Bahai Briefe/Heft 40/Text

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BAHA'I-

BRIEFE


BLÄTTER FÜR

WELTRELIGION UND

WELTBEWUSSTSEIN



AUS DEM INHALT:


Shoghi Effendi: Die neue Weltordnung

Karl Schück: Die Menschheitsidee und der jüdische Auftrag

Jalil Mahmoudi: Die Kehrseiten der Religion

Buchbesprechungen


HEFT 40 APRIL 1970


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Wahrlich, der Tag der Ernte ist gekommen,

und alle Dinge

sind voneinander geschieden worden.

Er hat das, was Er wollte,

in den Gefäßen der Gerechtigkeit verwahrt

und hat ins Feuer geworfen,

was diesem verfallen ist.

So ist es von deinem Herrn,

dem Mächtigen, dem Liebevollen,

an diesem verheißenen Tage

beschlossen worden.

Wahrlich, Er verordnet, was Ihm gefällt.

Es gibt keinen Gott außer Ihm,

dem Allmächtigen, dem Allbezwingenden.


Bahá’u’lláh
(an Papst Pius IX.)


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Das Ziel: die neue Weltordnung[Bearbeiten]

Warnung und Versprechen / von Shoghi Effendi

Aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise um 1931 gibt es wenig sozialwissenschaftliches Schrifttum, das bis heute seine Aussagekraft behalten hat. Shoghi Effendi, der Hüter des Bahá’í-Glaubens, hat in seiner Botschaft vom 28. November 1931 eine Kulturphilosophie entwickelt, die 1970 eher noch aktueller geworden ist, als sie 1931 war. Wer weiß, ob wir es nicht früher, als wir denken, aus ähnlichen Gründen wie damals nötig haben werden, uns auf die einfachen Grundgedanken dieser Botschaft zurückzubesinnen!
D. Red.


Gefährten im Glauben Bahá’u’lláhs!

Der unerbittliche Lauf der jüngsten Ereignisse trägt die Menschheit dem Ziel, das Bahá’u’lláh erahnen ließ, so nahe, daß kein verantwortungsbewußter Anhänger Seines Glaubens, der die Welt allüberall in schmerzlichen Wehen sieht, bei dem Gedanken an ihre kommende Erlösung ungerührt bleiben kann.

Es erscheint angebracht, zu einer Zeit, da wir das erste Jahrzehnt seit dem plötzlichen Heimgang ‘Abdu’l-Bahás aus unserer Mitte (28. 11. 1921) beschließen, im Lichte der Lehren, die Er der Welt vermacht hat, über jene Ereignisse nachzudenken, die dazu beitragen, das stufenweise Sichtbarwerden der von Bahá’u’lláh vorausgeschauten Weltordnung zu beschleunigen.

Vor zehn Jahren, an eben diesem Tage, eilte die Nachricht vom Heimgang Dessen um die Welt, der allein ihr in den vielen Trübsalen, die sie zu erleiden bestimmt war, durch den veredelnden Einfluß Seiner Liebe, Kraft und Weisheit hätte Halt und Trost geben können.

Wie gut können wir, die kleine Schar Seiner erklärten Anhänger, die wir beanspruchen, das Licht, das in Ihm strahlte, erkannt zu haben, uns der wiederholten Anspielungen erinnern, die Er am Abend Seines irdischen Lebens auf die Trübsale und den Aufruhr machte, von denen eine verderbte Menschheit in steigendem Maße befallen würde. Wie schmerzlich haben sich manchem von uns die gedankenschweren Bemerkungen eingeprägt, die Er in Gegenwart von Pilgern und Besuchern machte, als sie nach den Jubelfeiern zur Beendigung des (ersten) Weltkriegs wieder zu Seiner Tür strömten — am Ende eines Krieges, der durch das Grauen, das er wachgerufen, die Verluste, die er hinterlassen, und die Verwicklungen, die er mit sich gebracht hat, einen so weitreichenden Einfluß auf die Geschicke der Menschheit üben sollte. Wie gelassen und doch wie machtvoll brandmarkte Er die grausame Täuschung, die ein Pakt, den die Völker und Nationen als jubelnde Verkörperung der Gerechtigkeit, als unfehlbares Werkzeug dauerhaften Friedens priesen, für eine unbußfertige Menschheit bereithielt: „Friede, Friede!“ hörten wir Ihn oft sagen. „Unaufhörlich verkünden die Lippen der Machthaber und der Völker [Seite 1095] ‚Frieden, Frieden‘, während das Feuer ungestillten Hasses noch in ihren Herzen schwelt.“ Wie oft hörten wir Ihn Seine Stimme erheben, als triumphale Begeisterung noch Wellen schlug, lange bevor die leisesten Bedenken empfunden oder ausgedrückt wurden! Mit Entschiedenheit erklärte Er, das als die Charta einer befreiten Menschheit gepriesene Dokument berge Saaten bitterster Enttäuschungen, die die Welt nur noch schlimmer versklaven werden. Wie überreich sind jetzt die Beweise, die den Scharfblick Seines unfehlbaren Urteils bezeugen!

Zehn Jahre endloser Unruhe, angefüllt von Ängsten und von unabschätzbaren Folgen für die Zukunft der Zivilisation, haben die Welt an den Rand eines Unheils geführt, zu schrecklich, um darüber nachzudenken. Traurig ist der Kontrast zwischen den Kundgebungen zuversichtlicher Begeisterung, denen sich die Bevollmächtigten in Versailles so freimütig hingaben, und dem Schrei unverhohlener Not, den nun Sieger und Besiegte gleichermaßen in der Stunde bitterer Ernüchterung erheben.


Eine kriegsmüde Welt

Weder die Macht, die die Gestalter und Bürgen der Friedensverträge aufboten, noch die stolzen Ideale, die den Verfasser der Völkerbundsatzung beseelten, erwiesen sich als ausreichendes Bollwerk gegen die Kräfte innerer Zersetzung, die eine so mühsam ausgedachte Struktur ständig angreifen. Weder die Vorkehrungen des sogenannten Verständigungsfriedens, den die Siegermächte durchsetzen wollten, noch die Maschinerie einer Einrichtung, die Amerikas berühmter und weitsichtiger Präsident ersonnen hatte, erwiesen sich in Theorie oder Praxis als ausreichende Mittel, die Unverletzlichkeit der angestrebten Ordnung zu sichern. „Die Krankheiten, an denen die Welt jetzt leidet,“ schrieb ‘Abdu’l-Bahá im Januar 1920, „werden sich vervielfachen; die Dunkelheit, die sie umschließt, wird sich vertiefen. Der Balkan wird unzufrieden bleiben. Seine Ruhelosigkeit wird wachsen. Die besiegten Mächte werden weiterwühlen. Sie werden zu jeder Maßnahme greifen, die die Flamme des Krieges wieder entzündet. Neugeschaffene Bewegungen von weltweiter Bedeutung werden alle Kräfte für den Fortschritt ihrer Pläne aufbieten. Die Bewegung der Linken wird große Bedeutung erlangen. Ihr Einfluß wird sich ausbreiten.“

Seitdem jene Worte geschrieben wurden, scheint sich wirtschaftliche Not mit politischer Verwirrung, finanziellen Umwälzungen, religiöser Ruhelosigkeit und Rassenhaß verschworen zu haben, die Last unermeßlich zu vergrößern, unter der eine verarmte, kriegsmüde Welt ächzt. Die kumulative Wirkung dieser Krisen, die mit so bestürzender Schnelligkeit aufeinander folgen, ist derart, daß die Gesellschaft in ihren Grundfesten erzittert. Welchen Kontinent wir auch betrachten, welches noch so abgelegene Gebiet wir in den Blick fassen, überall sehen wir die Welt von Mächten bedrängt, die sie weder erklären noch kontrollieren kann. Europa, bis jetzt als die Wiege einer hochgepriesenen Zivilisation, als Fackelträger der Freiheit und als Triebfeder der Kräfte des Handels und der Industrie betrachtet, steht bestürzt und gelähmt beim Anblick eines so ungeheueren Umsturzes. Lang gehegte Ideale, auf politischem nicht [Seite 1096] weniger als auf wirtschaftlichem Gebiet menschlicher Tätigkeit, werden einerseits unter dem Druck reaktionärer Mächte, andererseits von einem heimtückischen und hartnäckigen Radikalismus schwer geprüft. Aus dem Herzen Asiens kündet fernes, unheildrohendes und beharrliches Grollen den steten Vormarsch einer Weltanschauung, die durch ihre Leugnung Gottes, Seiner Gesetze und Leitsätze die Grundlagen der menschlichen Gesellschaft aufzubrechen droht. Der Lärm eines wachsenden Nationalismus, gepaart mit dem Wiederaufleben von Skeptizismus und Unglauben, kommt als zusätzliches Unglück über einen Kontinent, der bis jetzt als das Symbol jahrhundertelanger Stabilität und ungestörter politischer Entsagung galt. Im dunkelsten Afrika kann man die ersten Regungen einer bewußten und entschlossenen Revolte gegen die Ziele und Methoden des politischen und wirtschaftlichen Imperialismus in steigendem Maße erkennen, einer Revolte, die ihr Teil zu den wachsenden Veränderungen eines geplagten Zeitalters beiträgt. Nicht einmal Amerika, das bis vor kurzem stolz auf seine traditionelle Abgeschiedenheit und seine wirtschaftliche Selbstversorgung, auf die Unverletzbarkeit seiner Einrichtungen und die Beweise seines wachsenden Wohlstandes und Ansehens war, konnte den Triebkräften standhalten, die es in den Strudel eines wirtschaftlichen Wirbelsturms zogen, der nun die Grundlagen seines eigenen industriellen und wirtschaftlichen Lebens zu entkräften droht. Selbst das entlegene Australien, das dank seiner Entfernung von den Sturmzentren Europas gegen die Prüfungen und Plagen eines leidenden Kontinents gefeit scheinen konnte, wurde von diesem Wirbel der Leidenschaft und des Kampfes erfaßt, unfähig, sich aus den Verstrickungen zu lösen.


Die Zeichen des drohenden Chaos

In der Tat gab es nie zuvor so weitverbreitete und so tiefgreifende Umwälzungen in der sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Sphäre menschlichen Wirkens, wie sie jetzt in verschiedenen Teilen der Welt vor sich gehen. Nie gab es so viele, so verschiedenartige Gefahrenherde, wie sie jetzt die Struktur der Gesellschaft bedrohen. Bedeutsam sind wahrlich die folgenden Worte Bahá’u’lláhs, wenn wir innehalten, um über den gegenwärtigen Zustand einer seltsam verwirrten Welt nachzudenken:

„Wie lange wird die Menschheit in ihrem Eigensinn verharren? Wie lange wird das Unrecht fortbestehen? Wie lange sollen Chaos und Verwirrung unter den Menschen herrschen? Wie lange wird Zwietracht das Antlitz der Gesellschaft zerwühlen? Die Winde der Verzweiflung wehen aus jeder Richtung, und der Hader, der die Menschenrasse spaltet und peinigt, nimmt täglich zu. Drohend zeichnen sich chaotische Krämpfe ab, zumal die bestehende Ordnung jämmerlich unvollkommen erscheint.“

(Ährenlese CX)

Der Unruhefaktor von über 30 Millionen Menschen, die auf dem europäischen Kontinent als Minderheiten leben; die große, noch weiter wachsende Armee der Arbeitslosen mit ihren erdrückenden Lasten und ihrem demoralisierenden Einfluß auf Regierungen und Völker, das niederträchtige, zügellose Wettrüsten, das den bereits verarmten Nationen immer [Seite 1097] größere Teile ihrer Substanz wegzehrt, die völlige Demoralisierung, unter der die internationalen Finanzmärkte in steigendem Maße leiden, die Verweltlichung, die alles, was bis jetzt als die unbezwingbaren Stützen des Christentums und des Islams erachtet wurde, angreift und durchdringt — alle diese Erscheinungen stechen als die ernstesten Symptome hervor, als unheilvolles Omen für die künftige Stabilität der modernen Zivilisation. Kein Wunder, daß einer der führenden Denker Europas, der ob seiner Weisheit und Zurückhaltung geschätzt wird, sich zu der kühnen Feststellung gezwungen sah: „Die Welt macht die schlimmste Krise der Kulturgeschichte durch.“ „Wir stehen,“ schreibt ein anderer, „entweder vor einer Weltkatastrophe oder aber am Tagesanbruch eines größeren Zeitalters der Wahrheit und der Weisheit.“ „Gerade in solchen Zeiten“, fügt er hinzu, „sind Religionen untergegangen und geboren worden.“

Können wir nicht, wenn wir den politischen Horizont absuchen, schon die Trennlinien jener Kräfte erkennen, die von neuem den europäischen Kontinent in mögliche Kriegslager teilen, jedes zu einem Kampf entschlossen, der ungleich dem letzten Krieg das Ende einer Epoche, einer gewaltigen Epoche in der Geschichte der menschlichen Entwicklung, darstellen würde? Sind wir als die bevorrechtigten Bewahrer eines unschätzbaren Glaubens dazu berufen, Zeugen einer sintflutartigen Umwälzung zu sein, politisch so tiefgreifend und geistig so segensreich wie der Untergang des weströmischen Reiches? Könnte es nicht dazu kommen, — jeder wachsame Anhänger des Glaubens Bahá’u’lláhs sollte wohl innehalten, um dies zu überdenken — daß aus dieser Welteruption Kräfte von einer geistigen Energie strömen, wie sie den Glanz jener Zeichen und Wunder, welche die Errichtung des Glaubens Jesu Christi begleiteten, in Erinnerung rufen oder gar in den Schatten stellen? Könnte nicht aus dem Todeskampf dieser erschütterten Welt eine religiöse Erneuerung von solchem Umfang und solcher Kraft hervorgehen, daß sie sogar die weltbewegende Wirkkraft übertrifft, mit der die früheren Religionen, in bestimmten Zeitabständen und einer unergründlichen Weisheit gemäß, gefallenen Völkern und Zeiten neue Lebensschicksale eröffneten? Könnte nicht der Bankrott der gegenwärtigen, hochgepriesenen materialistischen Zivilisation als solcher das rankende Unkraut hinwegreißen, das heute Gottes ringenden Glauben an der Entfaltung und an der nachfolgenden Blüte hindert?

Lassen Sie Bahá’u’lláh selbst die Leuchtkraft Seiner Worte auf unsere Bahn ergießen, während wir unseren Kurs zwischen den Fallgruben und Trübsalen dieses gequälten Zeitalters hindurchsteuern. Vor über fünfzig Jahren (um 1880) und in einer Welt, der die Übel und Anfechtungen, die sie jetzt peinigen, noch ferne lagen, entflossen Seiner Feder die folgenden prophetischen Worte:

„Die Welt liegt in Wehen, und ihre Erregung wächst von Tag zu Tag. Ihr Antlitz ist auf Eigensinn und Unglauben gerichtet. Ihr Zustand wird so werden, daß es nicht angemessen und schicklich wäre, ihn jetzt zu enthüllen. Lange wird ihre Verderbtheit währen. Und wenn die festgesetzte Stunde kommt, wird plötzlich erscheinen, was der Menschheit Glieder zittern macht. Dann und nur dann wird das göttliche Banner entfaltet, und die Nachtigall des Paradieses wird ihr Lied singen.“

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Die Unfähigkeit der Diplomatie

Innig geliebte Freunde! Ob wir die Menschheit im Lichte der persönlichen Lebensführung oder der Beziehungen zwischen den organisierten Gemeinschaften und Nationen betrachten, sie ist leider zu weit abgeirrt, hat einen zu tiefen Niedergang erlitten, als daß sie allein durch die unbeholfenen Anstrengungen selbst der besten unter ihren anerkannten Herrschern und Staatsmännern — wie uneigennützig sie in ihren Beweggründen, wie konzertiert sie in ihrer Aktion, wie zäh sie in ihrem Eifer und wie ergeben sie gegenüber ihrer Sache auch seien — erlöst werden könnte. Kein Plan, den die Berechnungen höchster Staatskunst noch ersännen, kein Lehrgebäude, das die hervorragendsten Vertreter der Wirtschaftstheorie noch errichteten, kein Grundsatz, den der glühendste Moralist noch aufimpfen wollte, können letztenendes ausreichende Grundlagen bieten, auf die die Zukunft einer verrückt gewordenen Welt gebaut werden kann.

Kein Aufruf zu gegenseitiger Duldsamkeit, den die Weltweisen erheben, wie zwingend und nachdrücklich er auch sein mag, kann die Leidenschaften dieser Welt beruhigen oder ihr helfen, ihre Lebenskraft zurückzugewinnen. Auch hat kein Gesamtplan rein organisatorischer Zusammenarbeit, auf welchem Gebiet menschlicher Tätigkeit er sich immer bewegt, wie geistreich er erdacht und wie umfassend er auch aufgefaßt wird, den gewünschten Erfolg, wenn es darum geht, die Grundursache des Übels zu beseitigen, das die heutige Gesellschaft so hart aus dem Gleichgewicht geworfen hat. Ja, ich wage zu behaupten, daß nicht einmal der eigentliche Vorgang des Ersinnens einer Maschinerie, wie sie für die politische und wirtschaftliche Vereinigung der Menschheit erforderlich ist — eine Grundforderung, die in letzter Zeit immer stärker vertreten wird — daß nicht einmal dieser Vorgang aus sich selbst heraus das Heilmittel gegen das Gift bieten könnte, welches ständig die Kraftreserven der entwickelten Völker und Nationen auszehrt.

Was sonst, so können wir getrost behaupten, als die vorbehaltlose Annahme des göttlichen Programms, das Bahá’u’lláh vor sechzig Jahren (um 1870) mit solcher Macht und Schlichtheit verkündet hat, eines Programms, das in seinen Wesenszügen Gottes Plan für die Vereinigung der Menschheit in diesem Zeitalter beinhaltet, kann in Verbindung mit der unüberwindlichen Gewißheit der sicheren Wirkung aller seiner Vorkehrungen schließlich den Kräften innerer Auflösung widerstehen, die sich, wenn ihnen kein Einhalt geboten wird, immer tiefer in das Mark einer verzweifelten Gesellschaft hineinfressen? Diesem Ziel — dem Ziel einer neuen Weltordnung, göttlich im Ursprung, allumfassend in der Reichweite, unparteiisch im Grundsatz, herausfordernd im Charakter — muß eine gequälte Menschheit zustreben.

Zu behaupten, alle Zusammenhänge von Bahá’u’lláhs gewaltigem Plan weltweiter Solidarität erfaßt oder seine Bedeutung ergründet zu haben, wäre selbst von seiten der erklärten Anhänger Seines Glaubens vermessen. Ja, der Versuch, sich diesen Plan mit all seinen Möglichkeiten vorzustellen, seine künftigen Vorteile abzuschätzen, sich seine Größe auszumalen, wäre sogar in dem heute so fortgeschrittenen Stadium der Entwicklung der Menschheit verfrüht.

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Die Leitsätze der Weltordnung

Das einzige, was wir vernünftigerweise versuchen können, ist, uns zu bemühen, einen Schimmer der ersten Lichtstreifen der verheißenen Dämmerung zu erhaschen, die, wenn die Zeit gekommen ist, das die Menschheit umschließende Dunkel verjagen wird. Lediglich in groben Zügen können wir herausstellen, was uns als die leitenden Prinzipien erscheint, die der Weltordnung Bahá’u’lláhs zugrunde liegen, wie sie ‘Abdu’l-Bahá, der Mittelpunkt Seines Bündnisses mit der ganzen Menschheit und ernannte Ausleger und Erklärer Seines Wortes, ausführlich dargestellt und erläutert hat.

Daß die Unruhe und das Leid, die die Masse der Menschheit peinigen, in einem nicht geringen Maße dem Weltkrieg und der Unklugheit und Kurzsichtigkeit der Gestalter der Friedensverträge unmittelbar zuzuschreiben sind, kann nur ein Voreingenommener sich weigern zuzugeben. Daß die finanziellen Verpflichtungen, die im Laufe des Krieges eingegangen wurden, wie auch die erdrückende Bürde der Reparationen, die auf den Besiegten lastete, in großem Maße verantwortlich waren für die schlechte Verteilung und die daraus folgende Verknappung der Vorräte an Währungsgold in der Welt, was hinwieder die noch nie dagewesenen Preisstürze wesentlich verschlimmerte und dabei die Lasten der verarmten Länder unbarmherzig erhöhte, wird kein Unparteiischer in Frage stellen. Daß die zwischenstaatlichen Schulden die Massen der Bevölkerung gefährlich überbeanspruchten, das Gleichgewicht der Staatshaushalte













Während einer Lehrreise durch Afrika besuchte ‘Amatu’l-Bahá, die Gattin des verstorbenen Hüters Shoghi Effendi, auch das Haus der Anbetung in Kampala. Unser Bild zeigt sie inmitten der dortigen Bahá’í.


[Seite 1100] umwarfen, die nationalen Industrien lähmten und die Arbeitslosenzahlen steigerten, ist dem vorurteilsfreien Beobachter nicht weniger offensichtlich. Daß der Geist der Rache, des Argwohns, der Furcht und der Rivalität, den der Krieg hervorrief und den die Bestimmungen der Friedensverträge verewigen und fördern halfen, zu einem enormen Anwachsen des internationalen Wettrüstens führte, was im letzten Jahr (1930) Gesamtausgaben von nicht weniger als einer Milliarde Pfund ausmachte und die weltweite Depression verschärfte, ist eine Wahrheit, die sogar der oberflächlichste Beobachter bereitwillig zugeben wird. Daß ein engstirniger, brutaler Nationalismus, den die Nachkriegstheorie des Selbstbestimmungsrechts verstärken half, hauptverantwortlich ist für die Politik überhöhter, ja prohibitiver Zölle, die dem heilsamen Strom des internationalen Handels ebenso schaden wie dem Mechanismus des internationalen Finanzwesens, ist eine Tatsache, die nur wenige anzufechten wagen.

Die Behauptung wäre jedoch müßig, allein der Krieg mit all seinen Folgeschäden, seinen entfesselten Leidenschaften und seiner Hinterlassenschaft an Leid sei verantwortlich für die noch nie dagewesene Verwirrung, in die fast jeder Lebensbereich der zivilisierten Welt gegenwärtig gestürzt ist. Ist es nicht eine Tatsache — und das ist der Kerngedanke, den ich hier betonen möchte — daß die grundlegende Ursache dieser weltweiten Unruhe nicht so sehr den Auswirkungen dessen zuzuschreiben ist, was man früher oder später als eine vorübergehende Gewichtsverlagerung in den Angelegenheiten einer sich ständig wandelnden Welt betrachten wird, sondern vielmehr dem Versäumnis jener, die die unmittelbaren Schicksale von Völkern und Nationen in Händen halten — dem Versäumnis, ihr System wirtschaftlicher und politischer Einrichtungen den zwingenden Notwendigkeiten eines Zeitalters stürmischer Entwicklung anzupassen? Gehen diese immer wiederkehrenden Krisen, die die heutige Gesellschaft durchzucken, nicht hauptsächlich zu Lasten der bedauerlichen Unfähigkeit der anerkannten Führer in der Welt, die Zeichen der Zeit richtig zu lesen, sich ein für allemal von vorgefaßten Meinungen und engen Glaubensvorstellungen zu lösen und das Räderwerk ihrer jeweiligen Regierungen nach den Maßstäben zu erneuern, die sich aus Bahá’u’lláhs Verkündigung der Einheit der Menschheit, dem hauptsächlichen und hervorragenden Merkmal Seines Glaubens, zwingend ergeben? Denn das Prinzip der Einheit der Menschheit, der Eckstein der weltumspannenden Herrschaft Bahá’u’lláhs, erfordert nicht mehr und nicht weniger als die Durchführung Seines Planes zur Vereinigung der Welt — des Planes, den wir bereits erwähnt haben. „In jeder Sendung“, schreibt ‘Abdu’l-Bahá, „war das Licht göttlicher Führung brennpunktartig auf ein zentrales Thema gerichtet... In dieser wunderbaren Offenbarung, in diesem herrlichen Jahrhundert, ist die Grundlage des Glaubens Gottes und das hervorstechende Merkmal Seines Gesetzes das Bewußtsein der Einheit der Menschheit.“

Wie kläglich sind doch die Bemühungen jener Führer menschlicher Einrichtungen, die in völliger Mißachtung des Zeitgeistes bestrebt sind, nationale Verfahrensweisen, die den früheren Tagen selbstgenügsamer Nationen entsprachen, einem Zeitalter anzupassen, das entweder, wie von Bahá’u’lláh vorgezeichnet, die Einheit der Welt erreichen oder aber zugrunde gehen muß. In einer so kritischen Stunde der Kulturgeschichte [Seite 1101] geziemt es den Führern aller Nationen der Erde, groß und klein, im Osten wie im Westen, Sieger oder Besiegte, dem Posaunenruf Bahá’u’lláhs Beachtung zu schenken und, völlig durchdrungen von einem Empfinden der Weltsolidarität, dem sine qua non der Treue zu Seiner Sache, sich mannhaft zu erheben, um den einen Heilsplan, den Er, der göttliche Arzt, für eine gequälte Menschheit verordnet hat, zur Gänze durchzuführen. Mögen sie ein für allemal jede vorgefaßte Meinung, jedes nationale Vorurteil ablegen und den erhabenen Rat ‘Abdu’l-Bahás, des autorisierten Erklärers Seiner Lehren, beachten: „Sie können Ihrem Land am besten dienen,“ erwiderte ‘Abdu’l-Bahá einem hohen Beamten im Dienste der Bundesregierung der Vereinigten Staaten von Amerika, der Ihn gefragt hatte, wie er die Interessen seiner Regierung und seines Volkes am besten fördern könnte, „indem Sie in Ihrer Eigenschaft als Weltbürger bestrebt sind mitzuhelfen, daß die Prinzipien des Föderalismus, die der Regierung Ihres eigenen Landes zugrunde liegen, endlich auf die Beziehungen an gewandt werden, die jetzt zwischen den Völkern und Nationen der Welt bestehen.“

In „Das Geheimnis göttlicher Kultur“, jenem hervorragenden Beitrag ‘Abdu’l-Bahás zur künftigen Neuordnung der Welt, lesen wir folgendes:

„Wahre Kultur wird ihr Banner mitten im Herzen der Welt entfalten, sobald eine gewisse Zahl ihrer vorzüglichen und hochgesinnten Herrscher — leuchtende Vorbilder der Ergebenheit und Entschlossenheit — mit festem Entschluß und klarem Blick zu Nutz und Glück der ganzen Menschheit daran geht, den Weltfrieden zu stiften. Sie müssen die Friedensfrage zum Gegenstand gemeinsamer Beratung machen und mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln versuchen, einen Weltvölkerbund zu schaffen. Sie müssen einen verbindlichen Vertrag und einen Bund schließen, dessen Verfügungen eindeutig, unverletzlich und bestimmt sind. Sie müssen ihn der ganzen Welt bekannt geben und die Bestätigung der gesamten Menschenrasse für ihn erlangen.

Dieses erhabene und edle Unterfangen — der wahre Quell des Friedens und Wohlergehens für alle Welt — sollte allen, die auf Erden wohnen, heilig sein. Alle Kräfte der Menschheit müssen frei gemacht werden, um die Dauer und den Bestand dieses größten aller Bündnisse zu sichern. In diesem allumfassenden Vertrag sollten die Grenzen jedes einzelnen Landes deutlich festgelegt, die Grundsätze, die den Beziehungen der Regierungen untereinander zugrunde liegen, klar verzeichnet und alle internationalen Vereinbarungen und Verpflichtungen bekräftigt werden. In gleicher Weise sollte der Umfang der Rüstungen für jede Regierung genauestens umgrenzt werden, denn wenn die Zunahme der Kriegsvorbereitungen und Truppenstärken in irgendeinem Land gestattet würde, so würde dadurch das Mißtrauen anderer geweckt werden. Die Hauptgrundlage dieses feierlichen Vertrages sollte so festgelegt werden, daß bei einer späteren Verletzung irgendeiner Bestimmung durch irgendeine Regierung sich alle Regierungen der Erde erheben, um jene wieder zu voller Unterwerfung unter den Vertrag zu bringen, nein, die gesamte Menschheit sollte sich entschließen, mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln jene Regierung zu vernichten. Sollte dieses größte aller Heilmittel auf den kranken Weltkörper angewandt werden, so wird er sich gewiß wieder von seinen Leiden erholen und dauernd bewahrt und heil bleiben.“

[Seite 1102] „Einzelne“, fügte Er weiter hinzu, „welche die im menschlichen Streben ruhende Kraft nicht kennen, halten diese Gedanken für völlig undurchführbar, ja für jenseits dessen, was selbst die äußersten Anstrengungen des Menschen je erreichen können; doch dies ist nicht der Fall. Im Gegenteil kann dank der unerschöpflichen Gnade Gottes, der Herzensgüte Seiner Begünstigten, den beispiellosen Bemühungen weiser und fähiger Seelen und den Gedanken der unvergleichlichen Führer dieses Zeitalters nichts, was es auch sei, als unerreichbar angesehen werden. Eifer, unermüdlicher Eifer ist nötig. Nur unbezähmbare Entschlußkraft kann das Werk vollbringen. Manches hat man in vergangenen Zeiten als reines Hirngespinst betrachtet; heute ist es leicht durchführbar geworden. Warum sollte diese wichtigste und erhabenste Sache — das Tagesgestirn am Himmelszelt wahrer Kultur und die Ursache des Ruhmes, des Fortschrittes, des Wohlergehens und Erfolges der ganzen Menschheit — unmöglich sein? Der Tag wird sicher kommen, an dem ihr klares Licht Erleuchtung über die gesamte Menschheit gießen wird.“ 1)


Die sieben Lichtstrahlen der Einheit

Um Sein hehres Thema weiter zu erläutern, offenbarte ‘Abdu’l-Bahá in einem Seiner Sendschreiben folgendes:

„Obwohl in vergangenen Religionszyklen Einklang begründet wurde, war in Ermangelung der (technisch-ökonomischen) Mittel die Einheit der Menschheit unerreichbar. Die Kontinente blieben weit voneinander getrennt, ja sogar unter den Völkern eines und desselben Kontinents waren Verbindung und Austausch nahezu unmöglich. Infolgedessen waren der Umgang, die Verständigung und die Einheit zwischen allen Völkern und Geschlechtern der Erde fast unerreichbar. Heute jedoch haben sich die Kommunikationsmittel vervielfacht, und die fünf Kontinente der Erde sind zu einem Ganzen verschmolzen... Ebenso sind alle Glieder der menschlichen Familie, ob Völker oder Regierungen, Städte oder Dörfer, in steigendem Maße voneinander abhängig geworden. Keiner kann mehr in Selbstgenügsamkeit leben, weil politische Bindungen alle Völker und Nationen vereinen und die Bande des Handels und der Industrie, der Landwirtschaft und des Bildungswesens Tag für Tag stärker werden. Folglich ist die Einheit der ganzen Menschheit heutzutage erreichbar geworden. Wahrlich, dies ist nichts anderes als eines der Wunder dieses wunderbaren Zeitalters, dieses ruhmreichen Jahrhunderts. Die vergangenen Zeitalter waren all dessen beraubt, denn dieses Jahrhundert — das Jahrhundert des Lichtes — ist mit einzigartiger, unvergleichlicher Herrlichkeit, mit Macht und Erleuchtung ausgestattet worden. Schließlich wird man sehen, wie hell seine Lichtstrahlen in der Gemeinschaft der Menschen leuchten werden.

Seht, wie dieses Licht nun am dunklen Horizont der Welt zu dämmern beginnt! Der erste Lichtstrahl ist die Einheit im politischen Bereich; der allererste Schimmer davon läßt sich nunmehr erkennen. Der zweite Lichtstrahl ist die Einheit des Denkens in weltweiten Unternehmungen, die bald vollzogen werden wird. Der dritte Lichtstrahl ist die Einheit in der Freiheit, die sicherlich eintreten wird. Der vierte Lichtstrahl ist die Einheit in der Religion, der Eckstein, auf dem die Grundlage [Seite 1103] ruht; auch sie wird durch die Macht Gottes in ihrer ganzen Strahlenfülle offenbar werden. Der fünfte Lichtstrahl ist die Einheit der Nationen — eine Einheit, die in diesem Jahrhundert fest begründet werden wird, so daß sich alle Völker der Welt als Bürger eines gemeinsamen Vaterlandes betrachten. Der sechste Lichtstrahl ist die Einheit der Rassen, die alle, die auf Erden wohnen, zu Völkern und Geschlechtern einer Rasse macht. Der siebte Lichtstrahl ist die Einheit der Sprache, d.h. die Wahl einer universalen Sprache, in der alle Menschen unterrichtet werden und miteinander verkehren. All dies wird unvermeidlich eintreten, weil die Macht des Reiches Gottes seine Verwirklichung fördern und unterstützen wird.“


Ein Welt-Überstaat

In Seinem Sendschreiben an Königin Viktoria wandte sich Bahá’u’lláh vor über 60 Jahren (um 1870) an die „Schar der Herrscher auf Erden“ und offenbarte folgende Worte:

„Beratet miteinander und laßt euch nur das angelegen sein, was der Menschheit nützt und ihre Lage bessert... Betrachtet die Welt wie einen menschlichen Körper. Obwohl er bei seiner Erschaffung gesund und vollkommen war, ist er aus verschiedenen Ursachen von schweren Störungen und Krankheiten befallen worden. Keinen einzigen Tag lang wurde ihm Linderung zuteil, nein, im Gegenteil, sein Übel verschlimmerte sich, weil er in die Behandlung unwissender Ärzte fiel, die ihren persönlichen Wünschen nachgaben und sich schmählich irrten. Wenn einmal durch die Sorgfalt eines fähigen Arztes ein Glied des Körpers geheilt wurde, so blieb dennoch der übrige Teil so leidend wie zuvor. So unterrichtet euch der Allwissende, der Allweise... Was der Herr als höchstes Mittel und mächtigstes Werkzeug für die Heilung der ganzen Welt bestimmt hat, ist die Vereinigung aller ihrer Völker in einer allumfassenden Sache, einem gemeinsamen Glauben. Dies kann nicht anders erreicht werden als durch die Kraft eines erfahrenen, allgewaltigen und erleuchteten Arztes. Wahrlich, dies ist die Wahrheit und alles andere nichts als Irrtum.“

In einem weiteren Abschnitt fügt Bahá’u’lláh diese Worte hinzu: „Wir sehen euch jedes Jahr eure Ausgaben vermehren und deren Lasten euren Untertanen aufbürden. Das ist, wahrlich, höchst ungerecht. Fürchtet die Seufzer und Tränen dieses Unterdrückten und ladet nicht übermäßige Lasten auf eure Völker... Versöhnt euch miteinander, so daß ihr nicht mehr Kriegsrüstungen benötigt, als dem Schutz eurer Gebiete und Länder angemessen ist. Hütet euch, den Rat des Allwissenden, des Glaubwürdigen, zu mißachten. Seid einig, o Herrscher der Erde, denn dadurch wird der Sturm des Haders gestillt, und eure Völker finden Ruhe... Sollte einer unter euch gegen einen anderen die Waffen ergreifen, so erhebt euch alle gegen ihn, denn dies ist nichts als offenbare Gerechtigkeit“ 2).

Was anderes können diese schwerwiegenden Worte bedeuten als den Hinweis, daß die Begrenzung der uneingeschränkten nationalen Souveränität als unerläßlicher erster Schritt zur Bildung des künftigen Gemeinwesens aller Nationen der Erde unumgänglich geworden ist? Ein Welt-Überstaat, an den alle Nationen der Erde willig den Anspruch, Krieg zu führen, gewisse Rechte der Erhebung von Steuern und alle Rechte auf [Seite 1104] Kriegsrüstungen außer zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung in ihren Gebieten abtreten — ein solcher Staat muß notwendigerweise in irgendeiner Form entwickelt werden. Sein Organisationsrahmen wird eine internationale Exekutive einschließen müssen, die jedem widerspenstigen Mitglied der Gemeinschaft ihre unumschränkte und unantastbare Autorität aufzwingen kann; ein Weltparlament, dessen Mitglieder durch das Volk aller Länder gewählt werden und in ihrer Amtsübernahme von den jeweiligen Regierungen bestätigt werden, sowie einen Obersten Gerichtshof, dessen Urteil bindende Gültigkeit haben wird, selbst in Fällen, in denen die Parteien ihren Streit nicht freiwillig seiner Rechtsfindung unterwerfen. Eine Weltgemeinschaft, in der alle wirtschaftlichen Schranken für immer niedergerissen werden, in der die gegenseitige Abhängigkeit von Kapital und Arbeit ausdrücklich anerkannt wird, in der das Geschrei religiösen Eifers und Streites endgültig verstummt ist, in der die Flamme des Rassenhasses ein für allemal gelöscht ist, deren einheitliches System internationalen Rechts als Ergebnis der wohlüberlegten Entscheidung der weltweit vereinigten Volksvertreter durch das sofortige, zwingende Eingreifen der vereinten Streitkräfte der Verbündeten sanktioniert wird; und schließlich: eine Weltgemeinschaft, in der der Sturm eines tollkühn-militanten Nationalismus in ein bleibendes Bewußtsein des Weltbürgertums verwandelt ist — so wahrlich sieht, in groben Zügen gezeichnet, die von Bahá’u’lláh vorausgeschaute Ordnung aus, eine Ordnung, die einmal als die edelste Frucht eines langsam heranreifenden Zeitalters betrachtet werden wird.

„Das Tabernakel der Einheit“, verkündet Bahá’u’lláh in Seiner Botschaft an die ganze Menschheit, „ist errichtet worden; betrachtet euch nicht gegenseitig als Fremde... Ihr seid alle die Früchte eines Baumes und die Blätter eines Zweiges. Die Erde ist nur ein Land und die Menschheit seine Bürgerschaft. Der Mensch rühme sich nicht dessen, daß er sein Land liebt, eher dessen, daß er seine Gattung liebt.“


Einheit in der Mannigfaltigkeit

Der belebende Sinn des weltweiten Gesetzes Bahá’u’lláhs darf keine bösen Ahnungen hervorrufen. Weit davon entfernt, auf den Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung abzuzielen, sucht es ihre Grundlage zu erweitern, ihre Einrichtungen in einer Weise umzugestalten, die mit den Bedürfnissen einer stets sich wandelnden Welt in Einklang steht. Es kann mit keiner rechtmäßigen Untertanenpflicht in Widerspruch sein, noch kann es wirkliche Treue untergraben. Seine Absicht ist weder, die Flamme einer vernünftigen Vaterlandsliebe in den Herzen der Menschen zu ersticken, noch den Grundsatz nationaler Selbständigkeit abzuschaffen, der so wesentlich ist, wenn die Übel übertriebener Zentralisation vermieden werden sollen. Es übersieht weder die Verschiedenheiten der völkischen Herkunft, des Klimas, der Geschichte, Sprache und Überlieferung, des Denkens und der Gewohnheit, die die Völker und Länder der Welt unterschiedlich gestalten, noch versucht es, sie auszumerzen. Es ruft nach größerer Treue, stärkerem Bemühen als irgend ein anderes, das je die Menschenwelt beseelt hat. Es besteht auf der Unterordnung nationaler Regungen und Belange unter die zwingenden Ansprüche einer geeinten [Seite 1105] Welt. Es verwirft einerseits die übersteigerte Zentralisation und entsagt zum andern allen Versuchen der Gleichmacherei. Seine Losung ist Einheit in der Mannigfaltigkeit, wie ‘Abdu’l-Bahá selbst erklärte:

„Betrachtet die Blumen eines Gartens. Obwohl sie nach Art, Farbe, Form und Gestalt verschieden sind, werden sie doch vom Wasser einer Quelle erfrischt, vom selben Windhauch belebt und von den Strahlen einer Sonne gestärkt, und so erhöht die Verschiedenheit ihren Reiz und steigert ihre Schönheit. Wie unerfreulich wäre es für das Auge, wenn alle Blumen und Pflanzen, Blätter und Blüten, Früchte, Zweige und Bäume jenes Gartens die gleiche Form und Farbe hätten! Verschiedenheit in Farbe, Form und Gestalt bereichert und verschönert den Garten und erhöht dessen Ausdruck. Werden verschiedene Schattierungen von Gedanken, Temperamenten und Charakteren unter der Macht und dem Einfluß einer zentralen Kraftquelle zusammengeführt, so wird in gleicher Weise die Schönheit und der Glanz menschlicher Vollkommenheit offenbar und sichtbar werden. Nichts als die himmlische Macht des Wortes Gottes, die die Wirklichkeit aller Dinge beherrscht und übersteigt, ist fähig, die auseinandergehenden Gedanken, Gefühle, Ideen und Überzeugungen der Menschenkinder in Einklang zu bringen.“

Der Ruf Bahá’u’lláhs ist in erster Linie gegen jede Art von Provinzialismus, jede Engstirnigkeit, jedes Vorurteil gerichtet. Wenn lang gehegte Ideale, wenn vom Zeitgeist umschmeichelte Einrichtungen, wenn gesellschaftliche Stereotypen und religiöse Formeln das Wohl der Gesamtheit aller Menschen nicht mehr fördern, wenn sie den Bedürfnissen einer sich ständig entwickelnden Menschheit nicht länger gerecht werden, dann fegt sie hinweg und verbannt sie in die Rumpelkammer veralteter und vergessener Doktrinen! Warum sollten sie in einer Welt, die dem unbeugsamen Gesetz des Wandels und des Verfalls unterliegt, von der Entartung verschont bleiben, die alle menschlichen Einrichtungen zwangsläufig ereilt? Rechtsnormen, politische und wirtschaftliche Theorien sind nur dazu da, die Interessen der Menschheit als Ganzes zu schützen; nicht aber ist die Menschheit dazu da, für die unversehrte Aufrechterhaltung eines bestimmten Gesetzes oder Lehrsatzes gekreuzigt zu werden.


Das Prinzip der Einheit

Hier darf sich kein Denkfehler einschleichen! Der Grundsatz der Einheit der Menschheit — der Angelpunkt, um den alle Lehren Bahá’u’lláhs kreisen — ist kein bloßer Ausdruck unkundiger Gefühlsseligkeit oder unklarer frommer Hoffnung. Sein Ruf ist nicht gleichbedeutend mit einer bloßen Wiedererweckung des Geistes der Brüderlichkeit und des guten Willens unter den Menschen, noch geht es Ihm nur um die Förderung harmonischer Zusammenarbeit zwischen einzelnen Völkern und Ländern. Seine Folgerungen gehen tiefer, Sein Anspruch ist höher als alles, was den früheren Propheten zu äußern erlaubt war. Seine Botschaft gilt nicht nur dem einzelnen, sondern befaßt sich in erster Linie mit der Natur jener notwendigen Beziehungen, die alle Staaten und Nationen als Glieder einer menschlichen Familie verbinden müssen. Der Grundsatz der Einheit stellt nicht nur die Verkündigung eines Ideals dar, sondern ist unzertrennlich mit einer Institution verbunden, die seine Wahrheit verkörpert, seine Gültigkeit bekundet und seinen Einfluß dauernd zur Geltung bringt. [Seite 1106] Er verlangt eine organische, strukturelle Veränderung der heutigen Gesellschaft, eine Veränderung, wie sie die Welt noch nicht erlebt hat. Er stellt eine Herausforderung, kühn und weltumfassend, für die nationalen Glaubensparolen dar, deren Zeit vorüber ist und die im normalen Verlauf der Ereignisse, wie die Vorsehung sie formt und fügt, einem neuen Evangelium Platz machen müssen, das grundlegend anders und unendlich höherwertig ist als das, was die Welt bis jetzt begriffen hat. Er fordert nichts Geringeres als den Wiederaufbau und die Entmilitarisierung der ganzen zivilisierten Welt, einer Welt, die in allen Grundfragen des Lebens, in ihrem politischen Mechanismus, ihren geistigen Bestrebungen, in Handel und Finanzwesen, Schrift und Sprache organisch zusammengewachsen und doch in den nationalen Eigentümlichkeiten ihrer verbündeten Staatenglieder von einer unendlichen Mannigfaltigkeit ist. Er stellt die Vollendung der menschlichen Entwicklung dar, einer Entwicklung, die ihren Uranfang in der Geburt des Familienlebens hat, deren weitere Entfaltung zur Stammeseinheit und zur Bildung des Stadtstaates führte, und die sich später zur Bildung unabhängiger, souveräner Nationen erweiterte.

Das Prinzip der Einheit der Menschheit, wie Bahá’u’lláh es verkündet, bringt nicht mehr und nicht weniger als die heilige Versicherung mit sich, daß der Durchbruch zu dieser letzten Stufe einer unendlich langen Entwicklung nicht nur notwendig, sondern unumgänglich ist, daß sich seine Verwirklichung rasch nähert und daß nichts außer einer Kraft, die aus Gott geboren ist, ihn erfolgreich herbeiführen kann.

Seine ersten Kundgebungen findet dieser von Gott empfangene Plan in dem bewußten Bemühen und den bescheidenen praktischen Erfolgen der erklärten Anhänger Bahá’u’lláhs, die, der Erhabenheit ihrer Berufung eingedenk und in die veredelnden Grundsätze Seiner Gemeinschaftsordnung eingeweiht, voranstreben, das Reich Gottes auf Erden zu errichten. Mittelbar drückt sich dieser Plan in der allmählichen Verbreitung des Geistes der Weltsolidarität aus, der spontan aus dem Wirrwarr einer ungeordneten Gesellschaft aufsteigt.

Es wäre anregend, das geschichtliche Wachstum und die Entfaltung dieses erhabenen Gottesplanes, der in steigendem Maße die Aufmerksamkeit der für das Schicksal von Völkern und Nationen Verantwortlichen auf sich ziehen muß, zu verfolgen. Den Staaten und Fürstentümern, die aus den Wirren der großen napoleonischen Umwälzung ans Licht traten und deren Hauptziel es war, ihre Rechte auf selbstbestimmte Existenz wiederzugewinnen oder aber ihre nationale Einheit zu erlangen, schien ein Plan der Weltsolidarität nicht nur ferne Phantasie, sondern schlechthin unbegreiflich. Erst als die Kräfte des Nationalismus die Grundlagen der Heiligen Allianz, die ihre aufkommende Macht zu zügeln suchte, umgestoßen hatten, wurde die Möglichkeit einer Weltordnung, die in ihrer Reichweite die politischen Einrichtungen dieser Nationen überragt, ernsthaft erwogen. Erst nach dem Weltkrieg begannen diese Vertreter eines hochmütigen Nationalismus damit, eine solche Weltordnung als Gegenstand einer verderblichen Lehre zu betrachten, die nur darauf abzielt, die Loyalität, von der ihr nationales Leben abhängt, zu untergraben. Mit demselben Nachdruck, mit dem die Mitglieder der Heiligen Allianz den aufkommenden Nationalismus in den vom napoleonischen Joch befreiten Völkern zu ersticken suchten, kämpften und kämpfen diese Verfechter [Seite 1107] einer unumschränkten nationalen Souveränität, um Grundsätze unglaubwürdig zu machen, von denen ihre eigene Rettung letztlich abhängen muß.

Die hitzige Opposition, die dem mißlungenen Versuch des Genfer Protokolls 3) entgegenprallte, der Spott, mit dem man den nachfolgenden Vorschlag der Vereinigten Staaten von Europa überschüttete, und der Fehlschlag des Rahmenplanes für eine europäische Wirtschaftsunion können als Rückschläge in den Bemühungen betrachtet werden, die eine Handvoll weitsichtiger Menschen ernsthaft unternimmt, um diesem edlen Ideal näher zu kommen. Und doch: Haben wir nicht das Recht, neuen Mut zu schöpfen, wenn wir feststellen, daß bereits die Diskussion solcher Vorschläge ein Beweis für ihr ständiges Wachstum in den Gedanken und Herzen der Menschen ist? Können wir nicht in den organisierten Versuchen, einen so erhabenen Plan zu verunglimpfen, auf einer breiteren Ebene die Wiederholung jener aufwühlenden Kämpfe und hitzigen Kontroversen sehen, die der Geburt der geschlossenen Nationalstaaten des Westens vorangingen und zu ihrem Wiederaufbau beitrugen?


Die Föderation der Menschheit

Nehmen wir nun ein Beispiel: Wie überzeugt klangen die Erklärungen, die in den Tagen vor der Vereinigung der Staaten des nordamerikanischen Kontinents über die unüberwindlichen Schranken auf dem Weg zu diesem Zusammenschluß abgegeben wurden! Hat man nicht ausführlich und nachdrücklich dargelegt, die widersprüchlichen Interessen, das gegenseitige Mißtrauen, die Unterschiede in Amtsführung und Brauchtum zwischen den Staaten seien so stark, daß keine geistliche oder weltliche Macht jemals hoffen dürfe, sie zu harmonisieren oder zu beherrschen? Und doch, wie verschieden waren die vor 150 Jahren (um 1780) herrschenden Bedingungen von denen, die für die heutige Gesellschaft bezeichnend sind! Ohne Übertreibung kann man sagen, daß das Fehlen jener Erleichterungen, die der neueste wissenschaftliche Fortschritt der heutigen Menschheit dienstbar machte, das Problem, die amerikanischen Staaten zu einem Bund zu verschweißen, weit komplizierter machte als es die Aufgabe ist, der eine gespaltene Menschheit bei ihrem Bemühen um Welteinheit gegenübersteht.

Wer weiß andererseits, ob nicht für die Verwirklichung eines so erhabenen Planes noch schlimmere Leiden über die Menschheit kommen müssen als alle, die sie bis jetzt ausgestanden hat? Konnte etwas Geringeres als das Feuer eines Bürgerkrieges mit all seiner Gewalttätigkeit und seinen Wechselfällen — ein Krieg, der die große amerikanische Republik fast gespalten hätte — die Staaten nicht nur zu einem Bund unabhängiger Einheiten, sondern zu einer Nation verschmelzen, trotz all der völkischen Unterschiede, die ihre Bestandteile charakterisieren? Daß eine so grundlegende Umwälzung mit einem so weitreichenden Wandel in der Gesellschaftsstruktur auf dem gewöhnlichen Weg der Diplomatie und der Erziehung erreicht werden kann, scheint höchst unwahrscheinlich. Wir brauchen nur die blutgetränkte Menschheitsgeschichte zu betrachten, um festzustellen, daß allein die heftigste geistige und körperliche Pein imstande war, derart epochemachende Wandlungen, wie sie die wichtigsten Wahrzeichen der Kulturentwicklung bilden, rasch herbeizuführen.

[Seite 1108] So groß und weitreichend jene früheren Veränderungen auch gewesen sind — in ihrer richtigen Perspektive betrachtet, können sie doch nur als zweitrangige Anpassungsvorgänge erscheinen, als Vorspiel für die Wandlung von einer noch nie dagewesenen Majestät und Reichweite, die die Menschheit in unserem Zeitalter erdulden muß. Daß nur die Kräfte einer Weltkatastrophe eine derart neue Phase menschlichen Denkens vorantreiben können, wird leider immer deutlicher. Daß nichts Geringeres als das Feuer eines harten Gottesgerichts, heftiger als je zuvor, die uneinigen Elemente der heutigen Zivilisation zu sich ergänzenden Bestandteilen des künftigen Weltgemeinwesens verschweißen und verschmelzen kann, ist eine Wahrheit, die künftige Ereignisse immer mehr beweisen werden.

Die prophetische Stimme Bahá’u’lláhs warnte in den abschließenden Sprüchen der Verborgenen Worte „die Völker der Welt“, daß „unerwartete Trübsal sie verfolgt und schmerzhafte Vergeltung ihrer harrt“ (P 63). Dies wirft in der Tat ein gespenstisches Licht auf die unmittelbaren Geschicke einer traurigen Menschheit. Nur eine Feuerprobe, aus der diese Menschheit geläutert und vorbereitet wiederersteht, kann ihr ein Gefühl für die Verantwortung einbrennen, welche die Führer eines neugeborenen Zeitalters auf ihre Schultern nehmen müssen.

Zum wiederholten Male möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf jene bedeutenden Worte Bahá’u’lláhs lenken, die ich bereits angeführt habe: „Und wenn die festgesetzte Stunde kommt, wird plötzlich erscheinen, was der Menschheit Glieder zittern macht.“

Hat nicht ‘Abdu’l-Bahá selbst in unzweideutiger Sprache versichert, daß „ein zweiter Krieg, grimmiger als der letzte, sicherlich ausbrechen wird“? Von der Vollendung dieses kolossalen, dieses unsagbar ruhmreichen Unternehmens — eines Unternehmens, das die Erfindergabe römischer Staatskunst in Verwirrung stürzte, vor dem die verzweifelten Kraftakte eines Napoleon versagten — wird die endgültige Verwirklichung jenes Tausendjährigen Reiches abhängen, von dem die Dichter aller Zeiten sangen und die Seher seit alters träumten. Von dieser Vollendung wird es abhängen, daß die Verheißungen der alten Propheten sich erfüllen, wonach die Schwerter zu Pflugscharen geschmiedet werden und der Löwe und das Lamm beisammen ruhen. Allein diese Vollendung kann zum Reich des Himmlischen Vaters führen, wie es der Glaube Jesu Christi verheißen hat. Allein diese Vollendung kann das Fundament für die neue Weltordnung, wie sie Bahá’u’lláh vor Augen stand, legen — eine Weltordnung, die, wenn auch nur schwach, auf Erden den unbeschreiblichen Strahlenglanz des Reiches ‘Abhá widerspiegeln wird.

Ein weiteres Wort zum Beschluß: Die Verkündigung der Einheit der Menschheit — der Eckstein der allumfassenden Herrschaft Bahá’u’lláhs — kann unter keinen Umständen mit solchen Verlautbarungen frommer Hoffnung verglichen werden, wie sie früher geäußert wurden. Bahá’u’lláh hat nicht nur einen Ruf erschallen lassen, allein und ohne Hilfe im Angesicht des hartnäckigen, vereinten Widerstandes zweier der mächtigsten orientalischen Herrscher Seiner Zeit, während Er selbst ein Verbannter und Gefangener in ihren Händen war. Sein Ruf enthält zugleich eine Warnung und ein Versprechen: eine Warnung, daß in ihm selbst das einzige Mittel zum Heil einer grausam leidenden Welt liegt, und ein Versprechen, daß die Verwirklichung dieses Heils nahe bevorsteht.

[Seite 1109] Verkündet zu einer Zeit, als man seine Möglichkeit noch in keinem Teil der Erde ernstlich ins Auge faßte, wird dieser Ruf kraft der himmlischen Macht des Geistes Bahá’u’lláhs heute von einer wachsenden Zahl denkender Menschen nicht nur als eine sich anbahnende Möglichkeit betrachtet, sondern als das notwendige Ergebnis der Kräfte, die in unserer Welt am Werke sind.

Sicherlich hat es diese Welt — durch den erstaunlichen Fortschritt im Reich der Physik sowie durch die weltweite Ausdehnung von Handel und Industrie zusammengeschrumpft und in einen eng verflochtenen Organismus verwandelt, unter dem lastenden Druck der weltwirtschaftlichen Mächte und inmitten der Fallgruben einer materialistischen Zivilisation — bitter nötig, daß ihr die Wahrheit, die allen Offenbarungen der Vergangenheit zugrunde liegt, neu dargereicht wird, und zwar in einer Sprache, die ihren wesentlichen Bedürfnissen entspricht. Und welche Stimme außer Bahá’u’lláh, dem Sprachrohr Gottes für dieses Zeitalter, ist imstande, eine Veränderung der Gesellschaft herbeizuführen, so radikal wie die Veränderung, die Er bereits in den Herzen jener Männer und Frauen bewirkte, die aus ihrer scheinbaren Verschiedenartigkeit und Unversöhnlichkeit zur Körperschaft Seiner erklärten Anhänger auf der ganzen Erde zusammengewachsen sind?

Daß eine so mächtige Vorstellungswelt im menschlichen Denken rasch ausschlagen wird, daß sich Stimmen zu ihrer Unterstützung erheben werden, daß ihre wesentlichen Strukturen im Bewußtsein der Machthaber rasch kristallisieren müssen, kann in der Tat kaum jemand bezweifeln. Daß ihre bescheidenen Anfänge in der weltweiten Gemeinschaftsordnung, die das Wesen der Anhängerschaft Bahá’u’lláhs ausmacht, bereits Gestalt annehmen, können nur jene, deren Herzen vom Vorurteil vergiftet sind, übersehen.

Uns, geliebte Mitarbeiter, fällt die alles andere überragende Pflicht zu, mit klarer Schau und unablässigem Eifer weiter zur Vollendung jenes Bauwerks beizutragen, dessen Grundmauern Bahá’u’lláh in unsere Herzen legte. Uns obliegt es, gesteigerte Hoffnung und Kraft aus dem allgemeinen Trend der Ereignisse abzuleiten, wie dunkel ihre unmittelbaren Auswirkungen auch sein mögen, und mit unverminderter Inbrunst zu beten, Er möge die Verwirklichung jener wunderbaren Vision beschleunigen, jener strahlendsten Ausgießung Seines Geistes, jener edelsten Frucht der edelsten Kulturleistung, die die Welt je gesehen hat.

Könnte nicht der hundertste Jahrestag der Erklärung Bahá’u’lláhs (1863) den feierlichen Beginn eines so gewaltigen Zeitalters in der Menschheitsgeschichte kennzeichnen?

Ihr wahrer Bruder
Shoghi

Haifa, Palästina

28. November 1931


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aus Shoghi Effendi, „The World Order of Bahá’u’lláh“, Wilmette/Ill. 1955, S. 29 ff.
1) vgl. „BAHA’I-BRIEFE“ 5, S. 112 f.
2) vgl. „Die Verkündigung Bahá’u’lláhs“, Frankfurt/Main 1967, S. 79 und S. 35 f.; „Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs“. CXX; Shoghi Effendi, „Der verheißene Tag ist gekommen“, Frankfurt/Main 1967, S. 53.
3) Genfer Protokoll über die Ächtung des Angriffskrieges, 1924.


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Die Menschheitsidee und der jüdische Auftrag[Bearbeiten]

Vor Gott besteht Zion längst / von Karl Schück

Wohin sich der Blick in dieser umbruchreichen Zeit wendet, nach Osten oder Westen, muß er der alarmierenden Anzeichen tiefgreifender Krisen ansichtig werden. Die herübergeretteten Begriffe und Vorstellungen von einst sakrosankten Werten wie Ehre, Menschlichkeit und Glaubenstreue scheinen sinnentleert zu sein. Aus Stolz, Verzweiflung oder Ausweglosigkeit geboren, geht das Gespenst des Atheismus um, ohne seinen Zwilling, den Materialismus, zu verleugnen. Bemißt man in dieser tristen Schau den Stand der Kulturen und bleibt dabei der Auffassung treu, daß sie ihren Ursprung dem Geist wahrer Religion verdanken, so drängt sich der Schluß auf, daß allen künstlichen Belebungsversuchen zum Trotz die Religionen erstarrte Gebilde sind und der Menschheit die innere Kraft nicht mehr zu geben vermögen, ohne die sie zum Siechtum verurteilt scheint.

Ein geheimnisvolles Schicksal hat die jüdische Religion durch die Jahrtausende geführt. Die von Moses auf dem Berge Sinai empfangene Gottesoffenbarung hat nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt, und es ist bezeichnend, daß sie von späteren Manifestationen, Christus und Mohammed, in ihrer göttlichen Heiligkeit bestätigt und in die eigenen Lehren aufgenommen worden ist, wie sich auch Bahá’u’lláh, der Stifter des Bahá’í-Glaubens, zu ihrem göttlichen Ursprung bekennt.

Was diese Religion vor allen anderen kennzeichnet, ist, daß sie zugleich der Name für ein Volk ist. Wo wäre das irgendwann und — wo nochmals anzutreffen?

Der Gott, der vor über viertausend Jahren die der Barbarei und Vielgötterei ergebenen Wüstenstämme einte und mit einem einzigartigen Auftrag bedachte, war den damaligen Menschen keine abstrakte Wesenheit. Hatte Er sich nicht im brennenden Dornbusch manifestiert, Moses nicht eine mit den zehn Geboten beschriftete Tafel gegeben und mit Donnerstimme menschliche Worte geäußert?

„Ihr sollt sein ein Volk von Königen und Priestern!“, lautete der Befehl, den zu späterer Zeit zorngeladene Propheten dem laugläubigen Volke zuriefen.

Von Anfang seiner Geschichte an ist alles auf Zukunftsvision und deren Verwirklichung durch Erfüllung des göttlichen Auftrags gerichtet. Von deren einstmaliger Herrlichkeit kündet Ezechiel (47, 8), indem er von einem großen Strome spricht, der vom Tempel ausgehen werde: „Dieses Wasser fließt hinaus in den östlichen Landstrich, strömt dann hinab in die Steppe und ergießt sich ins Meer und die salzige Flut, und die Flut wird gesund, und an diesem Fluß, auf seinen beiden Ufern, werden allerlei Bäume mit eßbaren Früchten wachsen, ihre Blätter werden nicht verwelken, und ihre Früchte werden nicht alle werden. Ihre Früchte werden als Speise dienen und ihre Blätter als Heilmittel...“

Gewiß, dies Endziel ist in Gott; es ist die Wiederherstellung des Paradieses und damit Vollendung des ursprünglichen Schöpfungsplanes selbst. [Seite 1111] Die Vision schließt mit der Gegenwart Gottes bei seinem Volke und — so heißt es bei Ezechiel am Schluß — „fortan soll der Name der Stadt sein: der Herr allhier“. Die Stadt, von der hier gesprochen wird, ist keine andere als „das Wort Gottes“, wie Bahá’u’lláh sie bezeichnet. Bei Sacharja (14) ist zu lesen: „Gottes Thron ist Jerusalem. Alle Völker werden zu Zion kommen, und der Herr wird König sein über die ganze Erde.“ Es ist die Vision von der Roten Arche, die auf den Berg Karmel, den Mittelpunkt der Erde, hinstrebt, wie Bahá’u’lláh offenbarte.

Dann ruft Joel aus: „Die Völker werden im Tal der Entscheidung versammelt werden. Gottes gerechte Regierung wird sich unwidersprochen über die ganze Welt erstrecken...“ Die Bahá’í-Offenbarung ist die erste, welche die erhabenen Verheißungen in klare, unmißverständliche und realistische Bahnen führt, auf denen sich die Welt des Menschen zur Verwirklichung der hohen Vision hinbewegen kann.

Wie es sich in den Augen des frommen Juden darstellt, ist es Israels Aufgabe, diese göttliche Einladung an die ganze Welt weiterzugeben und sie durch stellvertretendes Leiden zur Anerkennung des einen Gottes und Seiner Herrschaft zu führen. „Ich will einen ewigen Bund mit euch schließen“, heißt es bei Jesaja, „getreu der dem David verheißenen Gnade“. Und an anderer Stelle sagt er: „Da Ich sehe ihre Werke und ihre Gedanken, komme Ich, um alle Völker und alle Zungen zu vereinigen: Sie werden kommen und Meinen Ruhm sehen, und Ich werde ihnen Mein Zeichen vorsetzen.“

Die Erfüllung, von der hier die Rede ist, findet ihre Realität nicht in einer jenseitigen Welt, in der es weder Dimensionen noch Vorstellbares gibt, die Materie nicht existiert, und nur Geist zu Geist, Seele zu Seele spricht. Hier wird die Erde unmißverständlich zum Ziel erhoben. Es ist kein Messiaswesen, das aus der anderen Welt herniederkommt, sondern vielmehr die aus der Tiefe aufsteigende Forderung und Gewißheit dessen, was jeder Mensch, jede Zeit beginnen soll, damit sich das Leben wahrhaft erfülle. Das Reich Gottes ist also die Welt des Menschen, wie sie vor Gott sein soll. Nicht ein Reich über der Welt oder gegen sie oder neben ihr. Es ist die Antwort, die das Ziel gibt: die Versöhnung des Endlichen mit dem Unendlichen, die sich im Menschen begegnen. Und dieses Endziel ist zugleich der sozial vollkommene Staat, ist da, wo, wie es heißt, „der Wolf zu Gast sein wird bei dem Lamme, und der Panther bei dem Böcklein lagern...“, die Welt, in der die Schwerter längst in Pflugscharen umgeschmiedet worden sind.

Daß dies sein soll, weil es sein muß, ist Gottes Weisung. Es ist im Bündnisvertrag eingeschlossen. Und um dieser Erfüllung willen muß der Jude mit dem Traumbild des Tempels in der Seele leben, muß er dienen und notfalls leiden. „Würden die Juden, welche die göttliche Sendung und Stellung von Christus nicht erkannten“, sagte Shoghi Effendi einmal im Gespräch, „würden sie jetzt die Erfüllung und Bewahrheitung in Bahá’u’lláh begreifen und sich zu Ihm bekennen, brauchten sie den Weg nach Zion und zum neuen Tempel nicht mehr zu suchen.“

Nun ist für die meisten Menschen — man darf sagen: außer den Bahá’í — diese überdimensionale Endziel-Vision eben nur eine, wenn [Seite 1112] auch verklärtere Schau von der Art, wie sie im Laufe der Jahrtausende immer wieder aufgezeichnet und von einem Plato, Dante, Thomas Moore u. a. beschrieben worden ist. Ein schöner Traum, heißt es dann, und mit einem Seufzen und Achselzucken fügt man hinzu: unerfüllbar. Auf die Frage nach dem Grund solcher Resignation würde es dann heißen, ein unvollkommenes Geschöpf könne nie ein Vollkommenes schaffen, nur ein Gott könnte derlei vollbringen, und schließlich wäre ja der Mensch durch den ihm seit Urzeiten anhaftenden Fluch der Erbsünde (oder des Sündenfalls) gar nicht in der Lage, die für solch erhabenes Tun notwendige Freiheit zu gewinnen oder — da der Mensch ja schlecht sei — in einem solchen Idealzustand leben und Frieden halten zu können.

Wir lesen bei ‘Abdu’l-Bahá (Beantwortete Fragen, 30. Kap.): „... Bedenke, wenn der Sündenfall in seinem buchstäblichen Sinn gedeutet würde..., so wäre dies reine Ungerechtigkeit und völlige Vorherbestimmung. Wenn Adam sündigte, indem er vom verbotenen Baume aß, was war die Sünde Abrahams, des Ruhmvollen, und was der Fehler Mose, des Sprechers mit Gott? Was war das Vergehen des Propheten Noah? Was die Übertretung Josephs, des Aufrechten? Und was war die Schuld der Propheten Gottes, oder die Missetat Johannes des Täufers? Könnte es die Gerechtigkeit Gottes zugeben, daß diese erleuchteten Offenbarer der Sünde Adams wegen qualvolle Höllenpein ertragen müßten, bis Christus kam und Sie durch Sein eigenes Opfer von den schmerzhaften Martern befreite...?“

Jahrtausende solchen Irrtums und mutwilliger Ausdeutung mußten hingehen, bis Bahá’u’lláh den Weg zu der Freiheit erschloß, ohne die keine Menschenwürde erlangbar und die Furcht in der Seele getilgt ist. Mit Hilfe solcher Ausweglosigkeit und Warnung vor Höllenpein hat man sich die Menschen zu Untertanen herangebildet, die in ihre Liebe den bitteren Tropfen des Verzichts, in ihre Hoffnung den Geschmack des Vergeblichen hineinzumischen hatten.

Wenn aber nun das jüdische Volk von Gott ausersehen wurde, Seinem erhabenen, für das ganze menschliche Geschlecht geltenden Auftrag bis zu dessen Realisierung die Treue zu bewahren, wie ließe sich das unter der Belastung eines biblischen Fluchs, in einem heimatlosen, leidgepeitschten Dasein, erfüllen? Zu dieser kaum beantwortbaren Frage drängen weitere alles menschliche Denken übersteigende Fragen hinzu: Haben die Juden so gefehlt, sind sie dermaßen abgeirrt von Gottes Auftrag, daß der zürnende Jahwe seine Heimsuchung und Strafe in Gestalt jener diabolischen Schwarzuniformierten durch Massaker und Demütigungen, durch die Vernichtung in Gaskammern vollzog? Sträubt sich nicht jedes Menschen Herz bei der Vorstellung, daß Hitlers Schergen Ausführende von Gottes Absicht gewesen wären? Dem folgt die Frage, ob all dies Entsetzliche geschehen mußte, um den Überlebenden das Ende der Diaspora zu bieten und sie ins Land der Väter, nach Palästina, zurückzuführen, jene Menschen, die so vollkommen aufgegangen waren in andren Völkern und Kulturen, daß sie es mit Entrüstung abgewiesen hätten, das Judesein an die erste Stelle zu setzen, in einer wüstenhaften Fremde ein nicht mehr wesensgemäßes Leben zu führen und sich als Volk „von Königen und Priestern“ zu fühlen. War man schon so konformistisch-modern [Seite 1113] geworden, daß man sich — oft genug mit Unbehagen — des Glaubens der Väter nur an hohen Feiertagen erinnerte und sich dann — nur dann — gewisser unentrinnbarer Pflichten entledigte? Aber der göttliche Auftrag...? Wenn er nun schon erfüllt war, da doch „fast“ alle Menschen an einen einzigen Gott glaubten, wenn sie Ihn auch bei andren Namen riefen? Wäre es vorstellbar, daß Gott ein Zeichen Seiner Befriedigung vor dem Kommen der Stunde der Erfüllung gegeben hätte? Dann wäre es ja schon erstanden, das heilige Zion, das die ganze Menschheit im dauernden Frieden umschlösse? Dann wären Haß und Hader verschwunden; dann wäre einer in Wahrheit des anderen Bruder! In der geistigen Geschichte der Menschheit, in der eines auf das andere bezogen ist, alles aufeinander wirkt und in dem von Gott bewegten Strome dem Meer der Selbsterfüllung entgegentreibt, läßt sich nicht von blinden Zufälligkeiten sprechen. Die Geburtsstunde der Emanzipation der Juden ist identisch mit deren nur zwei Jahre auseinanderliegenden Geburtsstunden des Báb und von Bahá’u’lláh. Das Feuer des Leidens, mit dem Gott Seine Diener prüft, hat die Gesegnete Schönheit, Bahá’u’lláh, nach Palästina getrieben, wo Er auf dem Berge Karmel die Heilige Arche erblickte, und wo zu späterer Zeit — von Ihm bestimmt — das Weltzentrum der die ganze Menschheit umschließenden Bahá’í-Gemeinschaft erstand, in der Mitte eines den Juden, den Christen, den Muslim heiligen Landes.

Wie könnte man vom Ende eines göttlichen Auftrages sprechen, den der Jude tief eingebrannt in seiner Seele trägt? Nicht wenige Gläubige gibt es unter ihnen, welche jener mystischen Überlieferung die Treue hielten, wonach die Rückkehr ins Land der Väter zusammenfiele mit dem Kommen des Messias.

Für eben solche Gläubige scheint ein tragisches Verhängnis gleich einer dunklen Wolke über Israel zu schweben, eben weil diese Verheißung sich nach ihrer Auffassung nicht erfüllt hat. Sie zürnen mit jenen beherzt-entschlossenen Israeli von heute, daß sie weder an die Prophetenworte glauben noch daran denken wollen, daß das Judesein eben nicht nur Volksein, sondern auch Gläubigsein bedeutet, und das heißt, in ständiger, demutvoller Bewußtheit des Auftrags zu leben.

Man erinnert sich jenes Grimm’schen Märchens, in dem ein Riese und ein Schneiderlein im Wettstreit liegen, wer der Stärkere sei. Der Riese schleudert einen Stein so hoch, daß es geraume Zeit dauert, bis er wieder auf die Erde zurückfällt; das Schneiderlein läßt einen Vogel aufsteigen, der nicht zurückfällt. Was ohne Flügel des Glaubens emporstrebt, kann die Welt nicht meistern.

Der Glaube kann und darf jedoch niemals der sein, der im Apostelbrief als der laue bezeichnet wird, der verabscheuenswert sei, „weder kalt noch warm...“ Glauben ist kein Hersagen von Worten, kein bloßes Befolgen von Riten, kein bloßes Zu-Einer-Gemeinschaft-Gehören. Da wäre kein Glaube besser, sagt Bahá’u’lláh und erklärt, daß Glauben auch entsprechendes Handeln verlangt und daß ein der Menschheit erwiesener Dienst zugleich ein Gott erwiesener Dienst sei.

Laßt uns erst die uns nunmehr anvertraute Erde von Zion umwandeln in Fruchtbarkeit und Schönheit, erklären die Israeli; laßt uns damit erst den Boden vorbereiten, welcher der Erfüllung würdig ist. Sie blicken [Seite 1114] hinauf zum Karmel-Berg und sehen den Strom von Pilgern zu den Bahá’í-Stätten ziehen. Ob wohl deren Offenbarer der Messias ist?, fragen viele.

In den Sprüchen Salomons finden wir jene tiefbedeutsame Äußerung: „Ein Volk, das nicht mehr träumt, verdorrt.“ Was für ein Volk gilt, gilt für jeden einzelnen Menschen. Es bedarf keines Hinweises, daß es sich hier nicht um jenes Träumen zur Nachtzeit handelt, sondern eine Schau, eine Vision von Dingen ist, die einmal sein sollen.

Nach einem unveränderlichen Gesetze ist alles, was einmal körperliche Wirklichkeit gewinnen und somit Selbsterfüllung erlangen soll, zunächst


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Ein Geschenk für den König
‘Abdu’l-Bahá über die Psychologie des Lehrens


Sicherlich wird es große Weisheit erfordern, diese Wahrheit der Welt vorzutragen; aber unaufhörlich werden wir darin bestärkt, daß jedem, der sich nur aus Liebe zu Gott um das Lehren bemüht, ein genügendes Maß an Weisheit vom Heiligen Geist eingegeben wird.
Der Lehrer muß so lehren, als brächte er einem König ein Geschenk dar: bescheiden und demütig, nicht mit gewaltsamer Aufdringlichkeit, nicht herrisch, das heißt auch nicht eifrig-betriebsam, sondern voll Milde und Anmut. Dem Herzen und dem Verstand des Hörers muß der Lehrer die Beweisgründe und die Wahrheit unterbreiten als der Diener Gottes und folglich als der Diener des Hörers. Ständig muß er darauf bedacht sein, die dargebotene Speise dem Zustand und der Stufe des Empfängers anzupassen; dem Säugling muß er Milch geben; demjenigen, der schon kräftiger geworden ist, Fleisch.
Nur um Gottes willen müssen Sie diese Speise reichen; nicht um des Hörers willen und nicht zu Ihrem eigenen Nutzen, sondern einzig deshalb, weil Gott wünscht, daß Seine Manifestationen erkannt und von denen geliebt werden, die Ihn erkennen.
Wer denjenigen lehrt, den er liebt, weil er ihn liebt, wird denjenigen nicht lehren, den er nicht liebt; und das ist nicht von Gott. Wenn jemand lehrt, um die verheißenen Segnungen des Lehrens für sich einzuheimsen, ist auch das nicht von Gott. Lehrt er jedoch, weil Gott wünscht, erkannt zu werden — und lehrt er nur aus diesem Grund —, dann
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[Seite 1115] potentiell, keimhaft, im Samen vorhanden. Die Philosophie spricht von der Entelechie, von dem im Ursprung eingeschlossenen Ziel, dessen Gewinnung die eigentliche Geschichte des Geschöpflichen ist. ‘Abdu’l-Bahá gibt das Beispiel einer Kastanie, in deren kleiner Frucht der zwanzig Meter hohe Kastanienbaum mit Stamm, Ästen, Blättern und neuen Früchten eingeschlossen ist. Durch Wasser, Wind und Licht wird der Same zur Entwicklung gebracht. Im Molekül eines flüssigen Chemikals ist die Proportion des Kristalles vorhanden, in den sich dies Molekül mit unzähligen anderen vereint einmal in fester Form verbindet. Das gilt für die Schönheit der Rose, die in dem kleinen Samen vorhanden ist, wie für die gewaltigen Schöpfungen von Milchstraßensystemen im unendlichen Kosmos.


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wird er Erkenntnis und Weisheit erwerben, seine Worte werden Wirkung haben; vom Heiligen Geist mit Macht ausgestattet, werden sie in den Seelen derer Wurzel schlagen, die im richtigen Zustand sind, um sie aufzunehmen. In diesem Fall liegt der Nutzen an Wachstum zu neunzig Prozent beim Lehrer, verglichen mit zehn Prozent Nutzen für den Hörer, weil der Lehrer durch die Macht Gottes zu einem fruchttragenden Baume wird.
Nachdrücklich werden wir belehrt, daß der einzig wirkliche Weg zum Wachstum in der Erkenntnis der göttlichen Wahrheit nicht das Hören, sondern das Handeln ist: lebendig sein durch das Feuer der Liebe Gottes und den anderen nach unseren besten Kräften die frohe Botschaft vom Kommen des Königreichs vermitteln. Dies ist der Tag des Lehrens. Uns allen ist geboten zu lehren, aber nur auf die geschilderte Weise und zu dem beschriebenen Zweck.
Es ist klar, daß dies völlige Selbstverleugnung bedeutet, ein Abtrennen des Ichs von der Welt, den Verzicht auf alles außer Gott und Seinen Willen, demütigen Dienst für Ihn, nur um Seinetwillen.
Es wird uns gesagt, wenn wir die Wahrheit dieser Lehren anderen darbieten und sie wird zurückgewiesen, dürfen wir keineswegs bekümmert sein, sondern müssen die anderen sich selbst überlassen und für sie beten. Alle Weisheit, die uns zu Gebote steht, müssen wir bei der Darlegung dieser Lehren einsetzen; aber keinen Augenblick dürfen wir um die Person des Hörers besorgt sein, immer nur um die Verbreitung der Wahrheit Gottes, denn heute ist es Gott selbst, der erkannt zu werden wünscht.
aus „Star of the West“, Vol. III, No. 19, 2. März 1913
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[Seite 1116] Der Mensch als Teil dieses Universums untersteht den gleichen Gesetzen. Was ihn von allen anderen Geschöpfen unterscheidet, ist seine Fähigkeit, nach Gutdünken Veränderungen vorzunehmen, die dem ihm eingegebenen „Ebenbild Gottes“ nicht entsprechen und seinem eigentlichen, d. h. geistigen Schicksal zuwiderlaufen. Was ihm aber zutiefst und ganz gegeben ist, bezeichnet man als den freien Willen, der darin besteht, den Willen Gottes durch Seine Manifestationen kennenzulernen und dann den eigenen Willen ihm zu unterwerfen, so daß nach Bahá’u’lláh freier Wille die höchste Form der Selbstunterwerfung unter Gott ist. Dieser Wille ist zugleich die Fähigkeit, sich mit den Grundharmonien des Universums, die wiederum Ausdruck des Höchsten sind, verbunden zu halten. Jede Zuwiderhandlung, jede Mißachtung dieses universellen Gesetzes führt zum Leiden und Hinsterben der Seele.

Die Geschichte des Menschen ist sein unentwegtes, gottzugewandtes Bemühen, der Verwirklichung jenes erhabenen Zion als seiner eigenen Seinserfüllung entgegenzustreben. Das Bild ist das Ebenbild Gottes im Menschen. Es ist die Realität jenes die ganze Menschheit vereinenden Tempels. Und wer von dieser Vision abweicht, wer diesen Traum unter den Scheinbesitz der materiellen Welt, unter Stolz und Gottesleugung einzuscharren trachtet, gehört zu denen, von denen Christus sagte: „Mögen die Toten die Toten begraben...“

Heute ist alles natürlich, biologisch, sozial und klinisch geworden. Es gibt keine Distanzen, keine Tiefen, keine wesentlichen Geheimnisse, keine Mysterien mehr. Maschinen übernehmen die Rolle der Macht. Die Seele erstickt oder erkrankt unter den unablässig in sie hineingepfropften Bildern. Man ist zufrieden, so zu sein und zu leben wie der nächste. Viele Menschen geraten über diesen Zustand in Verzweiflung. Wer aber nur Zustände sieht, hat vom beseelten Kosmos so wenig begriffen wie von dem Gesetze, daß alles fließt und kein anderes Absolutes existiert als die Einheit Gottes. Unter der Erde gehen die Quellen des Lebens. Unter dem scheinbar Erstarrten dieser Zeit sammeln sich die Kräfte des außerordentlichen Umbruchs, der, wenn er in die Erscheinung tritt, nur wieder hoffnungweckend bestätigt, daß Gott der Herr der Geschichte ist. Daß keine noch so geballte Willkür den Menschen freispricht von dem Gesetz: Du mußt! Daß — langsam gewiß, umwegig, von Verbrechen bedeckt — die Geschichte des Menschen die Geschichte seines sich ständig vertiefenden und erweiternden Bewußtseins ist und damit die immer stärkere Erhellung des ihm als Schicksal bestimmten Weges, des Weges zur Realität des in der Seele eingeborenen Bildes von der Seinserfüllung seiner Art.

Wir sehen doch: alles drängt aufs Menschheitliche hin. Jetzt weiß man, es ist kein bloßer Traum. Die Erde rüstet sich, Fundament des großen Tempels zu sein. Wir wissen, nicht Haß, sondern Apathie ist der Gegensatz zur Liebe. Durch Seine gnadenvolle Manifestation hat Gott die Menschen aus dieser Apathie geschüttelt.

Als nach unsäglichen Kämpfen im Mai 1948 die Unabhängigkeit des Staates Israel ausgerufen wurde, ging ein Jauchzen und Triumphieren dort umher, wo jüdische Menschen ihre Hoffnung bewahrt hatten. Das [Seite 1117] Wort des Propheten erfüllt sich. Die Wüste füllt sich mit Grün. Teils mit Argwohn und Haß, teils voll Bewunderung schaut die Welt zu jenen Pionieren hin. Durch die Länder der Erde bewegen sich missionierende Kräfte. Hier möchte man die Menschheit unter dem Zeichen von Sichel und Hammer einen, da als Demokratie zusammenbringen. Kollektivismus und Konformismus versuchen, den Unitätsgedanken durch Uniformität zu verdrängen. Und der jüdische Auftrag?

Der Prophet Jesaja verkündet (43, 21): „Dieses Volk, das Ich Mir gebildet habe, Meinen Ruhm wird es künden.“ Das bedeutet nicht weniger, als daß das Jenseitige durch dies Volk spricht und sein Ziel in der Geschichte setzt. Man sagt dem Juden nach, daß er wurzellos sei, weil er sich nur aus dem Willen Gottes begreift und das Menschliche immer und überall zum Menschheitlichen erhebt. Jesaja sagt: „Ich mache dich zu einem Bunde der Völker.“ In dem Wort „Bund“ ist kein Zustand zu sehen, sondern eine permanente Forderung und Aufgabe. Glaube ist, wie Leo Baeck sagt, kein bloßes Bekenntnis, sondern der Wille zu Gott. Er ist der Wille aus Gottes Willen zu Gottes Willen hin. Glauben ist Wissen. Er ist das höchste, umfassendste Wissen, das von allem Anfang an in die Seele des Menschen eingeboren war, als sie noch bei Gott war. Hier empfing sie den Stempel der Realität, hier wurde ihr die Potenz beigegeben, die sie zu Zeiten ihres körperlichen Daseins verwenden soll, um in der göttlichen Richtung die Aufgabe zu erfüllen.

Das jüdische Zion ist das Zion der ganzen Menschheit. Vor Gott besteht es längst.

Nichts und niemand kann sich Gottes Auftrag entziehen, der sich durch keine glatte, flinke Logik umnebeln oder als überlebt abtun läßt. Sind die Juden nicht durch Meere von Blut geschritten, ist ihr Rücken nicht krumm geworden unter den Schlägen der Peiniger, und hat dabei ihre Seele je aufgehört, sich zu ihrem Auftrag zu bekennen? Oh, sicher haben sie das Wort gehört, das ihnen Bahá’u’lláh (Ährenlese XLVII) zuruft: „Oh, ihr Juden! Wenn ihr darauf bedacht seid, Jesus, den Geist Gottes, noch einmal zu kreuzigen, so tötet Mich, denn Er ist euch in Meiner Person wieder geoffenbart worden... Ich bin in den Schatten der Wolken der Herrlichkeit gekommen und bin von Gott mit unüberwindlicher Herrschaft ausgestattet...“

Bahá’u’lláh ruft die Juden zu sich hin. Er zeigt ihnen den unmißverständlichen Weg zu Zion hin. Gott hat ihn durch Christus, dann durch Muhammad gewiesen. Die letzte Wirklichkeit ist nur eine. Der Bund der Völker ist nur einer. Gott ist nur einer. Die Zeit ist gekommen, mit dem Atem der Hingabe die Erde zu beleben und sie mit der Kraft der Anbetung zu formen, sie nach dem Bilde Gottes zu kneten und mit der Liebe zur Menschheit zu beleben. Nur so kann und wird sich der Auftrag erfüllen, gleich ob es im Namen Moses, der Propheten, von Jesus, Muhammad, Bahá’u’lláh oder Derer, die Gott in der Zukunft schicken wird, geschieht. „Ich liebte Meine Schöpfung“, heißt es in den „Verborgenen Worten“, ‚darum erschuf Ich sie.“ Die Gestaltwerdung der geeinten Menschheit als Erfüllung des Bildes geschieht durch die Kraft Gottes, aus Seiner Liebe, mit der Er die Menschheit ruft und erfüllt.


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Die Kehrseiten der Religion[Bearbeiten]

Zur Soziologie falscher Grundvorstellungen / von J. Mahmoudi


Die funktionelle Theorie der Soziologie lehrt, daß eine institutionelle Struktur gebildet worden ist, um eine Funktion zu erfüllen. Die Institution muß ein praktisches Bedürfnis der Gesellschaft befriedigen. Wenn sie keinen Sinn und keine Aufgabe hat, wird sie zu existieren aufhören.

Die Geschichte erweist, daß keine Kultur sich ohne Religion entwickelt hat. Archäologen und Anthropologen haben selbst in den primitivsten Kulturen religiöse Elemente gefunden. Da die Religion seit Anbeginn der Zeiten durch alle Epochen und Wechselfälle der Menschheitsgeschichte hindurch bestanden hat, läßt sich logisch schließen, daß sie einem Bedürfnis, einem Zweck dient und demnach eine Funktion oder sogar eine Vielzahl von Funktionen hat.

Autoritäten auf vielen Gebieten haben die Bedeutung religiöser Institutionen für die Entwicklung der Gesellschaft bestätigt. Emile Durkheim glaubt, daß die Religion Quelle aller Hochkulturen ist. Max Weber stellt in seinen Schriften fest, daß die ganze Geschichte hindurch die Religion einer der bedeutenden dynamischen Faktoren gesellschaftlicher Veränderungen war. Die Geschichtsschreibung einschließlich der Arbeiten Toynbees ist voll von Deutungen der Beziehungen zwischen Universalkirchen und Zivilisationen. Der französische Historiker Fustel de Coulanges, Verfasser von „Die alte Stadt“ (1864), glaubt, daß vor allem anderen religiöse Ideen die eigentliche Quelle gesellschaftlicher Veränderungen sind. Und der britische Gesellschaftsphilosoph Benjamin Kidd versichert, die Religion sei die Haupttriebfeder der sozialen Entwicklung. Kidd geht sogar so weit zu sagen: „Die einzige Macht, die für den Fortschritt Gewähr bietet, ist die Religion; sie ist mit übernatürlichen Rechtszwängen ausgestattet und begünstigt altruistische Tugend“ 1).

Selten nur in der Geschichte haben einzelne Denker gegen die Religion ihr Messer gewetzt. Unter den neueren finden sich Karl Marx, der erklärte, Religion sei das Opium des Volkes, und Sigmund Freud, der sie als „Illusion“ und „Kollektivneurose“ bezeichnet und mit Zwangsneurosen bei Kindern vergleicht. Im Ergebnis ihrer Ablehnung der Religion haben diese neuen Schulen materialistischen Denkens eine neue Art von „Religion“ herbeigeführt, eine säkulare Religion nämlich, sei sie nun dialektisch, empirisch oder positivistisch in der Machart. Es scheint, als seien die meisten dieser von Menschen gemachten Quasireligionen oder „Ismen“ auf sehr diesseitige, sehr unbeständige und sehr vorübergehende Bedürfnisse bestimmter Gruppen unter bestimmten Umständen abgestellt, als besäßen sie einzelne Elemente der prophetischen Religionen, während ihnen die übernatürlichen Elemente des Religiösen abgehen. Äußerlich ist Gott abgesetzt oder tot, und anscheinend gibt es kein derartiges Ding wie die menschliche Seele oder das Jenseits. Aber sie sind nahe dabei, die Begründer ihrer Denkrichtungen zu vergotten, deren Wertvorstellungen und das Werk ihrer Hände anzubeten. Somit ist alles, was sie vollbracht haben, der Ersatz der heiligen Religion Gottes durch eine säkulare Quasireligion. Soziologisch können diese säkularen Bewegungen durchaus [Seite 1119] als eine Art Religion bezeichnet werden; wir können daraus schließen, daß selbst in extrem atheistischen und materialistischen Gesellschaften die Elemente des Religiösen vorhanden sind und fortdauern.

Quasireligionen mögen einen gesellschaftlichen Zweck erfüllen, aber es fehlt ihnen das zentrale Merkmal, das die theistischen oder prophetischen Religionen in die menschlichen Gesellschaften und Kulturen hineintragen. Dieses zentrale Merkmal ist nach O’Dea die „Transzendenz“, das Hinausgreifen der Religion „über die alltägliche Erfahrung“. Talcott Parsons spricht von „transzendentalem Bezug“, von Dingen „jenseits“ des Erfahrbaren 2). Theologisch kann man dies als den Pfad oder den Weg bezeichnen, der von einer unbekannten, geheiligten Machtquelle eröffnet wird, der letzten, allmächtigen, Gebete hörenden und Gebete beantwortenden übernatürlichen Kraft, nämlich Gott.

Manche Ursachen — wenn nicht gar die Ursache schlechthin — für Spaltungen in den Kirchen, für das Gefühl des Unglaubens, für die Ablehnung des Religiösen und die Angriffe auf die Religion liegen bei dem, was man Funktionsstörungen der Religion nennt. Einige dieser Funktionsstörungen, wie sie von zahlreichen namhaften Soziologen beobachtet wurden, lassen sich wie folgt zusammenfassen 3):


1. Trotz der Tatsache, daß die Religion eines der wirksamsten Mittel für die Herbeiführung gesellschaftlicher Veränderungen ist, kann sie auch als Kraft auftreten, die gesellschaftliche Veränderungen bekämpft und behindert. Der Widerstand der Geistlichkeit verschiedener Kirchen gegen die wirtschaftliche Entwicklung gewisser Länder durch Bodenreform sowie ihre ernstgemeinten Einwände gegen die Erziehung und Emanzipation der Frau sind nur zwei von vielen Beispielen.


2. Die Religion hat viel zur Entwicklung und Erhaltung von Wissenschaften und Erkenntnissen beigetragen. Die islamischen Universitäten und ihre Übersetzungsabteilungen, die jüdischen Gelehrten, die christlichen Kirchenschulen und die Geistlichen vieler anderer Religionen standen in vorderster Reihe unter den Verfechtern der Aufklärung. Tatsächlich behauptet Parsons, „die Wissenschaft ist ganz sicher ein völlig legitimes Kind des Christentums (das jedoch nur einer der Elternteile ist)“ (S. 32). Auf der anderen Seite kann die Religion primitives Denken, pseudowissenschaftliche „Tatsachen“, begrenzte Vorstellungen und kleinbürgerliche Einstellungen religiös vergolden — Strukturen, die der Förderung und Entwicklung von Wissen als Hindernisse im Wege stehen. Zum Beispiel wurde die Auffassung, die Erde sei rund und bewege sich um die Sonne, von den Kirchengewalten, die über Galilei zu Gericht saßen, als Gotteslästerung und als „Verbrechen“ angesehen.


3. Die Religion kann eine Verhaftung an überholten und unpraktischen Normen hervorrufen, die ursprünglich unter den Verhältnissen und in dem Kulturmilieu der Zeit und des Orts ihrer Verkündigung sinnvoll und nützlich waren. Zu den Ergebnissen dieser Funktionsstörung zählen Versuche, als altmodisch empfundene religiöse Normen zu umgehen, sowie Kompromisse, die manchmal heuchlerisch und unmoralisch sind und psychische Schäden hinterlassen. Die Darlehensgewährung gegen Zinsen im mittelalterlichen Christentum und in manchen islamischen

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Ländern war eines dieser Probleme. In der Praxis konnte man Zinsen auf Geldbeträge als „Rente“ bezeichnen; weil es nicht verboten war, Renten zu verlangen und zu zahlen, konnte man es sich erlauben.


4. Die Erscheinung, die zu einem besonders schweren Problem führte, ist der Prozeß der Verstädterung. Bis vor wenigen Generationen war die große Mehrheit der Weltbevölkerung selbst in Europa und den Vereinigten Staaten bäuerlich. Dieser Zustand hat sich in manchen Teilen der Welt drastisch verändert; er wandelt sich gegenwärtig durchbruchartig in anderen Weltgegenden. Über drei Viertel der Gesamtbevölkerung der Vereinigten Staaten leben heute in Großstädten und ihren Randgebieten; Mitte des 19. Jahrhunderts war es etwa ein Viertel. Mehr oder weniger derselbe Trend kann, wenngleich in einem langsameren Tempo, in der übrigen Welt beobachtet werden.
Mit wenigen Ausnahmen sind alle bedeutenden Religionen der Vergangenheit innerhalb kleiner Volksstämme oder ländlicher Gemeinschaften entstanden. Städtische Probleme, die heute von den überkommenen religiösen Bewegungen Lösungen erheischen — wie zum Beispiel das ständige enge Zusammenleben von Menschen aus den verschiedensten Milieus mit unterschiedlichsten Systemen religiöser Werte und Normen —, haben zu der Zeit, als die religiösen Bewegungen heranwuchsen, noch nicht einmal existiert.
Das Verhaftetsein in den provinziellen Normen und Werten der religiösen Gruppen und Bekenntnisse und der Zusammenprall der trennenden Unterschiedlichkeiten verursachen weitere ernste Probleme. Gesellschaftliche Konflikte aus derartigen Situationen lassen sich leicht erkennen. Der Kampf zwischen den beiden islamischen Sekten, Schiiten und Sunniten, mit all seinem Blutvergießen und die mörderischen Szenen der Hindu-Muslim-Konflikte in Indien sind zwei von vielen historischen Beispielen.
Örtliche Trennung und Ghettos waren Lösungen in manchen Städten der alten Welt, in denen es besondere Viertel für verschiedene religiöse Gruppen gab. Eigene Enklaven und strikte Segregationen der völkischen, nationalen und rassischen Gruppen waren und sind bis zu einem gewissen Grade heute noch das vorherrschende Bild in vielen Großstädten 4).


5. Eng verwandt mit dem Problem der Trennung und der Ghettos ist die Frage der Identität und Verschiedenartigkeit. Nicht nur zwischen den Anhängern der größten Religionen — Hinduismus, Judentum, Christentum und Islam — sondern auch zwischen den Mitgliedern der zahllosen Sekten innerhalb der Weltreligionen verlaufen tiefe und breite Gräben der Verschiedenartigkeit. Das starke „Wir-sie-Gefühl“ und die feste Mauer zwischen der eigenen Gruppe und den Außenstehenden sind die Hauptursachen der Unterschiedlichkeit und des Konfliktes. Ergebnis dieser Situation, wenn sie zum Extrem zugespitzt wird, sind Religionskriege innerhalb und zwischen den großen Glaubenssystemen; unsere Geschichtsbücher sind von vorn bis hinten damit besudelt. Selbst in seiner mildesten Form führt der Zustand zu Uneinigkeit, die zum allermindesten die Menschheit daran hindert, auf erfolgreiche und kultivierte Weise zusammenzuleben.


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6. Das zweideutige Verhältnis der Religion zur persönlichen Reife des Menschen ist ein weiteres ernstes Problem. Dr. O’Dea sagt: „Oft spielt die Religion die Rolle, daß sie Unreife institutionalisiert und in ihren Anhängern die Abhängigkeit von religiösen Einrichtungen und ihren Führern anstelle der Fähigkeit entwickelt, persönliche Verantwortung und Selbstbestimmung auf sich zu nehmen“ (S. 101).
Das hervorragendste literarische Beispiel dieses Dilemmas ist die Geschichte vom Großinquisitor in Dostojewskis „Brüdern Karamasow“. Die Szene dieser Erzählung ist in das Spanien der Inquisition verlegt. Christus kehrt in Seiner ursprünglichen menschlichen Gestalt wieder, und das Volk erkennt Ihn. Er gibt dem Blinden das Augenlicht. „Die Menge weint und küßt die Erde unter Seinen Füßen.“ Eine Trauergemeinde kommt mit einem kleinen offenen Sarg; die Mutter des toten Kindes wirft sich Ihm zu Füßen: „Bist Du es, so erwecke mein Kind!“ Er spricht sanft: „Stehe auf, Mägdlein!“, und das Mädchen erhebt sich. Weiter vollbringt Er Wunder, wie Er es bei Seinem ersten Kommen tat. Der Großinquisitor geht an der Kathedrale vorüber und sieht alles, auch wie sich das tote Kind erhebt. Er befiehlt der Wache, Ihn festzunehmen. Die Wache führt Ihn ab in das Gefängnis unter dem Palast des Heiligen Tribunals. Im Dunkel der Mitternacht kommt der Großinquisitor selbst ins Gefängnis und spricht Ihn wie folgt an:












Neue, moderne Räume hat der amerikanische Bahá’í-Verlag vor kurzem in Wilmette bezogen. Unter den vielen Bahá’í-Verlagen in allen Erdteilen nimmt der US-Verlag die führende Rolle ein.


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„‚Bist Du es? Du?‘ Und da er keine Antwort erhält, fügt er schnell hinzu: ‚Antworte nicht, schweige. Was könntest Du auch sagen? Ich weiß nur zu gut, was Du sagen würdest. Aber Du hast nicht einmal das Recht, zu dem noch etwas hinzuzufügen, was von Dir schon früher gesagt worden ist. Warum also bist Du gekommen, uns zu stören? Denn Du bist gekommen, uns zu stören! Das weißt Du selbst. Aber weißt Du auch, was morgen sein wird? Ich weiß nicht, wer Du bist, und will es auch nicht wissen: Bist Du Er, oder bist Du nur Sein Ebenbild? Doch morgen noch werde ich Dich richten und Dich als den ärgsten aller Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrennen, und dasselbe Volk, das heute noch Deine Füße geküßt hat, wird morgen auf einen einzigen Wink meiner Hand zu Deinem Scheiterhaufen hinstürzen, um gierig die glühenden Kohlen zu schüren — weißt Du das? Ja, vielleicht weißt Du es‘, fügt er in Nachdenken versunken hinzu, ohne aber auch nur für eine Sekunde den durchdringenden Blick von seinem Gefangenen abzuwenden“ 5).
Der Inquisitor fährt fort. Seine Rede ist lang, aber ihr Kern ist nach O’Dea, daß „die institutionalisierte Religion der großen Menge die Gewähr für Glück und Sicherheit bietet und daß Christus kein Recht hat, wiederzukehren und diesen glücklichen Zustand zu stören... So wird bei Dostojewski emotionale Sicherheit und mit ihr Ordnung und Ruhe in der Gesellschaft um den Preis der persönlichen Unreife und der kollektiven Knechtschaft eingekauft“ (S. 102).
Dostojewski beschließt die Geschichte mit den folgenden Worten:
„Nachdem der Inquisitor verstummt ist, wartet er noch eine Zeitlang auf das, was der Gefangene ihm antworten wird. Sein Schweigen lastet schwer auf ihm. Er hatte gesehen, wie der Gefangene ihn anhörte und wie tief und still Er ihm in die Augen blickte, offenbar ohne etwas entgegnen zu wollen. Der Greis aber will, daß Er ihm etwas sage, und wäre es auch etwas Bitteres, Furchtbares. Doch siehe, Er nähert sich schweigend dem Greise und küßt ihn leise auf seine blutleeren neunzigjährigen Lippen. Das ist Seine ganze Antwort, die Antwort, die den Alten zusammenfahren macht. Und siehe, da zuckt etwas an den Mundwinkeln des großen, greisen Inquisitors: Er geht zur Tür des gewölbten Verlieses, öffnet sie und sagt zu Ihm: ‚Geh und komme nie wieder... komme überhaupt nicht mehr... niemals, niemals!‘ Und er läßt Ihn hinaus auf die dunklen, schweigenden Plätze der Stadt. Und der Gefangene geht hinaus. Und der Alte? Der Kuß brennt in seinem Herzen, doch er bleibt bei seiner früheren Idee.“


7. Das religiöse Dogma kann mit säkularen und wissenschaftlichen Hilfsmitteln und Methoden zur Lösung ernster Probleme in Konflikt geraten und sich ihnen entgegenstellen. Zum Beispiel kann es die Anwendung ärztlicher Verfahrensweisen selbst dann blockieren, wenn dadurch Menschenleben verloren gehen.
Talcott Parsons sagt: „Es ist auf diesem Gebiet schwierig, echte Bewertungsunterschiede von Verdrehungen der Wirklichkeit zu unterscheiden, aber die letzteren kommen sicherlich vor“ (S. 19). Parsons gibt folgendes Beispiel: „Ein bestimmter Falltypus wird von den Glaubenssätzen über die Gesundheit veranschaulicht, wie sie vornehmlich in

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der Christlichen Wissenschaft institutionalisiert worden sind. Es scheint wenig Zweifel zu geben, daß viel echtes Leiden und zahlreiche vorzeitige Todesfälle von Personen, deren Leben hätte gerettet werden können, durch die religiös motivierte Weigerung von Christlichen Wissenschaftern, sich die Dienste der ärztlichen Kunst zunutze zu machen, verursacht worden sind.“


8. Gebote und Lehren wie „Du sollst nicht töten“, die „Brüderlichkeit aller Menschen“ und „allumfassende Liebe“ sind der wesentliche Teil aller Religionen. Wie die Anhänger von Religionen der Brüderlichkeit Wahrheiten dieser Art zum Beispiel in den Kreuzzügen verdrehen konnten, ist eine Frage, über die man kaum lang genug nachdenken kann. Der Dreißigjährige Krieg wurde hauptsächlich im Namen und aus Gründen der Religion ausgetragen. Talcott Parsons schreibt: „...im 17. Jahrhundert wurde die Religion der Liebe zum Brennpunkt einer ganzen Reihe von Religionskriegen, die die europäische Gesellschaft fast zerstörten“ (S. 18).
Einige klassische Studien, die in den Vereinigten Staaten auf örtlicher Ebene durchgeführt wurden, weisen auf eine beunruhigende Tatsache hin. Natürlich können diese Studien hinsichtlich der Richtigkeit und Zuverlässigkeit ihres methodischen Ansatzes in Frage gestellt werden; auch lassen sie keine Verallgemeinerung auf sämtliche religiösen Gruppen allüberall zu. Trotzdem weisen diese Arbeiten darauf hin, daß „Amerikaner, die eng mit einer religiösen Gruppe verbunden sind, mehr rassische und völkische Vorurteile an den Tag legen als solche, die nicht so enge religiöse Bindungen haben“ 6).


9. Religiosität einer bestimmten Art kann eine Haltung übertriebenen Vertrauens und zu starken Verlasses auf Gebete und auf das Übernatürliche wecken, was zu Müßiggang und Mangel an praktischer Anstrengung zur Lösung alltäglicher und weltlicher Probleme führt. Extrem fatalistisches Verhalten und die Erwartung, Gott werde sich um alle Einzelheiten kümmern, sind kennzeichnend für diese Fehlhaltung.
Ein englischer Indienreisender berichtete einmal folgende Geschichte. Er hatte einen Wagen gemietet, der ihn und Mitglieder seiner Mission ins Hochland des Himalaya bringen sollte. Der Fahrer, ein frommer Mann, stand früh am Morgen auf, um alle seine täglichen Gebete und ein paar zusätzliche für die bevorstehende gefährliche Reise zu sprechen. Auch las er ein besonderes Gebet für den Wagen und blies diesen an, als wolle er ihn dadurch einsegnen. Nach all diesen Ritualen und geistigen Vorbereitungen verließen sie das Dorf. Der Wagen fuhr einige Meilen und zog durch ein paar Haarnadelkurven, dann streikte er plötzlich. Der Fahrer war so ganz in seinen geistigen Vorbereitungen aufgegangen, daß er vergessen hatte, Benzin in den Tank und Wasser in den Kühler zu füllen.


10. Die Religion, die Einheit herbeiführen und Grenzen beseitigen soll, kann Diskriminierung und Absonderung mit sich bringen. Dies gilt vor allem für die westliche Welt und die Anhänger dessen, der Seine Bergpredigt mit den Worten „Selig sind die Armen...“ (Matth. 5:3) beginnt. Die Mitgliedschaft in verschiedenen Bekenntnissen als „Statussymbol“ oder als das, was Max Lerner „Rangabzeichen der Zugehörigkeit“ nennt,

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wird in vielen soziologischen Studien nachgewiesen. Peter L. Berger folgert aus der Analyse dieses Problems: „Somit können wir mit vollem Recht von Mittelstandskirchen und Arbeiterkirchen sprechen, Ausdrücke, die bereits die Lynds in ihren Untersuchungen über Mittelstädte gebrauchen. Die unsichtbare Grenze, die Hand- und „Geistes“-Arbeit auseinanderhält — eine Grenze, die heute noch in unserem Klassensystem sehr wichtig ist — trennt die Menschen auch hinsichtlich ihrer Kirchenmitgliedschaft. Die religiöse Einrichtung spiegelt somit getreu die Klassendynamik der größeren Gesellschaft“ (S. 82 f.).


Die Pathologie des Religiösen

Manche gestörte Funktionen der geschilderten Arten waren entweder kein Teil der Religionen in ihrer ursprünglichen Gestalt, oder sie erfüllten in der Vergangenheit einen positiven Zweck. Der ausschlaggebende Faktor, der diese Funktionen störend werden ließ, sollte in der zyklischen Theorie und bei einem oder einer Gruppe der nachstehenden Daten gesucht werden:

— von Menschen gemachte und hinzugefügte Dogmen;
— zweckdienliche Faktoren, die übertrieben worden sind;
— veraltete Normen und Werte;
— Kompromisse;
— naive Fehlinterpretationen;
— bewußte Fehlinterpretationen;
— verdrehte Anpassungen;
— die Sakralisierung von Profanem oder Begrenztem.

Vom sozialpsychologischen Gesichtspunkt her sind viele Gründe für die Funktionsstörungen des Religiösen wahrscheinlich im jeweiligen Entwicklungsstand des menschlichen Bewußtseins zu finden. Die Gruppenmitgliedschaft oder das „Zugehörigkeitsgefühl“ gehören zu den höchsten Bedürfnissen und Bewußtseinselementen beim Menschen. Erich Fromm drückt dies mit dem Satz aus: „Der Mensch ist vom Ursprung her ein Herdentier“ 7) und sagt, die emotionelle Bindung an die Gruppe und deren institutionelle Werte sei ein überaus starkes Band. In Allen Wheelis’ Worten klingt das so: „Werte bestimmen Ziele, und Ziele definieren die Identität“ 8).

Gewöhnlich bestimmen der Impuls, dem Führer zu folgen und Teil der Gruppe zu sein, die Handlung des Menschen. Fromm sagt: „Das Ausmaß, in dem der Mensch sein Denken gebraucht, um irrationale Leidenschaften zu rationalisieren und die Handlungen seiner Gruppe zu rechtfertigen, zeigt uns, wie weit der Weg ist, den der Mensch noch zurücklegen muß, um Homo sapiens zu werden“.

Es muß jedoch bemerkt werden, daß der Rationalisierungsprozeß auf dieser irrationalen Grundlage keineswegs ein unwandelbarer Bestandteil der „menschlichen Natur“ ist. Er ist vielmehr ein Überbleibsel aus der primitiven menschlichen Vergangenheit, die bewältigt werden kann. Zweifellos sind Anstrengungen nötig, um die Ketten der Nachahmung und des blinden Herdentriebs zu brechen. Wie rasch dies erreicht werden kann, hängt von der Entschlossenheit des Menschen ab, wahre Freiheit zu erlangen, selbst zu denken und unabhängig die Wahrheit zu finden. Um [Seite 1125]











Tausende von Gläubigen der verschiedensten Religionsgemeinschaften nahmen in diesem Jahr an den Feiern zum Weltreligionstag in Vietnam teil. In Saigon (unser Bild zeigt die Redner) führte ein Mitglied des Obersten Gerichtshofs den Vorsitz.
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noch einmal Fromm zu zitieren: „Die Entfaltung und volle Ausbildung der Vernunft hängt vom Erlangen voller Freiheit und Unabhängigkeit ab. Bis dies so weit ist, wird der Mensch dazu neigen, das für wahr zu halten, was die Mehrheit seiner Gruppe als wahr angenommen wissen will; sein Urteil ist durch sein Bedürfnis nach Kontakt zur Herde und durch die Furcht, von ihr isoliert zu werden, bestimmt“ (S. 59).

Die Religion beansprucht, ihr Hauptanliegen sei es, den Menschen auf die Stufe zu erheben, die er einnehmen sollte. Der logische Zugang, der Weg zu einem solchen Ideal, ist, beim „Ist“-Zustand anzusetzen, den gegenwärtigen Zustand realistisch zu betrachten und von dort her aufzubauen.

Ein Hauptmerkmal des Menschen ist sein Sinn für Wertvorstellungen, seine Bindung und seine Anhänglichkeit an allgemeine Werte. Die Crux des Problems ist die verstandliche Erörterung und Beweisführung, wie gültig oder illusorisch die Werte sein mögen. Praktisch sind Werte jene Dinge, die „die Menschen schätzen und lieben, ohne auf ihre Gültigkeit Bezug zu nehmen“9). Die meisten Religionsstifter beanspruchen, daß sie veraltete Werte umwerten, ändern, verbessern, erweitern, universalisieren und vermenschlichen, daß sie neue Werte bringen und auf diese Weise die Menschheit und ihre Kultur eine Stufe vorantragen. Dies läßt sich an der folgenden Erklärung Christi verdeutlichen: „Wähnet nicht, Ich sei gekommen, das Gesetz Moses und die Lehren der Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, diese aufzuheben, sondern ihnen wahre Bedeutung zu geben“ (Matth. 5:17). Um dem Gesetz und den Lehren „wahre Bedeutung zu geben“, mußte Er sie auslegen und ändern mit den Worten: [Seite 1126] „Ihr habt gehört, daß vor alters gesagt wurde.... Ich aber sage euch...“ (Matth. 5). In gleicher Weise änderte Moses an Seinem „Tag“ die alten Werte; ebenso gingen Muhammad und Bahá’u’lláh vor. Als Parallelfall und bedeutungsvolles Beispiel sei eine der zentralen Aussagen Bahá’u’lláhs zitiert: „In früheren Zeitaltern wurde gesagt: ‚Glaube ist Liebe zum Vaterland‘. Am Tage dieser Manifestation spricht jedoch die Zunge der Größe: ‚Ruhm gebührt nicht dem, der sein Vaterland liebt; Ruhm gebührt dem, der die Gattung Mensch liebt‘. Mit diesen erhabenen Worten hat Er die Vögel der Menschenseelen einen neuen Flug gelehrt und Begrenzung und blinde Nachahmung aus dem Buche getilgt.“10).

Sehen wir diesen Prozeß aus einem anderen Blickwinkel, so können wir die Propheten als die Führer von „wertorientierten gesellschaftlichen Bewegungen“ und damit als Revolutionäre oder Rebellen ansprechen. Über Jesus sagt Parsons: „Jesus war kein Sozialrevolutionär, aber er war sicherlich ein Rebell“ (S. 26). Dies erklärt zum Teil die Behandlung, die die großen Religionsführer von ihrer zeitgenössischen Gesellschaft erfahren haben. So weit unsere Terminologie reicht, sind „gesellschaftliche Bewegung“, „Reform“ und „Rebellion“ säkulare oder soziologische Begriffe. Die Bahá’í nennen den Gesamtvorgang „fortschreitende Gottesoffenbarung“.

Aus diesen Darlegungen läßt sich schließen, daß die meisten Werte wirksam waren, bis kurz vor der Zeit, in der der letzte „Reformer“ oder „Rebell“ (nach den Begriffen der Soziologen) oder die neue „Manifestation Gottes“ (nach der Bahá’í-Terminologie) die neue Wertordnung einführte, für welche die Gesellschaft reif geworden war.

Für die Zwecke unserer Studie sollten wir unterscheiden zwischen den Begriffen „heilig“ und „säkular“ bzw. zwischen „transzendent“ und „profan“ oder, in den Worten Christi, zwischen dem, was „Gottes“, und dem, was „des Kaisers“ ist.

Unter dem Gesichtspunkt des „Heiligen“ und „Transzendenten“ stellt die Annahme einer theistischen Religion die Anerkennung eines Propheten dar, der von Gott erwählt und beauftragt worden ist. Tatsächlich glaubt man an eine der großen prophetischen Gestalten als das „Sprachrohr“ und „die Manifestation Gottes“, die der Menschheit die Worte und Gesetze Gottes übermittelt und dadurch der Welt das Heil bringt. Dies bedeutet, daß Gott zu einer Person spricht und ihr das Wort gibt, das verkündet werden soll. Das Sprechen Gottes kann wörtlich oder übertragen verstanden werden, durch einen Mittler wie den Heiligen Geist, einen Engel oder durch direkte Offenbarung. Es versteht sich demnach mit der Anerkennung eines göttlichen Propheten, daß es einen Gott gibt und daß Gott wenigstens einmal gesprochen hat. Daraus läßt sich folgern, daß die Gesetze, die Werte und die normativen Ordnungen, die ein göttlicher Prophet verkündet hat, ihrer Natur nach göttlich sind.

Auf der Grundlage dieser Feststellungen erheben sich nunmehr drei Hauptfragen:

1. Wenn Gott einmal gesprochen hat, gibt es einen Grund, warum Er nicht wiederum sprechen sollte?
2. Wenn die Worte und die Gesetze, die von einem Propheten verkündet wurden, göttlichen Ursprungs sind, wer soll dann das

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Wort Gottes ändern oder abwandeln und veraltete göttliche Gesetze modernisieren?
3. Können die Gesetze Gottes Kompromissen ausgesetzt oder von Menschen geändert werden?

Wir wollen das Problem im Rahmen der göttlichen Religionen und der Glaubensvorstellungen weiterbehandeln.

Für die Bahá’í ist Religion eine sehr reale und unentbehrliche Einrichtung, die sowohl die transzendenten Werte wie die praktische Führung für die Sicherung der Ordnung und Ruhe in der Menschheit umfaßt. Bahá’u’lláh sagt:

„Religion ist das vortrefflichste Mittel für die Ordnung der Welt und die Ruhe aller Lebewesen. Die Schwäche der Pfeiler der Religion hat die Unwissenden dreist und anmaßend gemacht. Wahrlich, Ich sage, was immer die erhabene Stellung der Religion erniedrigt, vermehrt die Widerspenstigkeit unter den Gottlosen und führt letztlich zur Anarchie“ 11).

Die Bahá’í glauben nicht nur, daß die Religion in der Vergangenheit die Grundlage der Menschwerdung war; ihrer Ansicht nach ist die Religion die Grundlage aller Kultur und die Ursache kulturellen Fortschritts. ‘Abdu’l-Bahá lehrt:

„Die größte Gottesgabe in der Menschenwelt ist die Religion; denn die göttlichen Lehren der Religion übertreffen gewißlich alle anderen Quellen der Bildung und Entwicklung des Menschen. Die Religion verleiht dem Menschen ewiges Leben und führt seinen Fuß in die Welt der Sittlichkeit. Sie öffnet die Tore immerwährender Glückseligkeit und verleiht dem Menschenreich ewige Ehre. In der Geschichte der Menschheit war die Religion Grundlage aller Kulturen und jeglichen Fortschritts“ 12).

Da alle theistischen Religionen von derselben Quelle her verkündet werden, sind sie nach dem Glauben der Bahá’í eins. Über die Religionen und ihre Gesetze sagt Bahá’u’lláh: „Diese Grundsätze und Gesetze, diese sicherbegründeten und mächtigen Systeme sind einer Quelle entsprungen und sind die Strahlen eines Lichtes. Daß sie voneinander abweichen, ist den wechselnden Erfordernissen der Zeitalter zuzuschreiben, in denen sie verkündet wurden“ 13).

Von dieser Warte her bekräftigen die Bahá’í die Einheit der Religion. Nach ihrer Überzeugung ist Religion Wahrheit und Wirklichkeit, und „Wirklichkeit läßt keine Vieldeutigkeit zu“ 14). Ihrem Inhalt nach läßt sich die Religion jedoch in zwei Teile trennen: Der eine Teil ist geistig und transzendent, das Wesentliche in jeder Religion. Dieser Teil wurde und wird nie geändert. Er ist ewig, unveränderlich und wird von jeder neuen Manifestation Gottes bekräftigt und bestätigt. Nur in seiner Bedeutung wird dieser Teil der Religion erweitert, denn die geistige Entwicklung des Menschen schreitet voran. Der zweite Teil des Religiösen besteht in zeitlichen Werten und gesellschaftlichen Normen; sie können in einer sich fortgesetzt wandelnden, dynamischen Welt nicht statisch und unverändert bleiben. Deshalb werden mit der Weiterentwicklung der Menschheit immer wieder die passenden Lehren gegeben; die alten Lehren werden geändert und modernisiert „entsprechend den Notwendigkeiten und Erfordernissen von Ort und Zeit“. Da religiöse Lehren aber göttlichen Ursprungs sind, muß auch jede Änderung an ihnen aus einer göttlichen [Seite 1128] Quelle kommen. Mit anderen Worten: Wenn man glaubt und anerkennt, daß religiöse Gesetze und Werte von Gott sind, kann das Gesetz Gottes nicht durch Menschen geändert werden; es muß von derselben Autorität, die es gesetzt hat, überprüft und geändert werden.

Die Bahá’í sind überzeugt, daß genau dies der Fall ist. Sie sehen die Propheten nicht als verschiedene Individuen und ihre Religionen als verschiedene Systeme, die miteinander in Streit und Konkurrenz liegen. Vielmehr betrachten die Bahá’í alle Propheten als die Boten und Sprecher Gottes, deren Aufgabe es ist, Einheit und Eintracht in der Menschheit zu stiften. Bahá’u’lláh sagt: „...Alle Propheten (sind) Tempel der Gottessache, doch erscheinen sie in verschiedener Tracht. Wenn du mit feinem Auge beobachtest, so wirst du sehen, daß sie alle im gleichen Heiligtum wohnen, sich zum gleichen Himmel aufschwingen, auf dem gleichen Throne sitzen, die gleiche Sprache reden und den gleichen Glauben verkünden“15). Demnach ist ihre Offenbarung dem Wesen nach identisch, aber fortschreitend, entsprechend dem Entwicklungsstand des Menschen und seiner Aufnahmefähigkeit. Das ist genau, was auch Jesus sagte: „Ich hätte euch noch viel zu sagen, aber ihr könnt es heute noch nicht tragen. Wenn aber der Geist der Wahrheit kommt, wird Er euch in alle Wahrheit leiten“ (Joh. 16:12-13).

Da sich der Mensch entwickelt und sich mit seiner Entwicklung die Verhältnisse und Bedürfnisse ändern, lösen die alten Denkansätze nicht nur die neuen Probleme nicht, sie können sogar weitere schlimme Probleme verursachen, wenn die gesellschaftlichen Lehren, die einmal nützlich und wirksam waren, unerwünschte Wirkungen hervorrufen.

Wie wir eingangs feststellten, ist es die Funktion, die die institutionellen Strukturen in der Gesellschaft am Leben erhält, und die Funktion ist die Folge der Struktur. Wenn eine institutionelle Struktur krankhafte Wirkungen hervorruft, wäre die Gesellschaft ohne sie zweifellos besser gestellt. Die Funktion einer erzieherischen Struktur ist zum Beispiel, Erkenntnis und Intelligenz zu fördern; fördert sie Unwissenheit, ist die Wirkung krankhaft. Das selbe gilt von der Institution der Regierung, die Gesetz und Sicherheit bewirken soll. Fördert sie Gesetzlosigkeit und Anarchie, ist ihre Wirkung krankhaft, und die Gesellschaft wäre ohne sie besser daran. Mit der Religion als institutioneller Struktur steht es nicht anders. Eine ihrer Hauptaufgaben ist, Einheit und Eintracht in der Menschheit zu stiften. Bahá’u’lláh sagt: „O Volk der Welt! Die Religion Gottes muß Liebe und Einheit schaffen; macht sie nicht zur Ursache der Feindschaft und Zwietracht“. Weiter warnt Er: „Macht die Sache der Ordnung nicht zu einer Sache der Unordnung und das Mittel der Einheit nicht zum Mittel der Zersetzung“ 16). Wenn sie krankhaft wirkt, bringt die Religion Leid statt Nutzen, Haß statt Liebe mit sich. In diesem Fall wäre die Menschheit ohne die Einrichtung der Religion besser daran. ‘Abdu’l-Bahá sagt: „Religion muß die Ursache der Kameradschaft und Liebe sein. Verursacht sie Entfremdung, ist sie unnütz, denn die Religion ist wie ein Heilmittel; wenn die Arznei das Leiden verschlimmert, wird sie unnötig“ 17).

Wenn sich demnach krankhafte Elemente in ein Religionssystem einschleichen, ist es an der Zeit, daß der nächste „Geist der Wahrheit“ kommt, die nächste „Manifestation Gottes“ erscheint, um die früheren [Seite 1129] Lehren neu zu bestätigen, zu ändern, zu verbessern, fortzuentwickeln und ihnen „wahre Bedeutung zu geben“. Dies war die Geschichte der Religion in der Vergangenheit, und sie wird in aller Zukunft so bleiben; es ist ein Teil dessen, was die Bahá’í unter „fortschreitender Gottesoffenbarung“ verstehen.

Shoghi Effendi, der verstorbene Hüter des Bahá’í-Glaubens, erklärt dieses Konzept mit den folgenden Worten: „Der Glaube, der mit dem Namen Bahá’u’lláhs identisch ist, verwirft jede Absicht, irgendeinen der Ihm vorangegangenen Offenbarer zu verkleinern, irgendeine Ihrer Lehren zu beschneiden, den Glanz Ihrer Offenbarungen, und sei es noch so wenig, zu verdunkeln, sie aus den Herzen Ihrer Anhänger zu verdrängen, die Grundlagen Ihrer Lehrsätze abzuschaffen, irgendeines Ihrer geoffenbarten Bücher aufzugeben oder die berechtigten Bestrebungen Ihrer Anhänger zu unterdrücken. Indem Bahá’u’lláh den Anspruch jeder Religion, die endgültige Offenbarung Gottes für den Menschen zu sein, verwirft und Endgültigkeit auch für Seine eigene Offenbarung ablehnt, betont Er nachdrücklich den Grundsatz der Relativität religiöser Wahrheit, die Fortdauer göttlicher Offenbarung und das Fortschreiten religiöser Erfahrung. Sein Ziel ist, die Grundlage aller geoffenbarten Religionen zu erweitern und die Geheimnisse ihrer Schriften zu enträtseln. Er besteht auf der vorbehaltlosen Anerkennung der Einheit ihrer Ziele, bestätigt die ewigen Wahrheiten, die sie enthalten, stimmt ihr Wirken aufeinander ab, scheidet das Wesentliche und Verbürgte vom Unwesentlichen und Unechten in ihren Lehren, trennt die von Gott gegebenen Wahrheiten von dem von Geistlichen aufgebrachten Aberglauben und verkündet auf dieser Grundlage die Möglichkeit, ja sogar die Unvermeidlichkeit ihrer Vereinigung und die Erfüllung ihrer höchsten Hoffnungen“ 18).


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aus „World Order, a Bahá’í Magazine“, Wilmette/Ill., USA, Winter 1968/69

Dr. Jalil Mahmoudi ist außerordentlicher Professor für Soziologie und Philologie an der Universität von Utah. Seine Hauptinteressen gelten der Religions-, Familien- und Sprachsoziologie. Er schrieb seine Doktorarbeit über das Thema „Soziologische Analyse der Bahá’í-Bewegung“ und ist Verfasser mehrerer Bücher.

1) Nicholas S. Timasheff, „Sociological Theory“, New York 1963, S. 91
2) Thomas F. O’Dea, „Sociology of Religion“, Englewood Cliffs/USA 1966, S. .4
3) wie 2), Kap. 6; ferner Glenn M. Vernon, „Sociology of Religion“, New York bei McGraw Hill Book Co., Kap. 6-8; Talcott Parsons, „Religious Perspectives of College Teaching in Sociology and Social Psychology“, New Haven, The Edward W. Hazen Foundation, o. J.; James S. Coleman, „Social Change and Religious Conflict“ in Lasswell, Bruma und Aronson (Hrsg.) „Life in Society“, Chicago 1965, S. 405
4) Als umfassende und gelehrte soziologische Analyse der Religion in der städtischen Gesellschaft sei das 1. Kapitel von J. Milton Yinger, „Sociology Looks at Religion“, New York 1963, empfohlen
5) F. M. Dostojewski, „Die Brüder Karamasow“, 5. Buch, 5. Kapitel
6) Peter L. Berger, „The Noise of Solemn Assemblies“, Garden City/USA 1961, S. 100
7) Erich Fromm, „Psychoanalyse und Religion“, New York 1964, S. 58
8) Allen Wheelis, „The Quest for Identity“, New York 1958, S. 174
9) Wheelis, S. 177
10) „Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs“, Frankfurt 1961, XLIII
11) Bahá’u’lláh, „Worte des Paradieses“, BAHA’I-BRIEFE 10, S. 228
12) ‘Abdu’l-Bahá, „The Promulgation of Universal Peace“, Ansprache vom 12. 10. 1912 in San Francisco, Chicago 1917/1943, S. 355
13) Ährenlese CXXXII
14) wie 12)
15) Bahá’u’lláh, „Das Buch der Gewißheit“, Frankfurt/Main 126/1969, S. 153
16) Bahá’u’lláh, „Das Buch des Bundes“, Frankfurt/Main 121/1964, S. 10 f.
17) ‘Abdu’l-Bahá, zitiert in „The Bahá’í Peace Program“, S. 11
18) Shoghi Effendi, „Der verheißene Tag ist gekommen“, Frankfurt/Main 124/1967, S. 164 f.


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Neu auf unserem Büchertisch[Bearbeiten]

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Eva Ruchpaul, „Hatha-Yoga“, Kenntnis und Technik. Erich-Hoffmann-Verlag, Heidenheim 1969, 35,— DM

Shoghi Effendi, der Hüter des Bahá’í-Glaubens, hat die Technik des Gebetes in fünf Stufen eingeteilt:

1. Bete und meditiere darüber. Lerne, in Schweigen und stiller Betrachtung für einige Momente zu verharren. Während dieser vertieften Gemeinschaft mit dem Göttlichen unternimm den nächsten Schritt:

2. Komme zu einer Entscheidung und halte dich daran;

3. Führe die Entscheidung mit Entschlossenheit durch;

4. Habe Glaube und Vertrauen, daß du von Kraft durchströmt wirst, daß sich dir der rechte Weg zeigt, die Tür sich öffnet, der richtige Gedanke, die richtige Botschaft, der richtige Leitsatz oder das richtige Buch dir gegeben wird.

5. Handle, handle, als ob alles schon beantwortet wäre. Indem du handelst, wirst du selbst ein Magnet, der mehr und mehr Kraft in dein eigenes Dasein herbeizieht, bis du ein offener Kanal wirst, durch den die göttliche Macht einströmt.

Das ist wohl die kürzeste und tiefgründigste moderne Interpretation der Gebetsverwirklichung, die man heute in der westlichen Literatur finden kann. Will man ein übriges tun, so kann man sich Gedanken über die Körperhaltung während der Gebete und Meditation machen. Wer das wünscht, dem ist in obengenanntem Buch eine weitgehende Hilfe sicher. Nicht nur zweihundert gute Fotografien erleichtern den Einblick in die Hatha-Yoga-Technik, sondern man wird ohne Zweifel wenigstens eine Haltung als diejenige erkennen, die dem Betrachter den Weg nach innen wesentlich erleichtern kann.

Modern ausgedrückt, ist der Körper in einer bestimmten Haltung wie ein elektrischer Leiter außerirdischer Energiequellen. Gebetshaltungen aller Religionen in aller Welt geben darüber Auskunft, daß Menschen in bestimmten Kulturkreisen in bestimmter Stimmung und aus bestimmtem Anlaß nach einer besonderen Ausdrucksform in ihrer Körperstellung strebten.

Daß das System des Hatha-Yoga im Westen in den letzten Jahren so hochgespielt worden ist, nimmt ihm nichts von seinem Wert. Wir haben kein westliches System, das den Vergleich aushielte, wenn man davon ausgeht, daß wir als Bahá’í an einer Vertiefung unserer Kenntnisse der möglichen Meditationshaltungen interessiert sind. Daß der Hatha-Yoga außerdem eine ausgezeichnete Körperschulung ist, soll deswegen nur am Rande erwähnt werden.

Man tut gut daran, das letzte Kapitel des Buches: „Der Westmensch und die Meditation“ zuerst zu lesen.

[Seite 1131] Das Buch ist klar und nüchtern und mit dem Wunsch geschrieben, jeden Mystizismus zur Strecke zu bringen. Die Welt wird immer kleiner durch die modernen Kommunikationsmittel, und wir Bahá’í bemühen uns, sie tolerant und ohne Vorurteil zu sehen. Wer diesen Grundsatz dem großen Gebiet des Yoga gegenüber anwendet — der Hatha-Yoga-Weg ist nur einer unter fünf Wegen — der wird es zweifellos mit Gewinn für sich persönlich und für die Verwirklichung unseres Glaubens tun.

K.-P. Sch.


George Townshend, „Christus und Bahá’u’lláh“, 2. unveränderte Auflage, Frankfurt 126/1970, 127 Seiten, kart. DM 3.50

Die einfühlsame und liebevolle Hinführung des christlichen Denkens zu Bahá’u’lláh, der Wiederkunft Christi und aller Religionsstifter der Vergangenheit, liegt in zweiter, unveränderter Auflage vor. Neu ist der Umschlag gestaltet worden; neu ist auch der Preis, der unter demjenigen vergleichbarer Taschenbücher liegt. Damit eignet sich das Buch vorzüglich zu einem kleinen Geschenk, mit dem man sich die Freundschaft aufgeschlossener, suchender Menschen erwirbt und erhält.

Abgesehen von dem „Brief an den Sohn des Wolfes“, mit dem Bahá’u’lláh einem Seiner schlimmsten Feinde und durch diesen hindurch der ganzen Menschheit den Wesensgehalt Seiner Sendung zu verdeutlichen sucht, gibt es wenige Bücher, die so klar und eindeutig, so geduldig wie dieses Buch Beweis auf Beweis zur selbständigen Prüfung vor dem Leser ausbreiten. Als Theologe und ehemals hoher anglikanischer Geistlicher hat Townshend den großen Anspruch Bahá’u’lláhs, der Weg, die Wahrheit und das Leben für einen neuen Abschnitt der menschlichen Entwicklung zu sein und das Reich Gottes auf Erden zu verwirklichen, vom Kern der religiösen Lebens- und Geschichtsfragen her erfaßt. Er hat verstanden und bewiesen, daß er dieses Verständnis weitergeben kann. Jeder hat die Freiheit, mit Townshends Wegbegleitung oder noch selbständiger das neue Wort Gottes zu hören oder sich abzukehren. Dies ist das Gericht, dem letztlich keiner ausweichen kann. Wer sich drückt oder falsch entscheidet, schadet in erster Linie sich selbst.

„O Christen!“ schließt Townshend sein Buch, „Um euretwillen und eurer Kirche willen, um der Menschheit willen und dem Reich Gottes zuliebe, werft eure widerstreitenden Dogmen und Auslegungen von euch, denn sie haben so viel Uneinigkeit verursacht und haben uns an den Rand der Selbstvernichtung geführt. Erkennt das Zeitalter der Wahrheit! Erkennt Christus in der Macht und Herrlichkeit des Vaters, und verschreibt euch mit Herz und Seele Seiner Sache!“

P.M.


Bahá’í-Pop-Einführung für die Jugend

Großformat DIN A 3 und moderne grafische Aufmachung zeichnen die neue Einführungsschrift im Umfang von 12 Seiten aus, die der Nationale Geistige Rat der Bahá’í der Schweiz gestalten ließ. Wirr wirbeln auf der Titelseite die großen Fragen der Zeit in den Köpfen der beiden abgebildeten [Seite 1132] jungen Leute herum: „Revolution, Ja oder Nein? Warum Rassenhaß? Ist die Kirche überholt? Wo bleibt die Gerechtigkeit?“ Die folgenden Seiten kreisen diese Fragen ein und leiten über zu den Problemlösungen der Bahá’í-Religion, wobei das Neue an der Offenbarung Gottes für unsere Zeit im Vordergrund steht. Die Ziele werden nicht als Utopien dargestellt; vielmehr steht die Frage „Wie soll die neue Welt zustandekommen?“ im Vordergrund der Gedankenführung. Kritisch mag angemerkt werden, daß dabei die persönliche Wandlung des Menschen, über den „Aufruf zur Suche nach Wahrheit“ hinaus, etwas stärker zur Ergänzung des aufklärerischen Rufes nach neuen, umfassenden Ordnungsvorstellungen hätte herangeholt werden können. Ausführliche Zitate aus ‘Abdu’l-Bahás „Ansprachen in Paris“ (1911) über die Einheit von Religion und Wissenschaft sowie aus „Der gespaltene Himmel“ von Huschmand Sabet über die Grundlagen der Göttlichen Politik Bahá’u’lláhs im Gegensatz zum Versagen des Zeitgeistes leiten zu kurzen Hinweisen auf die Bahá’í-Geschichte und die Bahá’í-Gemeinschaftsordnung über. Den Schluß bilden Hinweise auf Sommer- und Winterschulen sowie auf die Nationalen Geistigen Räte Mitteleuropas, verbunden mit einer vorbereiteten Bücherbestellung und einer Auskunftsanfrage. Fast jede Seite bringt Zitate aus den Schriften Bahá’u’lláhs und weist auf die einschlägige Bahá’í- und UNESCO-Literatur hin.

Die Schrift kann von allen Bahá’í-Gemeinden, von der Bahá’í-Verlag GmbH, D-6 Frankfurt 1, Westendstraße 24, oder vom Schweizerischen Buchkomitee der Bahá’í, CH-3000 Bern, Dufourstraße 13, unentgeltlich bezogen werden.

P.M.



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Die „BAHA’I-BRIEFE“ werden vierteljährlich herausgegeben vom Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í in Deutschland e. V., 6 Frankfurt, Westendstraße 24. Alle namentlich gezeichneten Beiträge stellen nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers oder der Redaktion dar.

Redaktion: Dipl.-Volkswirt Peter A. Mühlschlegel, 6104 Jugenheim, Goethestraße 14, Telefon (0 62 57) 74 67, u. Dieter Schubert, 7021 Oberaichen, Viehweg 15, Telefon (07 11) 74 97 67.

Vertrieb: Georg Schlotz, Bahá’í-Haus, 7 Stuttgart-Zuffenhausen, Friesenstraße 26, Telefon (0711) 87 90 58 oder (07 11) 87 32 48.

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