellenistisch-römische Kultur wurde hier weiterentwickelt, die Naturwissenschaften Astronomie, Mathematik und Geographie standen in hoher Blüte. Es sei an unsere noch heute üblichen arabischen Zahlzeichen erinnert, die auf dem Stellenwertsystem aufgebaut sind und schriftliche Rechenoperationen erlauben, auch das Wort Algebra und die damit verbundene Rechenmethode ist arabisch. Bei den Arabern wurde die Universität erfunden, und es gab dort große Bibliotheken zu einer Zeit, da in unserem christlichen deutschen Vaterland das Lesen und Schreiben noch ein Vorrecht der Priester war. Karl der Große hat ja erst als Herrscher ein wenig diese Künste erlernt. Über die Baukunst der Moslems braucht hier nichts weiter gesagt zu werden — es sei nur an die Alhambra in Granada erinnert — ebenso ist die Literatur des Islam in Prosa und Dichtung bekannt geworden, besonders auch durch Goethe.

Muhammad hatte im Qur’án Jesus und Moses an mehreren Stellen als Gottgesandte bestätigt. Folglich war Jerusalem den Moslem auch eine heilige Stätte, und solange die Araber dort herrschten, konnten christliche Pilger ohne Schwierigkeiten die heiligen Stätten von Jerusalem, Bethlehem und Nazareth besuchen. Wie kam es aber zu den Kreuzzügen? Der dogmatische Zwist um das Dogma der Dreieinigkeit einerseits und den strengen Monotheismus auf der anderen Seite wurde nicht blutig ausgetragen. Er verhinderte eigentlich nur das gegenseitige Verständnis. Erst als die Türken aus dem Osten kamen und den Islam annahmen, änderte sich das. Sie wollten bessere Gläubige sein als ihre Lehrmeister und wurden zu Fanatikern, was die Araber eigentlich früher nie waren. So kam es zu Mißhandlungen christlicher Pilger. Da der Papst nun gerade im Konflikt mit Heinrich IV. stand, mußte er die Christenheit ablenken und predigte den Kreuzzug. Es kam zu jenem tragischen Ringen, das nach unendlich viel Blutvergießen mit einem Kompromiß endete, der eigentlich kaum die christliche Niederlage vertuschen konnte. Friedrich II. verhandelte mit dem Sultan, und Pilgerfahrten wurden wieder wie einst erlaubt.

Letztlich aber hatten die Kreuzzüge das Gegenteil von dem bewirkt, was sie sollten. Sollten sie eigentlich den christlichen Einfluß im Orient verstärken, so kamen die Kreuzfahrer zurück mit der Erfahrung, daß dort eine hohe Kultur herrscht und daß Moslems auch Menschen sind. Der Einfluß des Islam auf den Westen wurde stärker. 1200 wurde die Pariser Sorbonne als erste christliche Universität gegründet, um 1250 hatte Friedrich II. auf Sizilien einen Musterstaat errichtet, von moslemischen Gelehrten beraten. Dies hatte ihm aber auch den unversöhnlichen Haß der Päpste eingetragen, die ihn mit Hilfe der Franzosen zu Fall brachten. Die Renaissance war die natürliche Folge dieses islamischen Einflusses. Man hatte nicht das klassische Altertum neu entdeckt, [Seite 1165] sondern die Kultur der Moslems übernommen. Mathematik, experimentelle Naturwissenschaft, klassische Philologie setzten sich neben den alten wissenschaftlichen Disziplinen durch. So wirkte, ohne daß im christlichen Abendlande jemand Moslem wurde, die Kraft des Heiligen Geistes, die auch von Muhammad ausging, auf die Menschen, die sich dessen nicht bewußt waren.

Muhammad war der erste Offenbarer, der den Nationalstaat einführte. Sein Staat war ein arabischer Nationalstaat, der Staat der Kalifen ein Großstaat unter arabischer Führung. Dabei waren die Kalifen als Nachfolger des Propheten geistliches und weltliches Oberhaupt gleichzeitig. Als 843 und 870 die Enkel Karls des Großen das christliche Reich ihres Großvaters aufteilten, schufen sie im Prinzip die Nationalstaaten Deutschland und Frankreich. Auch wenn in Deutschland und Italien kein geschlossener Staat zustandekam, man fühlte sich als Deutscher, als Franzose, als Italiener, und die deutschen Herren des hochmittelalterlichen Italiens waren für die Italiener eben Usurpatoren, die sie so rasch wie möglich loszuwerden strebten.

Auch der Islam erlebte seinen Niedergang. Die Türken führten zunächst den Islam zu einem zweiten Siegeszug gegen Westen bis vor die Tore Wiens, doch diesem Vordringen folgte ein ebenso rascher Rückzug. Die Macht der Sultane schwand; aus ehemals blühenden arabischen Gebieten wurden entfernte Provinzen des Riesenreiches, um die sich in Istanbul niemand kümmerte. Der Elan von einst fehlte, zur Existenz genügte die Viehzucht, so versteppten ehemals blühende Länder, und die Hohe Pforte, einst Symbol einer gefürchteten Macht, wurde zum „Kranken Mann am Bosporus“, dem wohl schon früher das Lebenslicht ausgeblasen worden wäre, wenn sich die christlichen Großmächte Rußland und England-Frankreich nicht gegenseitig bekriegt hätten.

Zur selben Zeit aber zerschlug im christlichen Abendland die Aufklärung den letzten Rest christlich-geistlicher Macht. Der wirtschaftliche Fortschritt und Reichtum wurde zum Moloch der Menschheit, die Wissenschaft, einst von der Kirche unterdrückt, stellte sich jetzt gegen die Religion, die zu einer Angelegenheit rückständiger Menschen, die des Sonntags eben ihren Gottesdienst brauchen, degradiert wurde. Es bildeten sich Sekten. Die Waldenser waren um 1250 die ersten, blutig von den Päpsten mit Inquisition, Folter, Hexenprozessen und Ketzerverbrennungen unterdrückt, bis als Folge der Renaissance die Reformation sich durchsetzen konnte. Die religiöse Erneuerung war aber nur von kurzer Dauer; dann verfiel der Einfluß der Kirchen aufs neue, und es bildeten sich neue Sekten.

Nach Bahá’u’lláh ist jedem Offenbarer von Gott ein bestimmter Auftrag erteilt worden; die Ära eines jeden Gottesoffenbarers muß einmal zu Ende gehen. Und so ist die Ära Jesu Christi und die Muhammads zu Ende gegangen. Es wurde Zeit, daß im Osten der Morgen einer neuen Offenbarung dämmerte, daß der Báb und Bahá’u’lláh jenen Impuls auslösten, der die Welt schon stark verändert hat und noch mehr verändern wird. „Bald wird die Ordnung des heutigen Tages zusammengerollt und eine neue an ihrer Statt ausgebreitet werden“, verheißt Bahá’u’lláh vor über hundert Jahren. Wir stehen mitten in dieser Umwälzung und erleben sie täglich mit.

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40. Nationaltagung in Frankfurt
Am 25. und 26. April fand im Frankfurter Palmengarten die 40. Nationaltagung der deutschen Bahá’í statt. Im Mittelpunkt des ersten Tages stand die Wahl des aus neun Mitgliedern bestehenden Nationalen Geistigen Rates (Foto oben), die durch 57 Delegierte aus der Bundesrepublik und Westberlin erfolgte. Weiter standen auf der Tagesordnung Beratungen über die künftige Bahá’í-Lehrtätigkeit innerhalb des Neun-Jahresplanes, über die Verlags- und die Pressearbeit. Das Foto unten zeigt einen Blick in den Beratungssaal.


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Als Vertreter des Bahá’í-Weltzentrums war Ali-Akbar Furutan zur Nationaltagung nach Frankfurt gekommen (Bild oben in der Mitte). Neben ihm der Vorsitzende des Nat. Geistigen Rats, Hemmati, und (stehend) Huschmand Sabet. Furutan besucht in den Sommermonaten zahlreiche Bahá’í-Gemeinden wie auch der US-Filmstar Linda Marshall (rechts). Die junge Blondine wird an der Europa-Tournee der „Dawnbreakers“, einer Bahá’í-Singgruppe, teilnehmen.


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Göttliche Politik oder Tagespolitik?[Bearbeiten]

Zur Struktur der Gegenwartskrise / von Hermine Berdjis


In bezug auf „Gott“ herrschen, grob gesehen, heute zwei Hauptansichten: hier der Materialismus, der Gottes Existenz als ein Märchen von vorgestern ablehnt und alle Errungenschaften lieber der menschlichen Geistesgröße zuschreibt — dort der blinde Glaube, der doktrinäre Scheuklappen trägt. Nur wenige Menschen haben den Mut, frei zu bekennen, daß „der Mensch denkt und Gott lenkt“.

Dies braucht uns nicht zu wundern; denn wer der Bahá’í-Religion noch keine Beachtung schenkte, kann nicht wissen, daß Gott schon vor rund hundert Jahren der Menschheit Sein neues politisches Konzept vorgelegt hat: Seine Weltordnung. Das Sprachrohr war Bahá’u’lláh; Er wandte sich im Laufe Seines vierzigjährigen Wirkens aus der Verbannung nicht nur an viele einzelne, Gläubige und Ungläubige, Er verkündete auch den Herrschern Seiner Zeit in machtvollen Sendschreiben den Plan Gottes und die Wege zu dessen Verwirklichung. Hier lag eine unermeßliche Chance für die Menschheit, die Möglichkeit, alle Katastrophen der vergangenen hundert Jahre zu umgehen. Leider wurde dieser göttliche Plan nur von dem kleinen Häuflein, das Bahá’u’lláh anerkannte, wahrgenommen; diese wenigen sind es, die auch im heutigen Wirrwarr der Welt der Göttlichen Politik zu dienen bestrebt sind.

Um zum Verständnis der Gegenwart zu kommen, müssen wir einen kurzen Rückblick tun. In seinem Buch „Der verheißene Tag ist gekommen“ umreißt Shoghi Effendi die wesentlichen Züge der Sendschreiben Bahá’u’lláhs und berichtet, auf welch tragische Weise sich die düsteren Prophezeiungen Bahá’u’lláhs an den tauben Empfängern erfüllten.

„Dieses große Unheil der Vergeltung, für das die höchsten weltlichen und geistlichen Führer der Erde in erster Linie verantwortlich sind, sollte jedoch nicht ... einzig als eine Strafe betrachtet werden... Es sollte vielmehr, wenn auch nur in zweiter Linie, im Lichte einer Vergeltung für die Verdorbenheit des Menschengeschlechtes im allgemeinen angesehen werden... Die Völker der Erde haben nicht nur einen Glauben, der zugleich das Wesen, die Verheißung, der Versöhner und der Vereiniger aller Religionen ist, übersehen ...., sondern sie sind von ihren eigenen Religionen abgewichen und haben andere Götter auf ihre umgestürzten Altäre gesetzt... Die größten Götzenbilder in diesem entweihten Tempel der Menschheit sind keine anderen als die drei Götter des Nationalismus, des Rassismus und des Kommunismus, an deren Altären Regierungen und Völker jetzt in verschiedenartigen Formen und in verschiedenen Graden Gottesdienst halten. Diese ungesunden, verderblichen Theorien und Methoden, die den Staat vergöttern und die Nation über die Menschheit erheben, die die Schwesterrassen auf der Welt einer einzigen Rasse unterzuordnen suchen, die zwischen Schwarz und Weiß unterscheiden und die das Übergewicht einer bevorzugten Klasse über alle anderen zulassen — das sind die finsteren, falschen und verschrobenen Lehrsätze, für die jeder Mensch oder jedes Volk, das an sie glaubt oder nach ihnen handelt, sich früher oder später den Zorn und die Züchtigung Gottes zuziehen muß...

[Seite 1169] Die Zeichen moralischen Verfalls als Folge der Entthronung der Religion und der Thronbesteigung dieser unrechtmäßigen Götzen sind zu zahlreich und zu offenbar, um nicht selbst von einem nur oberflächlichen Beobachter des Zustandes der heutigen Gesellschaft bemerkt zu werden. Die Verbreitung von Gesetzlosigkeit, Trunksucht, Glücksspiel und Verbrechen, die zügellose Sucht nach Vergnügen, Reichtum und anderen irdischen Nichtigkeiten, die Laxheit der Moral, die sich äußert in einer verantwortungslosen Haltung gegenüber der Ehe, in einer Schwächung der elterlichen Aufsicht, in einer Hochflut von Ehescheidungen, im Sinken des Durchschnittsniveaus von Literatur und Presse und in einer Befürwortung von Theorien, welche eine glatte Verleugnung von Reinheit, Moral und Keuschheit darstellen — alle diese Beweise moralischen Verfalls, die in den Osten wie in den Westen eindringen, jede Gesellschaftsschicht durchsetzen und ihr Gift in deren Glieder beiderlei Geschlechts, jung wie alt, einträufeln — schwärzen noch weiter die Rolle, auf der die mannigfachen Übertretungen einer Menschheit aufgeschrieben sind, die nichts bereut...

Gott straft jedoch nicht nur die Übeltaten Seiner Kinder. Er züchtigt, weil Er gerecht ist, und Er läutert, weil Er liebt... Die Flammen, die von Seiner göttlichen Gerechtigkeit entfacht wurden, läutern eine noch nicht wiedergeborene Menschheit und verschmelzen ihre uneinigen und widerstreitenden Elemente, wie kein anderes Walten und Wirken sie läutern und verschmelzen könnte. Es ist nicht nur ein vergeltendes und zerstörendes Feuer, sondern auch ein erzieherisches und schöpferisches Geschehen, dessen Ziel die Rettung des ganzen Planeten durch Einigung ist. Geheimnisvoll, langsam und unwiderstehlich erfüllt Gott seinen Plan, wenngleich der Anblick, dem unsere Augen an diesem Tage begegnen, das Schauspiel einer Welt sein mag, die, hoffnungslos in ihre eigenen Netze verwickelt, der Stimme, welche sie ein Jahrhundert lang zu Gott rief, nicht achtet, den Sirenenstimmen aber, die sie in den unermeßlichen Abgrund locken wollen, erbärmlich hörig ist... Gottes Plan ist kein anderer, als auf Wegen, die Er allein bereiten und deren volle Bedeutung Er allein ergründen kann, das Große, das Goldene Zeitalter für eine lange zerspaltene und gequälte Menschheit einzuleiten. Ihr gegenwärtiger Zustand ist finster, schmerzlich finster. Die fernere Zukunft aber ist strahlend, herrlich strahlend — so strahlend, daß sie sich kein Auge vorstellen kann... Dies wird fürwahr die würdige Krönung jenes Prozesses der Vereinigung sein, der, ausgehend von der Familie, der kleinsten Einheit auf der Stufenleiter menschlicher Organisation, nacheinander den Stamm, den Stadtstaat und die Nation ins Leben gerufen hat und fortwährend weiterwirken muß, bis er in der Vereinigung der ganzen Welt gipfelt, dem Endziel und dem krönenden Ruhm der menschlichen Entwicklung auf diesem Planeten...

Diese Vollendung muß einen schrittweisen Verlauf nehmen, und, wie Bahá’u’lláh selbst vorausgesehen hat, zuerst zur Gründung jenes „Kleineren Friedens“ führen, den die Nationen der Erde von sich aus errichten werden, noch ohne Seiner Offenbarung bewußt zu sein und noch ohne Wissen darüber, daß sie die allgemeinen Grundsätze durchsetzen, die Er verkündet hat... Das Gefüge Seiner Weltordnung, die sich jetzt im Schoße der Verwaltungseinrichtungen, die Er selbst geschaffen hat, regt, wird als [Seite 1170] Muster und als Kern jenes Weltstaatenbundes dienen, der das sichere, unumgängliche Geschick der Völker und Nationen der Erde ist“ 1).

In den „Sendschreiben zum göttlichen Plan“ schrieb ‘Abdu’l-Bahá 1917: „In dieser Welt des Zufalls gibt es viele Sammelpunkte, die zur Verbindung und Einheit zwischen den Menschen beitragen. So sind z. B. Patriotismus und Nationalismus, die Gleichheit der Interessen, politische Bündnisse oder ideelle Vereinigungen solche Sammelpunkte, und die Wohlfahrt der Welt ist von ihrer Bildung und Förderung abhängig. Aber alle diese genannten Einrichtungen sind zufällig und nicht ewig, zeitbedingt und nicht unvergänglich. Mit dem Auftreten großer Umwälzungen sind diese Sammelpunkte wie weggewischt. Doch der Sammelpunkt des Reiches Gottes ist der ewige Sammelpunkt. Er bahnt Verwandtschaft an zwischen Ost und West, baut die Einheit der Menschenwelt auf und zerstört die Grundlage von Meinungsverschiedenheiten... Daher ist der wahre Sammelpunkt der Kern der göttlichen Lehren; sie umfassen alle Entwicklungsstufen und beinhalten alle die weltweiten Beziehungen und notwendigen Gesetze der Menschheit“ 2).

Heutzutage — und damit wären wir beim Wesen der Gegenwartskrise angelangt — halten die meisten Menschen die Einheit für ein letztes, fast unerreichbares Ziel und versuchen, zuerst da und dort diesen und jenen Mißstand zu beseitigen. Die Göttliche Politik Bahá’u’lláhs führt den entgegengesetzten Weg:

„Shoghi Effendi erklärt uns, daß zwei große Prozesse in der Weit ablaufen: zum einen der große Plan Gottes, der... die Barrieren gegen die Welteinheit niederreißt und die menschliche Gesellschaft im Feuer des Leides und der Erfahrung zu einem geeinten Organismus umschmiedet. Dieser Prozeß wird... den Geringeren Frieden, die politische Vereinigung der Welt, herbeiführen. Der zweite Vorgang, der diesem geeinten Organismus Leben einhaucht, wahre Einheit und Geistigkeit schafft und im Größten Frieden seinen Höhepunkt erreicht, ist die Aufgabe der Bahá’í, die sich mit genauen Weisungen und unter fortgesetzter göttlicher Führung bewußt bemühen, die Strukturen des Reiches Gottes auf Erden zu errichten, ihre Mitmenschen dazu aufzurufen und ihnen auf diese Weise ewiges Leben zu verleihen...

Weil die Liebe zu den Mitmenschen und der Schmerz über ihre traurige Lage zum Lebensinhalt jedes wahren Bahá’í gehören, drängt es uns fortgesetzt zu tun, was wir nur können, um ihnen zu helfen. Es ist von überragender Bedeutung, daß wir uns so verhalten, wann immer sich die Gelegenheit dazu bietet; denn unsere Taten müssen dasselbe zum Ausdruck bringen, was unsere Worte besagen. Aber dieses Mitleid für unseren Nächsten darf uns nicht dazu verleiten, unsere Energien auf Kanäle zu verteilen, die letztlich in Fehlschlägen auslaufen und uns die wichtigste und grundlegendste Arbeit vernachlässigen lassen. Es gibt Hunderttausende von Wohltätern der Menschheit, die ihr Leben ganz für Hilfswerke und caritative Zwecke einsetzen, aber es gibt erbärmlich wenige, die jene Arbeit tun, die Gott vor allem andern getan haben will: die geistige Erweckung und Wiederbelebung der Menschheit“ 3).

Shoghi Effendi schreibt über die Haltung des Bahá’í: „In Wort und Tat sollten sie sich der Einmischung in die politischen Bestrebungen ihrer [Seite 1171] Länder, in die Politik ihrer Regierungen und Parteien enthalten. In öffentlichen Streitfragen sollten sie niemandem Schuld geben, keine Partei ergreifen, keine fremden Pläne fördern und sich mit keinem System identifizieren, das den besten Interessen der weltweiten Gemeinschaft schaden könnte, die zu behüten und zu fördern ihr eigenes Ziel ist. Laßt sie auf der Hut sein, daß sie nicht Werkzeuge gewissenloser Politiker werden oder sich in den verräterischen Ränken der hinterlistigen Verschwörer unter ihren Landsleuten verstricken... Laßt sie sich über jeden Partikularismus, jede Parteilichkeit, über leeren Wortstreit, kleinliche Berechnung und flüchtige Leidenschaft erheben... Laßt sie ihre unbeugsame Entschlossenheit bekräftigen, fest und vorbehaltlos zum Weg Bahá’u’lláhs zu stehen, die von den Bestrebungen der Politiker untrennbaren Verwicklungen und Streitigkeiten zu meiden und zu wertvollen Triebkräften jener Göttlichen Politik zu werden, die Gottes Plan für die ganze Menschheit verkörpert.

„Es sollte unmißverständlich klar gemacht werden, daß eine solche Haltung weder die leiseste Gleichgültigkeit gegenüber der Sache und den Belangen ihres eigenen Landes noch Widersetzlichkeit gegen die Autorität anerkannter und begründeter Regierungen bedeutet. Ebensowenig stellt sie eine Verleugnung ihrer heiligen Pflicht dar, auf wirksamste Weise die besten Interessen ihrer Regierung und ihres Volkes zu fördern. Sie drückt den von jedem aufrichtigen und ergebenen Anhänger Bahá’u’lláhs gehegten Wunsch aus, den höchsten Interessen ihres Landes in selbstloser, bescheidener und vaterländischer Weise sowie auf eine Art zu dienen, die kein Abweichen von den mit den Lehren seines Glaubens verbundenen hohen Grundsätzen der Redlichkeit und Wahrhaftigkeit zur Folge hat“ 4).

Hierzu gibt uns Bahá’u’lláh selbst ein Beispiel; denn wir lesen in Seinem Brief an den Sohn des Wolfes: „Selbst wenn dieser Unterdrückte nichts tat, was Persien zum Ruhm gereichte, hat er doch in einer Weise gehandelt, die Seinem Land keine Schande brachte... Dieser Unterdrückte war zu allen Zeiten bestrebt und bemüht, die Interessen sowohl der Regierung als des Volkes zu veredeln und zu fördern...“5). Und im selben Buche finden wir zahlreiche Gebete, die Bahá’u’lláh für den Schah schrieb, obwohl dieser einer Seiner größten Widersacher war.

Was die Wahlen in den heutigen Demokratien betrifft, gibt Shoghi Effendi folgende Richtlinie: „Die Freunde mögen ihre Stimme abgeben, wenn sie es können, ohne sich mit einer der Parteien gleichzusetzen. Sich auf parteipolitisches Gebiet zu begeben, tut den besten Interessen des Glaubens sicherlich Abbruch... Es steht beim einzelnen, sein Wahlrecht so zu üben, daß er sich aus der Parteipolitik heraushält und sich stets bewußt bleibt, daß er aufgrund der Vorzüge der Persönlichkeit und nicht der Zugehörigkeit zur einen oder anderen Partei wählt...“ 6).

Das Universale Haus der Gerechtigkeit befaßte sich vor kurzem ebenfalls mit den Beziehungen des Bahá’í zu den sozialen und politischen Kräften, die zur Zeit in der Welt wirksam sind, und schrieb: „Oft ist es unser fehlgeleitetes Empfinden, wir könnten unseren Mitmenschen durch irgendwelche Tätigkeiten außerhalb unserer Glaubensgemeinschaft besser helfen, das uns Bahá’í dazu verführt, der Politik nachzugehen. [Seite 1172]

Dies ist eine gefährliche Selbsttäuschung, wie es Shoghi Effendi durch seinen Sekretär zum Ausdruck brachte: ‚Wir Bahá’í müssen uns mit der Tatsache abfinden, daß sich die Gesellschaft so rasch zersetzt, daß Moralbegriffe, die noch vor einem halben Jahrhundert klar dastanden, heute hoffnungslos verwirrt und, was noch schlimmer ist, mit widerstreitenden politischen Interessen völlig vermengt sind. Deshalb müssen die Bahá’í ihre ganze Kraft in die Kanäle des Aufbaus der Bahá’í-Gemeinschaft und ihrer Verwaltungsordnung lenken. Auf keine andere Weise können sie die Welt gegenwärtig verändern oder ihr helfen. Wenn sie sich in die Streitfragen einmischen, in denen sich die Regierungen der Welt bekämpfen, werden sie verloren sein; aber wenn sie das Bahá’í-Modell aufbauen, können sie es als ein Heilmittel darreichen, wenn alles andere versagt haben wird‘... ‚Wir müssen unser Bahá’í-System aufbauen und den unvollkommenen Systemen dieser Welt ihren Lauf lassen. Wir können sie nicht ändern, indem wir uns hineinverwickeln; ganz im Gegenteil, sie würden uns vernichten‘ “ 3).

Zur Abrundung unseres Themas lassen wir Shoghi Effendi ein knappes Bild der Weltordnung Bahá’u’lláhs geben:

„Ein Welt-Überstaat, an den alle Nationen der Erde willig den Anspruch, Krieg zu führen, gewisse Rechte der Erhebung von Steuern und alle Rechte auf Kriegsrüstungen außer zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung in ihren Gebieten abtreten — ein solcher Staat muß notwendigerweise in irgendeiner Form entwickelt werden. Sein Organisationsrahmen wird eine internationale Exekutive einschließen müssen, die jedem widerspenstigen Mitglied der Gemeinschaft ihre unumschränkte und unantastbare Autorität aufzwingen kann; ein Weltparlament, dessen Mitglieder durch das Volk aller Länder gewählt und in ihrer Amtsübernahme von den jeweiligen Regierungen bestätigt werden, sowie einen Obersten Gerichtshof, dessen Urteil bindende Gültigkeit haben wird, selbst in Fällen, in denen die Parteien ihren Streit nicht freiwillig seiner Rechtsfindung unterwerfen. Eine Weltgemeinschaft, in der alle wirtschaftlichen Schranken für immer niedergerissen werden, in der die gegenseitige Abhängigkeit von Kapital und Arbeit ausdrücklich anerkannt wird, in der das Geschrei religiösen Eifers und Streites endgültig verstummt ist, in der die Flamme des Rassenhasses ein für allemal gelöscht ist, deren einheitliches System internationalen Rechts als Ergebnis der wohlüberlegten Entscheidung der weltweit vereinigten Volksvertreter durch das sofortige, zwingende Eingreifen der vereinten Streitkräfte der Verbündeten sanktioniert wird; und schließlich: Eine Weltgemeinschaft, in der der Sturm eines tollkühn-militanten Nationalismus in ein bleibendes Bewußtsein des Weltbürgertums verwandelt ist — so wahrlich sieht, in groben Zügen gezeichnet, die von Bahá’u’lláh vorausgeschaute Ordnung aus, eine Ordnung, die einmal als die edelste Frucht eines langsam heranreifenden Zeitalters betrachtet werden wird“ 7).

Zusammenfassend stellen wir fest:

1. Bahá’u’lláh hat die Göttliche Politik bereits vor über hundert Jahren in einem umfassenden Rahmenprogramm niedergelegt und den geistlichen wie den weltlichen Herrschern der Welt unterbreitet. Die Chance einer Verwirklichung, die in der historischen „Sternstunde“ um 1870 greifbar nahe lag, wurde von diesen Herrschern verkannt und vertan.

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2.Die Folge ist ein gigantischer Umwandlungsprozeß, der teils kontinuierlich-evolutionär, teils revolutionär in welterschütternden Krisen und Katastrophen so lange abläuft, bis sich das gesellschaftliche Bewußtsein der Menschheit den schlagartig geänderten technisch-ökonomischen Verhältnissen genügend weit angepaßt hat und ein Mindestmaß an umfassenden Ordnungsstrukturen gebildet worden ist. So lange die Tagespolitik von persönlichen oder Gruppenegoismen, vom Kampf und bestenfalls von einem labilen Gleichgewicht widerstreitender Interessen bestimmt ist, so lange sie der Ethik der Einheit entbehrt, halten sich die Bahá’í daraus fern, obwohl sie wissen und begrüßen, daß in dieser Tagespolitik der gesellschaftliche Läuterungsprozeß voranschreitet und die Strukturen des Geringeren Friedens heranwachsen. Die zweifache Aufgabe der Bahá’í besteht darin, a) eine Verwaltungs- und Gemeinschaftsordnung auf den von Bahá’u’lláh geoffenbarten Lehren und Gesetzen aufzubauen, als Modell und Keimzelle der göttlichen Weltordnung, und b) durch ihr Leben und Wirken dazu beizutragen, die geistigen Grundlagen für den Frieden zu legen: ein Menschheitsbewußtsein als unabdingbare Voraussetzung einer Weltstaatsraison zu schaffen. Am Anfang steht die Erkenntnis, daß dieses neue Bewußtsein auf einer ganzheitlichen Wertordnung, d. h. auf der Anerkennung der Einheit Gottes und auf der Gottesfurcht, aufbauen muß.

So sagt Bahá’u’lláh: „Die Gottesfurcht war von jeher ein sicherer Schutz und eine feste Burg für alle Völker der Welt“. Sie ist „der Urquell aller guten Taten und Sitten... und die Führerin der Heerscharen der Gerechtigkeit“ 8). Und weiter sagt Bahá’u’lláh: „Die Gefährten Gottes sind an diesem Tage der Sauerteig, der die Völker der Welt voll durchdringen muß. Sie müssen solche Vertrauenswürdigkeit, Wahrhaftigkeit und Ausdauer, solche Taten und einen solchen Charakter aufzeigen, daß die ganze Menschheit aus ihrem Beispiel Nutzen ziehen kann“.

‘Abdu’l-Bahá schreibt hierzu in seinem Buch „Das Geheimnis göttlicher Kultur“: „Die Veröffentlichung edler Gedanken ist die dynamische Kraft in den Schlagadern des Lebens, ja die Seele der Menschenwelt... Die öffentliche Meinung muß auf das gelenkt werden, was dieses Tages würdig ist... Zweifellos suchen die Massen nach ihrem Glück und sehnen sich danach, aber wie ein dichter Schleier trennt sie ihre Unwissenheit davon“9). Bahá’u’lláh sagt weiter: „Wissen gleicht Flügeln im Leben des Menschen; es ist wie eine Leiter für seinen Aufstieg.“

Die Leiter für den Aufstieg der menschlichen Gesellschaft ist das Wissen um die Göttliche Politik und das Handeln nach ihren Grundsätzen.


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1) Shoghi Effendi, „Der verheißene Tag ist gekommen“, Frankfurt/Main 124/1967, S. 170-186.
2) 'Abdu'l-Bahá, „Sendschreiben zum Göttlichen Plan“ vom 8. 3. 1917, 19-Tage-Brief

4, S. 13

3) Brief des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, BAHA’I-BRIEFE 32, S. 808 f.
4) Shoghi Effendi, „The Golden Age of the Cause of Bahá’u’lláh“, Wilmette/Ill. 1955, S. 64, vgl. 19-Tage-Brief 10/114, S. 2.
5) Bahá’u’lláh, „Brief an den Sohn des Wolfes“, Frankfurt/Main 122/1966, S. 71
6) „Bahá’í Procedure“, Wilmette/Ill. 1942, S. 13; 19-Tage-Brief 10/114, S. 4
7) Shoghi Effendi, „Das Ziel: die neue Weltordnung“, BAHA’I-BRIEFE 40, S. 1103 f.
8) wie 5), S. 39.
9) ‘Abdu’l-Bahá, „Das Geheimnis göttlicher Kultur“, BAHA’I-BRIEFE 7, S. 161 f.


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Neu auf unserem Büchertisch[Bearbeiten]

William und Paul Paddock, „Vor uns die mageren Jahre?“ (Famine 1975), Rütten + Loening Verlag in der Scherz-Gruppe, Bern/München/Wien 1969, 308 Seiten, Leinen.

Thomas Robert Malthus (1766—1834), ursprünglich Pfarrer, später Professor für Geschichte und politische Ökonomie, ist der Stammvater der Theorie, daß die Menschen die „natürliche“ Neigung hätten, sich über die Grenze ihrer Existenzmöglichkeiten hinaus zu vermehren. Der Nahrungsmittelspielraum wächst nach Malthus im Verhältnis einer einfachen arithmetischen Reihe (z.B. 2 : 3 : 4 : 5) die Bevölkerung jedoch in geometrischer Progression (z. B. 2 : 4 : 8 : 16 : 32); „repressive Faktoren“ wie Kriege, Hungersnöte und Seuchen sorgen so lange für den Ausgleich, bis sich „präventive Faktoren“, vor allem die Enthaltsamkeit, durchsetzen.

Seitdem diese Theorie 1798 formuliert wurde, ist sie nicht auszurotten weil es den Ökonomen besonders schwer zu fallen scheint zu erkennen, daß der Mensch in erster Linie das Produkt seiner Erziehung ist. Wesentlich ist, die Entstehungsgeschichte von Malthus’ Pessimismus vor Augen zu haben: Er argumentiert in Form einer Streitschrift gegen William Godwin, der über die politische Gerechtigkeit und ihren Einfluß auf Sitte und Glück der Bevölkerung schrieb, und gegen den Marquis Antoine de Condorcet (1743—1794), der als einer der Enzyklopädisten und als Präsident der französischen Nationalversammlung sich besonders für die Volkserziehung einsetzte. Ihnen hält der pessimistische Pfarrer-Ökonom repressiv entgegen, es habe ja doch alles keinen Wert, weil das Volk zu dumm sei, um seinen Kindersegen zu ernähren oder zu beschränken.

William und Paul Paddock, ein Diplomat und ein Landwirtschaftsexperte, beide in der US-Entwicklungshilfe ergraut, wenden Malthusianisches Gedankengut auf die Bevölkerungswelle an, die aus den Entwicklungsländern auf uns zurollt und in der Tat bedrohlich ist. Bereits 1975 wird nach Ansicht der Autoren die Ernährungslage in der Dritten Welt katastrophal sein. Spätestens dann werden die Hilfssendungen der USA nach dem Gesetz 480, das zur Verteilung der amerikanischen Lebensmittelüberschüsse führte, nicht mehr ausreichen, um kontinentale Hungersnöte zu vermeiden.

Nationalisten und Pragmatiker wie sie sind, zerpflücken die beiden Verfasser alle „Allheilmittel“ und Hoffnungen als Illusionen und vergessen dabei, wie sehr falsch motivierte und falsch verstandene „Hilfe“ das Unheil mitverschuldet. Die „optimale Lösung“ (S. 249), die sie sehen und empfehlen, ist dementsprechend auf den ersten Blick geradezu unmenschlich: das Prinzip der „Triage“.

Triage ist die Dreiteilung der Verwundeten, die die Militärärzte während und nach einer Schlacht anwenden. Wenn nicht genügend Versorgungsmöglichkeiten vorhanden sind, muß eine Prioritätsskala aufgestellt werden, um die meisten Menschenleben zu retten: Die Schwerverwundeten, [Seite 1175] die nicht überleben werden, wie immer man sie behandelt, und die leichter Verwundeten, die auch ohne ärztliche Versorgung durchkommen — ungeachtet der Schmerzen, die sie haben — werden zunächst ausgeklammert; die Ärzte kümmern sich um diejenigen, die durch sofortiges Eingreifen gerettet werden können. Auf die Nahrungsmittelhilfe im besonderen und die Entwicklungshilfe im allgemeinen übertragen, heißt dies, daß Länder, „in denen das Bevölkerungswachstum schon das landwirtschaftliche Potential überschritten hat“, in denen „eine schwache Führung und andere zersetzende Faktoren“ (S. 251) wirken, ihrem eigenen Schicksal, dem Hunger und rechts- oder linksgerichteten Erlösern, überlassen bleiben sollen.

Jeder muß sich selbst einen Vers darauf machen, wie weit es mit dem Spätkapitalismus und mit der abendländischen Führungsnation gekommen ist, wenn hochbezahlte Fachleute solche Vorschläge der US-Regierung ernsthaft unterbreiten und öffentlich zur Diskussion stellen können. Als ob der Krieg gegen den Hunger eine offene Feldschlacht wäre, als ob es nicht ganz einfache ökonomische Mittel gäbe, die Nahrungsmittelproduktion weltweit zu steigern, z. B. durch ein System staatlicher Mindestpreisgarantien, das zu allem anderen hin geldwertstabilisierend und einkommenssichernd wirken könnte! Die Verblendung dieser beiden Schriftsteller und unzähliger anderer Fachleute liegt darin, daß sie ihr Arbeitsgebiet völlig isoliert sehen. Die linken Studenten haben für diese Fehlhaltung den Ausdruck „Fachidiotie“ geprägt. Das Problem der Ernährung läßt sich nicht vom Problem der Erziehung trennen. Wenn man dafür sorgen kann, daß arbeitslose Dorf- und Slumbewohner produktive Tätigkeiten verrichten und dafür leidlich angemessene Einkommen beziehen, wird es ihnen leichter fallen, knapp werdende Lebensmittel zu erwerben, als wenn sie zu einem Leben der Arbeits-, Hoffnungs- und Sinnlosigkeit verurteilt sind. Malthus ging von Datenreihen aus, die einer noch fast agrarischen Gesellschaft entstammten. Heute ist die menschliche Arbeitsproduktivität auf ein Vielfaches gestiegen. Die Frage lautet, wie man diese produktiven Kräfte erzieherisch aufschließt, wie man auf optimale Weise in den „Schatzberg des Menschenherzens“ (Bahá’u’lláh) eindringt. Wenn diese Frage beantwortet wird, kommen kumulative Prozesse in Gang, die selbst Weltprobleme spielend lösen.

Das Buch der beiden Paddocks sollte eine aufrüttelnde Mahnung sein. Es ist schon drei Jahre alt, und seither ist einiges geschehen: Ein Teil der „Allheilmittel“, mit denen sich die Verfasser kritisch auseinandersetzen, z. B. „Wunderreis“ und „Wunderweizen“, haben sich besser bewährt, als man vor drei Jahren dachte. Das Jahr der Menschenrechte 1968 und das Jahr der Erziehung 1970 werden Wirkungen haben, wie unzureichend sie auch sein mögen. Der Pearson Report über die Perspektiven der Entwicklungshilfe in den 70er Jahren wird diskutiert werden, so sehr auch viele Interessentengruppen bemüht sind, das Thema aus dem Bewußtsein der Öffentlichkeit zu verdrängen. Trotzdem ist alles Bisherige nicht genug, und darum ist es gut, daß die Diskussion mit solchen Beiträgen wie dem der Paddocks angeregt wird.

[Seite 1176] Für uns Bahá’í ist das Prinzip der Triage wichtig. Das Welternährungsproblem ist für Triage ungeeignet; bei ihm wirken genügend produktive Faktoren, die verstärkt eingesetzt werden können, wenn — und das ist das Entscheidende — der richtige Geist herrscht.

Diesen richtigen Geist zu generieren, wird nur von einem klaren System umfassender Ordnungsvorstellungen und von einer genügend „reinen“ Motivation her möglich sein. An diesen beiden Faktoren fehlt es heutzutage, wie es in einer Feldschlacht an Ärzten fehlt. Wir werden als die wenigen vorhandenen „Ärzte“ für die kranken gesellschaftlichen Strukturen unsere Leistungen also nach dem Prinzip der Triage auf diejenigen Patienten konzentrieren müssen, bei denen wir am ehesten etwas retten können: nicht die Halbgläubigen, die davonkommen werden, wenn sie ihren eigenen Glauben besser verstehen lernen, auch nicht die geistig „Toten, die ihre Toten begraben“ sollen, sondern die verunsicherten Sucher, die eine mittlere Position einnehmen, die Sinnfragen stellen und noch nicht ganz daran verzweifelt sind, daß es konstruktive Antworten gibt.

Das Prinzip der Triage läßt sich aber noch weiter universalisieren. Wir müssen es all denen entgegenhalten, die stur einen Entweder-Oder-Standpunkt vertreten oder unter zu starken dualistischen Spannungen leiden, weil sie Unterschiede machen, wo das Verschiedenartige weit weniger wichtig ist als das Verbindende zwischen den Gegensätzen. „Jedes Extrem ist vom Übel“ und „die Wahrheit liegt in der Mitte“, das sind bis heute Sprüche, die den Geruch der Weichheit und Unentschlossenheit an sich haben. Triage ist hier der tätige Entschluß, eine Position in der Mitte, oder besser: über der Mitte zu wahren, aber nicht um des eigenen Interesses, sondern um allgemeingültiger Werte willen. Bahá’u’lláh hat dieses Prinzip selbst zur Vollendung geführt.

pmh



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