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BAHA'I-
BRIEFE
BLÄTTER FÜR
WELTRELIGION UND
WELTBEWUSSTSEIN
AUS DEM INHALT:
Das Gesellschaftsmodell und die Weltwirtschaft von Bahá’u’lláh
Sozialmystik
Die Bahá’í und die heutigen gesellschaftspolitischen Systeme
Ordnung und geoffenbartes Gesetz
HEFT 39 JANUAR 1970
- Merke wohl: Wissen ist von zweierlei Art, göttlich und satanisch. Das eine entspringt dem Born göttlicher Eingebung, das andere ist nur ein Spiegelbild eitler und verdunkelter Gedanken. Der Quell des einen ist Gott selbst, die Triebkraft des anderen sind die Einflüsterungen eigensüchtigen Begehrens. Das eine ist geleitet von dem Spruch: „Fürchtet Gott; Gott wird euch lehren”, das andere bestätigt die Wahrheit: „Wissen ist der größte Schleier zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer.” Die Früchte des einen sind Geduld, Sehnsucht, wahre Erkenntnis und Liebe, dagegen die des anderen nur Anmaßung, Hoffahrt und Dünkel...
 
- Das Herz muß darum gereinigt werden von müßigem Menschengerede und geheiligt von jeder irdischen Neigung, so daß es die verborgene Bedeutung göttlicher Eingebung zu entdecken vermag und zur Schatzkammer der Mysterien göttlichen Wissens werde.
 
- Bahá’u’lláh
 
- (Das Buch der Gewißheit, Frankfurt 1969, S. 52 f.)
 
Das Gesellschaftsmodell von Bahá’u’lláh[Bearbeiten]
‘Abdu’l-Bahá über Grundlagen der neuen Weltordnung
Es hat den Anschein, als könnten alle Geschöpfe allein und auf sich
gestellt leben. Ein Baum zum Beispiel kann ganz einsam und allein in
einer Ebene, in einem Tal oder an einem Bergeshang stehen. Ein wildes
Tier, hoch oben im Gebirge, oder ein Vogel — sie können ein Einsiedlerleben 
führen. Sie brauchen keine Zusammenarbeit, keine Solidarität.
Solche Lebewesen erfreuen sich des größten Wohlbehagens und des
Glücks, wenn sie ganz auf sich selbst gestellt sind.
Im Gegensatz hierzu kann der Mensch nicht einsam und allein leben. Er braucht ununterbrochene Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe. Ein Mensch, der zum Beispiel in der Wildnis allein dahinvegetiert, wird früher oder später Mangel leiden. Allein und auf sich gestellt, kann er sich niemals mit allen lebensnotwendigen Gütern versorgen. Er bedarf des Zusammenwirkens und der Wechselseitigkeit.
Das Mysterium dieser Erscheinung, die Ursache dieses Zustands liegt darin, daß die Menschheit aus einem einzigen Ursprung erschaffen wurde und sich von einer einzigen Familie her ausgebreitet hat. So stellt die ganze Menschheit in Wirklichkeit eine einzige Familie dar. Gott hat keinerlei Unterschied erschaffen. Er hat alle als Einheit erschaffen, damit diese Familie in vollkommenem Glück und in Wohlfahrt lebe.
Wechselseitigkeit und Zusammenarbeit: Jedes Mitglied des gesellschaftlichen Organismus sollte im höchstmöglichen Wohlbehagen und Wohlstand leben können; denn jedes einzelne Glied der Menschheit ist eine Zelle des gesellschaftlichen Organismus. Wenn ein Mitglied der Gesellschaft in Not gerät oder von einer Krankheit heimgesucht wird, leiden zwangsläufig alle anderen Mitglieder darunter. Das Auge zum Beispiel ist ein Teil des menschlichen Organismus. Wird das Auge beeinträchtigt, so leidet das gesamte Nervensystem darunter. Wenn demnach ein Glied des gesellschaftlichen Organismus krank wird, sind vom Standpunkt mitleidender Verbundenheit her alle davon mitbetroffen; denn das kranke Glied ist Teil einer Gruppe von Gliedern, ein Teil des Ganzen. Wenn in einem Organismus ein Glied oder Teil Not leidet, können sich dann gleichzeitig die anderen Glieder wohlfühlen? Nein, das ist unmöglich! Folglich ist es der Wunsch Gottes, daß im gesellschaftlichen Organismus der Menschheit jeder einzelne vollkommene Wohlfahrt und uneingeschränktes Wohlbehagen genießt.
Wiewohl der gesellschaftliche Organismus eine einzige Familie ist, 
leben doch aus Mangel an harmonischen Beziehungen manche Mitglieder
im Wohlstand, manche in krassem Elend; manche sind satt, andere sind
hungrig; manche Glieder sind mit kostbarsten Gewändern geschmückt,
andere Familien haben weder Nahrung noch Obdach. Warum? Weil der
menschlichen Großfamilie die notwendige Wechselseitigkeit, die soziale
Symmetrie fehlt. Der Haushalt dieser Familie ist unordentlich; er steht
nicht unter einem vollkommenen Gesetz. Keines der Gesetze, die gegeben
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werden, sichert das Glück. Keines sorgt für allgemeines Wohlergehen.
Deshalb muß dieser Familie ein Gesetz auferlegt werden, durch welches
alle ihre Glieder gleichermaßen Wohlfahrt und Glück genießen werden.
Kann ein Familienmitglied tiefstem Elend und schlimmster Armut 
ausgesetzt bleiben, wenn gleichzeitig die übrige Familie im Wohlstand lebt?
Das ist nur möglich, wenn der Rest der Familie gefühllos, geistig 
verkümmert, ungastlich und lieblos ist. Dann können diese anderen sagen:
„Wenn es auch Glieder unserer Familie sind, laßt sie doch allein! Wir
kümmern uns um uns selbst. Sollen sie doch sterben! Wenn es nur mir
gut geht, wenn nur ich geehrt werde und glücklich bin! Das ist mein
Bruder — soll er doch sterben! Wenn er bisher im Elend lebte, kann er
auch im Elend bleiben, so lange es nur mir gut geht. Wenn es ihm an
Kleidung fehlt: So lange ich angezogen bin, kann er ruhig bleiben, wie
er ist. Wenn er obdachlos und heimatlos ist, soll er doch in der Wildnis
bleiben, wenn nur ich eine Wohnung habe!“
Diese offenkundige Gleichgültigkeit in der menschlichen Familie beruht auf dem Mangel an Überwachung, dem Mangel an einem brauchbaren Grundgesetz, dem Mangel an Güte inmitten der Gesellschaft. Würde den Familienmitgliedern Güte entgegengebracht, würden sie sicherlich alle in Glück und Wohlfahrt leben.
- Das Dorfmodell
 
Seine Heiligkeit Bahá’u’lláh hat Weisungen für jede Frage gegeben, die sich der Menschheit entgegenstellt. Er hat Lehren und Verordnungen zu jedem Problem hinterlassen, mit dem der Mensch zu kämpfen hat, darunter Lehren in Wirtschaftsfragen, die die Gewähr dafür bieten, daß alle Glieder des gesellschaftlichen Organismus mit dem Ausbau Seiner Problemlösungen größtes Glück, Wohlfahrt und Wohlbehagen genießen werden, ohne daß die allgemeine Ordnung der Dinge darunter leidet. Kein Zwist oder Streit wird dabei ausbrechen, kein Aufruhr, kein Wortstreit werden nötig sein. Die Problemlösung ist wie folgt:
Der erste und oberste Grundsatz ist, daß alle Glieder des gesellschaftlichen Organismus die höchsten Errungenschaften der Menschenwelt genießen sollen. Jedem steht höchstmöglicher Wohlstand und größtes Wohlergehen zu. Um das Problem zu lösen, müssen wir mit dem Bauern beginnen. Bei ihm werden wir eine Grundlage für System und Ordnung legen; denn der Nährstand, die landwirtschaftliche Bevölkerung, übertrifft andere Klassen durch die Wichtigkeit seiner Leistungen. In jedem Dorf muß ein allgemeines Lagerhaus errichtet werden, das verschiedene Einnahmequellen hat.
Die erste dieser Einkünfte ist der Zehnte (von den Ackerfrüchten). Die zweite dieser Einkünfte kommt von der Tierhaltung. Die dritte Einnahmequelle sind die Bodenschätze; das heißt, von jedem Mineralvorkommen, das geschürft oder entdeckt wird, geht ein Drittel an dieses große Lagerhaus. Die vierte Einnahmequelle ist die folgende: Wenn jemand ohne Erben stirbt, fällt sein ganzes Vermögen an das allgemeine Lagerhaus. Werden fünftens irgendwelche Schätze in der Erde gefunden, sollen sie dem Lagerhaus zugewandt werden. Alle diese Einkünfte werden in dem Lagerhaus gesammelt.
[Seite 1048]
 
Was nun die erste Einnahmequelle, den Zehnten, angeht, wollen wir
einen Bauern, einen der Landwirte, näher betrachten. Lassen Sie uns
seine Einkommensverhältnisse untersuchen. Wir wollen herausfinden,
was er jährlich verdient und was er auszugeben hat. Sind nun seine 
Einnahmen gleich groß wie seine Ausgaben, dann wird einem solchen Bauern
nichts weggenommen; das heißt, er ist keinerlei Besteuerung unterworfen, 
da er ja sein ganzes Einkommen benötigt. Ein anderer Bauer soll
Ausgaben von tausend Talern und Einnahmen von zweitausend Talern
haben. Von ihm wird ein Zehntel eingefordert, weil er einen Überschuß
hat. Sind aber seine Einnahmen zehntausend Taler und seine Ausgaben
tausend Taler, muß er ein Viertel an Steuern zahlen. Hat er Einnahmen
von hunderttausend Talern und Ausgaben von fünftausend, muß er ein
Drittel abgeben, weil er auch dann noch einen Überschuß hat. Wenn er
zusätzlich zu seinen Auslagen von fünftausend Talern etwa 
fünfunddreißigtausend Taler abführt, bleiben ihm immer noch sechzigtausend
Taler übrig. Liegen nun aber seine Ausgaben bei zehntausend und seine
Einnahmen bei zweihunderttausend Talern, dann muß er sogar die Hälfte
abgeben; denn in diesem Fall verbleiben immer noch neunzigtausend
Taler. Eine derartige Tabelle wird die jeweilige Steuerschuld bestimmen.
Alle Einkünfte aus diesen Steuern gehen an das allgemeine Lagerhaus.
Alsdann müssen Notfälle wie der folgende in Betracht gezogen werden: Einer der Bauern soll Ausgaben von zehntausend Talern haben, während seine Einnahmen nur fünftausend betragen; er wird seine notwendigen Auslagen von diesem Lagerhaus erhalten. Fünftausend Taler werden ihm zugeteilt, so daß er nicht in Not gerät.
Des weiteren wird man sich um die Waisen kümmern; alle Aufwendungen für sie werden wahrgenommen. Die Körperversehrten im Dorfe: Für alle ihre Ausgaben wird gesorgt. Die Armen des Dorfes: Ihre notwendigen Aufwendungen werden bestritten. Und andere Glieder der Gesellschaft, die aus triftigen Gründen arbeitsunfähig sind: die Blinden, die Alten, die Gehörlosen; für ihr Wohlergehen muß gesorgt werden. Keiner im Dorf wird Not oder Mangel leiden. Alle werden behaglich im größtmöglichen Wohlstand leben, ohne daß irgendwelche Spaltungen die allgemeine Ordnung des gesellschaftlichen Organismus gefährden.
Somit sind die Ausgaben und Aufwendungen des allgemeinen Lagerhauses dargestellt und seine Tätigkeiten offenkundig; die Einnahmequellen dieses allgemeinen Lagerhauses wurden aufgezeigt. Das Volk jedes Dorfes wird Treuhänder wählen, die sich um alle diese Geschäfte kümmern. Für die Bauern ist damit gesorgt; wenn nach allen derartigen Ausgaben Überschüsse im Lagerhaus verbleiben, müssen sie an das nationale Schatzamt abgeführt werden.
Das ganze System ist so angelegt, daß im Dorf selbst die Ärmsten Genüge finden; die Waisen werden glücklich und behütet leben. Mit einem Wort, es wird keiner Not leiden. Jedes einzelne Glied des gesellschaftlichen Organismus wird auf diese Weise auskömmlich und gut leben.
Für größere Städte wird es natürlich ein breiter angelegtes System geben. Wollte Ich diese Problemlösung erörtern, wären die Einzelheiten zu weitschweifig.
Das Ergebnis des gesamten Systems wird sein, daß jedes einzelne Glied
des Gesellschaftskörpers in umfassendem Wohlstand und Behagen lebt,
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ohne irgendeinem anderen verpflichtet zu sein. Dennoch werden Rangstufen 
beibehalten, da es in der Menschenwelt notwendigerweise eine
Rangordnung geben muß. Der gesellschaftliche Organismus läßt sich mit
einem Heer vergleichen. In diesem Heer muß es Ränge wie Marschall,
General, Sergeant geben. Es muß auch Fußvolk geben; aber alle müssen
bestens versorgt und betreut werden.
Gott ist unparteiisch und sieht nicht auf die Person. Er sorgt für alle. Die Ernte wird für jeden eingebracht. Der Regen ergießt sich auf jeden und die Sonnenwärme ist für jeden da. Deshalb sollte die ganze Menschheit in größtem Glück und Behagen, in höchstmöglichem Wohlstand leben.
Wenn die Verhältnisse jedoch so liegen, daß einige wenige glücklich und behaglich leben und andere im Elend dahinvegetieren, wenn einige unmäßigen Reichtum zusammenraffen, während es den anderen am Nötigsten fehlt, dann ist es dem Menschen unter einem solchen System nicht nur unmöglich, glücklich zu sein, sondern zugleich unmöglich, das Wohlgefallen Gottes zu gewinnen. Gott ist gütig zu allen. Das Wohlgefallen Gottes besteht in der Wohlfahrt jedes einzelnen Angehörigen der Menschheit.
- Der glückliche König und sein Volk
 
Ein persischer König schwelgte eines Abends in seinem Palast in äußerstem Luxus und in Wohlbehagen. Im Überschwang der Freude und des Glücks wandte er sich an einen Mann aus dem Volk und sagte: „Dies ist der glücklichste Augenblick in meinem ganzen Leben. Gott sei gelobt! Wo ich auch hinschaue, sehe ich Wohlfahrt und lachendes Glück. Meine Schatzkammer ist voll, mein Heer gut versorgt. Ich habe viele Paläste, mein Land hat keine Grenzen, meinen Angehörigen geht es gut, groß ist meine Ehre und meine Herrschaft. Was sollte mir noch fehlen?“
Der Arme am Tor des Palastes faßte sich ein Herz und sprach frei heraus: „O du gütiger König! Angenommen, du seiest rundherum glücklich, frei von jeder Sorge und jedem Leid: Sorgst du dich nicht um uns? Du sagst, du selbst habest keinen Kummer; aber kümmerst du dich niemals um die Armen in deinem Land? Ist das richtig und in Ordnung, daß es dir so gut geht und wir in solcher Armut, solchem Elend leben? Wenn du unsere Sorgen und Nöte siehst, wie kannst du da in deinem Palast bleiben, wie kannst du auch nur sagen, du seiest frei von Kummer und Sorgen? Als Herrscher darfst du nicht so ichsüchtig sein, nur an dich selbst zu denken. Du mußt an diejenigen denken, die deine Untertanen sind. Wenn es uns gut geht, wird es auch dir gut gehen. Wenn wir elend sind, wie kannst du als unser König glücklich sein?“
Der Sinn dieser Geschichte ist, daß wir alle denselben Erdball bewohnen. In Wirklichkeit sind wir eine einzige Familie, und jeder von uns ist einer ihrer Angehörigen. Wir müssen alle in größtmöglichem Glück und Wohlstand unter einer gerechten Herrschaft und Verfassung leben, die mit dem Wohlgefallen Gottes übereinstimmt und uns dadurch glücklich macht; denn dieses Leben ist ein flüchtig Ding.
Wäre der Mensch nur dazu da, für sich selbst zu sorgen, dann wäre er
nichts als ein Tier; denn nur die Tiere sind so selbstsüchtig. Wenn Sie
tausend Schafe an einem Brunnen zusammentreiben und 
neunhundertneunundneunzig davon abschlachten, dann wird das eine überlebende 
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Schaf ruhig weitergrasen; es wird nicht an die anderen denken, wird sich
nicht um die verlorenen Schafe sorgen. Nichts wird es ihm ausmachen,
daß sein eigenes Fleisch und Blut dahingegangen und umgekommen ist
oder geschlachtet wurde. Sich nur um das eigene Ich zu kümmern, ist
demnach eine tierische Neigung. Es ist eine tierische Lebensweise, allein
und einzelgängerisch zu sein. Es ist ein tierischer Trieb, nur für die 
eigene Behaglichkeit zu sorgen. Aber der Mensch ist dazu erschaffen, Mensch
zu sein: fair, gerecht, barmherzig, gütig zu allen Artgenossen zu sein,
niemals darauf aus, daß es nur ihm selbst gut geht, während andere in
Not und Elend leben; denn solches Fehlverhalten wäre ein tierischer, kein
menschlicher Zug. Nein, der Mensch sollte vielmehr Belastungen auf sich
nehmen, damit andere Wohlstand genießen; er sollte sich Sorgen aufladen, 
um anderen Glück und Wohlbefinden zu verschaffen. Das sind
menschliche Wesenszüge. Das ist Menschwerdung. Anders ist der Mensch
kein Mensch, sondern weniger als ein Tier.
Wer nur an sich selbst und nicht an andere denkt, ist ohne jeden Zweifel dem Tier gegenüber minderwertig, weil das Tier nicht mit Verstand begabt ist. Das Tier hat eine Entschuldigung; aber der Mensch hat Verstand, Gerechtigkeitssinn und Mitleidsgefühle. Wenn er alle diese Fähigkeiten besitzt, darf er sie nicht ungenutzt lassen. Wer so hartherzig ist, daß er nur an sein eigenes Behagen denkt, kann nicht Mensch genannt werden.
- Die Ökonomie des Opfers
 
Mensch ist, wer sein eigenes Interesse um anderer willen vergißt. Sein eigenes Behagen verwirkt er für das Wohlergehen aller. Ja, sein Leben muß er willig einsetzen, um das Leben der Menschheit zu gewinnen. Ein solcher Mensch ist ein Ehrenschmuck für die Menschenwelt. Ein solcher Mensch ist eine Ruhmestafel für die Welt der Menschheit. Ein solcher Mensch erntet ewige Seligkeit. Ein solcher Mensch steht der Schwelle Gottes nahe. Ein solcher Mensch ist die reine Offenbarung zeitlosen Glücks. Anders sind die Menschen wie Tiere, weil sie dieselben Triebe und Neigungen wie die Tierwelt zur Schau stellen. Welchen Unterschied gibt es da? Welche Vorrechte, welche Vollkommenheiten? Keine, welcher Art auch immer! Die Tiere sind sogar besser, wenn sie nur an sich selbst denken und sich nicht um die Bedürfnisse anderer kümmern.
Achten Sie auf die größten Menschen in der Geschichte, unter den Propheten oder den Philosophen: Alle haben sie ihr eigenes Behagen darangegeben, haben ihre eigene Bequemlichkeit um der Wohlfahrt der Menschheit willen geopfert. Selbst ihr Leben haben sie für das Wohl des gesellschaftlichen Organismus geopfert. Ihren eigenen Reichtum haben sie für das Wohlergehen des Ganzen eingesetzt. Ihre persönliche Ehre haben sie um der Ehre der Menschheit willen verwirkt. All dies zeigt klar, daß es hier um die höchste Verwirklichung des Menschlichen geht.
Wir bitten Gott, Er möge die Menschenseelen mit Gerechtigkeit erfüllen, 
damit sie gut und redlich werden, die Wohlfahrt aller erstreben und
dafür Sorge tragen, daß jedes Mitglied der menschlichen Familie sein
Leben in größtmöglichem Wohlstand und Behagen verbringt. Dann wird
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diese materielle Welt zum Paradies des Gottesreiches, die irdische Natur
wird in einen himmlischen Zustand versetzt und alle Diener Gottes werden in größter Freude, in Glück und Frohsinn leben. Alle müssen wir danach streben, alle unsere Gedanken 
müssen wir darauf konzentrieren, daß die Menschenwelt zu dieser 
Glückseligkeit erwächst.
- ——————————
 
Aus Bahá’í Magazine, Vol. 13, S. 227/231; vgl. Bahá’í Teachings on Economics, New York 1934, S. 8 ff.
- Bei mehreren Lehrkonferenzen diskutierten die schwedischen Bahá’í im Jahr 1969 ihre weitere Arbeit. Orte dieser Zusammenkünfte waren die Städte Vasteras, Uppsala und Göteborg. Erfreulich war dabei vor allem die rege Teilnahme der Jugendlichen. Das Foto zeigt Bahá’í in Uppsala (oben).
 
- Rechts: Der zweite Mann auf dem Mond, Edwin E. Aldrin, erhielt von den Bahá’í der Stadt Montclair (USA) das Buch: „Grundlagen der Welteinheit“ überreicht.
 
 
Die Weltwirtschaft Bahá’u’lláhs[Bearbeiten]
Strukturen einer neuen Ordnung / von Horace Holley
Ohne Beispiel in der Menschheitsgeschichte ist die Wucht, mit der 
konstruktives Denken aus dem privaten Bereich auf das Studium der 
gesellschaftlichen Grundstrukturen verlagert worden ist, seit verantwortliche
Persönlichkeiten in allen Ländern ihre Verpflichtung erkennen, dem 
allgemeinen Problem der Unruhe und der Niedergeschlagenheit in unserer
Gegenwart Beachtung zu schenken. Es ist deshalb höchste Zeit, davon
Kenntnis zu nehmen, daß schon im vorigen Jahrhundert der Plan einer
Weltordnung vorgetragen wurde, die nicht nur viele Vorschläge vorwegnimmt, 
die heute ernsthaft erörtert werden, sondern auf der wichtigsten
Grundlage aufbaut: auf einer genauen Analyse der Krankheit, die unser
modernes Leben befallen hat.
Für jeden, der sich ernsthaft um das Studium der gesellschaftlichen Verhältnisse bemüht — ob er sie nun mehr unter wirtschaftlichen, unter politischen oder soziologischen Gesichtspunkten betrachtet — ist es wichtig hinzuzulernen, daß seit mehreren Generationen ein Schriftgut existiert, dessen klare Prinzipien und Lehren die Schwierigkeiten, die aller Welt auf den Nägeln brennen, von ihrem Wesenskern her anpacken.
Die Weltwirtschaftsordnung Bahá’u’lláhs geht in ihrer Reichweite und ihrer Zielsetzung weit über das verspätete Echo hinaus, das Wirtschaftler und Staatsmänner in den letzten Jahren unter dem Druck der Ereignisse auf das Unheil unserer Zeit und seine Gefahren hervorgebracht haben. Seine Prinzipien gründen sich auf organische Gesetze der menschlichen Entwicklung. Sie deuten unser Gegenwartsproblem nicht als eine vorübergehende Gleichgewichtsstörung der Industrieproduktion oder des Welthandels im Gefolge der industriellen Revolution, sondern als einen existentiellen Bewegungsablauf in der Menschheit als Ganzem. Sie stellen die notwendige Verbindung zwischen Geist und Praxis her, die allein dem gesellschaftlichen Mechanismus Leben einhauchen kann.
Ein sorgfältiges Studium dieses Schriftguts verdeutlicht, daß Bahá’u’lláh an jenem zentralen Wendepunkt der gesellschaftlichen Entwicklung steht, in dem der lange geschichtliche Trend zur Verschiedenartigkeit der Sprache, der Sitten, der bürgerlichen und religiösen Gesetze wie auch der wirtschaftlichen Gebräuche zu Ende gegangen ist und die Bewegung in Richtung auf die Einheit zurückpendelt. Die Motivation des Menschen im vergangenen Zeitalter war notwendigerweise kämpferisch; die Motivation des Menschen im neuen Zeitalter ist notwendig kooperativ.
Von diesem Blickpunkt her sind die europäischen Kriege und die pausenlose 
Folge internationaler Verwirrungen ihrem Wesen nach nichts anderes 
als lebhafte Anzeichen dafür, daß die Menschheit, rein aus 
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geistiger Trägheit, nach der alten, wettkampforientierten Motivation 
weitermacht, obwohl längst Verhältnisse entstanden sind, die die 
Zusammenarbeit und die Einheit existenznotwendig machen. Statt mit einer 
vorübergehenden Gleichgewichtsstörung haben wir es mit der zwingenden
Notwendigkeit zu tun, die gesamte Struktur unserer Zivilisation umzuwandeln. 
Einrichtungen und gesellschaftliche Organismen, die im Zeitalter der 
Verschiedenartigkeit und des Wettbewerbs geschaffen wurden,
sind für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse im Zeitalter der 
Zusammenarbeit und des Friedens unbrauchbar geworden. Unsere 
Gegenwartskrise enthüllt immer klarer die tragische Tatsache, daß die 
Menschen in ihrem Streben nach den Gottesgaben des Friedens und der 
maßvollen Versorgung zu Mitteln greifen, die den entgegengesetzten 
Zielen des Krieges und der Zerstörung entsprechen.
- Ursachen und Wirkungen
 
Die neuen Verhältnisse, die auf jede menschliche Tätigkeit einwirken, sind das Ergebnis der materiellen Welteinheit, die der technische Fortschritt bereits im vorigen Jahrhundert mit sich gebracht hat. Die Arena des Menschlichen ist zur Einheit geworden. Nicht länger haben wir eine Reihe isolierter Kulturkreise. Zum erstenmal in der Weltgeschichte gilt das Gesetz von Ursache und Wirkung für die Gesellschaft so sicher und unwiderruflich, wie es im stofflichen Universum gilt. Die Folge ist, daß jede öffentliche Aktion ihre unmittelbare Reaktion hat. Nationale, rassische oder klassenorientierte Bewegungen sind nicht mehr isoliert und unverantwortlich vorstellbar, nicht mehr dazu geeignet, genau bestimmte und begrenzte Ziele zu erreichen, wie etwa im Mittelalter ein kleines, kompaktes Heer sich frei unter unbewaffneten Bauern bewegen konnte. Heute beeinflußt jede soziale Bewegung oder Strömung die Gesamtstruktur der Gesellschaft und bringt Wirkungen allgemeiner Art mit sich.
Wie dieses neue Gesetz von Ursache und Wirkung bislang isolierte Erdteile zu einer Schicksalsgemeinschaft verflicht, so können auch innerhalb des einzelnen wirtschaftlichen oder politischen Nationalbereiches die Wirkungen politischer oder wirtschaftlicher Maßnahmen nicht länger auf ihr jeweiliges Sachgebiet begrenzt werden; sie weiten sich auf die gesamte Nation aus und rufen überall Folgen hervor. Die Menschheit ist nicht nur durch ihre geographischen Verbindungen zu einer organischen Einheit geworden, vielmehr sind die Elemente ihrer Zivilisationsstruktur wechselseitig abhängig geworden und haben äußerlich unzusammenhängende Seinsbereiche wie Geschäftsleben und Religion, Regierung und Philosophie durch neue Beziehungen verknüpft. Die praktische Bedeutung dieses Sachverhalts liegt darin, daß Politik nicht mehr ausschließlich Politik und Wirtschaft nicht mehr nur Wirtschaft sind, sondern beide nichts anderes als Facetten der einen, unteilbaren Substanz menschlichen Lebens.
Wir sind, mit anderen Worten, auf einer Stufe der menschlichen Entwicklung 
angelangt, auf der sittliche Werte — die Frage, was
dem Allgemein-Menschlichen und nicht nur irgendwelchen Gruppeninteressen 
nützt — nicht nur die Wünschbarkeit, sondern auch die Durchführbarkeit 
jeder politischen Zielsetzung und jedes Sozialprogramms bestimmen. 
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Das ist der Grund, warum sich die Weltkrise der Gegenwart jedem
Bemühen, sie unter die Kontrolle normaler gesellschaftlicher Machtmittel
zu bringen, entzieht. Wenn wieder einmal ein Weltkrieg droht, nennen
wir die Krise „politisch“ und strengen uns an, sie mit Mitteln der 
Staatsmacht zu beherrschen. Spitzt sich eine wirtschaftliche Depression 
zu, bezeichnen wir die Krise als „wirtschaftlich“ und versuchen, ihrer von
wirtschaftlichen Institutionen aus Herr zu werden. Es wäre genau so 
logisch, die Krise „religiös“ zu nennen und unsere Wiedergenesung vom
Einfluß der Kirchen zu erhoffen. In Wirklichkeit ist die Krise politisch,
wirtschaftlich und religiös zur gleichen Zeit; aber die Menschheit besitzt
kein verantwortliches, maßgebendes Machtmittel, das alle Faktoren aufeinander 
abstimmen und einen weltweiten Plan ins Leben rufen könnte, der alle 
Faktoren in Rechnung zieht.
Diese Überlegungen enthüllen die existentielle Bedeutung, die einem neuen Prinzip des Handelns, einem neuen System von Verhaltensmustern und einem neuen Zugang zu umfassendem Verständnis zukommt, wie sie der Student der Gesellschaftswissenschaften in den Lehren Bahá’u’lláhs vorfindet. Hier begegnet er einer Weltanschauung, die sich über orts- und gruppengebundene Interessen erhebt, einem durchgeistigten Glauben an die göttliche Vorsehung von solcher Tiefe, daß er die Gewißheit schafft, die Menschheit werde durch den schlimmsten Sturm der Verwirrung und des Kampfes in ihrer gesamten Geschichte sicher hindurchgeführt.
Ganz im Gegensatz zu gesellschaftlichen Plänen, die ein abstraktes System der politischen Ökonomie ausdenken und es mit oder ohne äußerliche Gewalt der Menschenwelt aufzwingen wollen, wobei die Kompliziertheit des menschlichen Wesens naiv übersehen wird, — ganz im Gegensatz hierzu wirken die Grundsätze Bahá’u’lláhs aus dem Herzen heraus in die Gesellschaftsstruktur hinein. Seine Prinzipien erläutern die geistige Natur des Menschen als seine eigentliche Wirklichkeit und entwerfen das Bild einer Weltkultur, die Schritt für Schritt durch die freiwillige Tätigkeit derer realisiert wird, die sie verstehen, sie als Wahrheit annehmen. und ihre Errichtung als die Erfüllung ihrer höchsten persönlichen Sehnsucht erstreben.
Bahá’u’lláhs Ziel ist die Einheit der Menschheit in der Welt des Bewußtseins und des Geistes. Diese geistige Einheit bewirkt, daß die zwangsläufig entstehende äußerliche Einheit dem Menschen zum Segen gereicht, zum Werkzeug des Friedens und der Zusammenarbeit, und nicht zum Fluche, zum Instrumentarium des Chaos und des Kampfes. Der Sauerteig geistiger Erkenntnis wird jene Vorurteile, die heute die Herzen trennen und die Geister verwirren, die Nationen, Klassen und Bekenntnisse konfrontieren, in gemeinsame Gesetzestreue und tätige Kameradschaft verwandeln; er wird die Gesellschaftsordnung mit reiner Ethik und wahrer mystischer Erfahrung in eins setzen.
Wenn wir nach materiellem Überfluß, nach Freizeit, Sicherheit, breiterer 
Bildung, nach einer Bezähmung der Natur und nach gesellschaftlichen 
Verhältnissen streben, die allen Menschen den Genuß schöpferischer 
Beziehungen ermöglichen, wenn wir denjenigen Visionen und Sehnsüchten 
Gestalt zu geben suchen, denen sich die Gesellschaft heute noch
widersetzt, dann steht über dem Tor zur Verwirklichung dieser Ziele das
Motto „Einheit und Zusammenarbeit“. Wie die Einheit der Persönlichkeit
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dem Individuum Kraft verleiht, so wird der Geist der Kameradschaft
Fähigkeiten erwecken, die heute noch im Unterbewußtsein der 
menschlichen Rasse schlafen.
Durch viele Gleichnisse und Beispiele verdeutlicht Bahá’u’lláh die Möglichkeiten dieses Kameradschaftsgeistes und seiner Eigenschaft, die Gesellschaft aus einem Kampfplatz feindlicher Gruppen in eine weltumspannende, organische Struktur zu verwandeln. Das Schriftgut, das Seine Einsicht in die menschliche Wirklichkeit ausdrückt, wie sie auf den verwandelnden Geist des einen Gottes antwortet, verbindet die systemnotwendigen Entwicklungsstufen von einer neuen Weltschau des einzelnen Menschen zu einer Weltordnung, in der die heute getrennten und ziellosen Teilaspekte des Gesellschaftslebens koordiniert sind: Erziehungswesen, religiöse Lebenshaltung, Gewerbefleiß, Finanzwesen, Handel und Staatsführung...
Die Unruhe unserer Gegenwart bleibt so lange ohne wirkliche Bedeutung und ohne inneren Wert, bis wir sie vornehmlich als einen Bewegungsablauf in der ganzen Menschheit und erst in zweiter Linie als eine Störung der institutionellen Elemente unserer Kultur erkennen. Politische Sachzwänge und wirtschaftliche Krisenzustände sind so akut geworden, daß die Symptome fälschlich als die eigentliche Krankheit angesehen werden. Das erste Prinzip, die Grundlage, auf der die neue Ordnung ruht, ist die Einheit der Menschheit, die wechselseitige Abhängigkeit der Menschenrasse von einem gemeinsamen Ursprung und einem gemeinsamen Schicksal. Die Gesellschaftsordnung, die heute funktionsunfähig wird, gründet sich auf der Unterstellung der Verschiedenartigkeit und der Getrenntheit, die das öffentliche Leben auf dem Beweggrund des Wettkampfes herangezüchtet hat.
- Der Untergang Roms als Lehrstück
 
Glücklicherweise bietet die Geschichte unseres eigenen Kulturkreises das Beispiel eines Zeitalters, das in einem kleineren Rahmen große Ähnlichkeit mit den gegenwärtigen Verhältnissen entwickelte.
Von einem gewissen Punkt an baute das Römische Reich gleichfalls
eine Zivilisation auf, die den besten Interessen der Menschheit zuwiderlief. 
Auch die institutionalisierte römische Gesellschaft trat in eine 
Übergangszeit ein, in der der Instinkt des Wettkampfes versagte, weil er sich
politischen, wirtschaftlichen und religiösen Problemen gegenübersah, die
für eine Lösung mit herkömmlichen Mitteln zu sehr verwickelt waren.
Durch die Macht des christlichen Glaubens jedoch wurden diese Probleme 
in einen menschlichen Prozeß von höherer Qualität verwandelt.
Jene, die mit der Gesellschaftswissenschaft der damaligen Zeit 
indoktriniert waren, haben die Ansprüche des christlichen Glaubens konsequent
von sich gewiesen; aber es bleibt eine historische Tatsache, daß der Strom
der menschlichen Entwicklung die zivilisatorischen Einrichtungen aufgab
und durch die Kanäle einer Bewegung weiterfloß, die den Bedürfnissen
und Fähigkeiten des Menschen besser entsprach. Nicht durch die 
Reorganisation von Preisen, Löhnen, Verfassungen und Handelswegen wurde die 
Gesellschaft wiederaufgebaut, sondern durch die Loyalität wiedergeborener 
Einzelmenschen, die zu einer kooperativen Gruppe verschweißt
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waren. Bis an die Grenzen menschlicher Fähigkeit gingen die Gläubigen
beim Aufbau einer Gesellschaft, in der eine Verbundenheit und ein Bewußtsein 
der Zusammengehörigkeit, den Gefühlen zwischen Familienmitgliedern 
vergleichbar, die formalistischen Rechtswege und gefühllosen
Höflichkeiten ersetzte, welche die politischen und wirtschaftlichen 
Lehrmeinungen des zugrundegerichteten Staates den Menschen einschärften.
Das Wesen jener historischen Erfahrung liegt im Triumph der Menschlichkeit über die Zivilisation. Die frühen Christen versenkten sich in den ewigen Strom menschlicher Wirklichkeit, holten eine neue Schau Gottes hervor, stellten sich, nur mit hingebungsvollem Glauben gewappnet, unerschütterlich den Zuckungen einer zusammenbrechenden Gesellschaft entgegen, bis sie schließlich den Grund für ein „neues Zeitalter“ legen konnten. Ihr Glaube an Christus entfesselte in ihren Seelen die geheimnisvollen Kräfte des Geistes; durch ihr Opfer konnten sie die Gesellschaft auf einer höheren sittlichen Stufe neu bilden, näher dem Endziel einer kooperativen Welt.
Die frühchristliche Welt war jedoch räumlich eng begrenzt, umringt von barbarischen Horden; es war ihr verwehrt, die christliche Erfahrung auf die ganze Menschheit auszudehnen. Ihre räumliche Expansion kam zum Stillstand; die Christenheit wappnete sich zur Verteidigung und ließ in ihren eigenen Reihen die fatalen Einflüsse der Zwietracht und der Gewalt wirken. Nachdem der neue Gesellschaftsorganismus das Gesetz allumfassender Liebe verleugnet hatte, enthüllten sich Fadenrisse in Fragen wissenschaftlicher Wahrheitssuche und deckten damit eine geistige Krankheit auf. Die Spaltungen erweiterten sich immer mehr, bis ihnen schließlich der Protestantismus Dauer verlieh. Eine moderne Zivilisation mit ihrem inneren Konflikt zwischen „säkularen“ und „religiösen“ Werten war die unausweichliche Folge. Nichts in diesem allmählichen Verfall stützt jedoch den Zweifel an der wahren Bedeutung der Religion. Das Christentum hat in der Geschichte die Macht des Herzens wiederhergestellt.
Gleichwohl ist die „Wahrheit“ des Christentums und aller anderen Offenbarungsreligionen nicht eine Konstante, sondern eine Variable: ein Aufstieg zu einer neuen Schau Gottes, gefolgt von einer Zeit der Verfinsterung und des Verfalls. Es geht um einen Frühling geistiger Fruchtbarkeit, dem des Sommers Reife und die herbstliche Ernte folgt, bis der Kreislauf in winterlicher Kälte endigt. Die Kultur läßt sich mit einer Uhr vergleichen, die immer wieder aufgezogen werden muß. Der geschichtliche Prozeß, der das Christentum von einer Quelle innerer Erneuerung zu bloßem Institutionalismus abwertete, wirkte sich auch im Judentum, im Islam, im Buddhismus und den anderen Religionen aus. Jede dieser Religionen erneuerte einen Bereich des Menschlichen, belebte die Kultur, schuf neue und bessere Verhältnisse für die Menschheit und starb schließlich langsam ab, um einem weiteren Propheten und einer neuen Wiederbelebung des Glaubens Platz zu machen.
- Ein neuer Zyklus menschlicher Macht
 
Bahá’u’lláh, dessen Sendung ‘Abdu’l-Bahá in Europa und Amerika bekannt 
machte, vollendete den Kreis des Religiösen als Ausdruck der wahren 
Natur des Menschen und seiner Möglichkeiten im Verhältnis zu Gott,
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zur Gesellschaft und zum stofflichen Weltall. Er führte die Spitzbogen
auf, die Jesus und die anderen Propheten entworfen hatten. In Seinen
Lehren sind die notwendigen Verbindungen zwischen Ethik, Wissenschaft
und Soziologie hergestellt; sie tragen das unteilbare Prinzip der Liebe in
die Gesellschaft und die Kultur hinein. Bahá’u’lláh ist der erste, der die
Menschheit als einen geeinten Organismus mit koordinierten Hilfsquellen des 
Geistes und des Herzens versteht. „Es rühme sich keiner, daß er
sein Vaterland liebt“, erklärte Er vor über hundert Jahren, „vielmehr
rühme sich der, der das ganze Menschengeschlecht liebt“. In derselben
Opferhaltung, wie sie Jesus der Zivilisation Palästinas und Roms 
entgegensetzte, offenbarte Bahá’u’lláh eine geistige Macht, die gleichfalls
eine Bewegung des Glaubens und der Hingabe im Volk, begleitet vom
erbitterten Haß und Widerstand seiner beamteten Führer, hervorrief.
Heute hat Bahá’u’lláhs Lehre geschichtliche Dimension — eine Geschichte,
die das Blut persischer Märtyrer unauslöschlich niedergeschrieben hat.
Die Bewegung erfaßte den Westen durch die Gestalt ‘Abdu’l-Bahás, der 1911 und 1912 durch Europa und die Vereinigten Staaten von Amerika reiste, um Bahá’u’lláhs Lehren auf die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Zeit anzuwenden. Am Vorabend des großen Krieges, den Er voraussah und vor dem Er die Menschen warnte, sprach Er im September 1911 im Londoner City Temple folgende bedeutsamen Worte:
- “Dies ist ein neuer Zyklus menschlicher Macht. Alle Horizonte der Welt sind erleuchtet, und diese Welt wird in der Tat ein Garten und ein Paradies werden. Es ist die Stunde der Einheit aller Menschensöhne, des Zusammenschlusses aller Rassen und Klassen. Von überkommenem Aberglauben, der die Menschen in Unwissenheit gefangen hielt und die Grundlagen wahrer Menschlichkeit zerstörte, sind Sie heute befreit.
 
- „Die Gabe Gottes an dieses erleuchtete Zeitalter ist die Erkenntnis der Einheit des Menschengeschlechts und der grundlegenden Einheit der Religion. Der Krieg wird aufhören zwischen den Nationen, und durch den Willen Gottes wird der Größte Friede kommen. Die Welt wird als eine neue Welt gesehen, und alle Menschen werden wie Brüder leben.
 
- „In früheren Zeiten entwickelte sich ein Aggressionstrieb im Kampf mit wilden Tieren. Er ist nicht länger nötig; vielmehr besteht die Einsicht, daß Zusammenarbeit und gegenseitiges Verständnis die größte Wohlfahrt der Menschheit herbeiführen. Heute ist Feindseligkeit nur noch die Folge von Vorurteil... Es gibt einen Gott, die Menschheit ist eins, die Grundlagen der Religion sind eins. Laßt uns Ihn anbeten und Ihn lobpreisen für alle Seine großen Propheten und Boten, die Seine Klarheit und Seine Herrlichkeit offenbarten“.
 
Diese Auffassung der weltweiten Unruhe als einer Sammlungsbewegung 
für die noch unerschlossenen Kräfte der Menschheit, die sich in
einen „neuen Zyklus menschlicher Macht“ ergießen wollen — diese 
Auffassung entspringt den Tiefen der Wahrheit. Sie faßt die komplexen
Streitfragen, welche die Spezialisten, auf viele Sachgebiete zersplittert,
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getrennt voneinander nicht klären können, in einem Punkt zusammen.
Sie erneuert für die menschliche Vorstellungskraft, das menschliche 
Verständnis und den menschlichen Willen die Kontrolle über die Ereignisse,
die scheinbar von einer unkontrollierbaren gesellschaftlichen 
„Maschinerie“ beherrscht werden.
Wir sollten jedoch der zitierten Erklärung ‘Abdu’l-Bahás ein anderes Wort zur Seite stellen, das Er am 9. Juni 1912 im Baptistentempel von Philadelphia sprach:
- „Wahre Religion ist die Quelle der Liebe und Verständigung zwischen den Menschen, sie führt zur Entwicklung lobenswerter Eigenschaften. Die Menschen halten sich indessen an die Fälschung und die Nachahmung, gleichgültig gegen die einigende Wirklichkeit; dadurch sind sie des Strahlenglanzes der Religion beraubt. Sie folgen dem Aberglauben, den sie von ihren Vätern und Vorfahren ererbt haben... Was als Lebensspender gedacht war, ist zum tödlichen Gift geworden. Was Beweis der Erkenntnis sein sollte, ist jetzt Zeugnis der Unwissenheit. Was das menschliche Wesen verfeinern sollte, hat sich als seine Erniedrigung erwiesen. Deshalb hat sich der Horizont des Gläubigen mehr und mehr verengt und verfinstert; die Reichweite des Materialisten hingegen ist weiter geworden und fortgeschritten; denn der Gläubige hat sich an Nachahmungen und Fälschungen gehalten, die Heiligkeit und die göttliche Wirklichkeit der Religion hat er vernachlässigt und aufgegeben. Wenn die Sonne untergeht, fliegen die Fledermäuse umher; das ist ihre Zeit hervorzukommen, weil sie Geschöpfe der Nacht sind.“
 
Hier haben wir die Kehrseite der Medaille: die negativen Verhältnisse, die den positiven entgegenstehen, die blinde Unterwerfung unter die äußerliche, „institutionelle“ Wahrheit im Gegensatz zum Glauben an menschliche Werte. Mit anderen Worten: die Zivilisation im Gegensatz zu den wirklichen Interessen der Menschheit. Zwischen diesen entgegengesetzten Polen fließen Ströme von unermeßlicher Spannung durch die moderne Gesellschaft; sie vernichten alle Formen organisierter Selbstsucht und erquicken gleichzeitig den Geist und das Herz der Menschen mit der Fähigkeit zur selbständigen Erkenntnis, daß unser Geschlecht nur durch Einheit und Zusammenarbeit überleben kann...
- Ziele des gesellschaftlichen Fortschritts
 
Chaos und Revolution werden fortbestehen und anwachsen, bis gesellschaftliche Gerechtigkeit das Instrument eines Weltstaats geschaffen hat — einer Weltregierung, die die Souveränität über die ganze Menschheit besitzt und sich die Nationalstaaten wie Provinzen von begrenzter Zuständigkeit unterordnet. Dies ist die zentrale Aufgabe der heutigen Welt, eine unausweichliche Verpflichtung, die in finanziellen, politischen, sozialen und sittlichen Kategorien so deutlich geschrieben steht, daß sie jeder lesen kann.
Der Weltstaat unterscheidet sich von den gegenwärtigen Nationalstaaten
nicht nur durch die größere räumliche Ausdehnung seiner Souveränität,
sondern gleichwohl durch das Ausmaß seiner gesellschaftlichen 
Verantwortlichkeit. Allein der Weltstaat kann die Abrüstung 
durchsetzen, eine stabile
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Währung schaffen, die Zwietracht der Gesellschaftsklassen schlichten, 
ein Bildungssystem aufbauen, das den elementaren menschlichen
Bedürfnissen gerecht wird, und die unheilvolle Gefahr überwinden, die
in den widersprüchlichen Theorien des Kapitalismus und des Kommunismus 
lauert. Nicht ehe der Weltstaat besteht, kann die Trennung zwischen
„religiösen“ und „zeitlichen“ Werten, der schlimmste Fluch menschlicher
Erfahrung, beendet werden. Der Weltstaat bedeutet gesellschaftliche 
Verwaltung durch die Erwählten der Menschheit — Persönlichkeiten, deren
Organisationstalent von sittlichen Grundsätzen durchtränkt ist. Der 
Parteipolitiker ist es, der die gesellschaftliche Uneinigkeit aufrechterhält, 
damit er besser im Trüben fischen kann.
Der Weltstaat ist die einzig mögliche Grundlage der Stabilität für die Ortsgemeinden in aller Welt.
Wenn der Weltstaat das erste Ziel des gesellschaftlichen Fortschritts ist, stellt die Neugeburt der Ortsgemeinde das zweite Ziel dar. Alle wesentlichen menschlichen Beziehungen werden auf örtlicher Ebene unterhalten. Unsere Gemeindeumwelt ist es letztlich, die die Qualität und Menschlichkeit unseres Lebens bestimmt. Hier setzt unsere innere Haltung den Kreislauf gesellschaftlicher Einflußnahme in Gang, der sich entweder zum Frieden oder zum Krieg zuspitzt. Hier prallt die gesellschaftliche
- Auf einer Asienreise im Herbst 1969 besuchten Dr. Adelbert Mühlschlegel und seine Frau auch die pakistanische 300 000-Einwohner-Stadt Hyderabad. Bei ihrer Ankunft auf dem Flughafen wurden sie von den dortigen Bahá’í herzlich empfangen. Dr. Mühlschlegel hielt unter anderem einen öffentlichen Vortrag, der von dem Sender All Indian Air in Englisch übertragen wurde.
 
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Eziehung auf die unvoreingenommene Kinderseele, welche die Motive und
Reaktionen des Erwachsenen bestimmt.
Um die Ortsgemeinde von einer kranken Zelle in einem zerrütteten Organismus zur gesunden Zelle in einem wohlproportionierten Organismus neuzugestalten, müssen wir das Prinzip gesellschaftlicher Zusammengehörigkeit vom politischen auf den wirtschaftlichen Bereich ausdehnen. In einem vitalen Gesellschaftskörper hat der einzelne nicht nur das unveräußerliche Recht auf Teilnahme an den Wahlen und auf den Schutz der Gerichte; er hat auch das unveräußerliche Recht auf seinen Lebensunterhalt — nicht im Sinne entwürdigender Fürsorge, sondern im Geiste eines grundlegenden Menschenrechts. Heute ist die politische Struktur ein Sieb, das die höchsten Sehnsüchte, die edelsten Motive und Eigenschaften der Menschheit in den Schmutz fallen läßt. Nichts kann den Makel tilgen, daß unsere modernen Staaten ursprünglich eher als Werkzeug des Krieges denn als Hort des Friedens geschaffen wurden...
Der Weltstaat so gut wie die wiedergeborene Ortsgemeinde sind Möglichkeiten in der menschlichen Entwicklung, deren Verwirklichung von einer neuen Skala persönlicher Motive und von einer neuen Dimension des gesellschaftlichen Bewußtseins abhängen. Das Endziel einer ganzheitlichen Weltwirtschaft setzt deshalb ein drittes Nahziel voraus, das mit den beiden umschriebenen Nahzielen des Weltstaats und der vertieften Ortsgemeinschaft eng verbunden ist: die Notwendigkeit geistiger Erziehung, die Stärkung des bislang passiven Idealismus in solchem Maße, daß die Menschen bewußt und gemeinsam umfassenden Zwecken folgen, daß sie nicht länger gesellschaftlich teilnahmslos zuwarten, bis „bessere Zeiten“ von allein kommen oder von ein paar Bankiers, Fabrikanten und Staatsmännern wie Geschenke zugeteilt werden.
Das Gewinnstreben allein kann keine gleichgewichtige, dauerhafte Kultur sichern. Weit stärker, weit „wahrer“ und in der Tat weit menschlich-natürlicher ist das Streben nach Selbstverwirklichung und Erfüllung, wie es bei Kindern zu finden ist und wie es bei den wenigen Künstlern, Kunsthandwerkern und geistbewußten Männern und Frauen fortlebt, die es nicht zulassen, daß sie von den äußerlichen Einflüssen ihrer Umgebung verformt werden. Wie ungenügend das Gewinnstreben ist, wird uns klar, wenn wir uns auszumalen suchen, wie es sich innerhalb des Familienlebens auswirken würde. Jede Familie ist ein genossenschaftliches Wirtschaftssubjekt, das sich in einer wettkampforientierten Gemeinschaft am Leben zu halten sucht. Die Auflösung der Familie ist der Anfang vom Ende eines Zeitalters.
Heutzutage zielt die Erziehung vornehmlich darauf ab, die Waffen für den persönlichen Kampf ums Dasein in einer Wettkampfgesellschaft zu liefern. Diese Abschnürung der Vernunft und der sittlichen Haltung überläßt den Kern der Persönlichkeit — ihre Vorstellung vom Sinn des Lebens, ihre grundlegenden Motive — dem erdrückenden Einfluß einer bereits verrotteten Gesellschaft. Als Ausprägung unseres Kollektivbewußtseins kann und muß sich die Erziehung mit den menschlichen Grundwerten befassen.
Geistige Erziehung hat wenig mit den Unterrichtssystemen zu tun, die
die Kirchen für partikularistische Zwecke entwickelt haben. Sie ist 
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Erziehung des ganzen Menschen zum nutzbringenden Leben in einer geeinten
Gesellschaft, die ihre Gesetze und Prinzipien vom allumfassenden 
Grundgesetz der Liebe ableitet, eine Erziehung, die sich der 
Erscheinungsformen gesellschaftlicher Entwicklung bewußt ist und 
dementsprechend ihre wirtschaftlichen Mittel den wahren Zwecken und Zielen 
unterordnet. Wenn eine einzige Generation durch geistige Erziehung über die 
falschen Führer hinauswächst, welche die Vorurteile der Rasse, der Klasse, des
Volkstums oder der Religion mit Vernunftsgründen zu untermauern trachten, 
dann kann die Menschheit in dem neuen Zeitalter der Zusammenarbeit und 
der Einheit sicheren Fuß fassen.
Diese drei Nahziele — ein Weltstaat, eine Neugeburt der Ortsgemeinde und geistige Erziehung — hängen wechselseitig voneinander ab. Keines kann ohne die beiden anderen verwirklicht werden. Alle drei Ziele sind heute in der menschlichen Gesellschaft latent vorgebildet. Sie werden Wirklichkeit in dem Maße, wie die Elite in allen Ländern sie einzeln oder in ihrer Gesamtheit als diejenigen Werte erkennt, die die höchsten Vorstellungen und den stärksten Einsatz lohnen. Noch trägt freilich das Trägheitsmoment der vergangenen Entwicklung die Menschenwelt in die entgegengesetzte Richtung. Vergleichen wir die Kopfzahlen und die Hilfsmittel, die auf unsere drei Nahziele verwendet werden, mit den Kopfzahlen und Mitteln, die den althergebrachten Interessen im Rahmen einer wettkämpferischen Ordnung frönen, so begreifen wir aufs neue, wie tief die Krise ist, in der wir stecken.
Was wir vor allem anderen heute brauchen, ist eine zuverlässige Quelle der Überzeugung, daß die Kraft umfassender Wahrheit hinter der Bewegung zur Weltordnung und zum Frieden steht, daß jede Gegenwehr ihrem Wesen nach negativ ist und letztenendes überwunden werden wird, einerlei, ob die unmittelbare Zukunft hell oder düster ist. Nur bewußter Glaube kann zwischen den Waagschalen der Evolution und der Revolution, der Ordnung und des Chaos den Ausschlag geben.
- Die Grundsätze Bahá’u’lláhs
 
Bahá’u’lláh ist die Quelle dieses bewußten Glaubens. Seine Lehren verwandeln politische und wirtschaftliche Probleme in Bewährungsproben für menschliche Tugend und Liebe. Eine Zusammenfassung dieser Lehren läßt folgende Grundwahrheiten hervortreten:
1. Es gibt organische Kreisläufe in der Menschheitsentwicklung, die durch die Lebensdauer einer Religion abgegrenzt sind und ungefähr einen Zeitraum von tausend Jahren umfassen. Ein gesellschaftlicher Zyklus beginnt mit dem Auftreten eines prophetischen Religionsstifters, dessen Einfluß und dessen Lehren das Seelenleben des Menschen erneuern und eine Woge des Fortschritts entfesseln. Jeder Zyklus zerstört die überholten Glaubenssätze und Einrichtungen des vorhergehenden und schafft eine Kultur auf der Grundlage von Überzeugungen, die den menschlichen Bedürfnissen der Zeit besser entsprechen. Im Verlauf der Jahrhunderte zerfällt diese Kultur, weil menschliche Lehrsätze die vom Offenbarer gelehrte Wirklichkeit zurückdrängen; die alte Kultur muß deshalb einem neuen Gottesbegriff Platz machen.
2. In der Vergangenheit war der Einfluß jedes Religionsstifters durch
die räumliche Trennung der Rassen und Nationen auf eine bestimmte
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Rasse oder Weltreligion begrenzt. Der gegenwärtige Zyklus hat zum 
erstenmal weltweiten Einfluß und umfassende Bedeutung. Er betont den
Glauben an die geistige Einheit der Menschheit und wird eine organische 
Weltordnung ins Leben rufen. Bahá’u’lláh ist der geistige Beweis
für den Anbruch eines allumfassenden Zyklus; der Aufschwung der 
Wissenschaft und Technik ist der intellektuelle Beweis. Dieser Aufschwung
der Wissenschaft macht den Bruch zwischen dem Zeitalter des Wettkampfes 
und dem Zeitalter der Zusammenarbeit deutlich. Die Wissenschaft hat den 
Menschen seiner stofflichen Hilflosigkeit der Natur gegenüber enthoben, 
seine Kräfte vervielfacht und ihm zugleich ein völlig
neues Ausmaß sittlicher Verantwortung zugeschoben. Wenn primitive
Stammesmoral fortbesteht, wird sich die Wissenschaft als zerstörerisch
erweisen. Ihre Kräfte können nur von einer geeinten Menschheit, die
nach weltweitem Wohlergehen und Wohlstand strebt, gezähmt werden.
3, Sektiererische Kirchen werden aufgegeben und durch ein geistiges Zentrum in jeder Gemeinde ersetzt, das der Andacht und dem Gebet gewidmet ist und keines Berufspriestertums mehr bedarf. Religiöse Vorstellungen und Praktiken, die der Wissenschaft widersprechen, sind Aberglauben und können nicht überleben. Nicht das Ritual, nicht der Katechismus, sondern die unmittelbare Inspiration aus dem Leben und der Botschaft des Offenbarers ist die Grundlage der Religion. In dem Maße, wie die Wissenschaft weiter fortschreitet, werden die Menschen neu erkennen, daß sie allezeit von der Vision der Liebe und Brüderlichkeit abhängig waren, die die Offenbarer Gottes immer wieder in der Geschichte zum Ausdruck brachten, und daß sie als einzige Lebewesen die Aufgabe haben, durch die bewußte Erkenntnis des Willens Gottes ihr Leben auf immer höhere Fähigkeiten hin zu vergeistigen. Der Offenbarer ist demnach der Brennpunkt der menschlichen Entwicklung.
4. Wie die Ortsgemeinde von der nationalen Gemeinde abhängt, so ist die Nation von der Gemeinschaft aller Nationen abhängig. Die Theorie nationaler Souveränität ist durch die Tatsache allseitiger wirtschaftlicher Abhängigkeit ad absurdum geführt; sie muß in der politischen Praxis aufgegeben werden. Alle Staatsmänner sind ihrem Schöpfer für den Schutz des Volkes verantwortlich. Sie müssen Schritte unternehmen, um ein Weltgemeinwesen zu schaffen, dem allein umfassende Souveränität zuerkannt werden kann. Wesentlicher als die Tatsache, daß Rohstoffe und Fertigwaren über die Kontrolle irgendeiner Nation hinaus weltweit ausgetauscht werden, ist die Tatsache, daß die Menschheit ein einheitlicher Organismus ist, der ein einheitliches Recht und eine starke Exekutive braucht. Die geordneten Arbeitsabläufe einer Weltregierung leisten Gewähr dafür, daß sich gesellschaftliche Sittlichkeit in einer Loyalität der ganzen Menschheit gegenüber erfüllt.
5. Das Naturgesetz vom Daseinskampf gilt für den Menschen nicht mehr, wenn er sich seiner verstandlichen und geistigen Kräfte bewußt geworden ist. Es wird vom höheren Gesetz der Zusammenarbeit abgelöst.
Unter diesem höheren Gesetz wird der einzelne Mensch eine viel größere 
Rechtsfreiheit als diejenige eines politisch passiven Bürgerrechts 
genießen. Seine organisch strukturierten Menschenrechte werden umfassende 
Erziehung und den täglichen Lebensunterhalt einschließen. Die Ortsgemeinden 
werden so organisiert werden, daß sie dieser Rechtsfreiheit 
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Gestalt verleihen. Die öffentliche Verwaltung wird vom Volksbetrug
der Parteipolitik auf diejenigen übergehen, die ihr Amt als geheiligte
Treuhandschaft im Dienst an den göttlichen Prinzipien der Weisheit,
Gerechtigkeit und Brüderlichkeit zu erleben fähig sind. Einkommensteuern 
sind an die Ortsgemeinde abzuführen, nicht an den Nationalstaat, der 
seinerseits der Gemeinde eine sichere materielle Grundlage gibt
und sie in den Stand setzt, die notwendigen Vorkehrungen für die 
Wohlfahrt und den Schutz des Volkes zu treffen. Das nationale Schatzamt
wird seine Einnahmen von den Ortsgemeinden, nicht von den einzelnen
Bürgern beziehen. Die Betonung wird auf die Ortsgemeinde zurückverlegt, 
weil dort die Lebensfragen zuerst auftreten und zuerst gelöst werden müssen.
Im Zeitalter der Kriegsführung entwickelte der gegenwärtige Nationalstaat viele Tätigkeitsbereiche und Machtmittel, die durch die Errichtung eines Weltstaats überflüssig werden. Der Weltstaat wird die Rechtsgrundlage für weltweite Ordnung und Entwicklung schaffen,
6. Wirtschaftliche Stabilität hängt von gesitteter Solidarität und von der Erkenntnis ab, daß Wohlstand ein Mittel zum Zweck und nicht der Sinn des Lebens ist. Diese Erkenntnis ist wichtiger als die Durchbildung ausgeklügelter sozialreformerischer oder gar kommunistischer Planungen. Der springende Punkt ist der Durchbruch zu einem neuen Bewußtsein, einem neuen Geist der Zusammenarbeit und der gegenseitigen Hilfe, nicht die allseitige Hörigkeit gegenüber einem starren System, das jede sittliche Verantwortung des einzelnen abwürgt. Unter den Verhältnissen der Zusammenarbeit und des Friedens kann die Geißel der Unterbeschäftigung in die Gelegenheit zur Freizeitgestaltung, zum Kulturfortschritt und zur persönlichen Entwicklung verwandelt werden. Den Arbeitnehmern steht nicht nur Lohn, sondern auch ein fest vereinbarter Anteil am Gewinn ihres Unternehmens als dessen Teilhaber zu. Die Grundlage des Gewerbefleißes ist die Landwirtschaft; wer auf dem Lande lebt und arbeitet, verdient besondere Anteilnahme. Die Industrie wird einfacher gestaltet sein in dem Maße, wie die Menschen ihre Existenz und ihre Tätigkeit ins Gleichgewicht bringen.
Bahá’u’lláh offenbarte auch ein Erbschaftssystem, das die Möglichkeit bietet, die Übertragung großer Vermögen der Gemeinde als Ganzem nutzbar zu machen, ohne daß der einzelne eines gewissen Maßes an Freiheit verlustig geht. Nach dieser Methode wird die Erbschaft in verhältnisgerechte Teile für die überlebenden Verwandten und, höchst bedeutsam, für die Lehrer gegliedert; die Lehrer haben ja zur Charakterbildung und Entwicklung des Verstorbenen beigetragen und erhalten deshalb ihren Teil an seinem Erbe.
Ein weiteres, mit allem Nachdruck niedergelegtes Prinzip besagt, daß
Loyalität gegenüber einer gerechten, verfassungsmäßigen Regierung zu
den Grundbedingungen einer religiösen Einstellung zum Gesellschaftlichen 
gehört. Es gibt keine Rechtfertigung für die Ansicht, kirchliche
Dogmen und Willensäußerungen hätten größeren Anspruch auf Gehorsam
als der „weltliche“ Staat. Gewiß kann der Glaube an Gott nicht vom
Staat kontrolliert werden; auch kann der Staat nicht vom Bürger 
verlangen, daß er seiner geistigen Überzeugung untreu wird. Aber 
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abgsehen hiervon, stehen alle Fragen von öffentlichem Interesse 
uneingeschränkt unter der Hoheit der Regierung.
7. Weder die Demokratie noch die Aristokratie allein bieten die richtige Grundlage der Gesellschaft. Die Demokratie ist hilflos gegen innere Zwietracht; die Aristokratie stützt sich auf systemfremde Gewalt. Notwendig ist es, beide Prinzipien zu vereinen: Verwaltung und Herrschaft durch die Elite der Menschheit, die in allgemeiner Wahl ermittelt und von einer Weltverfassung, die Grundsätze von sittlicher Wirklichkeit verkörpert, kontrolliert wird.
8. Die geistige Grundlage der Menschheit ist umfassende Erziehung. Sie verbindet in jedem Einzelmenschen wirtschaftliche mit kulturellen Werten, sie koordiniert Verstand und Gemüt, sie belebt Seelenkräfte durch die Erkenntnis der Ziele wahrer Religion. „Die Quelle alles Wissens“, sagt Bahá’u’lláh, „ist die Erkenntnis Gottes“.
Das erste gesellschaftliche Prinzip ist, wie Bahá’u’lláh nachdrücklich bestätigt, das Gesetz der Beratung. Er erklärt, die Lösung aller Probleme hänge von der aufrichtigen Bereitschaft aller Beteiligten ab, zur Diskussion der Fragen zusammenzukommen und die dabei getroffenen Entscheidungen zu achten. Der Funke der aufeinanderprallenden Meinungen offenbart nach ‘Abdu’l-Bahá die Wahrheit. Heutzutage wird die „Wahrheit“ in praktisch jeder Situation von Vorurteilen und handfesten Interessen überschattet. Von einem menschlichen Standpunkt her muß die Wahrheit alle Parteien umschließen. Der neue gesellschaftliche Organismus kann nicht in allen Einzelheiten vorherbestimmt werden; er muß heranwachsen.
9. Im gegenwärtigen Übergang vom alten Zeitalter des Wettkampfes zum neuen Zeitalter der Zusammenarbeit ist das Leben der Menschheit in großer Gefahr. Es handelt sich um einen Mutationssprung, einen neuen Abschnitt der Weltgeschichte, einen Wendepunkt in der Entwicklung der Menschheit. Inmitten von geistiger Unwissenheit, nationalistischen Machtinteressen, Klassenkämpfen, wirtschaftlichem Ungleichgewicht, Neid und Begehrlichkeit stehen unermeßliche Kräfte für neue, immer fatalere internationale Konflikte bereit. Nur eine gottgesandte Kraft, die Macht der Vorsehung, ein Impuls wie derjenige, den Christus vor 2000 Jahren in die Geschichte trug, kann die schlimmste Katastrophe abwenden. Dringend braucht die Welt das Bewußtsein der Verwandtschaft und Solidarität, der Zusammenarbeit und wechselseitigen Abhängigkeit; unumgänglich sind allgemeingültige Grundsätze und ein klar umrissenes Programm, das die voll anerkannten Werte der Religion mit den Zielen und Zwecken der Gesellschaftspolitik vereint.
- ——————————
 
Erste Veröffentlichung 1931, vom Verfasser 1956 durchgesehen; vgl. Horace Holley, Religion for Mankind, George Ronald, London 1956, S. 135 ff. Auszugsweise Übersetzung.
Horace Holley, gestorben 1960, war Wirtschaftswissenschaftler und seit Mitte der zwanziger Jahre langjähriger Sekretär des Nationalen Geistigen Rates der Bahá’í der USA, Seine Verdienste als Vorkämpfer der Bahá’í-Verwaltungsordnung wurden in Heft 2/Oktober 1960 der „Bahá’í-Briefe“, S. 42, gewürdigt.
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- Wir haben den Menschen verboten, den Einbildungen ihres Herzens zu folgen, damit sie befähigt würden, Ihn, den höchsten Ursprung und Gegenstand aller Erkenntnis, zu erkennen, und anerkennen möchten, was Ihm zu offenbaren beliebt. Sieh, wie sie sich in ihren leeren Einbildungen und eitlen Vorstellungen verfangen haben!
 
 
- Bahá’u’lláh, Ährenlese, C.
 
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Sozialmystik[Bearbeiten]
Zu den vielen Gemeinsamkeiten zwischen armen und reichen Menschen einer Gesellschaft, zwischen armen und reichen Völkern in der Welt, gehört heute eine abgrundtiefe Verunsicherung und Entfremdung. Was vor der Französischen und der Industriellen Revolution bei wenigen Großen begann, die die Oberflächlichkeit des ersten Aufklärungsrummels durchbrachen, was in den Wirren jener Revolutionen aufriß und durch die harte Restauration einer „Heiligen“ Allianz, durch die Ersatzbefriedigungen des biedermeierlichen Kulturbetriebs mühsam überkleistert wurde, was Marx mit kaltem Intellekt und heißem Engagement theoretisch durchbildete, was dann im zwanzigsten Jahrhundert in militärischen, politischen und wirtschaftlichen Konvulsionen zum Ausbruch kam, was die neue technologische Revolution und die gigantischen Vernichtungswaffen explosionsartig verstärkten — der umfassende Widerspruch zwischen Sein und Sollen, zwischen dem Wahn des Realismus und der Unbestimmtheit sinnvoller Möglichkeiten macht heute vor keinem mehr halt, auch wenn man sich in noch so guten Verhältnissen befindet, auch wenn man auf dem „Lager der Trägheit“ noch so tief den Kopf in die Kissen vergräbt. „Die Zeit für die Zerstörung der Welt und ihrer Menschen ist gekommen“, schrieb Bahá’u’lláh vor über hundert Jahren1). Viele Kulturphilosophien, alle heiligen Bücher der Hochreligionen haben diese Zeit vorausgesehen; aber kaum einer konnte ahnen, daß die Zerstörung — unter dem Überdruck der unabschätzbaren militärischen Gefahr, die eine Entladung in Weltkriegen nicht mehr vernünftig zuläßt — so sehr von innen heraus und von unten her, aus angstzernagten Seelen und zerbrochenen ursprünglichen sozialen Bindungen, um sich greift.
Ob im Leben des einzelnen oder in der Entwicklung der Gesellschaft, immer ist es das Leid, die Krise, die Echtes von Unechtem trennt und Wahres von Falschem unterscheidet. Not lehrt nicht nur beten, sondern auch nachdenken; sie zieht mit schonungsloser Deutlichkeit die Trennungslinie zwischen Glauben und Unglauben. Dem Gläubigen ist das Leid die existenznotwendige Anregung, die Prüfung auf den Gehalt dessen, was er durch seinen Glauben gelernt und erfahren hat; der Ungläubige oder Halbgläubige sucht und findet in der Not einen Sündenbock, auf den er die „Schuld“ an seiner Misere abwälzen kann — einerlei, ob ihm dies nun weiterhilft oder nicht. Dem Gläubigen gereicht alles zum Segen; der Ungläubige zerbricht unter jeder zu großen Belastung, ob sie in der Versuchung des Wohlstands oder in der Prüfung der Not besteht. Je steiler Wohlstand oder Not eskalieren, desto klarer treten die Wertunterschiede hervor.
„Sei großzügig im Glück und dankbar im Unglück“, beginnt
Bahá’u’lláh die Ode, mit der Er einem Seiner Söhne Lebensregeln
auf den Weg gibt2). In diesem kurzen Befehl ist 
das ganze Bahá’í-Programm enthalten. Daß dies
kein „platter Aufklärungsoptimismus“ 
[Seite 1066]
 
ist, wie es manche christliche Kritiker gern sehen möchten, das
haben nicht nur zwanzigtausend Märtyrer in der Bahá’í-Geschichte
mit ihrem Lebensblut besiegelt; es ist zugleich die eigentliche 
entwicklungsnotwendige Lebensaufgabe jedes wahren Bahá’í, sich
selbst und seiner Umwelt täglich zu beweisen, was für eine 
unüberwindliche geistige Kraft in dieser Haltung steckt.
Glaube hat nicht viel mit Gefühlen zu tun; Glaube ist klares Anerkennen und selbstkritisches Gehorchen. Das wichtigste Gebot Bahá’u’lláhs ist das selbständige Denken, und weil dieses Denken bei der Einheit und Unerforschlichkeit Gottes ansetzt, bedeutet der Glaube an Bahá’u’lláh eine Bewußtseinserweiterung ins Ganzheitliche und Unermeßliche. Vor Gott sind nicht nur alle Menschen gleich; in Ihm haben auch alle Menschen und die Menschheit als organisches Ganzes das gleiche Lebensziel, Ihn zu erkennen und Ihm durch immer höhere Kulturentfaltung zu dienen.
Von der Einheit Gottes her gewinnen alle Erscheinungen einen
einheitlichen Sinn. Dieser Sinn erlaubt uns, das Gemeinsame und
das Verschiedenartige nach umfassenden Maßstäben zu definieren, 
zu differenzieren und zu klassifizieren. Wir sehen klar, was
zum Beispiel Mensch und Tier gemeinsam haben und was sie
trennt. „Einen Unterschied zu machen und wahrzunehmen, wo
Gott bei der Erschaffung der Welt keinen beabsichtigt hat, ist
Unwissenheit und Aberglaube“, sagt ‘Abdu’l-Bahá3). 
Gemeinsamkeiten zu suchen und zu finden, wo Gott in Seiner 
Schöpfungsordnung Stufenunterschiede beabsichtigt hat, 
ist ebenso schlimm. Denken wir an den Alptraum der
Sozialpsychologen, den sogenannten Aggressionstrieb: Man 
untersucht das Verhalten von Gänsen, Affen und anderen „höheren“ 
Lebewesen und stellt fest, daß sie sich unter bestimmten Umständen
angriffslustig verhalten. Nun betont man lauthals, daß der Mensch
ein noch höheres Lebewesen sei — und das bedeutet für den, der
nicht an die Einheit Gottes glaubt, eine besonders hohe Form von
Tier — überträgt aber trotzdem die Ergebnisse tierischer 
Verhaltensforschung ohne allzu große Abstriche auf die Beurteilung 
von Erscheinungen in der menschlichen Gesellschaft: „Unwissenheit
und Aberglauben“, mit denen sich sogar Literaturpreise gewinnen
lassen. Daß das menschliche Bewußtsein, im Unterschied zum
tierischen Instinkt, zu immer höheren Abstraktionen geradezu
drängt, daß diese Abstraktionen eine Zuordnung, ein Gleichgewicht, 
ein ganzheitliches, widerspruchsloses System von Werten
erfordern, daß sich daraus die Einheit Gottes als Inbegriff der
höchstmöglichen geschlossenen Wertordnung ergibt, daß diese
Einheit Gottes zu Leitbildern und Ordnungsstrukturen für das 
Bewußtsein und das Verhalten des Menschen durchgebildet werden
kann und muß, daß diese göttliche Ordnung sich in menschlichen 
Eigenschaften niederschlägt, die von archetypischen Gestalten in der
Geschichte nachweislich personifiziert worden sind und das 
eigentlich Menschliche ausmachen: Solche Gedanken sind für eine 
„empirische“, „analytische“ Wissenschaft offensichtlich zu 
hoch — vermutlich deshalb, weil sie zu unbequem sind, denn 
sie würden eigene, echte Menschlichkeit des
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Forschers voraussetzen. Und daran fehlt es überall, wo sogenannte
„reine“ Wissenschaftlichkeit zum Instrumentalismus herabgesunken
ist.
Das Denken in Analogien ist der Schlüssel zu allen Wirklichkeiten, die höher als diejenige des denkenden Subjekts sind. Weil aber das Niederere das Höhere nicht begreifen kann — selbst der intelligenteste Hund wird nie die Gedanken seines Herrn verstehen — muß unser Analogiedenken von einer klaren, umfassenden Wertordnung ausgehen; anders führt es zu Fehlschlüssen und Zusammenhängen, die keine sind. Von der richtigen Wertordnung her eröffnet dieses Bewußtsein der Parallelität alles Geschöpflichen den Zugang zu Erlebnisinhalten, von denen sich glaubensschwache Menschen keinerlei Vorstellung machen können: „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“, dichtet Goethe. Lassen wir das „nur“ ruhig weg! Die Fülle und Vielfalt dieser Gleichnishaftigkeit alles Vergänglichen, dieses Symbolgehalts alles Phänomenalen, kann schlechthin überwältigend sein. Sie tröstet durchaus darüber hinweg, daß man „das“ Wesentliche und „die“ Wahrheit so wenig exakt bestimmen kann wie die Ludolfsche Zahl Pi oder die Unendlichkeit des Universums.
Mystik ist der ehrfürchtige denkerische Umgang mit jenen Wirklichkeiten, die höher sind als unsere eigene Wirklichkeit und die wir deshalb, zum Leidwesen der Jung- und Alt-, der Links- und Rechtshegelianer, nie vollständig in den Griff bekommen. Je weiter wir in unserer Persönlichkeitsbildung fortschreiten, desto störender kann sich ein überzüchteter Intellekt auswirken; wir müssen unser Wissen in unserem Wesen integriert haben, um wirklich schöpferische Leistungen erbringen zu können. Das ist bei den Phänomenen des Gesellschaftlichen nicht anders als in der bildenden Kunst, der Heilkunst oder der Staatskunst. Jeder Mensch empfindet mystisch, wenn er über sich selbst hinaus lebt und Zwecke verfolgt, die seine eigenen Interessen übersteigen. Dies gilt auch dann, wenn wir alles daransetzen, unsere mystische Ader mit fleißig aufgestapeltem Datenwissen oder mit unserer kombinatorischen Intelligenz zuzuschütten, ohne uns klar zu werden, daß wir uns damit die höchsten menschlichen Erlebnisse entgehen lassen.
Waren es im mittelalterlichen Denken unklare Gottvorstellungen, die Liebe zu vergöttlichten Personen oder — im islamischen und jüdischen Bereich stärker als im christlichen — die Beziehung zu abstrakten göttlichen „Namen“ und Eigenschaften sowie zu Wiederkunftshoffnungen und endzeitlichen Erwartungen, an denen sich mystische Seelen begeisterten, so ist es uns heute, gestützt auf eine kaum zu verarbeitende Fülle theoretischen Wissens und informierter Erfahrung, durchaus möglich, zu den Ordnungsstrukturen, Entwicklungslinien und Entfaltungsmöglichkeiten der Gesellschaft mystische Beziehungen herzustellen. Was hindert uns, die Gesellschaft zu erleben, wie wir einen Ehepartner oder einen Freund erleben? Nur unser eigener ungehobelter Verstand und unsere egoistische Verkrampfung, die uns in einem zumeist eingebildeten Daseinskampf ständig aggressiv oder defensiv auf der Hut sein läßt.
[Seite 1068]
Ausgangspunkt für ein mystisches Erleben des Gesellschaftlichen 
ist Bahá’u’lláhs Befehl, die Welt im allgemeinen und die
Menschenwelt im besonderen wie einen menschlichen Organismus
zu betrachten. Das ist kein organologisches Theorem, wie es in
der Gesellschaftswissenschaft vor allem der vergangenen 
Jahrhunderte immer wieder vertreten worden ist. Bahá’u’lláh 
geht nicht von äußerlichen Erscheinungen, sondern vom willentlich 
angestrebten Sinn des Lebens aus. Von hierher baut Er die Denkmodelle
und Ordnungsstrukturen auf, die für den gesunden Geist im gesunden 
Körper ebenso verbindlich sind wie für die gesunde Menschheit im 
gesunden Weltstaat. Die Verbindlichkeit dieser Strukturen
ist kultur- und entwicklungsbedingt: Wie der Mensch sich 
natur- und kulturgeschichtlich zu einem „nackten Affen“ entwickelt 
hat und deshalb „eines Gewandes bedarf, sich zu kleiden, so muß der
Menschheit Körper“ aus genau dem gleichen entwicklungshistorischen 
Grund „mit dem Mantel der Gerechtigkeit und Weisheit geschmückt 
sein“, weil er anders in den Winterstürmen nie völlig
vermeidbarer Krisen erfriert4).
Die Einübung dieses vertieften und verfeinerten gesellschaftlichen Bewußtseins ist eine Sache der ununterbrochenen Anregung und Selbsterziehung. Wir müssen unseren Umgang miteinander wichtiger — nicht unbedingt ernster — nehmen. Wir müssen uns von den Personen lösen und uns auf das Sachliche, Allgemeingültge in unseren Beziehungen konzentrieren; denn dafür gibt es klare Denkmodelle und Verhaltensmuster in reicher Fülle, nicht nur in dem umfassenden Offenbarungswerk Bahá’u’lláhs, das praktisch aus nichts anderem besteht, sondern in einer Menge von größtenteils recht wohlfeiler Literatur, die wir nur richtig lesen müssen, vor allem aber in unserer Lebenspraxis, die wir ständig kritisch prüfen und reflektieren sollten. Die Bahá’í-Gemeinschaft ist vornehmlich dazu bestimmt, ein Markt für den Gedankenaustausch und eine Stätte der Einübung in solche Fragen und Problemlösungen zu sein. Sie muß ihrerseits von dieser Grundlage her in die Gesellschaft, insbesondere die Ortsgemeinden, hinausstrahlen und das Kulturleben neu gestalten.
Während des Parteiengezänks um die Wahl des Bundespräsidenten 
Anfang 1969 brachte das „Handelsblatt“ eine Karikatur,
in der ein SPD-Mann mit einem Holzhammer den Kopf des Kandidaten 
Schröder, ein CDU-Mann in gleicher Weise das inzwischen
gewählte Staatsoberhaupt traktierte. Darunter stand ein Spruch,
der ungefähr lautete: „Haust du meinen Lukas, hau ich deinen
Lukas!“ So verständnislos, wie wir heute in den Geschichtsbüchern 
lesen, daß sich der römische Plebs im Zirkus an dem Gemetzel
delektierte, das Gladiatoren und wilde Tiere in der Arena 
untereinander und an staatsfeindlichen Christen anrichteten, 
ebenso verständnislos wird man in ein paar Jahrhunderten auf 
unsere Generation schauen, nicht nur, weil
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wir aus lauter Triebhaftigkeit an unseren inneren und äußeren
Streitfragen zerbrechen, sondern auch, weil wir dabei diejenigen,
die sich um klare Wertordnungen bemühen (sollten), auf die übelste
Weise verheizen. Das Gespür für tiefensozialpsychologische Widersprüche 
ist nicht ganz, aber annähernd so wichtig wie das Bewußtsein der 
Notwendigkeit umfassender Ordnungsstrukturen und deren Aufbau von 
der Familie, vom Betriebsklima und vom Gemeindeleben her. Beides ergänzt
sich und verleiht dem Leben einen neuen, unendlich viel reicheren
und produktiveren Sinn als alles andere.
Peter Mühlschlegel
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 - 1) zitiert in Shoghi Effendi, Der verheißene Tag ist gekommen, Frankfurt 1967, S. 21
 - 2) Brief an den Sohn des Wolfes, Frankfurt 1966, S. 88
 - 3) The Promulgation of Universal Peace (Chicago 2. 5. 1912), S. 73
 - 4) zitiert in Shoghi Effendi, Die Entfaltung der neuen Weltkultur, vgl. 19-Tage-Brief 14/114, S. 18
 
Jenseits der Parteien Hader...[Bearbeiten]
Was setzen die Bahá’í den heutigen gesellschaftspolitischen Systemen entgegen? / von Dusan Nendl
- Bahá’u’lláh sagte: „Bald wird die Ordnung des heutigen Tages aufgerollt und eine neue an ihrer Stelle ausgebreitet werden!“
 
Die heutigen weltweiten gesellschaftspolitischen Unruhen drängen die Vermutung auf, daß wir uns in einem Umbruch befinden. Die Menschheit sucht neue Beziehungen zwischen dem Einzelmenschen und der Gesellschaft beziehungsweise den gesellschaftspolitischen Institutionen. Denn die gegenwärtige Gesellschaftspolitik ist nicht mehr im Stande, den Menschen in seinem innersten Wesen anzusprechen. Gerade diese Unfähigkeit ist der Grund für die Krise der heutigen Gesellschaft, ist die Ursache der politischen Unruhen und des Zerfalls.
Welches sind die gesellschaftspolitischen Systeme, in denen wir heute leben? Wir können sie zunächst nach zwei Gesichtspunkten unterscheiden: a) nach politischen, b) nach wirtschaftlichen. Politisch wären zu nennen: Parlamentarismus, das heißt auf politischen Parteien begründete Demokratie, also Parteiendemokratie; autoritäres politisches System; Theokratie.
Parlamentarismus ist das politische System, in dem eine Regierung jederzeit vom Parlament mit Mehrheitsbeschluß abberufen oder zum Rücktritt genötigt werden kann. In fast allen demokratischen Ländern Europas benötigt die Regierung verfassungsmäßig das Vertrauen des Parlaments, das sie sich im Zweifelsfalle ausdrücklich bestätigen läßt. Sie stellt die „Vertrauensfrage“ und erhält ein „Vertrauensvotum“.
Erteilt ihr das Parlament stattdessen ein „Mißtrauensvotum“, tritt sie in der Regel zurück. Praktisch bedeutet parlamentarische Regierung, daß die Mehrheitspartei oder eine Koalition bestimmter Parteien ihre Führer in die Regierung entsendet.
Autoritäre Systeme sind mehr oder weniger diktatorische Regierungssysteme, das Gegenteil von Demokratie und Volkssouveränität (Demokratie ist eine Regierung des Volkes durch das Volk selbst). Ihre extremsten Formen sind der Absolutismus (auch Autokratie eines feudalen Herrschers, z.B. in verschiedenen Ländern Asiens) und weiter die totalitären Systeme wie Faschismus, Nationalismus, Stalinismus.
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Theokratie ist eine im Namen Gottes beanspruchte Lenkung des Staates
durch kirchliche Hierarchie (sogenannte Gottesherrschaft), z.B. im alten
Ägypten, im Judentum und im katholischen Mittelalter sowie das Imamat
oder bis zu einem gewissen Grade das Kalifat im Islam.
- Die Schwächen des heutigen Parlamentarismus
 
Die Schwächen des heutigen Parlamentarismus sind vielfältig. In der modernen Parteiendemokratie fallen die wesentlichen Entscheidungen außerhalb des Parlaments in den leitenden Parteikreisen, wenn diese auch zum größten Teil aus Parlamentariern bestehen. Die Parteidisziplin tut ein übriges, um die Kontrollfunktion des „Fußvolkes“ der Abgeordneten einzuschränken. Da politische Parteien sich nicht ausreichend durch Mitgliedsbeiträge finanzieren können — zumal, da ein Wahlkampf viele Millionen kostet — sind sie auf Zuwendungen aus Interessentenkreisen angewiesen. Diese finden sich in der Industrie, den Gewerkschaften usw.; sie verlangen als Gegenleistung die Vertretung ihrer Interessen in der Politik. Der Einfluß zahlungskräftiger Spender geht damit weit über ihren Anteil an der Bevölkerung hinaus.
Die immer größer werdende wirtschaftliche Machtkonzentration birgt die Gefahr einer immer stärker werdenden Kontrolle über öffentliche Meinungsmedien in sich. In den USA beherrschen nur 4,5 Prozent der Bevölkerung die gesamte Wirtschaft. Sie sperren sich bis zu einem gewissen Grade dagegen, daß die sozialen Verhältnisse untersucht werden und daß ein soziales Bewußtsein bei den breiten Bevölkerungsschichten erwacht. Die Folgen sind bekannt: Verarmung eines Teiles der Bevölkerung, Rassenunruhen, politische Unzufriedenheit, Aufstände usw.
Die mächtigen Interessentengruppen können die Außenpolitik einzelner Staaten so beeinflussen, daß die Außenpolitik auch das Werkzeug ihrer Interessen ist. Die Folgen davon sind weltpolitische Katastrophen. Die reichen Industrienationen neigen dazu, eine Weltwirtschaftspolitik zu betreiben, die die reichen Nationen noch reicher macht, die armen noch ärmer. Die wirtschaftliche Kluft zwischen reichen und unterentwickelten Völkern und Kontinenten wird immer größer. Wir sind uns oft gar nicht bewußt, daß unser Wohlstand zu einem guten Teil auf den Knochen von Tausenden von Menschen erbaut ist, die in Afrika und Asien des Hungertodes sterben.
Der Einzelmensch spürt mehr oder weniger, bewußt oder unbewußt, daß er ein Spielball parteipolitischer und wirtschaftlicher Interessen geworden ist. Sein tatsächlicher Einfluß auf das politische und wirtschaftliche Leben wird immer kleiner, ist praktisch nicht mehr vorhanden. Seine Reaktionen auf diese seine gesellschaftspolitische Lage sind vielfältig: Karrieresucht, Konsumsucht, aber auch Resignation, Verzweiflung, neuerdings auch Auflehnung und Aufstand!
Kurz zusammengefaßt: Die heutige moderne Parteiendemokratie ist immer weniger in der Lage, die innenpolitischen Probleme der hochindustrialisierten Gesellschaft befriedigend zu lösen. Noch weniger kann sie den internationalen Problemen begegnen, die eine zusammengeschrumpfte Welt als Ganzes bedrängen.
Welches sind nun die Schwächen des autoritären politischen Systems,
insbesondere der Diktatur? Totalitäre Staaten bedienen sich fast 
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ausschließlich eines autoritären Wirtschaftssystems. In einer autoritär 
geführten Wirtschaft verfügt eine herrschende Schicht, meist eine Partei,
über alle Produktionsmittel, das heißt über Boden, Kapital und auch über
die Arbeit als Träger der Produktion. Die Folge ist sehr oft die Erstickung 
jeglicher Privatinitiative auf dem wirtschaftlichen Gebiet. Hinzu
kommt eine mehr oder weniger starke oder gar totale Kontrolle über
das Kulturleben und über die Presse, so daß eine freie Meinungsäußerung
und ein selbständiges Suchen nach der Wahrheit sehr erschwert oder
sogar unmöglich werden. Das Ohnmachtsgefühl gegenüber dem allmächtigen 
Staat oder der Partei oder beidem ist besonders stark ausgeprägt. Dies 
äußert sich in den ausgesprochen hohen Selbstmordzahlen. Bekannt sind 
sogar „Clubs der Selbstmörder“: junge Leute aus gutsituierten
Parteifamilien.
Eine weitere Betrachtung der guten und schlechten Seiten der beiden heute herrschenden politischen Systeme würde hier zu weit führen. Beiden Systemen gemeinsam ist ein unaufhaltsamer sittlicher Zerfall, dessen Ursache aber nicht in den einzelnen Systemen liegt, sondern — wie Shoghi Effendi sagt — „die Folge der Entthronung der Religionen“ ist. „Die Verbreitung von Gesetzlosigkeit, Trunksucht, Glücksspiel und Verbrechen, die zügellose Sucht nach Vergnügen, Reichtum und anderen irdischen Nichtigkeiten, die Laxheit der Moral, die sich äußert in einer verantwortungslosen Haltung gegenüber der Ehe, in einer Schwächung der elterlichen Aufsicht, in einer Hochflut von Ehescheidungen, im Sinken des Durchschnittsniveaus von Literatur und Presse und in einer Befürwortung von Theorien, die eine glatte Verleugnung von Reinheit, Moral und Keuschheit darstellen — alle diese Beweise moralischen Zerfalls, die in den Osten wie den Westen eindringen, jede Gesellschaftsschicht durchsetzen und ihr Gift in deren Glieder beiderlei Geschlechts, jung wie alt, einträufeln, schwärzen noch weiter die Rolle, auf der die mannigfachen Übertretungen einer Menschheit aufgeschrieben sind, die nichts bereut.“ (Shoghi Effendi, „Der verheißene Tag ist gekommen“, S. 174).
Die Bahá’í-Offenbarung setzt den heutigen gesellschaftspolitischen Systemen zwei Heilmittel entgegen: a) den neuen Geist, b) den neuen Bund oder moderner ausgedrückt: die neue Organisation, die Bahá’í-Verwaltungsordnung.
Ohne Fortschritt des Geistes ist jedes System, jede Organisation wertlos. Keine Organisation kann die Menschen über das Niveau hinaustragen, das ihre Seelen erreicht hatten. Wenn die Menschen innerlich nicht willens sind, große Dinge zu vollbringen, kann auch eine Organisation oder ein System ihre Natur nicht ändern. Diese Untrennbarkeit des Geistes und der Organisation äußert sich auch in dem Prinzip der Bahá’í-Verwaltungsordung: „Der Geist und das Werkzeug — die Verwaltungsordnung — sind aufeinander angewiesen.“
Es wäre verkehrt, diese Verwaltungsordnung rein verwaltungstechnisch zu betrachten, denn Bahá’u’lláh sagte: „Wähnt nicht, daß Wir euch ein bloßes Gesetzbuch offenbarten. Nein, Wir haben vielmehr den erlesenen Wein mit den Fingern der Macht und Kraft entsiegelt“ (Ährenlese, S. 217).
Mit jedem neuen Tag erschließt sich dem Bahá’í die Weisheit der Gebote 
Bahá’u’lláhs in immer neuen Erlebnissen; aber schon allein die
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äußerlichen Vorteile der Bahá’í-Gesellschaftsordnung gegenüber dem 
heutigen gesellschaftspolitischen System liegen auf der Hand:
Die Unabhängigkeit der Geistigen Räte gegenüber den Wählern. Dies scheint auf den ersten Blick ein Nachteil zu sein. Bedenken wir jedoch: Die Abhängigkeit der Regierung von den Wählern ist in Wirklichkeit eine Abhängigkeit von Interessengruppen. In England ist die Labourregierung so stark von den Gewerkschaften abhängig, daß sie es kaum wagt, nötige Wirtschaftsreformen konsequent zu verwirklichen aus Furcht, gestürzt zu werden. Was in der Bahá’í-Verwaltungsordnung zunächst als Schwäche erscheint, ist in Wirklichkeit ein Schutz der Geistigen Räte vor Interessengruppen.
Kein Einfluß des Kapitals auf die Geistigen Räte. Zwei Verordnungen, die solchen Einfluß verhindern: a) Spenden von Nicht-Bahá’í dürfen nicht für die Verbreitung des Glaubens verwendet werden; b) Die Spenden der Bahá’í selbst dürfen nicht namentlich bekannt werden. Dadurch kann keiner mit großen Spenden Eindruck bei Wählern hinterlassen oder einen Einfluß auf die Räte ausüben.
Keine Demagogie möglich. Geistige Räte, nicht einzelne Menschen, bilden das Rückgrat der Verwaltungsordnung. Kein Gläubiger kann sich in Fragen von gesellschaftlicher Bedeutung über die Geistigen Räte hinwegsetzen. Die Bahá’í-Wahlen werden nach stiller Gebetsandacht ohne jede Wahlpropaganda und ohne Kandidaturen vorgenommen. Dies ist den weltlichen Gebräuchen völlig entgegengesetzt, genauso den Wahlen in der Parteiendemokratie wie den Bestätigungswahlen in einer Diktatur.
Beseitigung des Ohnmachtgefühls. In einer lebendigen Bahá’í-Gemeinde kann keine Kluft zwischen dem einzelnen und dem Geistigen Rat entstehen; denn „die Einrichtung des Neunzehntagefestes bietet die anerkannte und regelmäßige Gelegenheit für allgemeine Beratung seitens der Gemeinde und für Beratung zwischen dem Geistigen Rat und den Mitgliedern der Gemeinde. Die Abhaltung des Beratungsabschnitts an den Neunzehntagefesten ist eine lebenswichtige Funktion jedes Geistigen Rates!“ (Bahá’í-Community 1947, S. 27).
Damit hat jeder Gläubige die Möglichkeit, am öffentlichen Leben mitzuwirken, obwohl der Geistige Rat an sich unabhängig von den Wählern ist.
Keine Absonderung der verschiedenen Schichten. In einer wahren Bahá’í-Gemeinde gibt es keine Obrigkeit im weltlichen Sinne, keine obere und mittlere Schicht; denn die Mitglieder eines Geistigen Rates sind keine besonderen Leute. Nur wenn sie in der Ratssitzung versammelt sind, haben sie Entscheidungsbefugnis, aber nur als Gemeinschaft, nie als einzelne. Somit sind sie normale Bahá’í wie alle anderen und sollen als solche seitens der übrigen Bahá’í-Gläubigen auch behandelt werden. In einer echten Bahá’í-Gemeinde kann kein „Establishment“ entstehen.
Befreiung von der Einsamkeit. In der modernen industriellen Gesellschaft 
ist das Problem der Einsamkeit der einzeln stehenden Personen ein
soziales Problem geworden, insbesondere, da die Familienbande heute
stark gelockert sind. Die Kontaktarmut, bedingt durch die Erziehungs- und 
Umwelteinflüsse, ist eine weit verbreitete seelische Krankheit, des 
modernen Menschen. Hier schaffen die Neunzehntagefeste mit ihrem 
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geselligen dritten Teil die heilende Wirkung, beziehungsweise sie wirken 
von vornherein vorbeugend.
Möglichkeiten der weltweiten Koordinierung, frei von wirtschaftlichen und politischen Interessengruppen. Weder die westlichen Demokratien noch der kommunistische Osten sind im Stande, eine funktionsfähige weltweite Organisation und Koordination anzubieten. Dafür sind alle weltlichen politischen Kräfte viel zu voreingenommen und in ihrem Blickfeld selbst dann zu eng begrenzt, wenn die Notwendigkeit einer Weltverwaltung erkannt wird.
Die charakteristischen Grundzüge der Bahá’í-Weltordnung hat Shoghi Effendi folgendermaßen skizziert:
„Es sollte hier noch ein Wort über die Idee, auf der diese Verwaltungsordnung aufgebaut ist, und über den Grundsatz, der die Arbeitsweise ihrer Haupteinrichtungen beherrschen muß, gesagt werden. Völlig irreführend wäre es, einen Vergleich zwischen dieser einzigartigen, gottempfangenen Ordnung und irgend einem der vielen Systeme zu versuchen, die der Menschengeist zu verschiedenen Zeiten der Geschichte für die Herrschaft menschlicher Einrichtungen ersonnen hat. Ein solcher Versuch würde an sich schon einen Mangel an voller Wertschätzung für die Vortrefflichkeit des Werkes ihres großen Urhebers verraten. Wie könnte dem auch anders sein, wenn wir bedenken, daß diese Ordnung das wahre Muster jener göttlichen Kultur abgibt, die auf Erden zu errichten das allmächtige Gesetz Bahá’u’lláhs bestimmt ist.
Das Bahá’í-Gemeinwesen der Zukunft, für das diese umfassende administrative Ordnung das alleinige Fachwerk bildet, steht, sowohl der Theorie als auch der Praxis nach, nicht nur einzig in der gesamten Geschichte der politischen Einrichtungen, sondern auch ohne Gegenstück in den Annalen aller anerkannten Religionssysteme der Welt da. Keine Form demokratischer Regierung, kein System autokratischer oder diktatorischer Art, sei es monarchisch oder republikanisch, kein vermittelnder Plan einer rein aristokratischen Ordnung und selbst keine der anerkannten. Formen von Gottesherrschaft, sei es nun die hebräische Gemeinschaft, seien es die verschiedenen christlichen Kirchenorganisationen oder das Imamat oder Kalifat im Islam — keines von ihnen kann mit der von der Meisterhand ihres vollendeten Baumeisters gebildeten administrativen Ordnung gleichgesetzt oder als mit ihr übereinstimmend bezeichnet werden.
Diese neugeborene Verwaltungsordnung verkörpert in ihrem Bau gewisse Elemente, die in jeder der drei anerkannten Arten weltlicher Regierungsform zu finden sind, ohne doch in irgend einer Hinsicht eine bloße Wiederholung irgend einer unter ihnen zu sein und ohne in ihrem Gang irgend welche der beanstandbaren Züge einzuführen, die jenen angestammtermaßen eigen sind. Sie verschmilzt und bringt, wie keine von sterblicher Hand geformte Herrschaft es seither vollbracht hat, die zweifellos in jedem dieser Systeme enthaltenen gesunden Bestandteile miteinander in Einklang, ohne die Reinheit jener gottgegebenen Wahrheiten, auf die sie sich letztenendes gründet, zu verfälschen.“
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(Aus Shoghi Effendi „Die Sendung Bahá’u’lláhs“, S. 67 f£., 1948.)
Die Ordnung und das geoffenbarte Gesetz[Bearbeiten]
Grundzüge der Bahá’í-Gemeinschaft / von Dr. A. Ahmedzadeh
- Im „Tablet der Weisheit“ spricht Bahá’u’lláh: „... Wir geben den Menschen Rat in diesen Tagen, in denen das Angesicht der Gerechtigkeit mit Staub bedeckt, die Stimme der Unwissenheit belegt und der Schutz des Verstandes zerrissen ist — in diesen Tagen, in denen Ruhe und Treue dahin sind und Leid und Unglück alles überfluten, Bündnisse verletzt und Versprechen gebrochen werden, in den Tagen, da niemand weiß, was ihn sehend oder blind macht und wer ihn irreführt oder auf den rechten Pfad leitet.“
 
Die Grundlagenforschung über den Aufbau und die Entwicklung der sozialen Ordnung in der menschlichen Gesellschaft ist noch jung. Es wird eine der künftigen Aufgaben der Bahá’í sein, dieses Gebiet wissenschaftlich zu erforschen.
Änderung, Wechsel und Bewegung — auf diese Begriffe wird man immer wieder zurückgreifen müssen, wenn man die Grundlagen der sozialen Ordnung analysiert. Schon 400 v. Chr. prägte Heraklit den Begriff „panta rhei“ (alles fließt). Das Prinzip der Bewegung haben auch Plato und Aristoteles bejaht. Während der Dialektische Materialismus fün£ Formen der Bewegung — und zwar lediglich im Bereich der Materie — kennt, spricht ‘Abdu’l-Bahá von sieben Formen, die er wie folgt benennt: substantiell, existentiell, qualitativ, quantitativ, räumlich, geistig und göttlich.
„Änderung und Wechsel“, sagt ‘Abdu’l-Bahá, „gehören zu den Erfordernissen der materiellen Welt; wäre dem nicht so, könnte es nicht zum Aufbau und zur Bildung der Dinge kommen...“ Und: „...Gäbe es keine Änderung und keinen Wechsel, dann käme es auch zu keiner Neuerung. Wenn die Nacht nicht hereinbricht, kann es nicht Tag werden. Wenn die Religion Mose sich nicht geändert hätte, würde Christus sich nicht geoffenbart haben...“ Er hat mit diesen Worten einen deutlichen Hinweis auf die Entwicklung und den Aufbau der menschlichen Gesellschaft gegeben.
Bereits in Seinen Jugendjahren hat ‘Abdu’l-Bahá eine interessante Abhandlung geschrieben. Ihr Titel: „Siasiyyih“ oder „Politische Angelegenheiten“. Darin spricht Er von angeborenen, rein natürlichen, von Gott gegebenen Eigenschaften des Seienden und von erworbenen, durch Kultivierung und Erziehung entwickelten und entfalteten Eigenschaften.
„...Es ist klar und deutlich, daß im Wesen und in der Natur aller Dinge eine Kraft und eine Fähigkeit zur Entfaltung von zweierlei Vollkommenheiten vorhanden sind; die eine, die von natürlicher Art ist, offenbart sich ohne Vermittlung, allein durch die göttliche Schöpfung. Andere Vollkommenheiten aber sind erworbener Art, die durch Erziehung und Bildung der wahren Erzieher zustandekommt....“ Ferner: „...Betrachte die Seinsweisen in der äußeren Welt. Bäume, Blüten und Früchte zeigen eine gewisse Frische und Feinheit, während andere Eigenschaften und Qualitäten erst hervortreten, nachdem sie durch die Mühe eines gütigen Gärtners kultiviert worden sind. Sich selbst überlassen, würde aus ihnen nur Gestrüpp, Dickicht entstehen, und Blumen und Früchte blieben aus...“
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Auch in der menschlichen Gesellschaft, meint ‘Abdu’l-Bahá weiter, werde
die Saat erst aufgehen, blühen und Frucht tragen, würden ihr Fortschritt,
ihre Glückseligkeit und Sicherheit erst begründet, wenn die Gemeinschaft 
der Menschen unter der Leitung eines wahren Erziehers stehe, dessen Wissen 
und Können nicht menschlich begrenzt und lückenhaft sei, sondern Beistand 
aus der göttlichen Sphäre erhalte.
In den „Politischen Angelegenheiten“ schreibt ‘Abdu’l-Bahá unter anderem:
„Der Aufbau der menschlichen Gesellschaft bedarf naturgemäß der notwendigen Beziehungen und einer Ordnung; ohne diese könnte sie weder geschützt noch in ihrem Wohlergehen gesichert sein; ihr Bestehen bliebe nicht gewahrt, ihre Glückseligkeit würde nicht erreicht, ihre höchsten Ideale würden nicht verwirklicht, weder die Regierung noch das Land könnten Fortschritte erzielen, Städte und Dörfer nicht aufgebaut und verschönert werden. Ohne diese Beziehungen, ohne Ordnung, könnte die Welt nicht organisiert werden, würde der Mensch keine wahre Entwicklung erfahren, fänden seine Seele und sein Gewissen keine Ruhe, entfalteten sich nicht die menschlichen Tugenden, und die Gaben Gottes erschienen nicht; die menschliche Wirklichkeit könnte die Wirklichkeiten der Welt der Existenz nicht entdecken und wäre nicht über die umfassende Weisheit Gottes unterrichtet; es würden keine hervorragenden Künste und Entdeckungen gemacht werden, und die Welt des Staubes erreichte niemals die Höhen des Himmelreiches; es würden nicht wunderbare Erfindungen der Industrie und atemberaubende Neuerungen gemacht, Ost und West könnten sich nicht befreunden, und die Dampfkraft würde nicht die Teile der Welt miteinander verbinden.
Diese Ordnung und Beziehung, die die Grundlage für Glückseligkeit und Gnadengaben darstellen, ist das geoffenbarte Gesetz; diese Ordnung bürgt für die Erhaltung, Sicherung, Bewahrung und Unversehrtheit der menschlichen Gesellschaft. Würde man aber genauestens weiterforschen und mit durchdringendem Verstand nachdenken, dann würde klar, daß das geoffenbarte Gesetz und die Ordnung die wesensnotwendigen Beziehungen darstellen, die aus der Wirklichkeit der Dinge herrühren; sonst wären sie nicht fähig, die Gesellschaft zu leiten, und sie würden nicht zur Ursache von Ruhe und Glückseligkeit. Denn der Aufbau der Gesellschaft gleicht dem menschlichen Körper, der aus einzelnen Substanzen und verschiedenen, sich gegensätzlich verhaltenden Elementen zusammengesetzt ist und darum naturgemäß Erkrankungen und Zufälligkeiten anheimfällt. Wird er von unvorhergesehenen Störungen befallen, so kann nur ein erfahrener Arzt, ein Wissender, die Krankheit diagnostizieren, die Symptome analysieren, die wirklichen und tiefen Ursachen, die Erfordernisse und die Natur des Geschehens ergründen, nach den Ursprüngen und Ergebnissen, den Bedürfnissen und Mitteln forschen, das Bedeutende vom Unwichtigen trennen, darüber nachdenken, was die Krankheit erfordert und wo die Symptome herkommen, und dann erst mit der Behandlung beginnen und Medikamente verordnen.
Aus all dem geht hervor, daß die endgültige Heilung und die ausreichenden Medikamente erst aus der Kenntnis der Wirklichkeit der Natur, aus der jeweiligen Konstitution und aus dem Wesen der Krankheit selbst ersichtlich werden.
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Genau dasselbe ist der Fall beim sozialen Aufbau der menschlichen 
Gesellschaft und dem Körper der Welt, der den Boden bildet für 
wesentliche Ereignisse und der für verschiedene Erkrankungen anfällig ist. 
Das geoffenbarte Gesetz und die Verordnungen Gottes gleichen dem 
wirksamen Gegenmittel.
Kann man sich denn einen weisen Menschen vorstellen, der von sich selbst aus das chronische Übel in der Welt zu erkennen, die verschiedenen Erkrankungen und Vorfälle in der Welt der Existenz zu verstehen, die Krankheiten, die die Weltbewohner befallen, zu diagnostizieren, die Leidensursachen der menschlichen Körperschaften zu ermitteln und das verborgene Rätsel der Zeitalter und Epochen zu entziffern vermöchte, damit er die notwendigen Beziehungen feststellen und Verordnungen und Gesetze erlassen könnte, die eine sofortige Heilung brächten? Kein Zweifel, daß dies unmöglich und unvorstellbar ist!
Daraus geht klar hervor, daß der Gesetzgeber, der die Ordnung in der Form des geoffenbarten Gesetzes unter den Menschen errichtet, kein anderer ist als der Heilige, der Wissende; denn niemand außer Gott ist unterrichtet über die Wirklichkeiten des Seins, über die Feinheiten alles Existierenden, über das verborgene Geheimnis und das verhüllte Rätsel der Zeitalter und Epochen. Das Gesetz der europäischen Länder ist in Wirklichkeit nichts anderes als das Ergebnis jahrtausendelanger Forschung der Rechtsgelehrten; dennoch ist es mangelhaft und nicht abgeschlossen; es ist noch immer in Umwandlung, Verbesserung und Ergänzung begriffen, denn die früheren Denker haben die Nachteile mancher Gebräuche und Gesetze nicht erkannt. Sie ändern manche Gesetze, andere bestätigen sie und wieder andere erneuern sie.
Gehen wir zurück zu unserem Thema. Das geoffenbarte Gesetz ist zu vergleichen mit dem Geist des Lebens, eine Regierung aber ist wie eine befreiende Macht; das Gesetz Gottes ist wie ein leuchtender Mond und die Regierung wie eine regenspendende Wolke.“
Die menschliche Gesellschaft gleicht somit einem Organismus, der, ähnlich dem menschlichen Körper, erst dann richtig funktioniert und seinen Zweck erfüllt, wenn die verschiedenen, zueinander in Gegensatz stehenden Organe in einer exakten und wesensnotwendigen Beziehung zueinander stehen. Dies bedeutet, daß die Anordnung der Teile zueinander durch diejenigen Beziehungen hergestellt werden muß, die mit dem Wesen dieser Teile identisch sind. Erst dann ist ein Körper existenzfähig und funktioniert harmonisch. Der Bau der menschlichen Gesellschaft muß, soll sie ihre Funktionen erfüllen, aus solcher Art von Beziehungen hergestellt sein; diese sind im geoffenbarten Gesetz der Religion Gottes in Form von Gesetzen und Lehren gegeben; eine Gesetzgebung, die aus den Wesenheiten aller auf die menschliche Gesellschaft wirkenden Dinge besteht, kann der begrenzte menschliche Verstand nicht hervorbringen, denn die Wirklichkeiten dieser Dinge sind dem Menschen so gut wie unbekannt. Dies erklärt auch die Schwäche und Unzulänglichkeit der heutigen Gesetzgebung.
Eine menschliche Gemeinschaft, die den Boden des geoffenbarten Gesetzes 
verlassen oder dieses in säkulare Formen umgewandelt hat, wird
daher nicht bestehen können. Darin liegt auch die Bedeutung dieser Worte
Bahá’u’lláhs: „Die Religion ist ein geoffenbartes Licht und eine starke
[Seite 1077]
Festung für den Schutz und die Ruhe der Völker der Welt... Wenn das
Licht der Religion verborgen bleibt, werden Aufruhr und Anarchie 
überhand nehmen.“
- Die fortschreitende Offenbarung
 
Wenn bisher von den Beziehungen die Rede war, die den Bestand der menschlichen Gesellschaft sichern, soll nun auf das Phänomen der Änderung und Bewegung hingewiesen werden. Die menschliche Gemeinschaft — die geistige wie materielle Umwelt — ist dauernder Bewegung unterworfen, die manchmal in stürmisch-sprunghafte Form übergeht. Die im Laufe von Jahrhunderten auftretenden Änderungen schaffen neue Situationen, Werte, Bewußtseinsinhalte, denen das alte Gesetz Gottes nicht mehr entspricht. Eine neue Offenbarung Gottes ist erforderlich, welche die alten Gesetze aufhebt und neue erläßt. Eine alte Religion kann trotz „Umorganisation“, Konzilien oder menschlicher Erneuerungen dieser Anpassung nicht gerecht werden. Sie läuft bei solchen Versuchen Gefahr, am Gehalt des geoffenbarten Wortes vorbeizugehen, ohne ihr Ziel zu erreichen. Aber auch der zeitgebundene, veränderliche Teil der Religion kann auf Grund der durch die „Bewegung“ eingetretenen Änderung nicht in seiner bisherigen Form weiterbestehen. Hier wird das Prinzip der fortschreitenden Offenbarungen Gottes wirksam, das im Bahá’í-Glauben begründet ist. Die „Allumfassende Vernunft“ selbst setzt das angefangene Werk fort.
Diese Situation erfaßt Joachim Matthes in seinem Buch „Religion und Gesellschaft“ (S. 165), wenn er in bezug auf die Lage des Christentums gegenüber diesem Problem schreibt:
„Man hat diese Lage oft mit der Formel zu treffen versucht, daß das Christentum sich heute einem neuen Heidentum in der modernen Welt und besonders in ihrer Gesellschaft gegenüber sähe; diese Parallele übersieht aber, daß heute mit dem Christentum keine neue Wahrheit in eine alte Welt kommt, sondern sich eine alte Wahrheit gegenüber einer neuen Welt behaupten muß...“
Da die Kirchen in einen solchen Zwiespalt geraten sind und die Umwelt, in der der Mensch heute lebt, nicht berücksichtigt wird, verliert die Religion ihren Einfluß. Dies erklärt bis zu einem gewissen Grad das Auftreten von Unglauben und Atheismus, womit die sogenannten „Nachterscheinungen“ beginnen und Ersatzreligionen begünstigt werden — kurz, es beginnt das, was ‘Abdu’l-Bahá drastisch mit dem Auftreten der Fledermäuse verglich, die „im Dunkel der Nacht ihre Flüge beginnen“.
- Die Notwendigkeit einer neuen Ordnung
 
Es liegt auf der Hand, daß alle bisherigen Formen und Systeme der Gesellschaft versagen. Die Unruhen in der Welt sind die Zeichen. Es nimmt nicht Wunder, daß man nach einem „neuen“ Menschen sucht, der mit neuen Fähigkeiten, hoher Moral und sittlichen Kräften diese Erscheinungen zu erfassen und zu beherrschen vermag.
Die Erkenntnis der Einheit der Menschheit — verbunden mit dem 
allgemeinen Verbot des Krieges — ist heute die notwendige Grundlage für
die menschliche Gemeinschaft. Alle traditionellen Gesellschaftsformen 
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ermangeln dieses Elements; sie sind daher nicht in der Lage, das Leben der
modernen Gemeinschaft zu ordnen und fortschrittlich zu gestalten. Der
Körper des Menschen hat sich im Laufe von Jahrmillionen entfaltet und
entwickelt; der Körper der Gemeinschaft hat diese Entwicklung im Laufe
von einigen Jahrtausenden, soweit wir die Geschichte kennen, 
durchgemacht — über die Phasen Familie, Sippe, Stadtstaat, Volk, Nation.
Shoghi Effendi erläutert diesen Werdeprozeß in seiner Abhandlung „Die Entfaltung der neuen Weltzivilisation“:
„...Jene geheimnisvolle, alles durchdringende, doch unbestimmbare Wandlung, die wir mit der Stufe der im Leben des Einzelwesens unvermeidlichen Reife und der Entwicklung der Frucht in Verbindung bringen, muß, wenn wir die Äußerungen von Bahá’u’lláh richtig begreifen, ihr Gegenstück in der Entwicklung des Baues der menschlichen Gesellschaft haben. Eine ähnliche Stufe muß früher oder später im Gesamtleben der Menschheit erreicht werden, und sie wird eine noch auffallendere Erscheinung in den Weltverhältnissen hervorbringen und die ganze menschliche Rasse mit solchen Möglichkeiten des Wohlseins ausstatten, wie sie während der nachfolgenden Zeitalter den Hauptantrieb bilden sollen, der für die schließliche Erfüllung ihres erhabenen Geschicks nötig ist...“
Alles spricht dafür, daß die herannahende Reifezeit mit dem Untergang der alten Welt, der alten Gebräuche und Überlieferungen einhergeht, während der Körper der Gemeinschaft seiner Vollendung zustrebt. Darum die Unruhe, der Aufruhr, Sturm und Drang.
„Die ganze Erde“, schreibt Bahá’u’lláh, „ist jetzt in einem Zustand der Trächtigkeit; der Tag nähert sich da sie ihre edelsten Früchte gezeitigt hat, aus ihr die stattlichsten Bäume, die entzückendsten Blüten, die himmlischen Segnungen hervorgegangen sind.“
- Der universale Friede
 
Eine der Bedingungen für die Verwirklichung dieser Einheit der Menschheit ist der Große oder Universale Friede; universal in dem Sinne, daß durch ihn alle Nationen, Völker, Rassen und Religionen in gutem Einvernehmen miteinander verbunden sind. Ein solcher Friede — in der Geschichte der Menschheit erstmalig — setzt voraus, daß alle nationalen, religiösen, politischen und rassischen Vorurteile abgelegt werden, die seit Jahrtausenden das Leben der Menschen mit Leid, Tränen, Krieg und Gewalttaten begleitet haben. Die jüngsten Forschungsergebnisse, die Erfahrungen und Ereignisse, Kontakte und das gegenseitige Sich-Kennenlernen fremder Völker und Nationen während zweier Weltkriege haben gezeigt, daß hinter allem Trennenden im Grunde nichts Reales steckt. Heute werden überlieferte Vorurteile mehr und mehr als Erfindungen der Machthaber und „Gewaltigen“ entlarvt. Wir erleben heute nicht allein eine Zeit der Entdeckungen, sondern auch der Enthüllungen. Besonders deutlich wird dies, wenn die Völker einsehen müssen, daß die Opfer der beiden Weltkriege, hervorgerufen durch das politische Vorurteil, völlig nutzlos waren.
Vor einhundert Jahren, als Bahá’u’lláh das Verbot des Krieges als
höchst notwendig vorschrieb, äußerte sich der preußische General Moltke
in einem Brief wie folgt: „Der ewige Friede ist ein Traum, und nicht 
einmal ein schöner, und der Krieg ein Glied in Gottes Weltordnung. In ihm
[Seite 1079]
entfalten sich die edelsten Tugenden des Menschen, Mut und Entsagung,
Pflichttreue und Opferwilligkeit mit Einsetzung des Lebens. Ohne Krieg
würde die Welt in Materialismus versumpfen...“1)
Fast ein Jahrhundert später hat die Wissenschaft die Unbrauchbarkeit dieser Thesen erkannt und erhärtet, und deshalb muß sie nun auch „durch neue Erkenntnisse dazu beitragen, daß er (der Krieg) allgemein als unbrauchbar anerkannt und durch neue Formen und Methoden der internationalen Politik ausgeschaltet und ersetzt wird...“2)
Die Welt hat sich jedoch nicht nur in ihrem materiellen Bereich geändert. Es ist viel mehr die geistige und vor allem die göttliche Art der Bewegung, die die Ursache der spontanen, zielbewußten Änderung geworden ist, zu diesem „Streben zur Einheit“, die die Gedanken und Geister in den vergangenen einhundert Jahren erfaßt und zu ihren höchstmöglichen schöpferischen Leistungen geführt hat.
Es ist klar, daß die unerläßlichen moralisch-geistigen Beziehungen zwischen den Nationen, Völkern und Regierungen keinesfalls allein durch die Errungenschaften der Technik und durch die Produktionskräfte hervorgebracht werden können. Die materiellen Gegebenheiten vermögen höchstens den „Geringeren Frieden“, zu dem Bahá’u’lláh geraten hatte und der jetzt durch die Ergebnisse der Forschung und Technik unvermeidlich geworden ist, zu bewirken. Er nimmt gegenüber früheren Friedensverträgen eine besondere Stellung ein, vor allem in bezug auf seine Dauerhaftigkeit und Stabilität; er eröffnet größere Möglichkeiten und vermag viele Kräfte freizulegen, die jetzt nur in gebundener Form vorhanden sind. Frühere Friedensschlüsse — aus den Vorteilen und Eigeninteressen der jeweiligen Staaten hervorgegangen — mußten zwangsläufig wieder neue Kriege heraufbeschwören. Der „Geringere Friede“ aber wird wohl der erste Friedensschluß sein, der von den Weltverhältnissen diktiert wird, weil der Dauerzustand eines konventionellen Krieges die Welt nur ruinieren und in Chaos stürzen würde. Keineswegs aber kann ein solcher Friede auch die geistigen und moralischen Beziehungen zwischen den Völkern herbeiführen, ihren ethischen Standard erhöhen und festigen.
Äußere Macht und Gewalt verlieren damit ihre Berechtigung ebenso wie ihren Einfluß. Der politisch begründete „Geringere Friede“ beruht jedoch ebenfalls auf den Lehren von Bahá’u’lláh, wenngleich die Menschen nicht gewillt sind, an Seine Offenbarung zu glauben. Erst durch die Kraft des Glaubens kann der „Geringere Friede“ in den „Großen, universalen Frieden“ münden, der durch die Errichtung der von Bahá’u’lláh umrissenen neuen Weltordnung gewährleistet wird — (dem „Hauptziel“ der von Seinen Gläubigen gebildeten Einrichtungen), an der Spitze das Universale Haus der Gerechtigkeit.
- Die administrative Ordnung
 
Nach den bisherigen Ausführungen liegt es auf der Hand, daß die Bahá’í-Gemeinschaft sich nicht aktiv in das politische Geschehen einer Welt einschalten kann, deren Systeme und Ordnungen erschüttert, ja dem Untergang geweiht sind. Alles in dieser alten Welt geht seinem Ende entgegen. So spricht Bahá’u’lláh:
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„Bald wird die Ordnung des gegenwärtigen Tages aufgerollt und eine neue an ihrer Stelle verbreitet werden. Wahrlich, Dein Herr spricht die Wahrheit und ist der Wissende unsichtbarer Dinge.“
Eine Verbindung mit der Politik der alten Ordnung wäre gleichbedeutend mit Selbstvernichtung, während die Tätigkeit der Bahá’í innerhalb ihrer „administrativen Ordnung“ in höchstem Maße beiträgt, die Ursachen der Krankheit dieser Welt zu beheben. Die Aktivität in dieser Ordnung ist darauf ausgerichtet, die Ideen und Lehren der Einheit, des Friedens und der Eintracht unter den Völkern zu verbreiten und die Menschen auf die Offenbarung Bahá’u’lláhs aufmerksam zu machen. Schon in seinem privaten Leben ist der einzelne von Bahá’u’lláh verpflichtet worden, mit allen Kräften diese Aufgabe zu erfüllen, von der die Lösung der Weltprobleme abhängt. Tritt der einzelne in die erste Stufe dieser administrativen Ordnung ein (im 19-Tagefest), erweitert sich sein Horizont: Er kann von hier aus über die lokalen und nationalen Geistigen Räte die Bahá’í-Welt beeinflussen. Diese Organe bilden die Kanäle, in denen das Lebensblut des Glaubens ständig pulsiert. Die Geistigen Räte — die künftigen „Häuser der Gerechtigkeit“ — haben Aufgaben und Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, die sie gewählt hat. Die Einheit der Bahá’í-Gemeinschaft ist am deutlichsten im „Universalen Haus der Gerechtigkeit“ verkörpert, das von der ganzen Bahá’í-Welt indirekt gewählt und ein gesetzgeberisches Organ ist, dessen Bestimmungen für alle Bahá’í bindend sind.
- Der einzelne in der Bahá’í-Gemeinschaft
 
Von den Gesetzen Gottes geführt und geleitet, ist der einzelne in seinem Verhalten niemand anderem als Gott verantwortlich: Sein Leben ist erfüllt durch das geoffenbarte Wort, das ihm in einer Vielzahl von Büchern, Episteln, Tablets und anderen Abhandlungen zur Verfügung steht. Eine Fülle von geoffenbartem Schrifttum, mit dem er vertraut ist, und das Wissen der modernen Zeit erübrigen heute die Hilfe seelsorgerischer Institutionen. Die Möglichkeiten in der göttlich verankerten Ordnung erlauben dem einzelnen, seine Rechte so weit zu entfalten, daß alle im Individuum ruhenden geistigen Fähigkeiten ausgebildet und entwickelt werden können — Fähigkeiten, die in den Dienst der Menschheit, der Allgemeinheit, zu stellen er wiederum verpflichtet ist. Die Gemeinschaft bietet ihm andererseits dort Schutz, Beratung und Hilfe, wo seine Kräfte und Möglichkeiten dennoch versagen. Das Prinzip der Beratung ist überhaupt ein hervorragendes Merkmal der Bahá’í-Ordnung.
Der Bahá’í erfreut sich der vollen Freiheit der Gedanken und Anschauungen; in seinen Taten ist er jedoch verpflichtet, den Gesetzen Gottes zu folgen. In diesem Zusammenhang ist folgendes Tablet von ‘Abdu’l-Bahá interessant:
„Es gibt eine absolute Freiheit — die Freiheit des Willens Gottes. Es gibt die Freiheit des Europäers; diese besteht darin, daß der Mensch tun kann, was er will, unter der einen Bedingung: daß er niemandem damit schadet. Dies ist aber eine animalische Freiheit. Seht, wie die Vögel frei leben! Diesen Grad der Freiheit kann der Mensch nicht einmal erreichen, denn die Ordnung ist ein Hemmnis dagegen. Eine andere Freiheit besteht
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in der Unterordnung unter die Gesetze Gottes. Das ist die Freiheit des Menschen! Denn wenn er die göttliche Erziehung genossen hat, wird er frei von jeglichem Band der Versklavung und der Dinge; er wird frei von Kummer und Sorgen. Je mehr das Bewußtsein des Menschen wächst und fortschreitet, desto freier wird sein Herz, desto froher sein Geist. In der Religion Gottes besteht die Freiheit des Denkens, denn kein Mensch kann über das Gewissen eines anderen bestimmen. Diese Freiheit darf jedoch die Grenzen des Anstandes nicht überschreiten. Die Religion Gottes enthält keine Freiheit des Handelns. Der Mensch darf nicht die Gesetze Gottes übertreten, selbst wenn dadurch kein anderer zu Schaden kommt; denn das Ziel des göttlichen Gesetzes ist die eigene Erziehung ebenso wie die des anderen; also ist der Schaden, der einem selbst zugefügt wird, genauso wie der an dem anderen; beides ist abzulehnen. Im Herzen des Menschen muß Gottesfurcht („Angst vor Gott“) herrschen; der Mensch muß alles unterlassen, was vor Gott schlecht ist. Die Freiheit des Handelns in den Gesetzen der Europäer ist in der Religion Gottes nicht vorhanden. Was aber die Freiheit der Gedanken betrifft, so dürfen sie die Grenzen des Anstandes nicht verletzen, und die Taten müssen gemäß der Ehrfurcht vor Gott und dem Wohlwollen Gottes sein...“
(Badájí’ul’ Assar, Reiseberichte, Band II, S. 244)
Wiederholt weist Bahá’u’lláh in Seinem Vermächtnis, dem Kitáb-i-‘Ahd, darauf hin, wie wichtig der einzelne in der Bahá’í-Gemeinschaft ist:
„Dies ist ein großer, ein gesegneter Tag. Was im Menschen verborgen war, wird heute enthüllt. Die Stufe des Menschen ist hoch, wenn er sich an Wahrhaftigkeit und Rechtschaffenheit hält und fest und standhaft in der Sache ist. Vor dem Gott des Erbarmens erscheint ein aufrichtiger Mensch dem Himmel gleich... Seine Stufe ist die höchste, und seine Zeichen sind die Erzieher der Welt...“
„Die Männer und Frauen, die Freunde Gottes“, so schreibt ‘Abdu’l-Bahá, 
„müssen in den Stufen der Einheit, Vertrauenswürdigkeit, Keuschheit 
(Reinheit) und Gelehrsamkeit (Weisheit) große Fortschritte machen.
Es soll so weit kommen, daß die anderen Völker ihnen nacheifern und
von ihrer Lebensweise und ihren Charakteren bezaubert sind. Die Bahá’í
sollen nicht den üblen Angewohnheiten und dem absoluten Freiheitsstreben 
der anderen folgen und nicht in die niedere Gedankenwelt und die
selbstischen Begierden der anderen verfallen. Heute ist die Einheit der
Menschheit eine der Lehren Gottes, die die Gedanken der geistig gesinnten 
Menschen in der Welt anzieht. Das Wesentliche in der Lehre über die
„Einheit der Menschheit“ besteht darin, daß die Menschen aus 
verschiedenen Völkern und Nationen sich im Schatten der Einheit des 
Wortes Gottes gesammelt und die verschiedenen traditionellen Sitten, überkommenen
Bräuche und Gewohnheiten abgelegt haben... Weiterhin geht es um die
Mäßigkeit in den Angelegenheiten und dem Verhalten der Bahá’í-Frauen;
sie sollen ihren Blick nicht auf das absolute Freiheitsstreben der Europäer
richten, denn Er (Bahá’u’lláh) sagt: Diese Stufe geziemt dem Tiere.
Gleichheit der Rechte besagt nicht dies, sondern liegt im Erwerben von
Kenntnissen, im Erlernen der Künste und Studium der Wissenschaften,
Erfindungen und Vollkommenheiten der menschlichen Welt. Gleichheit
der Rechte hat nichts zu tun mit der schädlichen Freiheit der animalischen
Welt. Zum andern handelt es sich um das gute Einvernehmen und Benehmen
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seitens der Reichen und Demut seitens der bedeutenden Persönlichkeiten 
gegenüber den Armen und Schwachen. Sie müssen nicht nur Hochmut und 
Prahlerei unterlassen, sondern darüber hinaus die Armen als
Anvertraute Gottes betrachten, sie schützen und ihnen Freude bereiten,
nicht aber durch prachtvolle Toiletten ihre Sehnsucht und ihren Neid
noch vermehren. Erst dann wird die Welt größere Fortschritte machen,
wenn die Leiter und Führer der Welt ihr Leben höchst einfach 
gestalten..."
- ——————————
 - 1) H. Lindemann, „Ist der Krieg noch zu retten?“, Fischer-Bücherei, 1965 S. 11.
 - 2) Ebenda S. 13.
 
Im Mittelpunkt: die Menschenrechte[Bearbeiten]
Erfolgreiche Tätigkeit der Bahá’í in den USA zum „Jahr der Menschenrechte“
Das Jahr der Menschenrechte 1968, von der Vollversammlung der Vereinten Nationen in Erinnerung an die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 proklamiert, haben die Bahá’í in vielen Teilen der Erde zum Anlaß genommen, um — wie die Bahá’í der USA betonten — auf die „größte Aufgabe für unser Zeitalter, die Anerkennung der Einheit der Menschheit“, hinzuweisen. Die Bahá’í von USA, Alaska und Kanada haben sich durch eine Reihe repräsentativer Veranstaltungen und durch hervorragende Veröffentlichungen besonders hervorgetan. Bereits während der Interkontinentalen Konferenz im Oktober 1967 in Wilmette/USA ist eine Erklärung unter dem Titel „Menschenrechte sind gottgegebene Rechte“ der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Außerdem ist damals beschlossen worden, ein „Nordamerikanisches Bahá’í-Büro für die Menschenrechte“ ins Leben zu rufen, dessen hauptsächliche Aufgabe darin bestand, eine aktive Teilnahme der
 
- Kein indianisches Blockhaus, wenn es auch so aussieht, ist dieses schmucke Häuschen, sondern das neue Bahá’í-Institut in Fort Qu’Appelle in Britisch Columbia, Canada. Die Bemalung hat allerdings indianische Symbole zum Vorbild gehabt. Bei den Kursen im Institut wird vor allem auf die Rolle der einheimischen Bewohner in der modernen Gesellschaft aufmerksam gemacht.
 
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einzelnen Bahá’í-Gemeinden des Kontinents an den Veranstaltungen des
„Jahres der Menschenrechte“ zu gewährleisten und die Verwirklichung der
Menschenrechte in den USA und der übrigen Welt zu fördern. Wie erfolgreich 
die Arbeit der nordamerikanischen Bahá’í dabei gewesen ist
und wie aufmerksam man ihr Wirken in der Öffentlichkeit verfolgt hat,
läßt sich nicht zuletzt aus der Tatsache ersehen, daß die „Amerikanische
Gesellschaft für Öffentlichkeitsarbeit“ dem „Bahá’í-Büro“ einen wertvollen 
Preis, den „Silbernen Amboß“, für „das hervorragende Programm zur
Unterstützung des Internationalen Jahres der Menschenrechte 1968“ verlieh.
In zehn regionalen Konferenzen und einer für die gesamten USA in Chicago veranstalteten Konferenz haben Hunderte von Teilnehmern die verschiedenen Aspekte beleuchtet, unter denen die Menschenrechte zu betrachten sind. Die Arbeit gipfelte in einer Anzahl Empfehlungen, und diese rücken — wie es in einem zusammenfassenden Bericht heißt — „die Auffassungen von Menschen der verschiedensten Gesellschaftsschichten heraus, die sich vereint finden in ihrem Bemühen, das Wohl der Menschheit heute und auf lange Sicht herbeizuführen“.
Das waren einige der Themen, die behandelt wurden: Erziehung und Menschenrechte / Vorurteile und Menschenrechte / Die amerikanischen Indianer und die Rechte der Menschen / Arbeit und Menschenrechte / Wohnungsnot und Menschenrechte. Große Beachtung wurde überall den Minoritätsgruppen geschenkt. Die Abschaffung der Ghettos, der nach Nationalitäten abgegrenzten Wohnviertel in vielen Städten, war eine der von den US-Bahá’í erhobenen Forderungen. Ebenso setzten die Bahá’í sich dafür ein, daß die USA endlich die UN-Konvention über die Menschenrechte ratifizieren. Nach Meinung der amerikanischen Bahá’í sollten die „Menschenrechte“ Teil der Lehrpläne in den Schulen sein. Mit Nachdruck wandten die Konferenzteilnehmer sich auch gegen jegliche Diskriminierung am Arbeitsplatz, was in den USA — und leider nicht nur dort — im Hinblick auf das Rassenproblem besonders aktuell ist.
Eine Reihe ausgezeichneter Redner gab der nationalen Konferenz in Chicago das Gepräge. Clark M. Eichelberger, Vorsitzender der Kommission zum Studium der Organisation des Friedens, brach eine Lanze für die schwierige Arbeit der Vereinten Nationen. Nicht zuletzt leide sie darunter, daß jeder Mitgliedstaat ängstlich bemüht sei, daß niemand sich in die „inneren Angelegenheiten“ einmische. Eichelberger wurde von der US-Bahá’í-Gemeinde mit dem von ihr gestifteten Louis G. Gregory-Preis „für den Dienst an der Menschheit“ ausgezeichnet. Soziologen, Wirtschaftler, Erzieher, Juristen — sie alle stellten die „Menschenrechte“ in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen und wiesen auf die engen, nicht zu trennenden Verflechtungen dieser Rechte mit dem alltäglichen Leben, im Beruf oder in der Familie, hin.
Kein Zweifel, die nordamerikanischen Bahá’í haben durch ihre vielseitige Tätigkeit im „Jahr der Menschenrechte“ viel beigetragen, der Bahá’í-Religion in der Öffentlichkeit zu weiterem Ansehen zu verhelfen.
- DS
 
Wesentliche Prinzipien der Bahá’í-Religion
Das unabhängige Forschen nach Wahrheit, das sich befreit hat von allen
Banden engstirnigen Festhaltens an
fortschrittshemmenden Überlieferungen
Die Einheit und organische Ganzheit des Menschengeschlechts, die Grunderkenntnis und zentrale Wahrheit eines weltumfassenden Glaubens
Die Einheit aller Religionen in ihren geistigen Grundlagen
Die Überbrückung aller Vorurteile, seien sie religiöser, sozialer, rassischer oder nationaler Art
Die Übereinstimmung von Religion und Wissenschaft
Gleiche Rechte für Mann und Frau
Die gesetzliche Verpflichtung zur besten Erziehung aller Menschen
Die allgemeine Einführung einer Welthilfssprache neben der Muttersprache.
Die Begrenzung des Reichtums und die Behebung sozialer Not
Die Bildung eines Weltbundesstaates und eines Weltschiedsgerichtshofs zur Schlichtung von Streitigkeiten unter den Völkern
Die Religion als Bollwerk der Liebe und Verständigung für den Schutz aller Völker und Rassen.
Der Weg zum bewußten Menschen[Bearbeiten]
Gedanken zur Erziehung der Kinder / von Erik Blumenthal
- „Die Erhabene Feder macht allen zur Pflicht, die Kinder zu unterrichten und zu erziehen.“1))
 
Die Erziehung der Kinder wie auch der Erwachsenen, einzeln und in ihrer Gesamtheit, als Fremderziehung oder als Selbsterziehung, wird in der Bahá’í-Religion so wichtig genommen, daß diese schon die Religion der Erziehung genannt wurde. Es ist beabsichtigt, das Thema entsprechend den neun bekannten Fragen nach Subjekt und Objekt, Grund und Zweck, Art und Menge, Ort und Zeit sowie Inhalt zu gliedern. Die psychologischen Ausführungen beruhen auf der Individualpsychologie Alfred Adlers und ihrer Weiterführung durch Rudolf Dreikurs.
- Wer erzieht?
 
Es sind nicht nur die Eltern und später die Lehrer, die unsere Kinder erziehen, sondern ebenso das große Heer der sogenannten „unbestellten Erzieher“, wie zum Beispiel im Haushalt lebende Personen, Großeltern, Verwandte, Bekannte, Freunde, Untermieter, Nachbarn und andere, die mit dem Kind in Berührung kommen, und sei es nur der Briefträger oder der Milchmann.
Eine größere Bedeutung als diesen meist unbewußten Erziehern, ja oft noch als den Eltern, kommt Geschwistern und später den Gleichaltrigen zu. Daß wir den Einfluß der Gleichaltrigen auch bewußt benützen sollen, zeigen einige Sätze aus einer Ansprache, die ‘Abdu’l-Bahá im April 1913 in Stuttgart gehalten hat: „...bezüglich dieser Dinge muß ein Kind das andere fragen, und das andere Kind muß die Antwort geben. Auf diese Weise werden sie große Fortschritte machen. Zum Beispiel müssen auch mathematische Probleme in der Form von Frage und Antwort gelehrt werden. Eines der Kinder stellt eine Frage, und das andere muß die Antwort geben. Später werden die Kinder aus eigenem Antrieb miteinander über diese Themen sprechen.“ Diese Worte ‘Abdu’l-Bahás werden durch die neueste Erziehungspsychologie bestätigt, in der das Klassengespräch oder z.B. auch der Schülerrat eine sehr große Rolle spielen. 2)
- Wen soll man erziehen?
 
Die Frage weist schon darauf hin, daß wir nicht nur die volle Verantwortung für die Erziehung unserer eigenen Kinder haben, sondern auch eine Mitverantwortung für die Erziehung anderer Kinder. „Wenn jemand seinen Sohn oder Kinder eines anderen erzieht, so ist es, als erziehe er Meine Kinder.“ 3) Wesentlich ist auch, daß wir ganz bewußt uns selbst erziehen sollen, als unbedingte Voraussetzung für die richtige Erziehung unserer Kinder. Dazu bedarf es der Selbsterkenntnis, wie Bahá’u’lláh sagt: „...die wahre Erkenntnis eures eigenen Selbstes erlangen.“ 4) Das Beispiel, das wir durch Selbsterziehung geben können, beeinflußt auch andere Menschen, besonders unserer Umgebung, was ‘Abdu’l-Bahá bestätigt: „Das Leben und die Gesittung eines geistigen Menschen bedeuten an sich schon eine Erziehung für die, die ihn kennen.“ 5)
- Warum sollen wir Kinder erziehen?
 
Weil es ein ausdrückliches Gebot Bahá’u’lláhs ist. ‘Abdu’l-Bahá sagt: „Nun zu deiner Frage, die Erziehung der Kinder betreffend: Es ist deine Pflicht, sie an der Brust göttlicher Liebe zu stillen, sie dazu anzuregen, daß sie geistigen Fragen nachgehen, sich Gott zuwenden und in der Menschenwelt gute Sitten, wertvolle Charakterzüge und wohlgefällige Tugenden und Eigenschaften erwerben; ferner sollten sie die Wissenschaften fleißig studieren. Auf diese Weise mögen sie von Kindheit an vergeistigt, himmlisch, den Wohlgerüchen der Heiligkeit zugeneigt sein und eine religiöse, geistige, himmlische Bildung erwerben“. 6)
- Wozu sollen wir die Kinder erziehen?
 
Das eine Hauptziel ist die Erziehung zu Gott hin, damit die Menschen Gott immer näher kommen und immer mehr zu Seinem Ebenbild werden. Der Zweck ist, Gott in allem zu sehen. Der Sinn des Lebens ist, wie es im Mittagsgebet heißt, “Gott zu erkennen und anzubeten.“
Das zweite Hauptziel ist die Erziehung zum Menschen hin. Auch die Liebe zum Mitmenschen müssen Kinder lernen. Mehr psychologisch ausgedrückt: Das jedem Menschen innewohnende Gemeinschaftsgefühl muß durch die Erziehung entwickelt werden. Gemeinschaftsgefühl bedeutet Mitmenschlichkeit, Bereitschaft zur Leistung, zur Hingabe, zur Verantwortung. Es heißt, anderen und sich selbst vertrauen, nicht nur die eigenen, sondern auch die Interessen anderer verfolgen, mutig und optimistisch sein, im Leben einen Sinn sehen, nicht immer auf Sicherheit bedacht sein, usw. Es ist mehr als einfaches Mitmachen, es will den anderen zum Fortschritt, zur Weiterentwicklung verhelfen.
- Wie soll man erziehen?
 
Voraussetzungen zur richtigen Erziehung bilden drei Dinge:
a) Wir müssen die Kinder verstehen.
b) Wir müssen die richtigen Methoden anwenden.
c) Wir müssen uns selbst besser verstehen. (Hierauf können wir in diesem Rahmen leider nicht eingehen.)
Wir leben in einer Übergangszeit, ja in einer Zeit der Krankheit, sogar des Todeskampfes der alten Kulturen, während von der Kultur der Zukunft bis jetzt nur erste Anzeichen in Erscheinung getreten sind. Die Lehren der alten Religionsstifter, die die seitherigen Kulturen entstehen ließen, wurden entstellt, und die Lehren des Göttlichen Erziehers für unsere Zeit sind noch nicht genügend verbreitet. Wir bewegen uns rasch aus einer autokratischen Vergangenheit, in der immer einer, sei es der König, der Fürst oder der Patriarch der Familie, der Vater, die Macht hatte und befahl, kritisierte und bestrafte, in eine demokratische Zukunft, in der die soziale Gleichwertigkeit aller Menschen und damit die gegenseitige Achtung und Verantwortung Tatsache werden müssen. Unsere Kinder spüren, daß sich ihre Stellung in der Gesellschaft geändert hat, und leisten Widerstand, wenn sie mit den alten Methoden behandelt werden.
Der Mensch ist eine zielgerichtete Einheit. Jeder Mensch folgt dem
Ziel der Vollkommenheit, ob er es weiß oder nicht, ob er will oder nicht.
Er versucht, seine Fähigkeiten so gut wie möglich zu entfalten, was 
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allerdings dem Menschen von heute nur zu einem Bruchteil gelingt. Ein etwas
näher liegendes Ziel ist das Bestreben jedes Menschen und damit auch
jedes Kindes, sich zugehörig zu fühlen, einen Platz zu finden. Um dieses
Ziel zu erreichen, entwickelt das kleine Kind, schon ehe es in die Schule
kommt, seinen Lebensstil, der die Meinung des Kindes von seinen eigenen
Kräften und Fähigkeiten, von seiner Umgebung, den nächsten Angehörigen 
und der Welt ebenso umfaßt wie die Methoden, durch die es glaubt,
mit dem Leben am besten fertigzuwerden und das Ziel der Zugehörigkeit
zu erreichen.
Jedes Verhalten von Kindern ist zielgerichtet, und zwar verfolgen sie, je nach dem Grad ihrer Entmutigung, eines oder mehrere der vier Nahziele: Entweder wollen sie Aufmerksamkeit erregen oder sich als überlegen erweisen oder sich rächen oder ihr Unvermögen demonstrieren, um alleingelassen zu werden.
Wenn Kinder sich falsch verhalten, wenn sie stören, wenn sie schlechte Angewohnheiten haben oder sonst unzugänglich sind, sollten wir immer zuerst untersuchen, welches Ziel sie damit wohl verfolgen. Wir können dann lernen, mit welchen Maßnahmen dem Kind am besten geholfen werden kann. Dabei ist es sehr wichtig, einige der wesentlichsten Vorurteile in der Erziehung von Kindern zu erkennen und abzulegen, zumal dies eines der wichtigsten Bahá’í-Prinzipien darstellt:
Viel weniger wichtig als der Blick in die Zukunft, nämlich nach den Zielen, ist die Untersuchung von Gründen und Ursachen, die zu dem störenden Verhalten des Kindes geführt haben. Erstens können wir das, was geschehen ist, nicht mehr rückgängig machen, während wir die Ziele und die Zukunft verändern können; zweitens gibt es in der Vergangenheit hundert Gründe für ein bestimmtes Verhalten, während es nur ein Ziel gibt. Die kausale Betrachtungsweise ist also neben der finalen in den Hintergrund getreten. Außerdem dient das, was geschehen ist, oft als Entschuldigung, womit aber tatsächlich nichts gewonnen ist.
Es gibt wohl kein anderes Vorurteil, das so viel Entschuldigungen bietet, wie der Glaube an die bestimmende Macht von Anlage und Milieu. Tatsache ist, daß ein dritter Faktor wesentlicher ist, nämlich die freie schöpferische Kraft des Kindes, sich seine eigene Meinung zu bilden. Es kommt nicht so sehr darauf an, was ein Kind hat und ist, sondern wie es das, was es hat und ist, gebraucht, was es aus dem, was es in die Welt mitbringt und was es in der Welt vorfindet, macht. Daraus ergibt sich die Zweitrangigkeit der Tatsachen. Es kommt zum Beispiel nicht so sehr darauf an, ob ein Kind geliebt wird, sondern darauf, ob es glaubt, daß es geliebt wird. Die Mutter kann es noch so sehr liebhaben, wenn das Kind sich aber die Meinung gebildet hat, daß es nicht geliebt wird, dann handelt es so, als ob die Mutter es nicht liebhabe.
Ein anderes Vorurteil hat schon viel Unheil angerichtet: Es heißt, der
Mensch werde von den beiden Trieben der Selbsterhaltung und der Arterhaltung 
(wozu auch der Sexualtrieb gehört) bestimmt. Wichtiger als
diese beiden sogenannten Triebe ist aber das Streben des Menschen, sich
zugehörig zu fühlen. Triebe, besonders natürlich der Sexualtrieb, sind die
wichtigsten Quellen für Entschuldigungen, mit denen man sich vor der
eigenen Verantwortung drücken will. In Geschlechtsfragen ist aber 
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tatsächlich das soziale Moment von wesentlich größerer Bedeutung als das
biologisch-sexuelle.
Die Meinung, daß man hauptsächlich durch Fehler lerne, ist ein weiteres Vorurteil. Jedes Kind weiß, wann es einen Fehler gemacht hat und braucht nicht besonders darauf hingewiesen zu werden. Wir können nicht auf Schwächen bauen, sondern müssen vom Positiven ausgehen, Anerkennung für kleine Leistungen geben und Fehler möglichst ignorieren.
Das letzte zu besprechende große Vorurteil: Bestrafung und Belohnung sind für den individuellen Fall zwei veraltete Erziehungsmethoden, für die Erziehung der Menschheit jedoch haben sie noch große Bedeutung. Wenn wir die Kinder heute bestrafen, dann lernen sie nur, uns später wieder zu strafen. Die hinter einer Strafe stehende Autorität einer Einzelperson kann von unseren heutigen Kindern nicht mehr anerkannt werden.
Ebenso steht es mit der Belohnung. Wenn wir ein Kind für irgend etwas belohnen, dann erziehen wir das Kind dazu, nichts mehr ohne Belohnung zu tun. Selbstverständlich sollen wir unseren Kindern Freude machen, aber dies nicht in Zusammenhang mit Dingen, die Sache des Kindes sind und zu seiner (nicht zu unserer) Verantwortung gehören, wie zum Beispiel die Schulzeugnisse und das Helfen zu Hause.
- Die richtigen Methoden
 
Die wesentlichen und richtigen Methoden können unter drei Hauptprinzipien eingereiht werden, nämlich die Ordnung, die Ermutigung und das Vermeiden von Streit.
So wie die Familienkonstellation, die Rangfolge innerhalb der Geschwisterreihe, einen großen Einfluß auf Verschiedenheiten unter Geschwistern ausübt, so ist die Familienatmosphäre im allgemeinen dafür verantwortlich, wenn Geschwister besondere Ähnlichkeiten im Wesen, in den Interessen und Ansichten zeigen. Im Haus sollte eine geistige Atmosphäre herrschen, die dadurch hervorgerufen wird, daß man täglich in den Heiligen Schriften liest und betet, Geschichten aus der Anfangszeit des Glaubens erzählt, die Festtage feiert, das Fasten einhält, Freunde und Fremde bewirtet und mit ihnen regelmäßig Gespräche über den Glauben führt. Das Beispiel der Eltern ist hierbei von großer Bedeutung, besonders wenn sie sich durch ihre Religion eine klare Weltanschauung erarbeitet haben, die Schönheit der Natur und der Welt betonen und sich kulturellen Interessen aufschließen.
In einer Familie sollte jeder Achtung vor dem anderen haben. Die Eltern können lernen, freundlich und fest zu gleicher Zeit zu sein. Immer freundlich bleiben heißt, sich nicht vom Verhalten des Kindes abhängig zu machen. Der Ton unserer Stimme, der für die Kinder sehr bedeutsam ist, sollte unsere optimistische und liebende Einstellung enthüllen. Gleichzeitig kann man fest sein und den Mut zum oft notwendigen Nein aufbringen. Sämtliche Regeln in einer Familie gelten ohne Ausnahme für alle Mitglieder. Wir sollten uns auch nicht so sehr darum kümmern, was andere tun, als darauf achten, daß wir das Richtige tun.
Zur Ordnung gehört auch eine gewisse Regelung des Tageslaufes, damit
die Kinder wissen, wann wir beschäftigt sind und wann wir Zeit für sie
haben. Konsequent zu sein, ist ein weiteres Erfordernis, das fast alle
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kennen; sie finden es aber oft schwer, es zu erfüllen. Befehle sollten
möglichst durch Vorschläge ersetzt werden.
Eine besonders wichtige Methode ist es, statt der früher üblichen Strafen natürliche oder logische Folgen eintreten zu lassen. Die Anwendung der Folgen muß geübt, kann aber erlernt werden, auch wenn es manchmal nicht leicht fällt, den feinen Unterschied zwischen Strafen und Folgen richtig zu erkennen. Für das Kind tritt in beiden Fällen etwas Unangenehmes ein, aber hinter den Folgen steht die Autorität der Wirklichkeit, des Lebens, der Gruppe, eine Autorität, die auch Kinder von heute anerkennen können. Noch ein letzterer Hinweis innerhalb der Ordnungsregeln: Lassen Sie sich von einem Kind nie ein Versprechen geben, auch wenn es dies freiwillig anbietet.
Alle Erziehungsmaßnahmen, die ein Kind entmutigen oder ihm gar Angst machen, müssen falsch sein. Dazu gehört übermäßiges Beschützen, das Kind in Abhängigkeit halten, Kritisieren, Nörgeln, Tadeln, Herabsetzen, Demütigen, übermäßige Strenge und besonders auch der Vergleich mit Geschwistern oder anderen Kindern. Auch Mitleid entmutigt stark.7) Weiter ist es entmutigend, wenn wir, was heute allgemein geschieht, die kindliche Auffassung und Intelligenz unterschätzen. Jeder Erwachsene kann von jedem Kind, so klein es auch sein mag, etwas lernen, so daß wir uns angewöhnen sollten, auf Kinder zu hören. Gespräche mit Kindern gehören zum Wichtigsten; sie entstehen dadurch, daß wir Fragen stellen. Richtige Gespräche ermöglichen, sich gegenseitig besser zu verstehen. Auf diese Weise können wir dem Kind seine Ziele enthüllen.
Eine besonders wirkungsvolle Form des Gesprächs ist der Familienrat, in dem jedes Kind (Beginn etwa mit fünf Jahren) eine volle Stimme wie jeder Erwachsene hat. Das heißt, daß jedes Mitglied der Familie im Familienrat gleichberechtigt ist, daß jedes sich äußern darf und wichtig genommen wird, so daß die Verantwortung für das, was in der Familie geschieht, auf vielen ruht und nicht nur auf den Eltern. Es ist unglaublich, was man durch den Familienrat erreichen kann, vorausgesetzt, daß er richtig durchgeführt wird.
Ermutigung ist für ein Kind, was Sonne und Wasser für eine Pflanze sind (Dreikurs). Wir können aber nur ermutigen, wenn wir an das Kind glauben, wie es jetzt ist, nicht wie es sein könnte. Und eine andere Regel ist in diesem Zusammenhang wichtig: daß jedes Familienmitglied desto besser funktioniert, je mehr Anerkennung es für seine Aufgaben und Pflichten erhält.
Noch kurz ein Wort zur körperlichen Bestrafung, die ‘Abdu’l-Bahá 
ausdrücklich ablehnt, die aber trotz besserem Wissen von so vielen Eltern
immer wieder angewandt wird. Körperstrafen sind auch falsch, wenn das
Kind sie als verdient ansieht. Schläge rufen Haß- und Wutgefühle, ja oft
den Todeswunsch gegen den Peiniger hervor. Jeder Schlag zerstört ein
wenig Würde, Mut und Selbstvertrauen. Auch wenn die Schläge äußerlich
und kurzfristig gut zu wirken scheinen, sollten wir nicht vergessen, daß
jeder Mensch, der als Kind geschlagen wurde, die Spuren der Schläge in
seinem Charakter zeigt. Der in der Kindheit übermäßig geschlagene
Mensch ist nie ein echtes soziales Wesen, sondern bleibt ein halbgezähmtes 
Tier. Geschlagene Kinder schlagen später wieder und vergessen, daß
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die Anwendung von Schlägen die eigene Schwäche, Feigheit und Angst
sowie den Wunsch nach Überlegenheit verrät.
Eine der neuen Grundregeln heißt, daß wir das Kind und sein Verhalten gut beobachten, sodann viel überlegen und entsprechend handeln, aber so wenig wie möglich reden. Damit soll das meist unrichtige impulsive Reagieren ausgeschaltet werden. Wenn Kinder miteinander streiten, sollen wir uns grundsätzlich nicht einmischen, wir sollen uns aber auch von einem einzelnen Kind nicht zu einem Streit verleiten lassen, sondern notfalls eine kritische Situation entspannen, was am besten durch Humor, Ablenkung oder dadurch gelingt, daß wir das Gegenteil von dem tun, was das Kind von uns erwartet. Wenn wir spüren, daß wir unsere Fassung verlieren, ist es besser, uns zurückzuziehen, was nichts mit Nachgeben zu tun hat. Nachgeben ist genau so falsch wie Streiten. Streit verletzt die Würde des anderen, Nachgiebigkeit unsere eigene. Auch hierbei ist es wichtig, sich nicht persönlich zu sehr zu beteiligen, sondern sich auf die Situation zu beziehen. Außerdem sollten wir nicht alles so schwer nehmen. Ein wichtiges Mittel, um Streit mit dem Kind zu vermeiden, ist das gemeinsame Vergnügen.
- Wieviel sollen wir erziehen?
 
Man kann auch zuviel erziehen wollen, so daß sich ein Kind bedrängt, unterdrückt oder gezwungen fühlt. „... Anwendung von Gewalt, selbst für eine gerechte Sache, wird keine guten Früchte zeitigen.“ 8)
Erziehung soll die Kinder nicht stören, sondern fördern. Wir sollten unser Eingreifen auf ein Minimum beschränken. Wir können mehr, als wir im allgemeinen glauben, das Kind sich selbst überlassen, das heißt, es nicht vernachlässigen, sondern ihm Vertrauen schenken, daß es mit einer gegebenen Situation selbst fertig wird und dabei seine Kräfte erproben und erleben kann.
- Wo sollen wir erziehen?
 
Wir sollen das Kind da erziehen, wo wir möglichst mit ihm allein sind, damit es sich nicht durch die Gegenwart Dritter gedemütigt fühlt. „... Vater und Mutter sind der Achtung wert...,“ wie ‘Abdu’l-Bahá sagt, aber Kinder können diese Achtung nur lernen, wenn wir selbst Achtung vor ihnen haben.
Auch in unmittelbarer Gefahr ist kein Platz für Erziehung, denn dann gibt es nur eines: das Kind aus der Gefahr oder die Gefahr vom Kind entfernen.
- Wann sollen wir erziehen?
 
Die Erziehung beginnt schon im Mutterleib. Schwangerschaft ist die Zeit, wo eine Frau viel mehr beten sollte als sonst. Mut, Selbstvertrauen und sittliche Haltung werden dadurch gestärkt; unnötige Befürchtungen und Ängstlichkeit werden vermieden.
Die Kinder können schon sehr früh daran gewöhnt werden, Gebete zu
lernen, aber mit fünf Jahren ist der Zeitpunkt gekommen, wie Bahá’u’lláh
sagt, wo sie nicht nur Religionsunterricht zu Hause bekommen, sondern
auch im richtigen Verhalten, in Höflichkeit usw. unterrichtet werden 
sollten. In der schon eingangs erwähnten Ansprache sagte ‘Abdu’l-Bahá in
Stuttgart: „...Kinder müssen eine gute Erziehung von ihrer frühesten
Kindheit an bekommen... Vieles grundsätzliche Wissen muß ihnen schon
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als Kleinkind klargemacht werden, sie müssen es im Spiel und mit 
Vergnügen lernen.“
Ein anderer wichtiger Zeitpunkt ist das Alter von etwa fünfzehn Jahren, wo die Kinder nicht mehr Gegenstand der Kindererziehung sein sollten, weil sie eben keine Kinder mehr sind. In diesem Alter sollten Eltern und Kinder richtige Kameraden und Freunde geworden sein. Eine Erziehung ist auch dann nicht ausgeschlossen, sie erfordert aber besonderes Verständnis, Feingefühl und Geduld, die wir oft nicht im erforderlichen Maß aufbringen. Grundsätzlich ist es zum Erziehen nie zu spät, aber immer höchste Zeit.
Auch in einem anderen Fall ist der richtige Zeitpunkt von Bedeutung, nämlich wenn es mit dem Kind zu einem Streit gekommen ist. In den Augenblicken der gestörten Ordnung kann kein erzieherischer Einfluß eine Wirkung ausüben. Wir müssen dann warten, bis die Ordnung wiederhergestellt ist und Übereinstimmung und Harmonie zwischen den Generationen besteht.
- Was ist der Inhalt unserer Erziehung?
 
‘Abdu’l-Bahá wies darauf hin, daß gutes Benehmen, Höflichkeit und Charakter wichtiger als Wissen und Kenntnisse sind. Wenn der Charakter nicht richtig erzogen ist, kann das Wissen zur Gefahrenquelle werden. Wissen und Charakter gehören zusammen. Was wir lehren sollen, sind in erster Linie die menschlichen Tugenden, die in jedem Kind wie Edelsteine verborgen schlummern. Sie ans Tageslicht zu heben, ist unsere Aufgabe. Diese Tugenden sind nach Shoghi Effendi9) „Redlichkeit des Verhaltens mit den damit verbundenen Folgen der Gerechtigkeit, Rechtlichkeit, Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit“, weiter „ein keusches und heiliges Leben mit seinen Kennzeichen der Bescheidenheit, Reinheit, Enthaltsamkeit, Anständigkeit und inneren Sauberkeit“, ebenso wie Mäßigung und Abstand von allen Übertreibungen.
Ein anderes Erfordernis ist die Freiheit von Vorurteilen, zu denen zum Beispiel auch die Angst gehört. Erst wenn sie die Vorurteile erkennen und ablegen, können Kinder freie, verantwortungsvolle und bewußt entscheidende Menschen werden, wobei es natürlich nicht auf die äußere, sondern auf die innere Freiheit ankommt. Auch Liebe gehört zu den Tugenden, die gelernt werden müssen, da von den vielen Arten der Liebe nur drei die richtigen sind, nämlich die Liebe zu Gott, die Liebe zum Mitmenschen, unserem Mitgeschöpf, das heißt die Liebe von Mensch zu Mensch, bei der Gott nicht vergessen wird, und die Liebe zur ganzen Menschheit.
- ——————————
 - 1) Bahá’u’lláh, Tablet Ishráqát, Bahá’í-Briefe 11, S. 263.
 - 2) s. Rudolf Dreikurs, Psychologie im Klassenzimmer, Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1967.
 - 3) Bahá’u’lláh, Tablet Ishráqát, Bahá’í-Briefe 11, S. 263.
 - 4) Bahá’u’lláh, Ährenlese CLIII, Frankfurt a. M. 1961.
 - 5) ‘Abdu’l-Bahá, Ansprachen in Paris, Kap. 51, Frankfurt a. M. 1955.
 - 6) Göttliche Lebenskunst, S. 67, Frankfurt a. M. 1961.
 - 7) Einzelheiten über diese und andere Methoden s. Rudolf Dreikurs, Kinder fordern uns heraus, Ernst-Klett-Verlag, Stuttgart 1966.
 - 8) ‘Abdu’l-Bahá, s. „Sonne der Wahrheit“ III/56.
 - 9) Das Kommen göttlicher Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1969, S. 39 und 50.
 
- Was wissen Sie
 
- von Báhá’ulláh?
 
Er schrieb:
- „Das Wesen des Reichtums ist die Liebe zu Mir. Wer Mich liebt, besitzt alle Dinge, und wer Mich nicht liebt, gehört fürwahr zu den Armen und Bedürftigen.“
 
- (Worte der Weisheit)
 
Drei Millionen Bahá’í in aller Welt erkennen in Bahá’u’lláh den Gesetzgeber 
einer neuen Weltordnung für die ganze Menschheit. Jeder muß sich
mit Seinem Anspruch auseinandersetzen; denn Er hat allen Menschen
zur Pflicht gemacht, selbständig nach der Wahrheit zu suchen.
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Redaktion: Dipl.-Volkswirt Peter A. Mühlschlegel, 6104 Jugenheim, Goethestraße 14, Telefon (0 62 57) 74 67, u. Dieter Schubert, 7021 Oberaichen, Viehweg 15, Telefon (07 11) 74 97 67.
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