Bahai Briefe/Heft 37/Text

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[Seite 963] D 20155 F



BAHÁ'I-

BRIEFE


BLÄTTER FÜR

WELTRELIGION UND

WELTBEWUSSTSEIN



AUS DEM INHALT:


Das „Buch der Gewißheit“

Die Bahá’í-Religion und die Selbstverwirklichung des Menschen

Menschenrechte und Völkerrechte


HEFT 37 JULI 1969


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O Sohn des Menschen !


Schreibe

mit der Tinte des Lichtes

auf die Tafel des Geistes,

was Wir dir verkündet haben.

Wenn du dies nicht vermagst,

so mache das Wesen deines Herzens

zu deiner Tinte.

Bist du auch dazu nicht imstande,

dann schreibe mit der roten Tinte,

die auf dem Pfade zu Mir vergossen wurde.

Wahrlich, dies ist Mir kostbarer

als alles andere,

denn solches Licht währet ewiglich.

Bahá’u’lláh


(Verborgene Worte, arab. 71)



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Der Weg zur ‚Stadt der Gewißheit”[Bearbeiten]

Aus dem „Buch der Gewißheit“ von Bahá’u’lláh


Wenn ein wahrer Sucher sich entschließt, mit forschendem Schritt den Pfad zu betreten, der zur Erkenntnis des Altehrwürdigen der Tage führt, so muß er vor allem sein Herz, den Sitz der Offenbarung der inneren Geheimnisse Gottes, von allem trübenden Staub erworbenen Wissens und von den Einflüsterungen der Verkörperungen satanischer Wahngebilde reinigen und läutern. Er muß seine Brust, das Heiligtum der immerwährenden Liebe des Geliebten, von jeder Besudelung säubern und seine Seele heiligen von allem, was dem Wasser und dem Lehm zugehört, von allen schattenhaften, flüchtigen Verhaftungen. Er muß sein Herz so läutern, daß kein Überrest von Liebe oder Haß darin verharrt, damit ihn weder Liebe blind zu Irrtum leite noch Haß ihn von der Wahrheit vertreibe. Gerade jetzt kannst du bezeugen, wie die meisten Menschen, durch solche Liebe oder solchen Haß des unsterblichen Antlitzes beraubt, weit abgeirrt sind von den Verkörperungen der göttlichen Geheimnisse und hirtenlos durch die Wildnis des Irrens und Vergessens streifen. Der Sucher muß allezeit sein Vertrauen in Gott setzen, sich abkehren von den Erdenmenschen, sich lösen von der Welt des Staubes und Ihm, dem Herrn der Herren, anhangen. Nie darf er sich erheben wollen über irgendwen, und jede Spur von Stolz und Dünkel muß er von der Tafel seines Herzens waschen. Er muß in Geduld und in Ergebung harren, Schweigen üben und sich eitler Rede enthalten. Denn die Zunge ist ein schwelend Feuer, und zuviel der Rede ist ein tödlich Gift. Das irdische Feuer verbrennt den Körper, das Feuer der Zunge aber verzehrt das Herz wie die Seele. Die Kraft von jenem währt nur eine Weile, aber die Wirkung von diesem dauert ein Jahrhundert lang.

Auch sollte der Sucher wissen, daß Verleumdung eine arge Verirrung ist, und er sollte sich fern von ihr halten; denn Verleumdung löscht das Licht des Herzens und erstickt das Leben der Seele. Er sollte sich mit wenigem begnügen und frei werden von allem ungehörigen Begehren. Er sollte den Verkehr mit denen schätzen, die der Welt entsagt haben, und es als kostbares Geschenk betrachten, die prahlerischen, weltlich gesinnten Menschen zu meiden. Zur Morgendämmerung sollte er jeden Tag zu Gott beten, und mit ganzer Seele sollte er im Suchen nach seinem Geliebten verharren. Er sollte jeden eigenwilligen Gedanken mit der Flamme der liebevollen Erwähnung Gottes verbrennen und mit Blitzesschnelle vorübereilen an allem außer Ihm. Er sollte dem Besitzlosen beistehen und niemals seine Gunst und Gabe dem Hilflosen versagen. Er sollte gut sein zu den Tieren und noch viel besser zu seinem Nächsten, der mit der Macht der Sprache begabt ist. Er sollte nicht zögern, sein Leben für seinen Geliebten zu opfern, auch sollte er sich nie durch den Tadel der Menschen von der Wahrheit abbringen lassen. Er sollte nicht für andere wünschen, was er nicht für sich selbst wünscht, und nicht versprechen, was er nicht erfüllt. Von ganzem Herzen sollte der Sucher die Gesellschaft der [Seite 967] Übeltäter meiden und für die Vergebung ihrer Sünden beten. Er sollte dem Sünder verzeihen und niemals dessen niedere Stufe verachten, denn niemand weiß, wie sein eigenes Ende sein wird. Wie oft schon hat ein Sünder in der Todesstunde zum Wesenskern des Glaubens gefunden, den unsterblichen Wein getrunken und seinen Flug zu der himmlischen Heerschar genommen! Und wie oft schon hat sich ein ergebener Gläubiger zur Stunde des Aufstiegs seiner Seele so gewandelt, daß er in das niedrigste Feuer fiel! Der Sinn dieser überzeugenden und wichtigen Aussprüche ist, dem Wanderer und Sucher einzuschärfen, alles außer Gott als vergänglich anzusehen und alle Dinge außer Ihm, dem Ziel aller Anbetung, als äußerst nichtig zu achten....

Nur wenn die Lampe des Suchens, des ernsten Strebens, des sehnsüchtigen Verlangens, der leidenschaftlichen Ergebenheit, der glühenden Liebe, der Begeisterung und der Verzückung in des Suchers Herz entzündet ist und der Hauch Seiner Güte über seine Seele weht, wird die Finsternis des Irrtums vertrieben, werden die Nebel der Zweifel und Ängste zerstreut und die Lichter der Erkenntnis und Gewißheit sein Wesen einhüllen. Zu dieser Stunde wird der mystische Herold, der die Freudenbotschaft des Geistes bringt, aus der Stadt Gottes strahlend wie der Morgen aufleuchten und durch den Posaunenstoß der Erkenntnis das Herz, die Seele und den Geist aus dem Schlummer der Nachlässigkeit erwecken. Dann werden die mannigfachen Gunstbeweise und Gnadenströme des Heiligen und Ewigen Geistes solch neues Leben dem Sucher verleihen, daß er sich mit einem neuen Auge, einem neuen Ohr, einem neuen Herzen und einem neuen Gemüte beschenkt sieht. Nun kann er über die offensichtlichen Zeichen des Weltalls nachsinnen und die verborgenen Geheimnisse der Seele durchdringen, und mit dem göttlichen Auge schauend wird er in jedem Atom eine offene Tür erblicken, die ihn zu den Stufen entschiedener Gewißheit weist. In allen Dingen wird er die Geheimnisse göttlicher Offenbarung und die Beweise ewigwährender Verkündung entdecken.

Ich schwöre bei Gott! Würde der Sucher, der den Pfad der Führung wandelt und die Höhen der Tugend zu erklimmen trachtet, diese hehre, erhabene Stufe erreichen, so würde er tausend Meilen weit den Duft Gottes empfinden und den strahlenden Morgen der göttlichen Führung wahrnehmen, der sich über der Dämmerung aller Dinge erhebt. Ein jedes Ding, und sei es noch so klein, wäre für ihn eine Offenbarung, die ihn zu seinem Geliebten führt, dem Ziel seines Suchens. So groß wird seine Unterscheidungsgabe werden, daß er Wahres vom Falschen wie die Sonne vom Schatten zu sondern vermag. Wenn in den fernsten Winkeln des Ostens die süßen Düfte Gottes wehen, so wird er sicherlich ihren Duft erkennen und einatmen, und weilte er auch im äußersten Westen. Desgleichen wird er alle Zeichen Gottes — Seine wundervollen Aussprüche, Seine großen Werke und mächtigen Taten — von den Taten, Werken und Zeichen der Menschen klar zu scheiden wissen, wie der Juwelier die Perle vom Steine oder wie jeder Mensch den Frühling vom Herbst und Hitze von Kälte. Wenn der Kanal der menschlichen Seele von allen weltlichen, hemmenden Verhaftungen geläutert ist, dann wird sie sicherlich [Seite 968] den Hauch des Geliebten über unermeßliche Entfernungen hin verspüren und, durch seinen Wohlgeruch geleitet, die Stadt der Gewißheit erreichen und betreten. In ihr wird der Mensch die Wunder Seiner altehrwürdigen Weisheit erfahren und all die verborgenen Lehren aus dem Rauschen der Blätter des Baumes vernehmen, der in dieser Stadt blüht. Mit dem äußeren und dem inneren Ohr zugleich wird er aus ihrem Staub den Hymnen und Lobgesängen lauschen, die zum Herrn der Herren emporsteigen, und mit dem inneren Auge wird er die Mysterien der „Wiederkunft“ und der „Wiederbelebung“ schauen. Wie unaussprechlich herrlich sind die Merkmale, die Zeichen, die Offenbarungen und der Glanz, die Er, der König der Namen und Eigenschaften, für diese Stadt bestimmt hat! Das Erreichen dieser Stadt löscht den Durst ohne Wasser und entflammt die Gottesliebe ohne Feuer. In jedem Grashalm sind die Geheimnisse einer unerforschlichen Weisheit verwahrt, und in jedem Rosenbusch singen Tausende von Nachtigallen in seliger Verzückung. Wundervolle Tulpen enthüllen das Mysterium des Brennenden Busches, und die süßen Düfte der Heiligkeit verbreiten den Wohlgeruch des Messianischen Geistes. Diese Stadt verleiht Reichtum ohne Gold und gewährt Unsterblichkeit ohne Tod. In jedem Blatt sind unaussprechliche Wonnen verwahrt, und in jeder Kammer liegen ungezählte Geheimnisse verborgen.

Jene, die fleißig nach Gottes Willen forschen, werden, wenn sie einmal allem außer Ihm entsagt haben, von dieser Stadt so angezogen und entzückt sein, daß sie sich nicht mehr vorstellen können, auch nur einen Augenblick von ihr getrennt zu leben. Sie werden den untrüglichen Beweisen aus der Hyazinthe jener Gemeinde lauschen und die sichersten Zeugnisse aus der Schönheit ihrer Rose und den Gesängen ihrer Nachtigall empfangen. Ungefähr alle tausend Jahre einmal wird diese Stadt erneuert und aufs neue geschmückt.

Bahá’u’lláh, „Buch der Gewißheit“ (Kitáb-i-Iqán), Frankfurt 126/1969, S. 129 ff.



Durchbruch durch die Mitte[Bearbeiten]

Wer das Leben als ständigen Entwicklungsprozeß erkennt, kann die Lehren von Bahá’u’lláh als eine Theorie des gelenkten Durchbruchs betrachten. Daß Durchbrüche zu veränderten Gegebenheiten und neuen Bewußtseinszuständen das Ziel revolutionärer Umwälzungen sind, weiß jeder Wissenschaftler, der sich mit komplizierteren Zusammenhängen als den einfachen mathematisch-physikalischen Erscheinungen befaßt. Noch ist aber selbst der kritischste Geist allzu schnell bereit, solche Durchbrüche als unabänderliche, kaum beeinflußbare Naturgewalten hinzunehmen. Die Fragen nach ihrem Wesen, ihrem Sinn und ihrer Manipulierbarkeit werden allenfalls theoretisch und politologisch gestellt; vom begrenzten Horizont des Dialektischen Materialismus her sucht man sie zu beantworten. Für alle, die rechts von der Mitte stehen, sind solche Fragen tabu, weil sie an den Grundfesten des Bestehenden [Seite 969] rütteln könnten. Kaum einer hat begriffen, daß es sich um allgemeine Erscheinungen des bewußten Lebens handelt, die das Individuum ebenso sehr betreffen wie jedes politische Gemeinwesen; kaum einer versteht, daß Durchbrüche nicht unbedingt in gewalttätige Revolution ausarten müssen, daß sie vielmehr ihrem Wesen nach in der Bildung und Festigung neuer Bewußtseinsinhalte bestehen und dementsprechend mit „friedlichen Mitteln“, durch Erziehung, herbeigeführt werden können: als Durchbruch durch die Mitte des Lebens zu neuen, höher kultivierten Zielkonzeptionen und Ordnungssystemen.

Die Offenbarungswahrheit Bahá’u’lláhs ist einfach und unteilbar, weil sie auf der Grunderkenntnis aller Hochreligionen beruht — einer Erkenntnis, die leider in fast allen religiösen Gedankensystemen immer wieder bis zur Unkenntlichkeit verdeckt oder vermenschlicht wird: Die Lehre, daß es einen Gott gibt. Alles weitere ist im Prinzip logischer Ableitung zugängig. Das wird freilich dann problematisch, wenn der Mensch in den Mittelpunkt seiner religiösen Vorstellungen unerklärbare Paradoxien stellt. Es ist festzuhalten: Die Religion Gottes ist logisch, insoweit sie allgemeinverbindlich ist, und sie ist allgemeinverbindlich, insoweit sie logisch ist.

Praktisch bedeutet die Einheit Gottes, daß alle Sinngebungen menschlichen Daseins auf ein einheitliches Ganzes bezogen sind und von diesem her in ihrem Wert bestimmt werden. Dieses einheitliche Ganze muß in Raum und Zeit definiert werden, von Persönlichkeiten, die aus sich selbst heraus den Anspruch überragender Autorität rechtfertigen. Wie es zum Wesen der Schöpfungsordnung gehört, daß sie Genies hervorbringt, an denen sich die Menschen trotz aller Selbständigkeit im Denken orientieren, wenn sie auf ihren jeweiligen Gebieten etwas erreichen wollen, so muß auch das Auftreten religiöser „Übermenschen“, solcher Genies der Wertordnung, desto notwendiger sein, je höher sich das Leben auf diesem Planeten entwickelt. Nur Gott ist einzig und absolut; folglich muß alles andere vielfach und relativ sein, auch die göttliche Offenbarung. Ihre Aufeinanderfolge, die „ungefähr alle tausend Jahre einmal“ die Stadt Gottes, das Bündnis Seiner Religion, „erneuert und aufs neue schmückt“ (Íqán S. 133), ist auch daher zu erklären, daß die Verhältnisse sich grundlegend ändern und religiöse Vorstellungen und Lebensformen meist zeitbedingt und daher abzulösen sind.

Dies ist die „Drei-Welten-Lehre“ der Existenz einer Welt Gottes, einer Welt der Offenbarung und einer Welt der Schöpfung, mit der Bahá’u’lláh den Dualismus der herkömmlichen Theologien zu einem entwicklungsbezogenen Denkmodell dynamisiert. Sie ist die Grundlage des umfassenden Lehrgebäudes und der Weltordnung Bahá’u’lláhs, die nachweislich die optimalen Ordnungsmodelle für die anstehende Gestaltung eines organisch-weltweiten Gemeinschaftslebens liefern. Die geheimnisvolle Unergründbarkeit der dem Menschen übergeordneten Welten Gottes und der Offenbarung bietet Gewähr dafür, daß die Einfachheit dieser [Seite 970] Drei-Welten-Theorie niemals auf das Niveau abgeflacht werden kann, das manche Dialektiker und Materialisten der Menschheit aufzwingen wollen. Andererseits ermöglicht diese einfache Theorie einen umfassenden Autoritäts- und Wahrheitsanspruch, der jeden Menschen, ob unentwickelt oder hochgebildet, vor die klare Entscheidung eines Ja oder Nein stellt, weil das Wesen der Religion auf die Anerkennung dieser Autorität und die Befolgung ihres schriftlich niedergelegten Willens zurückgeführt wird.

Hat ein Mensch diese Anerkennung vollzogen und sich in dieser Befolgung genügend eingeübt, werden sich ihm Bewußtseinszustände und Quellen der Selbstverwirklichung erschließen, von deren Kraft und Schönheit er sich zuvor keine Vorstellung machen konnte. Bahá’u’lláh spricht vom Eintritt in die „Stadt der Gewißheit“. Der psychische Vorgang ist rational erklärbar. Jeder hat sich in seinem Leben schon um eine Frage grundsätzlicher Art bemüht, bis ihm plötzlich „die“ Lösung auf unerklärliche Weise intuitiv zum Bewußtsein kam. Erfahrene Pädagogen sprechen von der Gewalt des „Aha-Erlebnisses“ und betrachten es als besondere Kunst, solche plötzlichen Durchbrüche bei ihren Schülern vorzubereiten und einzuleiten, um sodann die entstehende Begeisterungsenergie für weitere Lernfortschritte nutzbar zu machen. Warum sollte dieses Prinzip nicht in gleicher Weise auf die Grundfrage nach dem Sinn unseres Daseins anzuwenden sein?

Es ist ein bezeichnender Widerspruch in unserem modernen Denken, daß für jeden schöpferisch tätigen Menschen der Begriff der Intuition, des überraschenden Entdeckens von neuen Gedankeninhalten, zum täglichen Handwerkszeug gehört, daß man diese „Eingebung“ aber hinnimmt, ohne danach zu fragen, wer der Geber ist. Ein bewußteres Fragen nach den ursprünglichen Sinnzusammenhängen und nach der Bestimmung des Menschen könnte das Tor zur umfassenden Quelle jeder Eingebung, zur Gottesoffenbarung, aufstoßen. Das Wort Gottes, die „Sonne der Wahrheit, von der die Erziehung des Menschen im Reich der Gedanken abhängig ist“, offenbart sich — durch Intuition — „immer nach der Fähigkeit und der Art des: Spiegels, durch den sie widergespiegelt wird. Wird zum Beispiel ihr Licht auf den Spiegel des Weisen geworfen, dann bringt es Weisheit zum Ausdruck, wird es vom Geist des Künstlers widergespiegelt, so schafft es neue und schöne Künste, leuchtet es durch den Geist des Gelehrten, dann offenbart es Wissen und enthüllt Geheimnisse“ (Bahá’u’lláh, Worte der Weisheit).

Von der Einheit Gottes und von der Macht göttlicher Offenbarung her sich in die Entwicklungsabläufe des Lebens hineinzudenken, bringt gegenüber den Verfahren aller herrschenden Denksysteme, seien sie theologischer, positivistischer oder dialektisch-materialistischer Art, den entscheidenden Vorteil, daß man subjektiv dieser Eingebung voll und ganz vertrauen und objektiv die Einheit des Entwicklungssubjekts aufrechterhalten und nutzbar machen kann. Es sind grundlegende Unterschiede, ob man [Seite 971] beispielsweise einem reichen Geizhals entgegenhält: „Du bist geizig und böse; bitte darum, daß du durch die Gnade Gottes großzügig und gut wirst“, ob man liberalistisch-positivistisch sagt: „Dein Reichtum ist durch die Realitäten gerechtfertigt, aber vielleicht macht es dir sogar selber Spaß, wenn du ihn etwas großzügiger verwendest“, ob man gar nicht mehr mit ihm spricht, sondern ihn als einen unverbesserlichen Kapitalisten zu beseitigen trachtet, oder ob man den schlichten Grundsatz verkündet, daß alle Menschen das ihnen vom Schöpfer anvertraute Gut sparsam und doch großzügig im Dienst an der Menschheit zu verwenden haben. Nur die letzte Aussage führt dazu, daß sich das Entwicklungssubjekt in seinen positiven Eigenschaften bestätigt fühlt und von da her, gleichsam spielend, seine negativen Wesenszüge überwindet.

In dem Maße, wie einerseits das Bewußtsein — individuell oder gesellschaftlich — sich entwickelt, andererseits die materiellen Verhältnisse sich festigen, wächst die Bedeutung der integrierenden, zur Einheit führenden Kräfte im Vergleich zu den Gegensätzen, die dialektisch Spannungen innerhalb des Systems hervorrufen und dadurch das ihrige zur Entwicklung, wenn auch oft gewaltsam verzerrt, beitragen. Im selben Maße wachsen aber auch die Gefahren, welche Gleichgewichtsstörungen jeglicher Art zwangsläufig mit sich bringen. Im ärmsten Entwicklungsland dieser Erde gibt es nicht so viele Neurosen wie in unserer spätpluralistischen Wohlstandsgesellschaft, in welcher der Mensch seine Mitte verloren hat.

Von der Einheit Gottes und der Macht göttlicher Offenbarung her ist es leicht, die Parallelität sämtlicher Entwicklungsvorgänge zu betonen und nutzbringend anzuwenden. Alle Kreisläufe — der Tag, das Jahr, das menschliche Leben, Aufstieg und Verfall einzelner Kulturen, die Entwicklung der Menschheit — unterliegen im Prinzip denselben Bewegungsgesetzen, die sehr wohl der Generalisierung und Abstraktion fähig sind. Bahá’u’lláh hat mit Seinen „Sieben Tälern“ eine Beschreibung des geistigen Entwicklungsweges der menschlichen Seele gegeben; der Weg der Seele ist derjenige Entwicklungsablauf, den jeder einzelne Mensch am klarsten erfassen, am leichtesten in ständiger Fehlerkorrektur verfolgen und am schöpferischsten entfalten kann. Selbstverständlich muß man die Gegebenheiten analysieren und richtig bewerten, wenn man dieses Entwicklungsgesetz auf andere Systeme übertragen will.

Entscheidend in jeder Entwicklung sind ihr Start und ihre Durchbruchphase. In der wirtschaftswissenschaftlichen Entwicklungstheorie verwendet man den Begriff des „Take-off“, des Abhebens, der aus der Flugzeug- und Raketentechnik entlehnt ist; die Wirtschaftler verstehen darunter den für Entwicklungsländer anzustrebenden Zustand, in welchem die inneren Wachstumskräfte „von selbst“ für die weitere Wohlstandsvermehrung sorgen. “Take-off“ ist aber auch für alle anderen Prozesse ein sehr anschauliches Bild, weil es wie das zweite der „Sieben Täler“ von Bahá’u’lláh, das Tal der Liebe oder Begeisterung, das Wesen der [Seite 972] Durchbruchsituation charakterisiert. Der Durchbruch ist die Phase der höchsten Willensanstrengung oder Energieentfaltung, wie wir es auch beim Jahreskreislauf sehen, wo im Mai die Sonne ihrem Kulminationspunkt zustrebt und „Wachswetter“ schafft. „Take-off“ macht aber zugleich deutlich, wie entscheidend wichtig die Vorbereitung ist. Kein Raketenstart würde gelingen, wenn nicht ein Heer von Wissenschaftlern die Voraussetzungen geschaffen hätte.

Es lohnt sich, die Worte von Bahá’u’lláh über die Voraussetzungen für ein erfolgreiches Suchen nach der Wahrheit und der persönlichen Selbstverwirklichung, wie sie in den „Sieben Tälern“, im „Buch der Gewißheit“ und in zahlreichen Sendschreiben niedergelegt sind, als eine Art „Countdown“ des Bewußtseins anzusehen und in kritischer Haltung gegenüber dem eigenen Ich ebenso wie gegenüber der menschlichen Gesellschaft zum Maßstab zu nehmen. Wie weit sind gerade wir „gebildeten“ Abendländer davon entfernt, unser „Herz, den Sitz der Offenbarung der inneren Geheimnisse Gottes, von allem trübenden Staub erworbenen Wissens“ zu reinigen, das heißt von der Einheit Gottes anstatt von den Zufallsergebnissen einer Wissenschaft her zu denken, die „satanischen Wahngebilden“ wie der sogenannten „normativen Kraft des Faktischen“ heute noch verhaftet ist. Es bedarf eines umfassenden sittlichen Engagements als Grundlage und nicht als Schaumkrone des menschlichen Bewußtseins, ehe der Durchbruch durch den Teufelskreis kultivierter Unzulänglichkeit genügend vorbereitet ist. Erforderlich ist eine klare Zielvorstellung von der „Stadt der Gewißheit“, die uns zur ewigen Heimat, zum „Jerusalem“ des Reiches Gottes werden soll. Es bedarf des Verständnisses für das „Geheimnis des Weges“, das darin besteht, daß der „Wanderer nicht um Haaresbreite vom Gesetz abgehen darf“ (Bahá’u’lláh, Sieben Täler, S. 44), und es bedarf vor allem anderen der umfassenden Anerkennung dessen, der der Führer auf diesem Wege, der Herrscher in jener Stadt Gottes und der Verfassungsgeber einer umfassenden neuen Weltordnung ist.

Peter Mühlschlegel



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Ethische Kultur ....
... verlangt Anerkennung des absoluten Wertes alles Existenz. Das ist der Begriff der wahren Liebe. Liebe ist das Prinzip der ethischen Kultur. Sie ist der Wille, allem, was existiert, nach seiner wahren Bedeutung, das heißt nach seiner Bestimmung, gerecht zu werden. (Darum macht sie keine Unterschiede: Sie ist nicht zu verwechseln mit subjektiver Sympathie; Liebe ist nicht sentimental.) Aber vom Menschen allein kennen wir die Bestimmung: Kultur als Pflege der geistigen Möglichkeit. Dem Menschen gegenüber fungiert somit das Liebesprinzip als Anerkennung der kulturellen Mission und Würde jedes Mitmenschen. In dieser Mission ist jeder dem andern gleich: Ich und Du vereinigen sich kulturell zum „Wir“.
Paul Häberlin (Schweizer Philosoph, 1878-1960)
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Das schöpferische Wort Gottes[Bearbeiten]

Einführung in das „Buch der Gewißheit“ / von Helen Reed Bishop

Bahá’u’lláhs „Buch der Gewißheit“ (Kitáb-i-Íqán) ist vor kurzem in zweiter deutscher Auflage erschienen (Bahá’í-Verlag, Frankfurt/ Main 126/1969, mit Einführung, Erläuterungen, Namen- und Worterklärungen sowie Index, 228 Seiten, Leinen DM 12,80). Wir veröffentlichen aus diesem Anlaß die ausführliche Beschreibung des Werkes, die der englischen Ausgabe (Wilmette, Ill., USA 1960) vorangestellt ist.
Die Red.


Ob ein Bahá’í dem Westen oder dem Osten angehört, er wird sich nicht leicht dem Wagnis einer Wegbegleitung in das „Kitáb-i-Íqán“ unterziehen. Jeder Gläubige ist tief erfüllt von Bewunderung und Liebe für ein Buch, das „unter den unermeßlichen Schätzen aus dem wogenden Ozean von Bahá’u’lláhs Offenbarung an erster Stelle“ steht.

Mit dieser Metapher hielt Shoghi Effendi, der Hüter des Bahá’í-Glaubens, in „Gott geht vorüber“ (Kap. VIII), die Bedeutung des Iqán fest. „Gott geht vorüber“ ist ein geschichtlicher Abriß der Bahá’í-Religion, der die Zeit und die Umstände darstellt, in denen der Íqán geoffenbart wurde, kurz bevor Bahá’u’lláh Seine Sendung öffentlich erklärte, gegen Abschluß Seiner Verbannungszeit im ‘Iráq um 1862 n. Chr.

Die Übersetzung durch Shoghi Effendi ins Englische fängt für uns abendländische Menschen eine neue Schau der göttlichen Wahrheit ein. So sehr uns ihre Schönheit ergreift, sollen wir sie doch nicht nur empfangen und schweigend für uns behalten. Dieses Geschenk fordert zu einem Glaubenszeugnis heraus, als Zeichen der Antwort aus einer von tiefer Dankbarkeit erfüllten Gemeinschaft. Allen Suchern nach dem Mittelpunkt der Wahrheit für ein neues Zeitalter wird nun eine neue Ausgabe des Werks dargeboten. Unsere Einführung hofft dazu beizutragen, den Unwillen westlicher Sucher zu überwinden und ihr Augenmerk auf die tiefen Wesenszüge der fortschreitenden Gottesoffenbarung zu lenken.

„Kitáb-i-Íqán“ ist arabisch und bedeutet „Buch der Gewißheit“. In diesem Titel liegt beschlossen, daß das Buch das schöpferische Wort Gottes ist: Es benutzt den Logos, der menschlichen Seele positives Wissen um das Göttliche zu vermitteln. Allein durch eigenes Bemühen kann der Mensch nicht geistig werden. Die Anerkennung der Manifestation Gottes verwandelt die Zweifel der Seele durch eine Wiedergeburt in Sicherheit. Dies bedeutet eine höhere Stufe des Seins, das Wohnen in „der Stadt unbedingter Gewißheit“. Wer dort lebt, hat entdeckt, daß Glaube nicht die bloße Zustimmung des Bewußtseins zur Übernahme umfassenderer Vorstellungen, auch nicht zu einem radikalen Wechsel der Denkmodelle ist: Glaube ist eine Gabe des Reiches in der Höhe, die alle Vorstellungen in geistiges Leben verwandelt. Wie sich die Seele belebt, erneuern sich auch [Seite 974] die Atome des Körpers bis ins Mark. „Er schenkt Reichtum ohne Gold und gewährt Unsterblichkeit ohne Tod“ (S. 133).

Ist die Seele auf solche Weise verwandelt, wird sie hinfort für immer im Reiche Gottes weilen. Sie ist von einem unnachahmlichen Duft der Anziehung umgeben. Sie schreitet durch Täler des Wachstums hindurch, indem sie immer neue verborgene Tugenden entfaltet und immer neue Kräfte ausstrahlt. Die Fähigkeit, auf die Herausforderungen des Leides und der Freude, der Erniedrigung und der Begeisterung zu antworten, vergrößert sich unermeßlich. Auf gewissen Stufen wird die erwachte Seele durch das Wort als Erkenntnis beherrscht, auf anderen Stufen durch das Wort als Liebe. Obgleich diese Eigenschaften jedem Gläubigen gewährt werden, bleibt doch die Eigenheit jeder Seele durch alle Stufen der Erleuchtung und der Nähe erhalten. Aber für alle Zeit hat die durch das Wort wiedergeborene Seele den Unglauben überwunden, der die gleichgültige Mehrzahl der Menschen befällt.


... einer inneren Krise zu

Es gibt keine niedrigere Stufe, die dem ewigen Sicherheitsverlangen in der Seele des Menschen gerecht wird. Im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert schreit dieses Verlangen laut hinaus. Unerbittliche Streitfragen, die lange im Schach gehalten werden konnten, sind zu geistigen Krisen geworden. Freilich gibt es Massen von Menschen, die sich an der Suche nach dem Sinn des Lebens noch nicht beteiligen. Unter ihnen sind Männer und Frauen, die wie besessen dem Glück nachjagen; aber sie betrügen sich selbst, weil sie eher dem eigenen Ich davonlaufen als einem Ziel nachgehen. Und selbst wenn Menschen im Genuß des Irdischen ihr ein und alles finden, selbst wenn ihr Heißhunger vorübergehend gestillt wird — Erfüllung ist etwas anderes. Die Jahre der Reife eilen einer inneren Krise zu, von der die Jugend noch nichts ahnen kann. Fragt doch die Heiden, ob sie die Alegria, das Glück der Erde, heutzutage noch finden können! Es gibt praktisch keine heitere Gelassenheit mehr.

Daß dieses Glück der heiteren Gelassenheit zu bestimmten Zeiten in der Geschichte erreichbar war, ist mehr als eine Legende vom Goldenen Zeitalter. Auch die Geschichtsschreibung muß überarbeitet werden: Erleuchtete Geschichtsbetrachtung wird einmal die Vergangenheit als einen Rhythmus des Suchens und Wiederfindens der einst verlorenen Sicherheit begreifen. Es gab Jahrhunderte, in denen die exaktesten Denker zutiefst Gläubige waren. Gedankliche Weite umfaßte sowohl die Religion als die Wissenschaft der Zeit und brachte die Tatsachen der Natur mit den Wahrheiten der Religion in Einklang. In einem derart milden Seelenklima blühten die Künstler auf; sie malten wundersame Bilder, die die ganze Freude an der Welt in der Madonna mit dem Kinde, umgeben von den Heiligen, einfingen.

In den Kulturen, die uns beeindrucken, war die Gegenseitigkeit der Gottesliebe das allumschließende Band zwischen bedeutenden Menschen und den Massen, die in blindem Glauben an der Religion festhielten. In [Seite 975] jeder geeinten Gesellschaft waren die gebildeten und die einfachen Menschen einander unter dem einzigen sichtbaren Joch jeder Zivilisation angenähert: unter dem religiösen Gesetz. Damals zeigten die Gesellschaftsklassen unter einem Kodex des Zwanges mehr heitere Gelassenheit als moderne Persönlichkeiten, die jedem Zwang abhold sind.

In der Frühlingszeit und im lang anhaltenden Sommer der Glanzzeiten für Israel und die Christenheit oder in den friedfertigen Tagen des Islams durchdrang die Religion die ganze Atmosphäre; sie beschäftigte das Gemüt und die Fertigkeiten sämtlicher Menschentypen. Der Generalnenner, der beständigste Wesenszug der Hochkulturen war ihr Sinn für die Abhängigkeit von Gott, dem Urheber aller Dinge. Das sichere Wissen um eine höhere Herrschaft über die Welt besänftigte die instinkthafte Natur des Menschen in ihrer Rastlosigkeit, während sich die Gesellschaft durch alle Bildung und Auflösung von Staatswesen hindurch zu immer menschlicheren Verhältnissen emporrang.

Durch die Beschäftigung mit dem Willen Gottes in gleichem Maße wie mit den alltäglichen Bedürfnissen war das Leben des einfachen Mannes auf einen Zweck programmiert und nahm Bedeutung an. Er hatte sich einem göttlichen Plan unterworfen, durch den er auch an seine Mitmenschen gebunden war. In der Tat stand er in Beziehung zur ganzen Welt — mindestens zu dem kleinen Teil, den er davon kannte.

Durch den Glauben erlangte ein ganzes Volk oder sogar eine Völkervereinigung einen Zustand des Friedens oder wenigstens der Bewußtheit, im Gleichgewicht mit den Zeitläuften, in denen sie lebten. Herrscher und Künstler, Soldaten, Feudalherren und Leibeigene arbeiteten im Rahmen ihrer Begrenzungen, aber alle waren sie eingebettet in die Gewißheit des verheißenen Himmelreichs.

Waren sie, unsere Vorfahren, nicht dieselbe Menschenrasse wie wir? Können moderne Männer und Frauen nicht von ihrer Überspanntheit geheilt werden und anfangen, durch das Wort die verlorene Sicherheit wiederzufinden? Mit dem Glauben werden auch Gelassenheit und Reife einkehren.

Der Íqán stellt fest, daß das Prinzip der Erneuerung, das alle Zeitalter hindurch am Werke ist, die wesentliche Aufgabe des Heiligen Geistes darstellt. Das Wort ist der Träger des Geistes; es erneuert und erlöst die Seele. Der Mensch wird zum Krüppel, wenn er sich seiner Segnungen beraubt.


Die Wurzel religiöser Wahrheit

Und der Mensch wird beraubt und entfremdet bleiben, wenn sich die Geistlichkeit zwischen den Sucher und das göttliche Licht stellt. Deshalb verkündet Bahá’u’lláh bereits im ersten Absatz des Íqán, daß Gewißheit und Sicherheit niemals wiederzugewinnen sind, ehe der Mensch seine Abhängigkeit von selbsternannten Führern, ob gelehrt oder unwissend, überwindet und sich um göttliche Führung ausschließlich an die Boten [Seite 976] Gottes wendet. Die Propheten sind in sich selbst der Maßstab für die Gotterkenntnis des Menschen: Jede religiöse Wahrheit hat ihre Wurzel in der prophetischen Offenbarung. Die Propheten sind die Stimme, die die Herausforderung Gottes verkündet. Ihnen nur gebührt die Antwort des Menschen. Mit diesem machtvollen Thema und der Erläuterung, die es verdient, befassen sich die folgenden Seiten des Íqán.

Das Buch bezeugt die besonderen Stufen und Sendungen der Religionsstifter. An keinem von Ihnen hat der Verfasser irgendetwas auszusetzen: Er lobpreist Sie allesamt und betont die Einheit Ihrer Grundlehren. Abraham, Moses, Christus, Muhammad und in neuester Zeit der Báb, Sie alle sind die Offenbarer des göttlichen Gesetzes. Ihnen hat Gott die sittliche Erziehung der Menschheit anvertraut. Sie stehen im Mittelpunkt des Bündnisses, das im Himmel für das Heil des Menschen geschlossen ist.

Die Aufeinanderfolge der Manifestationen Gottes ist ein kosmisches Drama, das den Bauplan des Weltalls entfaltet. Ihre Botschaften verkünden fortschreitend das Modell der Gesellschaft, ihrer übernatürlichen Regierung, der eigentlichen Geschichte und Bestimmung des Menschen. Sie entfesselten den Gemeinschaftsgeist, der seinerseits das Alltagsleben der Menschen beseelt. Sie gaben die Gesetze, aus denen die Bande der Brüderlichkeit, der Ehe, der Familie und der Großgemeinschaft, die wir Zivilisation nennen, hervorgingen. Und Sie waren es, die die leuchtende Verheißung des Reiches Gottes, das schließlich mit dem Kommen eines Welterlösers auf Erden errichtet werden soll, durch die Geschichte trugen.


Die zweifache Stufe des Báb

Der Íqán bezeugt die zweifache Stufe des Báb als Vorläufer dieses Welterlösers und in der Erbfolge aus dem Geschlecht Abrahams. Als Antwort auf die Frage eines Dichters des zwanzigsten Jahrhunderts: „Wo ist der Prophet, der in meinem Herzen ruft?“, verkörpert der Báb das ewige „Hier bin Ich!“ Denn was der Báb sagt, ist dasselbe Wort, das seit Anbeginn den Himmel an die Erde vermittelt. Er ist „das Tor“ zur „Stadt der unbedingten Gewißheit“. In Seiner Erscheinung kommt der Prophet als „ein flammengleicher Jüngling“ wieder auf die Erde, verkündet Seine Botschaft und stirbt dann den Opfertod im erbarmungslosen Zauberwerk böser Könige und Priester. Sicherlich, der Stoff dieses Dramas ist altbekannt, die Verkettungen seines Ablaufs sind gleichermaßen ergreifend und schrecklich. Aber für den modernen Menschen ist die Geschichte des Báb vor allem deshalb so mitreißend, weil sie sich kurz vor unseren eigenen Tagen, zwischen 1844 und 1850, abspielte.

Angedeutet, aber nicht ausgedrückt ist im Íqán die Stellung Bahá’u’lláhs. Sein Kommen gehört zur Bestimmung der Menschheit. Durch die Vollmacht des Geistes ist Bahá’u’lláh der Welterlöser: Durch Seine Offenbarung kann der Strahlenglanz des Heiligen Geistes der ganzen Menschheit jenes Gefühl der Sicherheit, von dem wir eingangs sprachen, vermitteln.

Die Schranken des Vorurteils und der Volksbezogenheit werden von den Lebenswassern Seiner majestätischen Verse hinweggespült. Alle altmodischen [Seite 977] Begrenzungen, die auf vorväterlichen Denkmodellen, Rassenstolz, kriegerischem Volkstum, Erbfeindschaften, religiösem Sektierertum und dergleichen beruhen, werden durch göttliches Gebot aufgehoben. In den Augen ihres Schöpfers erhebt sich die Menschenwelt zu ihrer wesenhaften Wirklichkeit, ihrer Einheit. Nur die Isoliertheit des menschlichen Zeitgefühls leistet der Erfüllung des Himmelreichs in der Welt des Augenblicks noch Widerstand.

Deshalb ruft Bahá’u’lláh die ganze Menschheit auf, sich geschlossen zu erheben, sich freudigen Herzens Seine umfassenden Grundsätze zu eigen zu machen und ein weltweites Gemeinwesen aufzubauen. Im Zusammenwirken der Nationen werden die unsichtbaren Heerscharen irdische Herrschaft mit göttlichem Gesetz und himmlischem Frieden erfüllen. Die Voraussetzungen, die Jesaja aufstellte, sind gegeben: Der „Friedefürst“ hat „die Herrschaft auf Seine Schulter“ genommen; Er hat „mit dem Stabe Seines Mundes die Erde geschlagen und mit dem Odem Seiner Lippen den Gottlosen getötet“ (Jes. 11, 4). Der übermenschliche Herrscher der werdenden Weltkultur ist ein himmlischer König, aber für Sein Volk in über 300 Ländern und Territorien ist Er ein Vater, der aus der Höhe über sie alle wacht.

(Fortsetzung Seite 978)












In den vergangenen Monaten haben die Bahá’í in vielen Teilen der Welt wieder eine Reihe von Lehrkonferenzen veranstaltet, in deren Verlauf die weitere Arbeit diskutiert worden ist. Von Nordeuropa bis in die südlichsten Länder, in West und Ost stand die Verbreitung der Lehren Bahá’u’lláhs im Mittelpunkt. Unser Bild zeigt einige der Teilnehmer der Konferenz von Uppsala in Schweden.


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Weisheit, Majestät und Liebe — das waren die Eigenschaften, die Bahá’u’lláh während Seines Erdenlebens (1817-1892) verkörperte. Aus Seinem Vaterland Írán wurde Er durch den Spruch weltlicher und geistlicher Mächte verbannt. Sultanat und Kaliphat warfen Ihn in den Kerker, um die alte Ordnung aufrechtzuerhalten. Aber Bahá’u’lláh verkündete beharrlich, diese alte Ordnung könne nicht fortbestehen. Äußerlichen Verhältnissen, die Ihm vierzig Jahre hindurch unermeßliches Leid brachten, beugte Er sich niemals; denn Seine Herrschaft war göttlich.

Schließlich wurde Bahá’u’lláh mit Seinen Jüngern in die finstere Festung von ‘Akká in Syrien verbannt. In ihrer blinden Unwissenheit bemerkten Seine Feinde nicht, daß sie mit dieser Entscheidung eine alte Verheißung erfüllten: „Karmel und Scharon — sie werden die Herrlichkeit des Herrn sehen“. So ist auch die Bibel kein versiegeltes Buch mehr; denn Daniel verschloß sie nur bis „zur Zeit des Endes“, wenn ihre letztliche Bedeutung und ihr Geheimnis durch jenen Verheißenen, für den sie geschrieben war, enthüllt würden.


Der urewige Lehrsatz

Der Íqán ist unbesiegbare Wahrheit; denn Gott läßt Seine Selbstoffenbarung nicht in Seinen Geschöpfen wohnen. Die Einheit Gottes steigt nicht in die Verschiedenheit und Vielheit Seiner Schöpfung herab. Wieder ist der urewige Lehrsatz von der Unerkennbarkeit des göttlichen Wesens bekräftigt worden; weil das Zeitalter der Reife angebrochen ist, verkündet der Íqán diesen Lehrsatz mit beispielloser Klarheit. Ort, Form, Natur und Beziehungen, die sich der Mensch als Kategorien seines Schöpfers vorstellte, liegen jenseits alles Denkbaren: Gott ist; Er steht hoch über dem menschlichen Denkvermögen und ist demzufolge erhaben über alle Begriffsbestimmungen.

In der Wüste zeitgenössischer Verwirrung schmachten viele „verunsicherte“ Gottsucher. Manche streben in wildem Drang nach Selbstvergottung. Solche anziehenden, spekulativen Geister sind Beispiele überspannter Leichtgläubigkeit, und alle Welt macht die Modetorheiten mit. Das „neue Denken“ gewinnt durch den Zusammenbruch der Orthodoxie an Volkstümlichkeit. Viele der lebendigsten Denker haben sich von den vorväterlichen Glaubensvorstellungen abgewandt und den Mentalismus, die Vergottung des Menschengeistes, an die Stelle der Religion gesetzt. Und selbst im innersten Burghof der Orthodoxie erheben sich Mystiker, die eine direkte Verbindung zum Göttlichen für sich in Anspruch nehmen.

Beide Gedankenschulen, die Mystiker wie die Mentalisten, führen gern die Heiligen Schriften zum Beweis dafür an, daß ihr Geist keines Mittlers bedarf. Wenn sie Verse und ganze Kapitel aus der Bibel zitieren, wird allen außer ihnen selbst offenbar, wie sehr sie von der Inspiration durch einen solchen Mittler abhängen. Ohne die Verbindung zu den Religionsstiftern wüßten sie weder etwas von ihrem Schöpfer noch von sich selbst. Würde das Band der Offenbarungsverse zertrennt, hätte der Mensch keinerlei geistiges Bewußtsein mehr.

[Seite 979] Bahá’u’lláhs Anhänger erkennen den Pfad des Mystikers als unbegehbar, soweit er jenseits der Boten Gottes liegt; es ist Vermessenheit, sich dorthin vorzutasten. Auch bereitet es dem Bahá’í keine Beschwer, daß das Wesen Gottes unfaßbar ist. Er gehört zum „Volk der Anbetung“; Liebende wollen nichts mit leidenschaftlosen Mutmaßungen über Unwägbarkeiten zu tun haben.

Laßt die Rationalisten doch über Gott metaphysisch werden, wenn sie darauf bestehen, ihr Herz in Prinzipien und Denkkategorien einzuschnüren! Das Volk des Glaubens hat wieder einmal einen Panzer, der nicht durch Argumente verwundbar ist: Es hat eine Person. Gläubige gehören einer allwissenden und alliebenden Persönlichkeit an. Für die Bahá’í ist Bahá’u’lláh jene souveräne Persönlichkeit, weil Er dem Bedürfnis der Seele nach Sicherheit und Selbstverwirklichung zu entsprechen vermag.


Eine strahlende Wirklichkeit

Die Manifestation ist nicht die Fleischwerdung Gottes, sondern die Verkörperung des ersten Prinzips, der Ausstrahlung des Heiligen Geistes, die vom unteilbaren Wesen des Göttlichen ausgeht. Im Gewande des menschlichen Körpers ist der göttliche Geist ein Prophet, der mit göttlicher Beredsamkeit zu den Sterblichen spricht. Die Manifestation ist die Widerspiegelung des Heiligen Geistes, eine strahlende, bewegende Wirklichkeit, die von allen Menschen erkannt werden kann. An dieser Grundwahrheit gibt es nichts Geheimnisvolles, Unlogisches oder Paradoxes. Die Religionsstifter sind unter allen Völkerschaften hervorgehoben. Sie können mit Namen genannt werden, Ihre besondere Stufe läßt sich nach Persönlichkeit, Zeit, Ort und Bedeutung unterscheiden; aber in der Wesenseinheit des göttlichen Geistes ist nunmehr aus den vielen eins geworden.

Auf der Stufe der Manifestation gibt es keine Trennung von der Einheit Gottes. Die Theologie verfälscht die Stufe Christi, indem sie Ihn als einzigartige Fleischwerdung des Göttlichen auf die Erde kommen läßt. Vielmehr sind es die Eigenschaften Gottes — die Ausstrahlung der göttlichen Attribute und nur dieser Attribute —, die heute und in der Vergangenheit den Manifestationen innewohnen. Durch die vermittelnden Strahlen des Heiligen Geistes erweckt die göttliche Person des Geliebten bei jeder Wiederkehr die Seele des Menschen zum Gedenken an ihren Schöpfer. Die Liebe dieser göttlichen Person ruft die Antwort der Menschenseele auf die Liebe Gottes wach, und Ihre Erkenntnis verleiht dieser Seele ein wenig Wissen um die Ewigkeit. Das Wort der göttlichen Person ist das einzige Wort Gottes, wie es von Zeitalter zu Zeitalter verkündet wird; nach ihm müssen die Menschen ihr Leben einrichten.

Bahá’u’lláh ermahnt Israel als „das Volk des Buches“, sich der wahren Bedeutung dieses Wortes Gottes bewußt zu werden. Die „Zeit des Endes“, das „Gericht“, das „Leben“, die „Gräber“, die „Auferstehung“, die „Wiederkunft“ und andere biblische Tonzeichen sind nicht nur Symbole und erhabene Dichtung, obwohl sie das durchaus auch sind. Der Íqán beweist, daß die heiligen Schriften in ihren Grundstrukturen mit Ursymbolen [Seite 980] durchwirkt sind, hinter denen eine umfassende Wirklichkeit steht: Ihre Schlüsselbegriffe sagen das Drama der Erlösung voraus, das mit jeder Erneuerung des Bundes zwischen Gott und Abraham weitergeht. Durch den Einbruch des Propheten in die menschlichen Verhältnisse treten die unwandelbaren Eigenschaften Gottes immer neu in die Geschichte; denn alle abgeleiteten Wahrheiten und alle praktischen Gesetze verbrauchen sich durch Revolutionen, die den Fortschritt von Zeitalter zu Zeitalter kennzeichnen.


Der Schlußakkord

Israel hätte die große Anpassung an den Geist vollziehen müssen, als der Christ und Heiland erschien; denn Er hob das praktische Gesetz Mose auf, die zweitrangige Wahrheit, die von der absoluten Wahrheit des Gottesglaubens abhängig ist. Israel ist Bahá’u’lláh besonders teuer wegen seiner Verwandtschaft mit den Offenbarern, von denen unsere Erlösung kommt. Die jüdische Geschichte erteilt die deutlichsten Lehren über den Rhythmus der Herausforderung durch den Propheten und der Reaktion des Volkes auf das Licht. Die göttliche Wahrheitsverkündigung ist immer ein Appell zur Größe. Israel wurde zu Recht „Gottes Vorkämpfer“ benannt, als Übermittler des Eingottglaubens und als Bewahrer vor Götzendienst unter den Völkern. Als sich Israel jedoch vom Prinzip der Erneuerung abwandte und Ziele verfolgte, die von Menschen aufgestellt waren, fiel ein Schatten zwischen das jüdische Volk und das Licht, wie es denn überhaupt die Abkehr der Erde von der Sonne ist, die Finsternis hervorruft; bei der Sonne herrscht immer Licht. Für die Juden kann es heute keine ruhmreichere Heimkehr geben als die Begegnung mit dem Vater der Menschheit und die brüderliche Einordnung in die Gemeinschaft des Größten Namens. Der Weltglaube und die Weltgemeinschaft, die Bahá’u’lláh als der Welterlöser begründet hat, sind der herrliche Schlußakkord auf die Heimatlosigkeit der Juden. Sie sind darüber hinaus die Erfüllung der höheren Aufgabe Israels, des übernationalen Ideals der Welterlösung, das bei Jesaja seinen stärksten Ausdruck fand.

Nur die Erlösung der ganzen Menschheit kann den langen Tag der Sühne zum Abschluß bringen. Einmal im Kalenderjahr gedenken die jüdischen Tempel einen Tag von vierundzwanzig Stunden lang der Vergangenheit. Es ist viel Erhabenheit in den Versen der Reue und des Lobpreises und in der gespenstischen Schönheit des jüdischen Genius. Der Rabbi hebt die leuchtende Torahrolle hoch, während die Silberglöckchen klingen, und in melodischem Hebräisch, anschließend in der Landessprache, singt er:

„Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch,
daß der König der Herrlichkeit einziehe!
Wer ist der König der Herrlichkeit?
Es ist der Herr der Heerscharen;
Er ist der König der Herrlichkeit!“ (Ps. 24, 7-10)

Der Niedergang des Christentums gleicht in vielem der Tragödie Israels. Wie das jüdische Volk den Kontakt zur prophetischen Führung verlor und [Seite 981] sich selbst der Vermittlung durch Christus, den Messias, beraubte, so betrog sich die Christenheit durch die Ablehnung Muhammads um die unmittelbaren Gnadengaben des Heiligen Geistes. Aus Mangel am Prinzip der Erneuerung begann die Einheit und Ganzheit des Christentums zu zerbrechen.

Zu Seiner Zeit war Christus der vollkommene Mittler. Durch Ihn trat das Reich des Heiligen Geistes in die Geschichte ein. Die Alchimie Seines Glaubens brachte die Verwandlung der Seelen zuwege: Die Einheit der Evangelien rief im Mittelalter eine Kontinente umspannende Christengemeinschaft ins Leben, deren Zentralgewalt Friedensbrecher ausstoßen konnte. Heute haben die Führer der Christenheit keine Macht mehr, bindende Erklärungen zum Friedensproblem abzugeben — nicht einmal mehr zu Familienfragen und anderen unausweichlichen Alltagskrisen. Die Lebenskraft des Christentums hat sich bereits vor Jahrhunderten verbraucht.

Der Íqán erzählte fesselnd, wie die Augen der Christen von der Sonne Muhammads geblendet wurden. Als der göttliche Ratschluß den Winter einer finsteren Übergangszeit beendete, erhob sich die Sonne des Gottesglaubens in Arabien. „Kein Prophet Gottes hat solches Unrecht erlitten, wie Ich erleiden mußte“ (S. 78), klagte Muhammad über den Widerstand gegen Seine Sache.

Selbst in unserem Zeitalter analytischen Denkens wird Muhammad mit menschlichen Maßstäben gemessen, wo Er doch in der Aufeinanderfolge der Religionsstifter selbst der Maßstab ist, der an alles andere anzulegen wäre. Er war der Ursprung einer glänzenden Kultur. Wer von Muhammad nichts weiß, weiß nichts um das Modell des Gottesstaates. Der Qur’án offenbart das bürgerliche und religiöse Gesetz, das ein höheres Nationalgefühl zustande brachte. Der Islám war die umfassende Kultur, die wie eine Pflanze aus der Saat der Wahrheit und der Einheit emporwuchs. Wesentlich ist, daß der Islám ein Weltreich war, darauf angelegt, ein großes Gebiet durch eine Staatsverfassung zu beherrschen, die in einem Buch Gottes niedergelegt war.


Neuorientierung ist notwendig

Wenn in früheren Zeiten Reisende in den alten Städten des Ostens zur Morgendämmerung von dem geheimnisvollen Liebesruf zum Gebet geweckt wurden, bekamen sie ein Gefühl dafür, daß der Islám eine Religion von tiefer Schönheit ist. Sie entfaltet einen machtvollen Eros, der in der Seele, die sich Gott nähert, vergeistigt wird. Der Mu’adhdhin ist der Herzschlag eines Volkes, das sich einen Augenblick lang für die Hingabe an den Willen Gottes entzückt. Mit der Urteilskraft, die der Íqán kultiviert, können sich auch die Menschen des Abendlandes bewußt werden, wie lebenswichtig der Anteil des Isláms an der Heilsgeschichte religiöser Einheit war.

Der Anspruch auf Endgültigkeit ist die Hauptschwäche des Isláms. Er war der Stein des Anstoßes für die Muslime, die den Báb nicht anerkannten. [Seite 982] Folgerichtig verkündet der Íqán die Unendlichkeit göttlicher Wahrheit:

„Du bist dir wohl ihrer eitlen Behauptung bewußt, daß alle Offenbarung beendet sei, daß die Tore göttlicher Barmherzigkeit geschlossen seien, daß vom Dämmerungsort ewiger Heiligkeit keine Sonne mehr aufsteigen werde, daß der Ozean ewigwährender Gabenfülle für immer ruht und daß aus dem Heiligtum altehrwürdiger Herrlichkeit keine Gottesboten mehr geoffenbart werden“ (S. 95).

Für die Christenheit ist eine Neuorientierung zwingend notwendig. Sie läßt sich auf ganz einfache Art erreichen: durch die Hinwendung zum Licht vom Horizont dieses neuen Tages. Nicht durch eine neue, entmythologisierte Auslegung läßt sich die Wirkkraft des Evangeliums wieder einfangen; nicht durch einen Existenzkampf in der Verkündigung alter Halbwahrheiten läßt sich neue Lebenskraft gewinnen. Erneuerung kann man auch nicht durch geänderte Formen der Kirchenorganisation erzwingen.

Wie steht es um die „Wiederkunft“ in der Herrlichkeit des Vaters? Der Íqán definiert die „Wolken“, in denen der Vater gekommen ist, als die nebulosen, abergläubischen Vorstellungen, die die Christen zwischen ihrem eigenen wahren Sehvermögen und der aufsteigenden Sonne der Wahrheit aufgebaut haben. Die „neue Erde“ der Erkenntnis ist bereits in den Ergebnissen der Wissenschaft und Technik Wirklichkeit geworden, und die „Sterne“ kirchlicher Machtvollkommenheit sind längst vom Himmel der alten Religion gefallen. Die Zeit ist weiter fortgeschritten, als die alten Kirchen wahrhaben wollen.

In dieser Stunde der Entscheidung fordert der Íqán alle Menschen dazu heraus, die Quelle allen Lichtes anzuerkennen. „Herrlichkeit Gottes“ (arabisch Bahá’u’lláh) ist der schönste Name für den Herrn, der die Herrschaft über die schwankenden Herzen antritt. Unter „Vereinigung mit Gott“ ist keine Partnerschaft zu verstehen, vielmehr höchste Gewißheit Seiner Existenz. Alle geistige Erfahrung liegt in der Antwort auf Bahá’u’lláh. Mit den Augen des Geistes, wie sie der Íqán eröffnet, läßt sich erkennen, wie die Toten den Odem neuen Lebens eingesogen haben und aus dem „Grab des Selbstes“ und der Trennung auferstanden sind: Die abergläubischen Vorstellungen ihrer Völkerschaften von sich werfend, bewegen sich gläubig wissende Menschen in einem Strom weltumspannenden Bewußtseins voran. Vereint knüpfen sie das unsichtbare Band, das auf dem ganzen Planeten jeden Menschen mit allen anderen zusammenschließen wird.

„In wessen Herzensgrund werden diese heiligen Saaten reifen?“ (S. 48).


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Durchbruch zur Selbstverwirklichung[Bearbeiten]

Der Bahá’í-Glaube erschließt die Anlagen des Menschen / von Daniel C. Jordan

Vor über hundert Jahren trat Bahá’u’lláh mit dem herausfordernden Anspruch auf, Seine Offenbarung sei das wichtigste Werkzeug für die Vereinigung der Menschheit und bewirke, daß schließlich eine Weltordnung und der Weltfriede begründet werden.

Nur wenige werden bestreiten, daß die gesellschaftlichen Einrichtungen und die Menschen, die sie sich schaffen, eine radikale Umwandlung erfahren müssen, wenn wir vom gegenwärtigen Zustand weltweiter Unruhen und Streitigkeiten zum Weltfrieden und zur Welteinheit kommen wollen. Jeder, der sich den Weltfrieden wahrhaft angelegen sein läßt, muß sich deshalb um die Frage kümmern, wie diese Umwandlung herbeigeführt werden kann. Nachdem sich der Bahá’í-Glaube in kurzer Zeit über die ganze Welt verbreitet und gezeigt hat, daß er das Leben vieler Menschen zu verwandeln vermag, herrscht großes Interesse an der Natur und am Ablauf des Prozesses, durch welchen dieser Glaube seinen Anhängern den Durchbruch zur Selbstverwirklichung ermöglicht.

Zunächst sollten wir uns vernünftigerweise eingestehen, daß wir unmöglich alle dieser umfassenden Offenbarung innewohnenden Kräfte, welche den Verwandlungsprozeß antreiben und steuern, entdecken oder gar verstehen können; aber in den Bahá’í-Schriften findet sich vieles, was Licht auf den Weg dieser Wandlung durch Erschließung menschlicher Anlagen wirft.

Das Interesse an der Frage, wie menschliche Anlagen erschlossen werden können, ist eher persönlicher als akademischer Art; Millionen allüberall sehnen sich danach, wie Bahá’u’lláh es ausdrückt, aus einem Zustand der Gefangenschaft und Erniedrigung zu umfassender Vornehmheit durchzubrechen.

Natürlich sind Bahá’u’lláhs Lehren über den Verwandlungprozeß intellektuell sehr anregend; aber ihre Kenntnis hat einen durchaus praktischen Zweck. Vollbewußtes Erkennen der Phasen dieses Prozesses hilft uns, das Erreichte zu festigen, und macht uns fähig, weitere Wachstumschancen auszumachen und wahrzunehmen, oft durch schmerzliche Erfahrungen, die zunächst unnütz oder grausam erscheinen mögen.

Die persönliche Wandlung ist ein Hauptgrund dafür, daß sich Menschen zum Glauben hingezogen fühlen, sich von seiner Wahrheit zunehmend überzeugen und schließlich Bahá’í werden. Das ist naheliegend. Menschen, die mit diesem Glauben in Berührung kommen und sich durch ihn verwandelt fühlen, machen eine Erfahrung, die für sich selbst spricht. Keiner kann ihnen diese Erfahrung nehmen, kein verstandliches Argument kann sie zur Bedeutungslosigkeit oder Unwirklichkeit herabmindern. Das Bewußtsein, sich selbst zum Besten seiner eigenen Anlagen zu entfalten, [Seite 984] stellt die höchste Freude dar. Es fördert den Sinn für den eigenen Wert, beseitigt das Bedürfnis nach Aggressionen und bewirkt ein mitfühlendes Gesellschaftsbewußtsein — alles Voraussetzungen für die Welteinheit und den Frieden.


Das Wesen menschlicher Anlagen

Was aber ist das „Beste“ der eigenen Anlagen? Bahá’u’lláh lehrt, der höchste Ausdruck des Selbstes sei Dienstbarkeit. Das Maß, in dem diese höchste Stufe der Dienstbarkeit erreicht werden kann, entspricht dem Maß, in dem die grundlegenden Kräfte oder Möglichkeiten des menschlichen Wesens erschlossen werden können. Der Prozeß der Selbstverwirklichung ist folglich gleichbedeutend mit einem Prozeß der Entfaltung grundlegender Möglichkeiten und ihrer Bereitstellung für den Dienst an der Menschheit. Die alltäglichen Entscheidungen und Handlungen, die diese Entfaltung widerspiegeln, sind dem Wesen nach religiös; Bahá’u’lláh setzt Arbeit jeder Art, die im Geist des Dienens — im Geist jener höchsten Stufe des Menschentums — verrichtet wird, dem Gottesdienst gleich. Ein Mensch, der die religiöse Natur dieses Entfaltungsprozesses zu sehen beginnt, wird nicht nur in der Arbeit und im Gottesdienst eine neue Tiefendimension entdecken, sondern auch die Religion in einem neuen Licht sehen. Nach und nach wird er das eine verstehen: Wenn die Kraft, die den Menschen zu ständigem Wachstum befähigt, aus einer Religion verschwunden ist, wird es Zeit, daß diese Religion erneuert wird; denn ohne jene Kraft ist eine Religion wenig mehr als leeres Ritual, inhaltloses Dogma und gesellschaftliche Konvention, die die Ausprägung menschlichen Geistes blockieren und den gesellschaftlichen Fortschritt aufhalten.

Der Dienst an der Menschheit erhält seinen Wert durch die Tiefe und den Charakter der Fähigkeiten des Menschen, der ihn erbringt. Welches sind die Fähigkeiten? Bahá’u’lláh bestimmt sie in Seiner Erklärung über die grundlegende Absicht bei der Erschaffung des Menschen: Gott zu erkennen und zu lieben. Klar sind hier die beiden grundlegenden Kräfte oder Fähigkeiten des Erkennens und des Liebens bezeichnet und mit dem Zweck und Sinn unseres Daseins verbunden. Folglich bedeutet für einen Bahá’í Selbstverwirklichung die Entfaltung der eigenen Erkenntnis- und Liebesfähigkeit im Dienst an der Menschheit.

Dieses Sinnverständnis verleiht dem Begriff der Geistigkeit Substanz: Ein geistiger Mensch ist jemand, der Gott erkennt und liebt und sich kämpferisch dafür einsetzt, diese Erkenntnis- und Liebesfähigkeit im Dienst an der Menschheit zu entfalten. Definitionsgemäß ist es demnach ein Zeichen geistiger Unreife oder geistiger Krankheit, wenn jemand sich einem Eindruck verschließt oder sich weigert, neue Beweismittel zu prüfen, wenn jemand seine eigene Erkenntnisfähigkeit blockiert oder auf andere in liebloser Weise reagiert.

Alle anderen Tugenden können als Ausdruck verschiedener Kombinationen dieser Grundfähigkeiten des Liebens und Erkennens, auf mannigfache Lebenslagen angewandt, verstanden werden. Die Liebesfähigkeit [Seite 985] umfaßt nicht nur die Fähigkeit zu lieben, sondern auch die Fähigkeit, geliebt zu werden — Liebe anzuziehen. Es gibt keine Liebenden ohne Geliebte. Wenn wir nicht wissen, wie wir geliebt werden können, oder Liebe nicht annehmen, frustrieren wir andere, die um die Entfaltung ihrer eigenen Liebesfähigkeit ringen. Die Nichtannahme der Liebe eines anderen wird sehr häufig als Zurückweisung empfunden; sie richtet unermeßlichen Schaden an, besonders bei kleinen Kindern.

Zur Erkenntnisfähigkeit gehört auch das Wissen darum, wie man lernt und wie man lehrt. Lehren und Lernen sind reziproke Gesichtspunkte der Erkenntnisfähigkeit. Ein Lehrer ist kein guter Lehrer, wenn er nicht von seinen Schülern lernen kann, und ein guter Schüler wird es nicht versäumen, seinem Lehrer auf solche Weise Fragen zu stellen, daß sie beide lernen.

Eine Fähigkeit unterstützt und erleichtert die Entwicklung der anderen. Um zum Beispiel Erkenntnis zu gewinnen, müssen wir das Lernen lieben; wenn wir lieben sollen, müssen wir nicht nur erkennen, wie man liebt, sondern auch, wie man geliebt wird.

Die beiden Grundfähigkeiten des Erkennens und Liebens sind wesenhafte menschliche Anlagen. Vom Bahá’í-Standpunkt aus bedeutet wahre Er-ziehung ein Heraus-ziehen, ein Ent-wickeln von Anlagen im weitest möglichen Maße. Unglückseligerweise befaßt sich die heutige Erziehung weit mehr mit der Darreichung von Information als mit dem Herausziehen von Anlagen. Schulen sind deshalb in erster Linie Anstalten, in denen Tatsachen und Gedanken vom Lehrer verabreicht und vom Schüler gespeichert werden. Folgerichtig bestätigen Titel und Diplome lediglich von Amts wegen, daß bestimmte Arten und Mengen von Information verabreicht worden sind und der Diplomant in verschiedenen Etappen seiner formalen Erziehung aufzeigen konnte, daß er diese Information gut genug gespeichert hat, um sie während einer Prüfung wiederzufinden und niederzuschreiben. Solche Titel und Diplome sagen nichts über die Fähigkeit des Studenten zu lieben oder zu empfinden; sie sagen deshalb kaum etwas über den Charakter — ein Wort, das die Geschicklichkeit eines Menschen bezeichnet, sein Wissen konstruktiv anzuwenden und seiner Liebe zur Menschheit Ausdruck zu verleihen.

Des weiteren hat es sich erwiesen, daß Lernprobleme auftreten und die Erkenntnisfähigkeit geschwächt wird, wenn die Liebesfähigkeit auf irgendeine Weise blockiert ist. Ein Schulsystem, das auf engstirniger „Informationsverabreichung“ aufgebaut ist, kann den Bedürfnissen der Gesellschaft niemals angemessen dienen. Wahre Erziehung muß den Fortschritt zur höchsten Stufe — der Dienstbarkeit — fördern und sich deshalb mit dem ganzen Menschen und seinem Charakter, nicht nur einem kleinen Ausschnitt, beschäftigen.


Der Glaube als Erschließung menschlicher Anlagen

Das Wesen menschlicher Anlagen zu beschreiben und diese Anlagen zu erschließen — das sind zwei recht verschiedene Dinge. Der Bahá’í-Glaube [Seite 986] tut beides. Das Wesen menschlicher Fähigkeiten wurde bereits kurz besprochen. Wir wollen nun die Wege erkunden, auf denen der Glaube durch die Erschließung dieser Anlagen den Verwandlungsprozeß einleitet und in Gang hält.

Der Urquell für die Kraft zur Verwandlung sind die Schriften Bahá’u’lláhs. Sich Seinen Schriften zu öffnen, fördert die Entwicklung des Glaubens, und Glaube ist die erste Vorbedingung der Verwandlung. Im Grunde ist Glaube eine Haltung gegenüber dem Unbekannten oder Unerkennbaren, die es uns mit der Zeit ermöglicht, uns diesem Unbekannten in solcher Weise zu nähern, daß ein wenig mehr davon bekannt wird. Dergestalt ist Glaube eine besondere Form des Ineinandergreifens der beiden Grundfähigkeiten zu erkennen und zu lieben. Dem Wesen nach bedeutet Glaube eine Liebesbeziehung zum Unbekannten oder Unerkennbaren — ein Hingezogensein zu allem Unbekannten und eine Fähigkeit, sich ihm zu nähern. Da Gott, wie Bahá’u’lláh bestätigt, unerkennbar ist, bedarf es des Glaubens, damit man von Ihm angezogen wird und zu Ihm in Beziehung tritt.

Wir alle haben eine Art kosmischen Hungers, ein Bedürfnis, zu allen Dingen einschließlich der Unendlichkeit des Alls in Beziehung zu treten. Das ist ein natürliches Nebenprodukt des Bewußtseins. Da wir uns selbst als abgesondert von allen übrigen Dingen im Weltall erleben, fühlen wir uns gezwungen herauszufinden, wie wir zu allen anderen Dingen in Beziehung stehen; und dies schließt die Beziehung zu den unbekannten oder unerkennbaren Dingen, die gleichfalls im All existieren, mit ein. Das letzte unerkennbare Geheimnis des Weltalls trägt viele Namen: Allah, Jehovah, Gott, Höchstes Wesen. Weil nun der Mensch die Fähigkeit des Glaubens — eine besondere Haltung gegenüber dem Unbekannten — besitzt, hat er die ganze Weltgeschichte hindurch auf die Stifter der großen Weltreligionen angesprochen, die zu ihm kamen, um die Eigenschaften jenes unerkennbaren Geheimnisses — Gottes — zu offenbaren und unseren kosmischen Hunger zu stillen. Somit ist Glaube ein wesenhafter Ausdruck unseres Lebenszwecks, Gott zu erkennen und zu lieben.

Wenn unsere Grundfähigkeiten das Erkennen und das Lieben sind und wenn wir als Ebenbilder Gottes erschaffen sind, müssen Erkenntnis und Liebe zu den Eigenschaften Gottes gehören. In den „Verborgenen Worten“ bestätigt uns Bahá’u’lláh, daß dies so ist. Er spricht: „O Sohn des Menschen! Verhüllt in Meinem unausdenkbaren Wesen und in der Ewigkeit Meines Seins erkannte Ich Meine Liebe zu dir; darum erschuf Ich dich, prägte dir Mein Ebenbild ein und offenbarte dir Meine Schönheit“ (arab. 3).

Wenn weiterhin Gott unerkennbar ist und wir nach Seinem Ebenbild erschaffen sind, können wir erwarten, daß auch in uns selbst etwas Unbekanntes ist. Dieses Unbekannte sind die noch nicht zum Ausdruck gelangten Anlagen in uns — die verborgenen Fähigkeiten zu erkennen und zu lieben. Auf dramatische Weise lenkt uns Bahá’u’lláh in die Weite dieses Unbekannten in uns selbst, wenn Er in den „Sieben Tälern“ einen Ausspruch ‘Alís, des Schwiegersohns Muhammads, anführt: „Wähnst du [Seite 987] dich nur eine schwächliche Form, wo in dir doch das Weltall im Kleinen verborgen ruht?“ (1963, S. 39). In einem anderen Vers sagt Bahá’u’lláh selbst: „Ihr seid Meine Schatzkammern, denn in euch legte Ich die Perlen Meiner Geheimnisse und die Edelsteine Meiner Erkenntnis“ (arab. Verborgene Worte, 69).

Keiner von uns kennt seine Liebesfähigkeit oder weiß, wieviel er lernen kann. Wie wir Glauben haben müssen, ehe wir etwas von den Eigenschaften Gottes erkennen können, so müssen wir Glauben haben, bevor wir etwas über uns selbst erfahren. Wir müssen das Unbekannte in uns selbst lieben — zu ihm hingezogen sein, eine besondere Haltung zu ihm einnehmen; nur so kann es sich erschließen. Wenn wir zu dem Unbekannten in uns selbst ausreichend in Beziehung treten, können wir auch zu dem Unbekannten in anderen Menschen Beziehungen aufnehmen. Mit anderen Worten, wir müssen andere Menschen nicht nur in der Form annehmen, wie sie gegenwärtig sind; wir müssen in ihnen zugleich das sehen, was sie werden können, sonst behindern wir sie in ihrem Verwandlungsprozeß und halten sie von ihrer Selbstverwirklichung ab.

Dies ist der Grund, warum ein Mensch alle seine Beziehungen zu anderen verwirrt, unbefriedigend, ja schmerzhaft empfindet, wenn er sich selbst aufgegeben, seine Selbstverwirklichung abgebrochen und darum seine eigenen Anlagen verraten hat. Einen anderen Menschen so anzunehmen, wie er gerade zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist, und die Beziehungen darauf aufzubauen, verhindert die Entfaltung von mehr als einem oberflächlichen Verhältnis. Um Beziehungen von tiefem innerem Gehalt zu anderen Menschen zu schaffen, müssen wir zugleich zu den unbekannten Möglichkeiten in ihnen ja sagen; denn dieses Jasagen ist eine wichtige Quelle ihres Mutes zur Selbstverwirklichung. Ein wenig persönlicher ausgedrückt: Wenn Sie die unbekannten Möglichkeiten in sich selbst nicht annehmen, werden Sie nie mehr als eine oberflächliche Beziehung zu anderen herstellen können; Sie werden weder anderen dabei helfen können, ihre Anlagen zu entwickeln, noch werden Sie dies bei sich selbst vermögen.

Da die Anlagen eines Menschen ein überaus wichtiger Teil seiner Wirklichkeit sind — tatsächlich sind sie die Grundlage seines künftigen Wachstums — müssen diese Anlagen von anderen angenommen werden und in den zwischenmenschlichen Beziehungen eine Rolle spielen, bevor sich ein Mensch voll angenommen fühlen kann. Volle Annahme durch andere schafft eine besondere Art von Vertrauen, das schwerlich gebrochen werden kann. Es ist die wichtigste Ursache für einen wohlwollenden Zwang zur Selbstverwirklichung und eines der bedeutsamsten Zeichen wirklicher Liebe und Freundschaft. Wenn dieser liebevolle Zwang wechselseitig zwischen zwei Menschen platzgreift, wird er jede Beziehung vergeistigen; besondere Bedeutung hat er jedoch in der Ehe. Er bildet die geistige Grundlage der Bahá’í-Ehe.

Daß Wechselseitigkeit bei dieser Art von Beziehung notwendig ist, bringt Bahá’u’lláh in den Verborgenen Worten klar zum Ausdruck: „O Sohn des Seins! Liebe Mich, damit Ich dich liebe. Wenn du Mich nicht [Seite 988] liebst, kann Meine Liebe dich niemals erreichen. Erkenne dies, o Diener“ (arab. 5). In diesem Vers befiehlt uns Gott durch Seine Manifestation, daß wir Ihn lieben und Ihn trotz der Tatsache annehmen, daß Er unerkennbar ist. Zum Unerkennbaren hingezogen zu sein, ist das Wesen des Glaubens. Wenn kein Glaube, kein Hingezogensein zu jenem ersten Geheimnis, vorhanden ist, werden wir dem Geheimnis in unserem eigenen Selbst entfremdet und von der Kraft des Wachstums und der Entwicklung abgeschnitten. Das oben angeführte Zitat beginnt mit der Anrede: „O Sohn des Seins!“ und endet mit dem Befehl: „Erkenne dies, o Diener“. So werden in diesem ganz knappen Vers die beiden Grundfähigkeiten des Liebens und Erkennens wieder im Zusammenhang mit dem Sein und dem Dienen hervorgehoben. Der Prozeß des Seins, das Werden, wird mit der höchsten Stufe der Dienstbarkeit verbunden.


Die Angst vor dem Unbekannten

Einem Unbekannten ins Auge zu sehen, ist nicht leicht. Der Ausblick ist immer mit Angst verbunden, besonders wenn wir dem Unbekannten in uns selbst gegenübertreten. Ein Unbekanntes außerhalb von uns selbst wird fast immer als eine mögliche Bedrohung unserer Sicherheit wahrgenommen, weil es eine Frage aufwirft, die etwas Unbekanntes in uns selbst darstellt: Haben wir das, was wir brauchen, um erfolgreich mit diesem äußeren Unbekannten umgehen zu können?

Die Angst hat alle Kennzeichen der Furcht, nur kein klar umgrenztes Objekt. Furchtreaktionen wie Angstreaktionen sind charakterisiert durch eine rasche energetische Aufladung des Systems, die es auf eine mögliche Notlage vorbereitet. Die Furchtreaktion läßt sich leichter kontrollieren, weil das drohende Objekt identifiziert und beseitigt oder umgangen werden kann. Im Falle der Angst jedoch geht das System in Alarmbereitschaft über, wobei nicht klar wird, was die Notlage ausmacht. Ohne ein Objekt ist es schwierig zu erkennen, welche Maßnahmen getroffen werden sollen; auch ist das System nie ganz sicher, wann es die Notlage als vorübergegangen bezeichnen kann. Angst kann folglich als Energieaufwand ohne Zielsetzung angesehen werden.

Der einzige erfolgversprechende Weg, mit der Angst umzugehen, ist demnach, diese Energie als ein Geschenk aufzufassen und ein konkretes Ziel für sie zu finden, das dem allgemeineren Ziel, der tieferen Sinngebung dient: unsere Fähigkeiten des Liebens und des Erkennens zu entfalten. In arteigenen Begriffen festzulegen, was dieses Ziel genau sein soll, ist vielleicht der umfassendste schöpferische Akt des Menschen. Er bringt es mit sich, daß man ein Risiko trägt, den Schritt hinaus ins Unbekannte wagt, die Last des Zweifels auf die Schulter nimmt und doch immer in der Hoffnung lebt, irgendeine neue Fähigkeit oder eine neue Grenze (die ebenfalls Teil der eigenen Wirklichkeit ist) zu entdecken. Zu jenem Unbekannten in uns selbst hingezogen sein, ist Glaube; die Energie der Angst dazu verwenden zu können, ein Ziel abzustecken, und Schritte auf dieses Ziel hin zu unternehmen, ist Mut. So sind Glaube, Zweifel, Angst und Mut allesamt grundlegende Gesichtspunkte des [Seite 989] Verwandlungsprozesses, der Erschließung von Anlagen. Wenn keine Unbekannten da wären, gäbe es keinen Zweifel und keine Angst; ohne Zweifel und Angst jedoch gäbe es kein Bedürfnis nach Glauben und Mut.


Der geistige Mutterboden der Verwandlung

Die Macht des Bahá’í-Glaubens, Menschen durch die Erschließung ihrer Anlagen zu verwandeln, rührt unmittelbar aus der Tatsache, daß er Zweifel und Angst in beherrschbaren Grenzen hält und einen Ansporn, eine Motivation dafür schafft, durch Glauben und Mut konstruktiv mit dem Zweifel und der Angst umzugehen. Bahá’u’lláh selbst wies darauf hin, daß die Hauptquelle jener Kraft zur Verwandlung die Annahme Seines Wortes, des Wortes Gottes, ist. Man spricht von Seinen Schriften oft als dem „schöpferischen Wort“, aus keinem anderen Grund als dem, daß sich Menschen neu erschaffen fühlten, wenn sie sich mehr und mehr diesem Wort öffneten. Deutlich versichert Bahá’u’lláh, man müsse, wenn man verwandelt werden wolle, sich „in das Weltmeer Seiner Worte“ versenken.

Die Versenkung in dieses Weltmeer leitet den Verwandlungsprozeß dadurch ein, daß sie die Natur des Menschen und den Sinn unserer Erschaffung in uns bewußt macht. Niemand kann Bahá’u’lláh lesen, ohne zu spüren, wie seine eigenen Fähigkeiten zu lieben und zu erkennen geweckt und entfaltet werden. In dem Maße, wie wir Seine Schriften fortgesetzt durchforschen, sehen wir uns selbst und die Verhältnisse mit anderen Augen. In dem Maße, wie wir uns selbst und die Verhältnisse anders sehen, beginnen wir, andere Gedanken und Gefühle über die Dinge um uns her zu haben. Wenn wir anders denken und fühlen, beginnen wir, uns anders zu verhalten. Ein anderes Verhalten ist der greifbare Ausdruck dafür, daß ein Mensch auf dem Weg zum Abenteuer seiner Selbstverwirklichung ist.

Die Schriften Bahá’u’lláhs dienen demnach als eine Art Interventionsstreitmacht, die uns von all den Bindungen und Befürchtungen befreit, welche uns gefangenhalten und uns hindern, den gefährlichen, aber schöpferischen Schritt in das Unbekannte zu wagen. Wir wissen, daß Menschen oft durch starke Erlebnisse dieser oder jener Art verändert werden. Die Versenkung in das Weltmeer der Worte Bahá’u’lláhs ist kein gewöhnliches Lesen; es ist ein Erlebnis für den ganzen Menschen, das stark genug werden kann, um ihn von den Bindungen an den Status quo zu befreien und ihn zum Streben nach seiner Bestimmung zu lenken. Wenn wir uns von der lähmenden Verhaftung an das, was andere Leute von uns denken, frei gemacht haben, laufen wir weniger Gefahr, von anderen manipuliert und gefangen gehalten zu werden. Stattdessen erschließen wir eine Quelle eigenständiger Motivation.

Die Schriften Bahá’u’lláhs führen auch die allgemeine Angst und die Zweifel unserer Gegenwart auf ein beherrschbares Maß zurück, indem sie der Menschheitsgeschichte und dem gegenwärtigen Krisenzustand in der Welt einen Sinn beimessen. Das bedeutet, daß wir uns nicht länger [Seite 990] vormachen müssen, die Krisen seien nicht vorhanden, und uns nicht länger dagegen sträuben müssen, ihnen ins Auge zu sehen. Das Verständnis der uns umgebenden Probleme, und sei es auch nur in groben Zügen, vermindert nicht nur die Angst, sondern vermittelt uns auch Mut.

Eine weitere Quelle des Mutes ist Bahá’u’lláhs stets allgemein gehaltener Hinweis darauf, welche Zielsetzungen rechtens sind und mit dem Sinn unserer Erschaffung in Einklang stehen. Dies gibt uns eine gewisse Anleitung für den schöpferischen Schritt, ein Ziel zu umreißen, das wir dadurch erreichen können, daß wir die Energie der Angst nutzbar machen. Wir haben hier eine freie Wahl. Wir können entweder jenen schöpferischen Schritt vollziehen, ein Ziel umreißen und dadurch den Verwandlungsprozeß erleichtern, oder wir können uns mehr oder weniger bewußt weigern, dies zu tun, und hoffen, daß die Angst schließlich von allein vergeht. Offensichtlich sind Persönlichkeiten, die eine starke Führung hinsichtlich der Art der Ziele besitzen, besonders gut in der Lage, bewußt über praktische Ziele zu entscheiden. So lange eine solche Zielentscheidung fehlt, drückt sich die Energie der Angst leicht in aggressiven und feindseligen Akten gegen andere Menschen aus; deren Reaktionen auf den Angriff behindert oft das weitere Wachstum und die Entwicklung noch mehr, nicht nur bei ihnen selbst, sondern erst recht bei den Menschen, auf die sie reagieren.

Die Schriften Bahá’u’lláhs regen also unsere Grundfähigkeiten zu erkennen und zu lieben auf die einzigartige Weise an, die wir Glauben und Mut nennen können. Glauben und Mut bieten ihrerseits die Gewähr für das ständige Wachstum und die Weiterentwicklung jener beiden Grundfähigkeiten. Mit anderen Worten, Erkenntnis und Liebe, in richtiger Weise durch Glauben und Mut angewandt, erhöhen die Erkenntnis- und Liebesfähigkeit und erschließen menschliche Anlagen.


Der gesellschaftliche Boden für die Verwandlung

Aber dies ist nicht das ganze Bild. Bahá’u’lláh hat Vorkehrungen für die Bildung von Gemeinschaften getroffen, deren Einrichtungen die Verwandlung der Menschheit sicherstellen und vorantreiben. Die Bahá’í-Gemeinde wird so zum gesellschaftlichen Mutterboden des Verwandlungs-Prozesses.

Da Bahá’u’lláh den Grundsatz der Einheit der Menschheit bekräftigt, sind alle Bahá’í-Gemeinden aus Menschen verschiedener sprachlicher, rassischer, nationaler und religiöser Herkunft zusammengesetzt. Diese Mannigfaltigkeit stellt jedes Mitglied vor viele Unbekannte, oder weniger wohlklingend ausgedrückt: Die Bahá’í-Gemeinde setzt sich aus Menschen zusammen, von denen man sich viele normalerweise nicht als Freunde aussuchen und zu denen man sich ansonsten nicht sonderlich hingezogen fühlen würde. Bekanntlich neigen wir dazu, solche Menschen als Freunde zu gewinnen, die in der selben Weise wie wir denken, dieselben Ansichten wie wir über bestimmte Dinge haben, dieselben Geschmacksrichtungen und Liebhabereien verfolgen. Innerhalb einer [Seite 991] dermaßen gleichartigen Gruppe kann die persönliche Verwandlung leicht zum Stillstand kommen, denn es wird ein festes Repertoire von Antworten auf alle Fragen entwickelt, und es besteht kein Anreiz, neue Antworten zu finden. Dies ist der Grund, warum Mannigfaltigkeit eines der kostbarsten Attribute der Bahá’í-Gemeinschaft ist.

Wenn jemand einer Bahá’í-Gemeinde beitritt, kommt er in eine Familie von völlig verschiedenartigen Menschen, mit denen er zusammenarbeiten und sinnvolle Beziehungen aufbauen muß. Das erste, was er dabei herausfindet, ist der Umstand, daß sein altes Repertoire von Antworten nicht länger ausreicht. Derart viele verschiedene Menschen stellen eine hohe Zahl von Unbekannten dar, und der Versuch, mit diesen Unbekannten in Beziehung zu treten, schafft Energie (Angst), die ihrerseits jenen wechselseitigen Prozeß des Erkennens und Liebens durch Glauben und Mut in Gang setzt. Wenn wir ein angemessenes Ziel setzen, das die Energie dieser Angst konstruktiv nutzt, werden wir dadurch ein neues Repertoire von Antworten auf Lebensfragen hervorrufen. Jede neue Antwort ist ein Stück offenbar gewordener, bisher verborgener Fähigkeit, eine Erschließung menschlicher Wirkkräfte. Eine andere Möglichkeit, dies auszudrücken, ist die Feststellung, daß die Bahá’í-Gemeinschaft mehr Gelegenheiten der Erkenntnis und der Liebe unter wachstumsfördernden Bedingungen bietet, als irgendwo sonst anzutreffen sind.

Der typische Bahá’í bewegt sich in einem geistigen Entwicklungsmodell, das mit der Toleranz für die Verschiedenartigkeit der anderen Gemeindemitglieder beginnt. In dem Maße, wie Erkenntnis hinzutritt, wächst diese Toleranz in Verständnis aus. Wenn Liebe dazukommt, blüht das Verständnis zu Wertschätzung auf. Diese Wertschätzung der Verschiedenartigkeit ist der geistige und gesellschaftliche Gegensatz des Ethnozentrismus, der Überschätzung des eigenen Volkstums. Die Reise vom Ethnozentrismus über die Stationen der Duldung und des Verständnisses bis zum Standort der Wertschätzung bringt unvermeidlich viele Ängste und Zweifel mit sich. Wir sind oft in eine Lage versetzt, in der wir nicht genau wissen, was wir tun sollen, oder wenn wir es wissen, keine Lust haben, es zu tun. Das sind Prüfungen, Voraussetzungen für unsere Verwandlung. ‘Abdu’l-Bahá, der Sohn Bahá’u’lláhs, stellt eindeutig fest, daß es keine geistige Entwicklung ohne Prüfungen gibt.

Hier kommen wir zu einem höchst gefährlichen Punkt. Prüfungen können manchmal ein Individuum zerstören. ‘Abdu’l-Bahá erklärt, wenn wir uns von Gott abwenden, um die Lösung zu finden, könne uns die Prüfung in der Tat vernichten. Wenn wir uns jedoch um der Lösung willen Gott zuwenden, und wenn uns die anderen Gemeindemitglieder liebevoll unterstützen, können wir die Prüfung erfolgreich hinter uns bringen. So bereitet uns die Bahá’í-Gemeinde wegen ihrer Mannigfaltigkeit viele Prüfungen von der Art, wie sie notwendig für unsere geistige Entwicklung sind. Gleichzeitig vermitteln die Führung durch die Bahá’í-Institutionen und die Verpflichtung der Gemeindemitglieder, einander in der Form anzunehmen, zu der man sich entwickeln kann, den Mut dazu, daß man solche Prüfungen in Fahrzeuge für den geistigen Fortschritt, für die Erschließung menschlicher Anlagen verwandelt.

[Seite 992] Kurz gesagt ist dies die geistige Bedeutung jeden Mißgeschicks. Bahá’u’lláh spricht: „Meine Prüfung ist Meine Vorsehung; äußerlich ist sie Feuer und Züchtigung, doch in Wirklichkeit ist sie lauter Licht und Gnade. Eile ihr entgegen, damit du ein ewiges Licht und ein unsterblicher Geist werdest. Dies ist Mein Gebot an dich. So beachte es“ (Verborgene Worte, arab. 51).

So ist für den Bahá’í Glückseligkeit nicht ein Leben in Freiheit von Angst oder Spannung; vielmehr wäre das die Bahá’í-Definition für Langeweile. Glück bedeutet für einen Bahá’í, Prüfungen unterworfen zu sein und zu erkennen, wie man Mut faßt, sie so zu bestehen, daß die eigenen Erkenntnis- und Liebesfähigkeiten im Dienst an der Menschheit weiterentwickelt werden. Das Gemeinschaftsleben bringt Prüfungen mit sich, die zu Gelegenheiten werden, Erfahrung mit der Übersetzung abstrakter Grundsätze in konkrete Wirklichkeiten zu sammeln, und dies gibt dem Glauben die Grundlage bewußter Erkenntnis. Diese ständig erweiterte, bewußte Erkenntnis der Wege, auf denen die Grundsätze des Glaubens in wirklichen Lebenslagen anwendbar sind, festigt die Errungenschaften der geistigen Entwicklung und schafft die Grundlage für unaufhörliches Wachstum.


Ein Stein im Weg: das Vorurteil

Die Vereinigung aller Völker dieser Erde ist unmöglich, wenn die einzelnen Menschen nicht in sich selbst zu einer Einheit geformt werden. Bahá’u’lláh äußerte einmal, Er könne keinen Menschen finden, der innerlich und äußerlich geeint sei. Wenn unsere Erkenntnis- und unsere Liebesfähigkeiten miteinander im Streit liegen, können wir weder innerlich noch äußerlich geeint sein. Die Folge ist, daß unsere Worte und unsere Taten nicht übereinstimmen.

Widerstreit zwischen diesen Fähigkeiten kommt äußerlich auch auf einer anderen Ebene zum Ausdruck. Die Wissenschaft kann zum Beispiel als ein Ausdruck der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, die Religion als Ausdruck seiner Liebesfähigkeit betrachtet werden. Bahá’u’lláh lehrte, Wissenschaft und Religion müßten Hand in Hand arbeiten, sonst wirke sich der Widerstreit zerstörerisch aus. Heute sehen wir, wie die Kenntnis der Kernenergie ohne eine Kompensation durch Liebe eine ständige Bedrohung unserer Lebenschancen erzeugt.

In seiner Grundbedeutung bezeichnet das Wort Vorurteil Konflikte in der Art und Weise, wie unsere beiden Grundfähigkeiten zum Ausdruck kommen. Ein Vorurteil ist der Glaube (eine Art von Erkennen) an etwas, das nicht wahr ist, verbunden mit einer gefühlsmäßigen Bestätigung (einer Art von Liebe). Mit anderen Worten, ein Vorurteil ist das gefühlsmäßige Hingezogen- oder Ausgeliefertsein an Unwahrheit oder Irrtum. Handlungen, die auf dieser Haltung beruhen, sind fast immer schädlich, sowohl für die Person, die das Opfer der Handlung ist, als auch für diejenige, die sie ausführt.

Im persönlichen Bereich stellt das Vorurteil eine endgültige Sperre gegen den Ausdruck menschlicher Anlagen dar, weil die Liebesfähigkeit [Seite 993] benutzt wird, um die Erkenntnisfähigkeit zu behindern. Grundsätzlich können fast alle Neurosen und Psychosen in der Form dieses Konflikttypus verstanden werden. Ziel der Therapie muß deshalb immer sein, die Sperre zu beseitigen und den Weg zur Selbstverwirklichung freizumachen, indem man die Liebesfähigkeit des betreffenden Menschen in die Lage versetzt, seine Erkenntniskräfte zu unterstützen, und umgekehrt.

Auf der gesellschaftlichen Ebene schlägt tätliches Vorurteil in massive Ungerechtigkeiten durch, die von Diskriminierungen und Rassentrennungen bis zu offener Gewalt und zu organisierter Feindseligkeit in Form von Kriegen reichen. Auch dies stellt eine endgültige Sperre gegen den Ausdruck gesellschaftlicher Möglichkeiten dar.

Jede Schranke gegen die Vereinigung der Menschheit wird durch ein Vorurteil aufrechterhalten — durch weitverbreitetes, kulturbedingtes, gefühlsbetontes Ausgeliefertsein an Unwahrheiten. Aus diesem Grund sehen die Bahá’í den Prozeß der Vereinigung als gleichbedeutend mit der fortschreitenden Ausrottung von Vorurteilen an. Bevor die Schranken gegen die Vereinigung niedergerissen werden können, müssen die Vorurteile, die sie stützen, abgebrochen werden.

Warum lassen sich Vorurteile so schwer ausrotten? Ein Grund ist der, daß die Menschen oft gar nicht merken, daß sie ein Vorurteil haben. Im Grunde ist dies die Bedeutung der Bigotterie: nichts über die eigene Unwissenheit zu wissen und dabei kühn und zuversichtlich die Richtigkeit und Wahrheit des eigenen Standpunkts zu behaupten. Bigotte Menschen sind in einer tragischen Position, weil sie es immer vermeiden, sich einer Lebenslage auszusetzen, die sie mit der Tatsache konfrontieren könnte, daß sie möglicherweise ein Vorurteil haben. Wie kann ein Mensch jemals wissen, ob er einem Irrtum in Form eines Vorurteils verfallen ist oder nicht, wenn er sich nie der Erfahrung aussetzt, die dies an den Tag bringt? Oder, konkret und persönlich ausgedrückt: Wie könnten Sie erkennen, daß Sie ein Vorurteil haben gegen jemanden, der eine andere Sprache spricht oder eine andere Hautfarbe besitzt, wenn Sie nie die Gelegenheit hätten, mit solch einem Menschen zusammenzusein — eine Erfahrung, die Ihren Irrtum deutlich machen würde?

Genau das ist der Grund, warum die Bahá’í-Gemeinschaft so wichtig für die fortschreitende Ausrottung von Vorurteilen ist. Auf Schritt und Tritt bietet sie jedermann Gelegenheit zu Erfahrungen, die ihm vor Augen führen, wo seine Vorurteile liegen. Der Kampf um die Welteinheit findet dementsprechend weit mehr innerhalb als außerhalb der Bahá’í-Gemeinschaft statt. Außerhalb der Gemeinde können sich die Leute gegen Erlebnisse, die ihnen ihre eigenen Vorurteile deutlich machen, abschirmen; sie können damit fortfahren, sich nur solche Erlebnisse zu eigen zu machen, die ihre Wahrnehmungen verzerrt sein lassen und ihr Ausgeliefertsein an Unwahrheiten bestärken.

Ein Vorurteil in sich selbst zu entdecken, ist für den Bahá’í immer eine Prüfung. Sobald er es erkannt hat, weiß er, daß er darum ringen muß, es zu beseitigen — nicht nur, weil es ihn ungerecht gegen andere Menschen werden ließe, wenn er es nicht überwände, sondern auch, weil seine [Seite 994] eigene geistige Entwicklung unweigerlich von der Beseitigung seiner Vorurteile abhängt.

Was geschieht einem Menschen mit blockierten Anlagen — einem Menschen, der aus irgendwelchen Gründen den Durchbruch zu seiner Selbstverwirklichung nicht gefunden hat? Wenn er passiv oder in sich gekehrt ist, wird er in eine Phantasiewelt zu entkommen suchen; er wird sich in die Welt der Rauschgifte und des Alkohols verkriechen und vielleicht am Ende so handlungsunfähig sein, daß er in eine Anstalt verbracht werden muß. Ist es ein nach außen gekehrter Tatmensch, wird er feindselig und angriffslustig; vielleicht muß er am Ende eingesperrt werden, weil er Verbrechen begangen hat. Der springende Punkt ist, daß ein Mensch auf dem Weg zur Selbstverwirklichung, dessen Liebes- und Erkenntnisfähigkeiten ständig fortschreiten, weder vor der Verantwortung in eine Traumwelt entfliehen will noch das Bedürfnis hat, Schlachten zu schlagen, andere zu verwunden und zu töten. Unter dem Eindruck des Erlebnisses, daß sich ihre menschlichen Fähigkeiten erschließen, ist es den Menschen unmöglich, sich in irgendeine Art von Kriegsführung einzulassen. Es bleibt keinerlei Motiv für feindselige Handlungen übrig. Aus diesem Grund beansprucht Bahá’u’lláh, daß Sein Glaube und die Bahá’í-Gemeinde die Werkzeuge seien, durch die der Weltfriede schließlich fest begründet werde.


Das Ebenbild Gottes und Sein Reich auf Erden

Das Unbekannte, das die unausgeprägten Anlagen in uns darstellen, wird seit alters als das Ebenbild Gottes bezeichnet. Durchbruch zur Selbstverwirklichung bedeutet, mit diesem Unbekannten derart in Beziehung zu treten, daß es immer mehr zum Ausdruck kommt. Dabei ist immer notwendig, ein Ziel für die Energie der Angst, die aus der Begegnung mit dem Unbekannten entsteht, zu finden.

Dieser Gesamtprozeß hat sein gesellschaftliches Gegenstück. Was das Ebenbild Gottes für den einzelnen bedeutet, ist das Reich Gottes auf Erden für die menschliche Gesellschaft. Dieses Reich hat zum Inhalt, was die Gesellschaft ihrer Anlage nach werden kann, genau so wie das Ebenbild Gottes zum Inhalt hat, was aus dem einzelnen Menschen werden kann. Wenn sich die Verwandlung von Einzelmenschen durch die Erschließung menschlicher Anlagen auf breiter Grundlage vollzieht, wenn die verborgenen Liebes- und Erkenntnisfähigkeiten auf gesellschaftlicher Ebene organisiert werden und als fortschreitende Ausrottung von Vorurteilen zum Ausdruck kommen, rücken wir der Errichtung des Reiches Gottes auf Erden näher.

Bahá’u’lláhs Offenbarung befaßte sich nicht ausschließlich mit der Verwandlung des einzelnen in einer Art luftleerem Raum; dies wäre außerordentlich schwierig, wenn nicht unmöglich. Er hat vielmehr zugleich den Bauplan für eine neue Weltordnung entworfen. Das Bauvorhaben selbst wird von Bahá’í-Institutionen in solcher Weise gelenkt und vorangetrieben, daß es der Gesellschaft möglich wird, den Durchbruch zu ihrer Selbstverwirklichung, zum Reich Gottes auf Erden, zu erzielen. Auch die Antwort auf die Ängste und Prüfungen des einzelnen hat ihre [Seite 995] gesellschaftliche Entsprechung. Gesellschaftliche Einrichtungen unterliegen ebenfalls Prüfungen; ihre Entwicklung hängt davon ab, ob sie den schöpferischen Schritt ins Unbekannte vollziehen und neue Formen der Gesetzgebung auf neuen Rechtsvorstellungen aufbauen können.

Für die Bahá’í ist das Reich Gottes auf Erden eine Wirklichkeit, die letzten Endes erreicht werden kann — nicht dadurch, daß wir untätig warten, bis sie uns plötzlich durch irgendein Wunder geschenkt wird; sondern durch hingebungsvolle Bemühungen, über lange Zeiträume hinweg, das zu werden, was wir angesichts vieler Prüfungen und Schicksalsschläge werden können. Wer sich diesen hingebungsvollen Bemühungen unterzieht, wird erleben, daß er eine aktive Rolle im größten aller Dramen spielt: in der bewußten Übernahme der Verantwortung, erkennende und liebende Diener der Menschheit zur Verherrlichung Gottes zu werden.

Wenn so immer mehr Menschen im Bahá’í-Glauben den Durchbruch zu ihrer Selbstverwirklichung finden und das Ebenbild Gottes in ihrem Leben widerstrahlen, ist auch die menschliche Gesellschaft auf dem Vormarsch zu ihrem wahren Selbst, dem Reich Gottes auf Erden.

„Wenn die Wanderer nach dem ‚Ersehnten‘ streben, so erstreckt sich diese Stufe auf das Ich — jenes, das das ‚Ich Gottes ist, wie es mit Gesetzen in Ihm steht‘.

In diesem Zustand wird das Ich geliebt und nicht verworfen. Es ist hocherfreulich und muß nicht gemieden werden. Obschon diese Stufe am Anfang eine Ebene des Konfliktes ist, besteht doch ihr Ende im Erreichen des Thrones der Herrlichkeit... Dies ist die Stufe des Ichs, das Gott wohlgefällig ist. Das besagt der Vers:

‚O Seele, die du zur Ruhe gehst —
kehre zurück zu deinem Herrn,
zufrieden und Ihm wohlgefällig...
Werde einer Meiner Diener
und betritt Mein Paradies‘.“ 1)

„O Meine Diener! Wenn ihr begreifen könntet, mit welchen Wundern Meiner Freigebigkeit und Güte Ich eure Seelen betrauen will, so würdet ihr euch in Wahrheit von jeglicher Bindung an alles Erschaffene lösen und die wahre Erkenntnis eures eigenen Selbstes erlangen — eine Erkenntnis, die die gleiche ist wie das Begreifen Meines Wesens. Ihr würdet euch von allem außer Mir unabhängig finden und mit eurem inneren und äußeren Auge, so deutlich wie die Offenbarung Meines strahlenden Namens, die in euch wogenden Meere Meiner Güte und Freigebigkeit wahrnehmen“ 2).


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Aus „World Order, a Bahá’í Magazine“, Wilmette/Ill., USA, Herbst 1968.

Dr. Daniel C. Jordan ist Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität von Massachusetts, Amherst. Neben seiner Lehrtätigkeit ist er an einer Reihe von Programmen für die Entwicklung der rassischen Minderheiten in den USA aktiv beteiligt. Dem Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í der USA gehört Professor Jordan als stellvertretender Vorsitzender an.

1) Bahá’u’lláh, „Sieben Täler —- Vier Täler“, Frankfurt 1963, S. 50 f.
2) „Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs“, CLIII.


[Seite 996]



Menschenrechte und Völkerrechte[Bearbeiten]

Das einigende Band unter den Religionen / von Hans K.E.L. Keller

Treue Leser der „Bahá’í-BRIEFE“ werden sich an das Referat von Huschmand Sabet über „Die Einheit Gottes als Grundlage modernen Völkerrechts“ erinnern, mit dem beim zehnten Grotius-Tag im August 1960 in München, der unter dem Thema „Religion und Völkerrecht“ stand, die Lehren Bahá’u’lláhs einem Kreis internationaler Rechtsgelehrter und Gesellschaftswissenschaftler vorgetragen wurden (vgl. Heft 3, S. 72 ff.). Die „Internationale Grotius-Stiftung zur Verbreitung des Völkerrechts“, gegründet und betreut von dem unermüdlichen Vorkämpfer für eine friedliche Rechtsordnung zwischen den Nationen, Dr. Dr. Dr. Hans K. E. L. Keller, hat inzwischen Stützpunkte in 41 östlichen und westlichen Staaten; seit 1962 befindet sich ihr Sitz im „Grotianum“, einem Schlößchen bei Erding vor München, dessen umfangreiches Archiv ein Zentrum für die Grundlagenforschung am Völkerrecht geworden ist.
Dr. Keller hat uns in dankenswerter Weise seine Rede anläßlich des 18. Grotius-Tages in Salzburg im September 1968 zur Wiedergabe überlassen. Bei dieser Tagung wurden Herbert von Karajan in Würdigung der völkerverbindenden Mission der Musik, Nelson Rockefeller, der Gouverneur von New York, für seinen fernöstlichen Friedensplan sowie der Vater des Kinderdorfgedankens, Hermann Gmeiner, für seinen Beitrag zur Völkererziehung mit der Grotius-Medaille ausgezeichnet. Ihrer Schwerpunktaufgabe der Heranbildung eines neuen Rechtsbewußtseins will die Stiftung durch die Schaffung und Verbreitung einer „Grotianischen Charta der Völkerrechte“ verstärkt nachkommen.
Die Red.

Vom Völkerrecht wie vom Recht überhaupt wird bekanntlich am lautesten geredet, wenn es gebrochen wird. Man braucht also kein Zyniker zu sein, um aus der Fülle von Veranstaltungen, mit welchen heuer nicht nur ein Tag, sondern ein ganzes Jahr der Menschenrechte begangen wird, zu schließen, daß diese Menschenrechte noch nie so bedroht oder verletzt waren wie heute.

Wahrscheinlich ist aber das Ausmaß des Unrechts heute auch nicht größer als früher. Dank der modernen Nachrichtenübermittlungstechnik (Presse, Rundfunk und Fernsehen) wird nur ein wesentlich größerer Teil der zivilisierten Menschheit zu Zeugen jeden Verstoßes gegen die Menschenrechte, dessen Opfern es gelingt, jene Massenmedien an ihrem Schicksal zu interessieren.

So bildet sich eine öffentliche Weltmeinung, unter deren Druck die Mächte ihren Untertanen immer mehr Menschenrechte zugestehen müssen, wenn sie Wert darauf legen, zu den zivilisierten Nationen zu zählen.

[Seite 997] Auf einem „Weltrechtstag“, den das von Charles Rhyne, dem wir vor Jahren die Grotius-Medaille verliehen, geleitete „World Peace through Law Center“ kürzlich in Genf beging, wurde mit Genugtuung festgestellt, daß die Menschenrechte auf dem besten Wege seien, Gewohnheitsrecht der Staaten zu werden.

Niemand schien den Zwiespalt zu bemerken, der zwischen dieser Feststellung und dem Bekenntnis des Versammlungsleiters Nazir Ahmad Khan aus Pakistan klaffte, wonach die Menschenrechte von „Allah the Creator“ verliehen seien.

Würden die Menschenrechte durch Staatengewohnheit geschaffen, bräuchten wir uns ja über ihren göttlichen Ursprung nicht den Kopf zu zerbrechen. Sind sie aber göttlichen Ursprungs, ist die Staatengewohnheit doch nur eine nebensächliche Zutat!

Zwei Seelen wohnen, wie es scheint, in der Brust der Juristen, die einerseits an den göttlichen Ursprung der Menschenrechte glauben, andererseits die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen feiern, obgleich sie mit Bedauern zugeben müssen, daß es sich nur um eine unverbindliche Spruchsammlung handelt.

Als ob es in der Macht der Staaten läge, ob die Menschenrechte verbindliches Recht werden! Werden die Mächte nicht überbewertet, wenn wir uns so verhalten, als stehe es in ihrem Belieben, ihren Untertanen Menschenrechte zuzugestehen oder zu verweigern? Durch ein solches Verhalten machen sich die Juristen mitschuldig, wenn die Menschenrechte so wenig gelten.







Ein schmuckes neues Verwaltungsgebäude haben die Bahá’í von Ontario in Canada kürzlich beziehen können.


[Seite 998] Die Menschenrechte müssen ja prekär bleiben, wenn sie als Geschöpfe der Mächte verstanden werden. Nicht nur die Schwäche der Menschenrechte, sondern die Schwäche des Völkerrechts wird dadurch offenbar.

Wenn die Menschenrechte von Gott sind, bedürfen sie keiner Erklärung durch die Vereinten Nationen. Vielmehr müssen sich die Vereinten Nationen vor den Menschenrechten rechtfertigen; denn die Vereinten Nationen sind ein Geschöpf des Völkerrechts, das Völkerrecht ist eine Frucht der Menschenrechte, die Menschenrechte sind von Gott. Diese scheinbar so logische Schlußfolgerung erweist sich als brüchig, wenn wir die einzelnen Glieder der Kette untersuchen.

Sind die Vereinten Nationen ein Geschöpf des Völkerrechts? Wer zwischen Völkerrecht und Mächterecht zu unterscheiden gelernt hat, wird die Vereinten Nationen als Geschöpf des Mächterechts erkennen. Sind sie doch wie ihr Vorläufer, der Genfer Völkerbund, durch Vertrag zwischen Mächten zustande gekommen. Bedürfte es noch eines Beweises, daß die Vereinten „Nationen“ nicht Völker, sondern Mächte meinen, genügte es, sich der Feindstaatenklauseln der UN-Charta zu erinnern. Verfeindete Völker gibt es ja nicht, es sei denn im Banne von Machtinteressen oder -ideologien. Im Vertrauen auf die Friedfertigkeit der Völker hatte ich im Jahre 1935 vorgeschlagen, im Genfer Völkerbund und, zwanzig Jahre danach, in den Vereinten Nationen eine Kammer der Völker zu schaffen. Wie diese Reform den Völkerbund vor dem Untergang hätte bewahren können, wären die Vereinten Nationen, vom Friedenswillen der Völker getragen, nicht länger den Launen der Mächte preisgegeben.


Wo Religionen Macht ausüben ...

Ist das Völkerrecht eine Frucht der Menschenrechte? Da der Mensch in Gemeinschaft lebt, das Politische also zu seinem Wesen gehört, wären die Menschenrechte unvollständig, wenn nicht auch politische Rechte dazu zählten: die Rechte der Völker, namentlich das Selbstbestimmungsrecht im weitesten Sinne des Wortes. Es wäre ja unlogisch, dieses Selbstbestimmungsrecht verwirklicht zu sehen in der Aufrichtung einer Staatsmacht, der man die Menschen- und Völkerrechte mühsam abringen muß. Das Selbstbestimmungsrecht erschöpft sich also nicht in der Eigenstaatlichkeit, erfüllt sich vielmehr in der volklichen Selbstverwirklichung mit oder ohne Staat.

Sind die Menschenrechte von Gott? Die Auslegung, welche der Wille Gottes im Laufe der Zeiten in den verschiedenen Religionen erfahren hat, scheint dagegen zu sprechen. Wo Religionen Macht ausüben, gelten die Menschenrechte nicht viel. Ihres Glaubens wegen wurden die Salzburger Protestanten vertrieben. Wegen konfessioneller Meinungsverschiedenheiten wurde Hugo Grotius zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilt. Auf dem Zehnten Grotius-Tag (München 1960) bekannten sich namhafte Theologen aller Religionen zum Völkerrecht. Zum ersten Male erschien das Völkerrecht als das einigende Band unter den Religionen, ja als die Religion der Völker!

[Seite 999] Welch großartige Vision — wenn alle unter Völkerrecht das Gleiche verständen! Leider scheint es, als werde ständig aneinander vorbeigeredet, als diskutiere man auf verschiedenen Ebenen. Man beklagte die Unvollkommenheit des Völkerrechts angesichts der Übergriffe der Mächte, ohne zu bedenken, daß diese nun einmal nach Mächterecht miteinander verkehren. Ihre Übergriffe besagen im Grunde nichts gegen die Menschen- und Völkerrechte.

Die Idee der Menschen- und Völkerrechte wird gewiß nicht mehr von dieser Erde verschwinden. Sie wird umso lebendiger sein, je tiefer die Menschen- und Völkerrechte mißachtet werden.

Da wir die Idee der Menschen- und Völkerrechte aber nicht nur stets im Herzen tragen, sondern in dieser unserer Zeit der Verwirklichung näher bringen wollen, dürfen wir nicht müde werden zu versuchen, die Mächte dieser Welt auf das wahre Völkerrecht, das Recht der Völker, zu verpflichten. In der Sprache der Juristen bedeutet dies den unausgesetzten Versuch, die Menschen- und Völkerrechte durch Transformation in staatliches Recht zu positivieren.

Wo staatliche Machtansprüche berührt werden, sind diesem Versuch leider immer noch enge Grenzen gesetzt. Dann kann sogar die menschenfreundliche Absicht, Kinder vor dem Hungertod zu retten, als völkerrechtswidrige Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates denunziert werden.

In den zwanziger Jahren pflegte mein Lehrer Walther Schücking zu sagen: „Das Völkerrecht funktioniert bei kleinen Streitigkeiten zwischen großen Mächten, bei großen Streitigkeiten zwischen kleinen Mächten, aber nicht bei großen Streitigkeiten zwischen großen Mächten.“ Diese Beobachtung gilt auch heute noch für die Geltung der Menschen- und Völkerrechte!

Bescheidene Menschen- und Völkerrechte werden rezipiert von den Großmächten, weiterreichende Menschen- und Völkerrechte allenfalls (unter dem Druck der Großmächte) von kleinen Mächten, aber entscheidende Menschen- und Völkerrechte nur sehr widerwillig von Großmächten.


Die Verbreitung des Wissens

Mensch und Volk haben im „Völkerrecht“ noch immer einen prekären Stand. Einen vielversprechenden Schritt vorwärts tat der Europarat, indem er dem einzelnen das Klagerecht beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewährte. Auf der erwähnten Genfer Konferenz wurde beschlossen, den Vereinten Nationen die Berufung eines Hohen Kommissars für Menschenrechte zu empfehlen, welcher den Mitgliedstaaten mit Rat und Tat zur Seite stehen soll. Auf meinen Antrag wurde diese Entschließung dahingehend ergänzt, daß sich auch nichtstaatliche Organisationen sowie Einzelmenschen an den Hohen Kommissar für Menschenrechte sollen wenden können. Der nächste Schritt wäre die Berufung eines Hohen Kommissars für Völkerrechte.

[Seite 1000] Was kann, darüber hinaus, geschehen, um die Mächte zur Anerkennung der Menschen- und Völkerrechte zu bewegen? Wir Grotianer haben den, soweit wir sehen, einzigen Weg zu diesem Ziel beschritten: die Verbreitung des Wissens um die Menschen- und Völkerrechte, ihre Popularisierung und Demokratisierung mittels der Grotianischen Mission.

Der „Katechismus“ dieser Grotianischen Mission soll die Charta Grotiana sein, eine Erklärung der Völkerrechte nach dem Vorbild der Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, aber — zum Unterschied von ihr — nicht von den diplomatischen Vertretern der Mächte verfaßt, sondern von unabhängigen Persönlichkeiten aller Völker.

Wir hoffen zuversichtlich, auf diese Weise eine gemeinsame Rechtsüberzeugung der Völker zu fördern, welcher die Mächte sich auf die Dauer nicht werden verschließen können.



Ansatz zur „Welt-Innenpolitik“[Bearbeiten]

Anfang April hat das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit eine „Formel der deutschen Entwicklungspolitik“ veröffentlicht. Wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung für den Durchbruch der öffentlichen Meinung auf einem der wichtigsten politischen Sachgebiete und für die praktische Arbeit an der Verwirklichung des „Geringeren Friedens“ im Sinne der Lehren Bahá’u’lláhs geben wir diese Thesen nachstehend wieder:

„Das wirtschaftliche und soziale Gefälle zwischen den industrialisierten Zonen und den Entwicklungsgebieten der Erde erhält Abhängigkeiten und schafft Konflikte.
Entwicklungspolitik soll Völkern helfen, sich selbst zu helfen, damit sie sozial und wirtschaftlich aufholen, ihre Gesellschaft nach eigenen Zielen modernisieren und in der weltweiten Interdependenz über die gemeinsame Zukunft mitbestimmen können.
Entwicklungspolitik macht politische Kräfte, wirtschaftliche Interessen und solidarische Hilfsbereitschaft dem sozialen und politischen Ausgleich dienstbar und bringt sie zu optimaler Wirksamkeit.
Entwicklungspolitik fordert die Lernfähigkeit auch unserer Gesellschaft heraus, ihre Bereitschaft, die Sorgen anderer Völker zu teilen und ihre Entscheidung ernst zu nehmen. Entwicklungspolitik ist Ansatz zu einer Weltinnenpolitik. Sie tut das Nächstliegende in einer revolutionären Weltlage.
Entwicklungspolitik zielt auf Frieden. Sie beweist und mobilisiert Hoffnung.“


[Seite 1001]




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Redaktion: Dipl.-Volkswirt Peter A. Mühlschlegel, 6104 Jugenheim, Goethestraße 14, Telefon (0 62 57) 74 67, u. Dieter Schubert, 7021 Oberaichen, Viehweg 15, Telefon (07 11) 74 97 67.

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An der Zeitschrift bestehen keine wirtschaftlichen oder finanziellen Beteiligungen im Sinne des Hessischen Pressegesetzes, § 5 Abs. 2.