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D 20155 F
BAHÁ'I-
BRIEFE
BLÄTTER FÜR
WELTRELIGION UND
WELTBEWUSSTSEIN
AUS DEM INHALT:
Peter Mühlschlegel: Sozialisierte Erlösung
David S. Ruhe: Der neue Garten Eden
Udo Schaefer: Muhammad - ein Lügenprophet?
Hans Randel: Gebet und Meditation
HEFT 36 APRIL 1969
Der allwissende Arzt
- legt Seinen Finger an den Puls der Menschheit. Er erkennt die Krankheit und verschreibt in Seiner unfehlbaren Weisheit das Heilmittel. Jedes Zeitalter hat seine eigenen Probleme, jede Seele ihre besondere Sehnsucht. Das Heilmittel, das die Welt in ihren gegenwärtigen Nöten braucht, kann nicht das gleiche sein, das ein späteres Zeitalter erfordern wird. Beachtet genau die Nöte eures Zeitalters und legt den Schwerpunkt eurer Überlegungen auf seine Bedürfnisse und Forderungen.
- Wir sehen, wie die ganze menschliche Rasse von großen, unberechenbaren Nöten umgeben ist. Wir fühlen, wie sie auf ihrem Krankenbett dahinsiecht, schmerzlich geprüft und ernüchtert. Jene, die von Eigendünkel trunken sind, haben sich zwischen sie und den unfehlbaren göttlichen Arzt gedrängt. Bezeuge, wie sie alle Menschen, sich selbst mit eingeschlossen, in das Netzwerk ihrer List verstrickt haben. Sie können weder die Ursache der Krankheit entdecken, noch kennen sie irgendein Heilmittel. Sie denken, das Gerade sei krumm, und bilden sich ein, ihr Freund sei ihr Feind.
- Neigt euer Ohr der süßen Weise dieses Gefangenen. Steht auf und erhebt eure Stimme, damit die fest Schlafenden erwachen. Sprecht: O ihr, die ihr wie tot seid! Die Hand göttlicher Freigebigkeit reicht euch das Wasser des Lebens. Beeilt euch und trinkt zur Genüge! Wer an diesem Tage wiedergeboren wird, soll niemals sterben; wer tot bleibt, soll niemals leben.
- Bahá’u’lláh
- (Ährenlese CVI)
Gott, Sein Wort und die Schöpfung[Bearbeiten]
Worte von Bahá’u’lláh
Wisse wahrlich, daß der Unsichtbare in keiner Weise Sein Wesen Fleisch
werden lassen und den Menschen offenbaren wird. Immer ist Er unermeßlich
über alles erhaben, was sich beschreiben oder wahrnehmen läßt. Von
Seinem Ruhesitz der Herrlichkeit aus verkündet Seine Stimme unablässig:
„Wahrlich, Ich bin Gott. Es ist kein Gott außer Mir, dem Allwissenden,
dem Allweisen. Ich habe Mich den Menschen enthüllt und Ihn, den Morgen
der Zeichen Meiner Offenbarung, herabgesandt. Durch Ihn ließ Ich die
ganze Schöpfung zum Zeugen werden, daß kein Gott ist außer Mir, dem
Unvergleichlichen, dem Allunterrichteten, dem Allweisen“.
Er, der immer vor den Augen der Menschen verborgen bleibt, kann nie anders als durch Seine Manifestation erkannt werden, und Sein Offenbarer kann keinen größeren Beweis für die Wahrheit Seiner Sendung erbringen als den Seiner eigenen Person.
- *
Jedem unterscheidenden und erleuchteten Herzen ist klar, daß Gott, das unfaßbare und himmlische Wesen, unermeßlich hoch über alle menschlichen Zeichen, wie Körperlichkeit, Aufstieg und Abstieg, Ausgang und Rückkehr, erhaben ist. Fern sei von Seiner Pracht, daß Menschenzungen angemessen Seinen Ruhm zu künden oder Menschenherzen Sein unergründliches Geheimnis zu fassen vermöchten. Immer ist und war Er in der Urewigkeit Seines Wesens verborgen und wird Seine Wirklichkeit den Blicken der Menschen entzogen bleiben. „Kein Blick dringt in Ihn, doch Er blickt in alles. Er ist der alles Sehende, der alles Erkennende“ ...
Da das Tor zur Erkenntnis des Urewigen vor dem Angesicht aller Geschöpfe verschlossen ist, hat der Quell unendlicher Gnade gemäß Seinem Wort, „Seine Gnade hat alle Dinge überstiegen, Meine Gnade hat sie alle umschlossen“, jene leuchtenden Edelsteine der Heiligkeit in der edlen Gestalt des menschlichen Tempels (Körpers) aus dem Reich des Geistes erscheinen und allen Menschen kund werden lassen, damit Sie der Welt die Geheimnisse des unwandelbaren Seins übermitteln und von den Feinheiten Seines unvergänglichen Wesens künden.
Diese geheiligten Spiegel, diese Morgenröten ewiger Herrlichkeit sind
allesamt die irdischen Vertreter Dessen, der der Angelpunkt des Weltalls,
sein Wesen und letztes Ziel ist. Durch Ihn empfangen Sie Wissen und
Vollmacht, und aus Ihm fließt Ihre Oberherrschaft. Die Schönheit Ihres
Antlitzes ist nur ein Widerschein Seines Bildes und Ihre Offenbarung ein
Zeichen Seines unsterblichen Glanzes. Sie sind die Schatzkammern göttlichen
Wissens und die Truhen himmlischer Weisheit. Durch Sie wird eine
Gnade übermittelt, die nicht endet, und das Licht enthüllt, das niemals
schwindet ... Diese Horte der Heiligkeit, diese Spiegel des Ursprungs, die
das Licht unvergänglicher Herrlichkeit widerstrahlen, sind nur ein
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Ausdruck von Ihm, dem Unsichtbaren der Unsichtbaren. Durch die
Offenbarung dieser Edelsteine göttlicher Tugend werden alle Namen und
Zeichen Gottes, wie Erkenntnis und Macht, Oberhoheit und Herrschaft,
Barmherzigkeit und Weisheit, Herrlichkeit, Güte und Gnade klar dargelegt.
Die göttlichen Eigenschaften werden und wurden nie bestimmten Offenbarern gewährt und anderen vorenthalten, nein, alle Manifestationen Gottes, Seine vielgeliebten, Seine heiligen und erwählten Boten, sind vielmehr ohne Ausnahme die Träger Seiner Namen und die Verkörperungen Seiner Zeichen. Sie unterscheiden sich nur im Grade Ihrer Offenbarung und der verschiedenen Kraft Ihres Lichtes, so wie Er offenbarte: „Wir veranlaßten, daß einige der Glaubensboten die anderen überragen.“
Daher hat es sich gezeigt und erwiesen, daß im Heiligtum der Offenbarer und Erwählten Gottes das Licht Seiner unendlichen Namen und erhabenen Kennzeichen widergespiegelt wurde, ob nun das Licht einiger dieser Kennzeichen aus den leuchtenden Tempeln den Augen der Menschen sichtbar enthüllt worden sein mag oder nicht. Daß ein bestimmtes Kennzeichen Gottes von diesen losgelösten Wesen nicht sichtbar geoffenbart wurde, besagt in keiner Weise, daß Sie, die Tagesanbrüche der Kennzeichen Gottes und die Schatzkammern Seiner heiligen Namen, sie nicht tatsächlich auch besessen hätten. Deshalb sind jene erleuchteten Seelen und wunderbaren Antlitze allesamt mit allen Zeichen Gottes, wie Oberhoheit, Herrschaft und dergleichen, ausgestattet, wenn Sie auch dem äußeren Anschein nach aller irdischen Majestät beraubt sind ...
- (Ährenlese XX und XIX)
- ——————————
Sozialisierte Erlösung[Bearbeiten]
Wenn ein Christ von Erlösung spricht, denkt er zunächst an seine eigene Seele. Vielleicht, daß er sich noch einiger Angehöriger erinnert, denen er gleichfalls Gutes wünscht, und möglich, daß auch „der Nächste“ nicht ganz vergessen wird: Die menschliche Gesellschaft und ihre tragenden Strukturen aber stehen außerhalb dieser Vorstellungen — sie bleiben für ihn unerlöst. Allenfalls hebt sich fern am Horizont der Zukunft die mangelhaft reflektierte Hoffnung auf ein endgültiges Geschehnis bei der Wiederkunft Christi, der großen Verklärung der ganzen Welt, ab, denn „erst das Ende der Tage bringt die endgültige Erlösung in der Herrlichkeit Gottes“1). Bis dahin ist — außerhalb des persönlichen Bereichs — die Heilserfahrung eine Art religiöses Niemandsland: „Die Heilige Schrift enthält keine Theorie über Wesen und Entstehung des Staates... Eindeutige Weisungen über das Verhältnis der Staaten zueinander finden sich im Neuen Testament nicht. Wer dies erwartet, zeigt nur, daß er die Bibel fälschlich als ein Regelbuch für alle Lebenslagen ansieht...“ 2).
Es leuchtet ein, daß sich keine moderne politische Ordnung auf eine Offenbarung gründen läßt, in der die einzige politische Aussage des Religionsstifters lautet, man solle Kaiser und Gott jeweils geben, was ihnen gehöre. Diese Aussage ist als Basis umso weniger geeignet, als sie zumeist völlig falsch im Sinn eines dualistischen Nebeneinanders ausgelegt wird. Bahá’u’lláh sagt, „wenn das, was dem Kaiser gehörte, nicht von Gott gekommen wäre, hätte Er es verboten“ 3).
Niemand wird den Christen einen Vorwurf daraus machen, daß das Christentum für unsere akuten gesellschaftlichen Nöte keine Lösungen bietet. Was sehr vielen jedoch vorgehalten werden muß, ist dieses: Daß sie es nicht vermögen, von der Liebe zum Nächsten — und das ist heute die gesamte Menschheit — getrieben, nach religiösen Lösungen dieser Probleme auch außerhalb des spezifisch christlichen Bereichs zu suchen. Wie apokalyptisch muß es auf diesem Planeten noch zugehen, bis die „Elite“ der Christenheit sich endlich fragt, ob die Welt nicht in der Zeit jenes Endes steht, das Christus vor 2000 Jahren mit sehr deutlichen soziologischen Merkmalen gekennzeichnet hat? Deuten die hyperbolisch steil ansteigenden Kurven aller gesellschaftlich bedeutsamen Datenreihen, die sich in den vergangenen 200 Jahren zunehmend kumuliert haben, nicht klar auf diese Endzeit, unter der freilich nichts anderes zu verstehen ist als der Übergang zu einem neuen gesamthistorischen Entwicklungsabschnitt? Darf man, nur dem Glauben an die Unveränderlichkeit der eigenen Dogmen zuliebe, davon ausgehen, Gott — Schöpfer und Lenker eines umfassenden Heilsgeschehens — sei in dieser großen Krise von der seit 6000 Jahren nachweisbaren Kausalität abgerückt, zunächst immer „Warner“ und „Mittler“ zu senden und es dann, als direkte Folge der Nichtanerkennung des erneuerten göttlichen Rufs, zu Katastrophen kommen zu lassen? Sollte nicht allein der Gedanke, daß dies so sein könnte, jeden Christen zwingen, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften auf dem ganzen Erdball solange zu forschen, bis er die Lösung findet?
Ein kleines Beispiel möge die gesellschaftsphilosophische
Beziehungslosigkeit der christlichen Theologie illustrieren. Jeder Christ
kennt die Geschichte vom Turmbau zu Babel: Der Herr verwirrte die
Sprache der Menschen, um sie für ihren Hochmut zu strafen — eine
Strafe, die dauern soll bis zur Zeit des Endes. Der Christ
weiß um die zentrale Bedeutung des Worts, des Logos, in den
Aussagen seines Glaubens — und jeder anderen Hochreligion. Es fällt
leicht, aus diesem Wissen und einer aufgeschlossenen Beobachtung
der Praxis zu schließen, daß die sprachliche Verständigung zwischen
den Menschen unabdingbare Voraussetzung jeder Höherentwicklung ist,
wie es nicht erst die Linguistik eines Hjelmslev oder die
Philosophie eines Wittgenstein bewiesen haben. Die sprachliche
Einigung verschiedenartiger Völker war schon immer von großer
Bedeutung für den Frieden und die Entfaltung einer übergreifenden
Kulturwelt: Die einheitliche Schrift Chinas, die Latinisierung
des westeuropäischen Mittelalters, die Verbreitung des Arabischen
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über ganz Vorderasien und Nordafrika als Folge des Übersetzungsverbots
für den Qur’án sind Beispiele gemeinschaftsbildender Lösungen des
Sprachproblems.
Nichtsdestoweniger fühlt sich ein führender evangelischer Theologe, der Chef-Ideologiekritiker D. Kurt Hutten, bemüßigt, in einem Aufsatz über die Bahá’í-Religion4) die von ‘Abdu’l-Bahá formulierten bekannten zwölf Grundsätze als eine „Sammlung von frommen Wünschen, Allgemeinplätzen und bloßen Illusionen“ zu qualifizieren und dabei Bahá’u’lláhs Forderung nach einer einheitlichen Sprache und Schrift unter die „bloßen Illusionen“ einzureihen. Damit nicht genug, versteigt er sich zu der Begründung: „...womit nicht nur eine friedliche Verständigung, sondern genauso auch die Verbreitung von Lüge und Hetze erleichtert würde“. Wir lachen heute über die Ärzte, die vor 150 Jahren behauptet haben, die Eisenbahn sei gesundheitsschädlich. Vielleicht entdeckt eines Tages jemand einen Schriftsteller, der vor 150 Jahren die Vorteile der Eisenbahn als „bloße Illusionen“ bezeichnet hat mit dem Argument, damit hätten ja nicht nur friedliche Bürger, sondern auch Verbrecher und Spione raschere Transportmöglichkeiten.
Der springende Punkt ist die falsche Wertordnung, die unvollkommene Zuordnung der Prioritäten. Man wird zur Kenntnis nehmen müssen, daß die radikal veränderte moderne Welt ein völlig verändertes Weltbild erfordert — durchaus im Sinne einer „Wiedergeburt aus Wasser und Geist“, wie sie Jesus dem Nikodemus als dem Vertreter des theologischen Establishments der Juden gegenüber zur Voraussetzung für den Eintritt in das Reich Gottes machte. Was ließe sich aus dieser Szene in Johannes 3 alles an Parallelen zur heutigen geistigen Situation gebildeter Christen herausholen! Wenn wir nur an die beiden zentralen Begriffe der Wiedergeburt denken: das „Wasser“ als Grundsubstanz allen Lebens — und Leben ist identisch mit Entwicklung —, der „Geist“ als der ewige Logos, das Wort und der Wille Gottes, der die Entwicklung des Lebens vorantreibt und, entwicklungsbedingt, immer neu manifestiert werden muß.
Das Prinzip der Entwicklung außer acht zu lassen oder es zur
Hoffnung auf eine immer weiter hinausgeschobene Endzeit zu
verzerren, heißt die gesellschaftliche Wirklichkeit aus dem Griff
verlieren. Die Hilflosigkeit und Widersprüchlichkeit der sogenannten
christlichen Politik sind Beweis genug. Es gilt nachzuholen, was seit
dem Konzil von Nicäa, ja seit Paulus, versäumt und vernachlässigt
wurde: das Prinzip der göttlichen Gerechtigkeit unteilbar
und untrennbar vom Prinzip der göttlichen Liebe zu sehen. Am Bau
der Welt liefert die Gerechtigkeit die Steine und die Liebe den
Mörtel; ein Haus, das ganz aus Mörtel erbaut ist, bleibt nicht lange
stehen. Es gilt, den Dualismus zwischen Gott und Welt, Religion
und Politik, Kirche und Staat zu überwinden. Es gilt, den Begriff
des Glaubens, der subjektiven Erwiderung auf den göttlichen Anruf,
nicht so sehr unter dem Aspekt der gnadenvollen Erlösung
als vielmehr geradlinig, logisch und praktisch als Anerkennung
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der prophetischen Autorität und als Befolgung ihres schriftlich
und klar niedergelegten Willens zu definieren. Es gilt, die praktischen
Folgerungen zu ziehen und zuerst unseren persönlichen Willen, sodann
unsere Gesellschaftsordnung nach den neuverstandenen göttlichen
Leitlinien zu programmieren.
Für Christen wie für die Anhänger anderer alter Religionen ist die Wiedergeburt aus Wasser und Geist unmöglich, solange sie nicht wenigstens hypothetisch bereit sind, von den Ausschließlichkeitsansprüchen ihrer Dogmatik abzurücken. Die Zeit, die Angst und die Not sind drei gute Lehrmeisterinnen: Wir werden mit Sicherheit in den nächsten Jahren noch so viel an „Verunsicherungen“ — um mit der soziologischen Linken zu reden — erleben, daß die Relativität aller religiösen Offenbarung immer denkbarer erscheint. Dann werden die Christen daran gehen, die versäumten, ganz einfachen Lektionen der nachchristlichen Religionen aufzuholen: daß es nur einen einzigen Gott gibt, der „nicht zeugt und nicht gezeugt wird“ (Qur’án); daß sich dieser Gott, der Entwicklung des Menschen und seinen Verhältnissen gemäß, immer wieder in prophetischen Übermenschen manifestiert und durch deren „Buch“ jeweils die Leitlinien und Denkmodelle für einen neuen Abschnitt im Fortschritt der menschlichen Kultur setzt; daß sich diese Leitlinien und Denkmodelle mit Sicherheit durchsetzen, weil die Menschheit so lange unter selbstverursachten Krisen und Katastrophen zu leiden haben wird, bis sie sich hinreichend angepaßt hat; daß das religiöse Bewußtsein nicht in illusionsreichen Jenseitshoffnungen, sondern in der praktischen Lebensethik verankert sein muß — bei Strafe der Unvermeidbarkeit gesellschaftspolitischer Krisen.
Vor 500 oder 1000 Jahren mußte man Mystiker oder Heiliger sein, um die Zusammenhänge zwischen dem religiösen Bewußtsein und der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu begreifen. Mit dem Heranreifen der politisch-wirtschaftlichen Verhältnisse und der Verfeinerung unseres sozialpsychologischen Instrumentariums wird es zunehmend zu einer Sache unternehmerischen Weitblicks, das geoffenbarte Wort Gottes auf seine gemeinschaftsbildende Substanz hin zu prüfen und es zur Richtschnur für das eigene Handeln und die Beurteilung der Umwelt zu nehmen. Bereits der Qur’án und die Überlieferungen Muhammads bieten eine Fülle von Anregungen, wie es Udo Schaefer in seiner fundierten Kritik an typischen christlichen Vorurteilen beweist (Seite 944 ff.).
Bahá’u’lláh gibt in mehr als hundert Bänden, von denen bis jetzt
nur das Wichtigste in abendländische Sprachen übersetzt werden
konnte, die Charta einer neuen, ganzheitlichen Weltordnung und
damit die Erlösung nicht nur des einzelnen Menschen, sondern der
ganzen menschlichen Rasse. Man muß nur den Willen aufbringen,
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sich mit Seinem Werk selbständig auseinanderzusetzen und dadurch
zu vollziehen, was Er jedem Menschen zur Pflicht gemacht hat.
Welchen Perspektiven eine erlöste Menschheit entgegengeht, hat
David Ruhe in seinem Aufsatz (Seite 931 ff.) begeisternd zum
Ausdruck gebracht.
Vor 500 Jahren vollzog das christliche Abendland — gegen den Widerstand seiner religiösen Führer — eine kopernikanische Wende vom ptolemäischen Weltbild des Mittelalters zur Grundkonzeption der modernen Astronomie. Die kopernikanische Wende von der christlichen Dreifaltigkeitslehre zum dynamischen, universalistischen, gesellschaftsbezogenen Weltbild Bahá’u’lláhs wird ebenso unvermeidlich, wenngleich — Gott sei’s geklagt — wesentlich schmerzhafter sein.
- Peter Mühlschlegel
- 1) Rudolf Stählin im Fischer-Lexikon „Christliche Religion“, S. 74.
- 2) Dgl. S. 296 und 298.
- 3) Bahá’u’lláh, „Brief an den Sohn des Wolfes“, S. 86.
- 4) Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt v. 27. 10. 68.
Der neue Garten Eden[Bearbeiten]
Perspektiven für eine erlöste Menschheit / von David S. Ruhe
1 750 000 Jahre mögen es her sein, daß ein Wesen, das gerade Mensch zu werden begann, durch die Steppen des ostafrikanischen Hochlands schweifte, Fische und Nagetiere fing und grobes Handwerkszeug herstellte. Dieses Wesen ging auf zwei Beinen, hatte zwei scharfe Raubtieraugen und nahm seine Nahrung als Allesfresser mit den zu Greifern ausgebildeten Fingern seiner Vorderbeine zu sich. Wichtiger noch ist, daß der Urmensch jene Merkmale überlegener Denkfähigkeiten zeigte, die ihn zur größten Bedrohung für alle anderen von Gott bis dahin geschaffenen Lebensformen werden ließ. Dr. Louis S. B. Leakey und seine Frau Mary schlossen aus Knochenbruchstücken, die in der Schlucht von Olduvai in Tanzanien gefunden wurden, daß diese ersten kleinen afrikanischen Hominiden die Frühmenschen waren, die sich in den Jahrtausenden seither über die Welt verbreiteten.
Irgendwann während der vier Eiszeiten vor vielleicht 300 000 Jahren geschah die große Mutation des Menschen, über die Tilly Edinger und Loren Eiseley spekuliert haben. Vom Standpunkt der Entwicklungsgeschichte her gesehen nahm das Großhirn schlagartig an Umfang und Verfeinerung zu. Gleichzeitig tauchte zwischen Mann und Weib und ihren Kindern jene eigenartige Erscheinung auf, die man menschliche Liebe nennt — eine Erscheinung, die einen großen Entwicklungszweck praktisch ermöglichte: Durch die Macht der Liebe erfuhr das schwache Junge jenes außergewöhnlichen neuen Jägertyps den Schutz der Erwachsenen für sein gefährlich langes Wachstum zur Reife. Die verlängerte Wachstumszeit betraf zwar den Körper; sie war aber, und das ist wichtiger, ein notwendiger Zeitabschnitt ausgedehnten Lernens von den Eltern, da dieses Menschenjunge ja Geisteskräfte besaß, die von der Steuerung durch Instinkte zunehmend befreit waren.
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Durch die Mutation des Großhirns „ging das Eden, das die Tierwelt
ganze Erdzeitalter hindurch gekannt hatte, vollends in die Brüche. Der
menschliche Geist bewirkte, daß die Zeit und das Dunkel, Gut und Böse... in
die Welt einzogen und Besitz von ihr ergriffen ...“ So beschreibt Loren
Eiseley, ein Wissenschaftler des zwanzigsten Jahrhunderts, die umwälzende
Bedeutung dieses großen Sprungs vorwärts. 3000 Jahre zuvor hatte der
alttestamentarische Seher, der das zweite und dritte Kapitel des 1. Buches
Mose aufsetzte, blasse Spuren aus dem Kollektivbewußtsein der Menschheit
in seinem Geist vereinigt und damit „ein größeres Gleichnis gestaltet,
als die Menschen je für möglich hielten ...“ Denn Jehovas Garten Eden
im Zweistromland wurde damals symbolisch als der Ort für die Entstehung
des menschlichen Bewußtseins, das Auftreten des Geistes im menschlichen
Sinne verstanden. Der Ort selbst und die Wahrscheinlichkeit, daß es
tatsächlich ein afrikanischer Garten Eden war, tun nichts zur Sache. Es war
das wichtigste Ereignis der Weltgeschichte, weil es ihr Beginn war.
Über das tierhafte Eden der ewigen Gegenwart sind Adam und Eva, die ersten
wahren Menschen 1), hinausgewachsen. In Wirklichkeit ließ ihnen
Gott keine andere Wahl, als vom Baum der Erkenntnis zu essen; denn nur
so kamen sie zu der Erkenntnis, daß die Schöpfung Gottes gut ist. Nur so
kamen sie auch zu der Macht menschlicher Wahl, die freier Wille genannt
wird und die, zum ersten Mal in der Geschichte, Handlungen
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hervorbringen konnte, die im eigentlichen Sinn „böse“ zu nennen waren. Eine
dem Wesen nach tierische Welt bietet keine Wahlentscheidungen. Die
menschliche Welt öffnete das harte Tor zu den Werten und ihrer entscheidenden
Rolle im menschlichen Dasein. Eva und Adam erlebten auch die
Erkenntnis der Zeit, die ihnen das unbekümmerte und doch angsterfüllte
Dunkel der Vergangenheit und die lange, gedankenvolle Finsternis einer
furchterregenden Zukunft offenbarte.
Eiseley kennzeichnet Adam mit seiner neu erworbenen Vorstellungsgabe weiterhin als „das Traumtier“ und versichert, „es war wirklich der Mensch, der ohne Erinnerung durch Schranken von Sonnenlicht und Schatten hindurch in den Morgen der Welt hinausschritt, sich niedersetzte und sich mit erstaunter Hand über seine schwere Stirn fuhr; ... Zeit und Finsternis, das Wissen um Gut und Böse, sind seither immer mit ihm gezogen.“ An jenem Morgen vor vielleicht einer Viertelmillion Jahre „dachte zum erstenmal seit vier Milliarden Jahren ein Lebewesen über sich selbst nach und hörte in einem plötzlichen, unerklärlichen Gefühl der Einsamkeit das Flüstern des Windes im nächtlichen Schilfrohr. Vielleicht wußte er schon, dort im Gras an den kühlen Wassern, daß er eine unermeßlich lange Wanderung vor sich hatte“ 2) . Eine unermeßlich lange Wanderung! Eine wundersame, unerbittliche Fahrt durch die Zeit zu einem neuen Eden und ohne Zweifel zu immer weiteren Paradiesgärten in der fernen, blaßblauen Zukunft!
- Längst vergessene Zukunftsmenschen
Es genügt nicht, gelehrig alte Höhlenknochen zu studieren oder dem nebulosen Gemurmel der Weissager zu lauschen, auch wenn in diesen Quellen Anhaltspunkte liegen mögen. Man kann auch Menschengruppen beobachten, die heute noch leben, aber lebende Erinnerungsstücke der großen Mutation jener Zeit sind, in der das Bewußtsein über den Menschen kam. In Australien, in Neuguinea, auf Hokkaido, am brasilianischen Fuß der Anden und in der Arktis leben Menschen in Kulturen mit steinzeitlichen Merkmalen. Sie besitzen „moderne“ menschliche Gehirne, wie uns Wallace, ein großer, heute vergessener Zeitgenosse Darwins darlegt. Sie gehören eindeutig zur Gattung Homo sapiens. In mancher Hinsicht primitiv, entfalten diese Völker eine niedere Kultur des Daseinskampfes, die bei vielen modernen Menschen zu Mißverständnissen führt. In anderer Hinsicht sind sie zivilisiert und haben eine hohe Kultur des Denkens und der Ästhetik entwickelt. Ein treffendes Beispiel für ein lebendes Erinnerungsstück aus der Menschheitsentwicklung ist unter den Ureinwohnern von Australien zu finden.
In Arnhemland in der nordaustralischen Wüste leben einige tausend
Familien, deren Vorfahren vermutlich vor vielen Jahrhunderten nach
Australien übergesetzt waren, ganze Zeitalter vor den europäischen
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Eindringlingen des achtzehnten Jahrhunderts. Die Europäer kamen in
Schiffen mit ihren stählernen Waffen und Werkzeugen; sie rechtfertigten ihre
Landnahme durch ihre „wesenhafte Überlegenheit“ und setzten ihre Macht
mit „den blutigen Tugenden des Schießpulvers“ durch. Aber nie verglichen
sich diese Europäer mit den Eingeborenen nach den echten Maßstäben der
Hochkultur auf einer wahren Wertskala; sie nannten die Eingeborenen
„Wilde“, weil sie nackt und gegen das Wetter abgehärtet waren, keine
Schrift kannten und nicht mit dem Christentum vertraut waren. Im Gegensatz
zu den Illusionen vorgeblicher europäischer Überlegenheit waren und
sind die niedrigen wie die hohen Kulturgüter jedes Arnhemländers
außerordentlich, wenn man von der nomadischen Lebensweise ausgeht,
die er in seiner vorwissenschaftlichen Wüstenwelt führen muß.
Jeder männliche australische Eingeborene beherrscht handwerkliche und kämpferische Fertigkeiten. Jeder nimmt als Vollbürger an der Regierung seines Stammes ernsthaften Anteil. Jeder ist einbezogen in ein religiöses Leben, das so umfassend und alldurchdringend ist, daß „alltägliche Verrichtungen eigentlich als sakramental bezeichnet werden müssen“. Jeder Ureinwohner kennt eine Überlieferung seiner Gesellschaft, die von unglaublichem Umfang ist: „tausende von Liedern, hunderte von Ritualen, Legenden, Geschichten, Tänze, Einzelheiten aus der Stammesgeschichte ... (Jeder) beherrscht aus dem Stegreif sein kompliziertes Verwandtschaftssystem und eine Reihe schwieriger Kunstfertigkeiten, die für das Leben im Busch zweckmäßig ist.“ Fast jeder kennt „neben seiner eigenen Sprache mehrere andere Eingeborenensprachen sowie eine Zeichensprache und Pidgin-Englisch“ 3).
Aber das erstaunlichste ist, daß die ästhetischen Erlebnisse, die wir in unseren „hochzivilisierten“ Lebensbereichen als selten und kostbar ansehen, unter den Eingeborenen etwas Alltägliches, ja Allgemeingültiges sind: Sie komponieren, musizieren, tanzen, erdenken Gedichte, Lieder und Geschichten, tragen sie vor und hören anderen zu. Jeder einzelne stellt schöne und nützliche Gegenstände für alle Lebenslagen her. Buchstäblich ist jeder Mensch ein Künstler und Kunsthandwerker. Von jedem Eingeborenen wird erwartet, daß er seine weitverzweigten Fähigkeiten entfaltet, um an einem reichen Stammesleben, dessen hohe Kultur eine überraschende Vielseitigkeit verlangt, teilzunehmen. Es ist tatsächlich so, wie wenn jeder Einwohner von New York oder Frankfurt malen, dichten, an Laienspielen teilnehmen, singen, tanzen, diskutieren, Riten der Geburt, Geschlechtsreife und Heirat mitvollziehen müßte und daraus ein alldurchdringendes Gefühl der Verbundenheit aller mit allen gewinnen sollte. Daß die meisten ästhetischen Lebensäußerungen dieser australischen Ureinwohner im Schwinden begriffen sind und daß die tiefe Bedeutung ihrer Kunst von den Missionaren und Händlern nicht verstanden wird, beweist nur das typische Unvermögen, Verständigung zwischen verschiedenen Kulturen zu erreichen.
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Der Eingeborene sieht Verwandtschaft in allem Lebendigen. Er fühlt sich
eins mit der Beute, die er jagt, und verleiht dem Känguruh, der Eidechse
oder dem Wal eine totemistische Zugehörigkeit zu seinem Stamm. Er besitzt
die Vertrautheit des Wilden mit dem Wetter und versteht es, auch
Katastrophen hinzunehmen. Auf vielerlei Weise lebt er immer noch im
Garten Gottes, als zeitgenössischer Adam. Andererseits teilt er mit seinen
Stammesangehörigen ein ganzheitliches Gruppenbewußtsein; er erlebt die
schöpferischen Erfahrungen der anderen mit — Erfahrungen, die er als
wesenhaft religiös begreift. So ist in mancherlei Hinsicht jeder
Arnhemländer „der längst vergessene Mensch der Zukunft“ 4).
Bei der Beobachtung dieser übriggebliebenen Adame kommt uns die Frage: Sucht nicht gerade der moderne Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts nach einer Hochkultur, die von gleichberechtigten Partnern getragen wird, eine Kultur, in der jeder alle seine Fähigkeiten entwickelt? Eine Kultur, in der man die Verwandtschaft mit allen anderen Menschen fühlt, die Einheit mit allem Leben und mit dem Schöpfer des Alls? Sucht nicht der moderne Mensch, das Innenleben des Arnhemländers zurückzugewinnen, aber in Verbindung mit dem äußerlichen Leben der Wissenschaftlichkeit und mit einem neuen Ethos?
- Wohin führt die Wissenschaftlichkeit?
Wir Abendländer sind das höchste Ergebnis eines wissenschaftlichen Zeitalters, das unsere Hoffnung und unsere Verzweiflung ist. Wir beherrschen die Methoden der Wissenschaft und genießen ihre vielfach fragwürdigen Früchte. Unsere Frauen überleben das Kindsbett, unsere Säuglinge werden großenteils ohne eine einzige schwere Erkrankung ihr achtzigstes Lebensjahr erreichen. Wir haben bereits die Werkzeuge in der Hand, um Krankheit und Hunger zu überwinden. Innerhalb unserer Nationalgesellschaften gelingt es uns im allgemeinen, Mord zu vermeiden; nur oberhalb des Niveaus der Volksstämme verfallen wir immer noch in den Massenmord, den man Krieg nennt. So wunderbar aber unsere Errungenschaften sind, die uns das Überleben im Daseinskampf, Gesundheit und Ernährung sicherstellen — ist doch diese wachsende Kontrolle einer oft furchterregenden Naturwelt nicht das wichtigste Ergebnis. Vielmehr machen gerade die Dinge, die dem menschlichen Verstand und Geist widerfahren, unsere Zeit eines neuen Frühmenschentums so kritisch. Wir sind zur Gattung Homo sapiens scientificus geworden. Aber wir sind unvollständig. Wir müssen zur Gattung Homo sapiens scientificus spiritualis werden.
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Heute steht der neue Adam am Times Square, auf dem Roten Platz,
den Champs Elysées oder dem siebten Hügel von Kampala. Er streicht sich
mit erstaunter Hand über sein gewöhnlich glattrasiertes Kinn und fragt
sich, wenn er fragt, inmitten des lärmenden Gewimmels in verständlicher
Verwirrung: „Wie komme ich überhaupt hierher? Was soll diese ganze
Mäusejagd? Gehöre ich hierher: Kann ich jemals irgendwem etwas
bedeuten? Auch mir selbst? Was bedeutet überhaupt wem etwas?“ Den
Menschen, dieses mit Bewußtsein begabte Stück Nichts auf dem
unergründlichen Ozean des Raumes und der Zeit, packt das Staunen. Und mit
dieser Fähigkeit des Staunens ist er bereit für die Reise zu den Sternen
und ins Herz der Atome. Mit diesem Staunen im Herzen ist er auch bereit
für das neue Eden, das er mit Gottes Hilfe für sich bereitet. Es wird nicht
ein Urwald im Zweistromland sein, sondern ein entwickelter Planet; nicht
ein Urpaar, das seiner Einsamkeit und seiner Nacktheit bewußt wird, sondern
das Ganze einer Menschheit, die sich eine Vorstellung von ihrer Einsamkeit
und Nacktheit in einem expandierenden Weltall schafft.
Denken wir an den Raum: Was für eine überwältigende Ausdehnung und Schrumpfung hat er in den letzten hundert Jahren erfahren! Heute kann jeder, der es zu etwas gebracht hat, eine Reise um die Welt machen. Bald wird jeder, der ein bißchen abenteuerlich veranlagt ist, wenigstens einmal in seinem Leben einen Ausflug zum Mond oder zum Mars machen. Bald werden auch alle Menschen in die Tiefen des Meeres tauchen können, wie sie heute hin und wieder im Düsenflugzeug durch das Luftmeer reisen. Unser Leben schrumpft zur Bedeutungslosigkeit, wenn wir mit den Astronomen in die Tiefen des Raumes zu Spiralnebeln aufschauen, deren Entfernungen nach den Worten Einsteins „schlechthin unvorstellbar“ sind. Umgekehrt führt uns die schlechthin unvorstellbare Winzigkeit der Elektronen, die in ihren Kreisbahnen um die Atomkerne wirbeln, die Nichtstofflichkeit unseres stofflichen Körpers vor Augen.
Auch die Zeit hat sich ausgedehnt und ist geschrumpft. Unsere großen
Astrophysiker entwickeln Theorien über den Anfang des Kosmos und
beschreiben die unendlich weit zurückliegende Ausbildung von Spiralnebeln
aus weißglühendem Urwasserstoff, als ob wir dies verstehen oder wirklich
glauben könnten. Fred Hoyle versicherte unlängst, es gäbe überhaupt
keinen Anbeginn des Weltalls und wir bräuchten uns nicht über erste
Ursachen Gedanken zu machen; Gott, die erste Ursache, war immer und
ist immer. Aber die Expansionstheoretiker unter den Kosmologen haben
noch ihre Rotverschiebung der Spektrallinien, die sie zur Annahme einer
Explosion der Spiralnebel führt. Sie leiten daraus her, wie groß die
begrenzte Lebensdauer unserer Sonne und unseres Planeten Erde sein mag,
was die Erschaffung des Lebens, der Arten, des Menschen und des denkenden
Menschen bedeuten mag. So hat sich nach den Ausblicken eines Pierre
Teilhard de Chardin5) die Schöpfung von der Kosmogenese (Entstehung
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der Welt) über die Biogenese (Entstehung des Lebens) und die
Anthropogenese (Entstehung des Menschen) zur Noogenese (Entstehung
des Menschengeistes) in einer Richtung und einer Weise verändert, die
wir Entwicklung nennen.
Die Geschwindigkeit dieser Veränderung hat sich bis fast zur Selbstaufhebung beschleunigt, wie der Philosoph Max Ways betont, wenn er seine vier Zeitalter der Entwicklung definiert. Es gab in der grauen Vorgeschichte ein Zeitalter des unmerklichen Wandels, in der kein Mensch während seinen Lebzeiten Änderungen gegenüber der Zeit seines Vaters wahrnahm; durch ein neues Getreide, ein neues Haustier, durch das Rad, den Keil, den Hebel wurde der Jäger nach und nach zum Ackerbauern. Das Zeitalter des langsamen Wandels brachte mit jeder Generation Neuerungen, die die Machtmittel und das Wahrnehmungsvermögen des Menschen spürbar erweiterten; so war es die gesamte historische Zeit hindurch. Das Zeitalter des raschen Wandels begann mit dem Aufbruch der wissenschaftlichen Methodik im siebzehnten Jahrhundert und beschleunigte sich bis um 1950, und erst gestern sind wir in das Zeitalter des radikalen Wandels eingetreten, in welchem sich sogar die Orientierungspunkte verschieben, so rasend ist der Fortschritt in unseren Tagen des Computers, des Systembaus, der Automation, der Atomkraft und der Raumforschung.
Uns, die wir auf diesem Staubkorn im Weltall leben, überkommt es bei denjenigen Aspekten unseres stofflichen Weltalls, die unsere begrenzten Kräfte ausloten können, mit ehrfürchtiger Scheu. Gleichzeitig kosten wir jeden unserer Schritte auf dem Weg zur Kontrolle der Natur mit echtem Stolz aus. Unsere Physiker und Biologen sind sicher, daß wir die Probleme der Ernährung, der Wohnung und des Überlebens lösen werden. Wir werden die Energien, die Nachrichten- und Transportmittel, wirklich alle Werkzeuge für die Befreiung des Menschen schaffen.
Wenn wir so fortfahren, die Frucht vom Baum der Erkenntnis zu essen, werden wir nach und nach feststellen, daß wir uns auf einer großen Kreisbahn bewegen, die uns zu einer neuen Verbindung mit dem Weltall und seinem Schöpfer zurückführt. Sind wir nicht alle bereits Götter, in diesem Zeitalter der Wissenschaft? Und wird uns nicht eines nicht mehr fernen Tages jene Kreisbahn zu den Wurzeln des Lebensbaumes zurückführen? Wie muß dann unsere Grundvorstellung vom Leben, von uns selbst und von Gott beschaffen sein?
- Die Implosion des Menschen
Die Kräfte und Wirkungen von Wissenschaft und Technik haben sich nach Umfang und Geschwindigkeit so unermeßlich erweitert, daß wir modernen Menschen gleichsam auf der bebenden Oberfläche einer Lawine stehen, die bereits meilenweit einen unbekannten Berghang hinuntergebraust ist. Die erste industrielle Revolution zielte darauf ab, menschliche Muskeln durch Maschinen zu ersetzen; sie hat den Menschen zu seinem Glück aus dem Düster unbarmherziger körperlicher Mühsal befreit. Aber die zweite industrielle Revolution begann bereits, den menschlichen Verstand durch Maschinen zu ersetzen, und das überkommt uns mit Furcht.
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Und nun eröffnet die Entfesselung der Atomenergie den Ausblick auf jene
Kraftreserven, die für die Ersatzmuskeln und Ersatzhirne erforderlich
sind. So könnten die beiden Revolutionen Freizeit und damit die allgemeine
Möglichkeit zu höchster Kultur produzieren, wenn wir nur wüßten, wie
wir den Menschen selbst erschließen und seine innere Führung
hervorbringen könnten.
Auf dem Weg zum Verständnis des Menschen hat uns die Wissenschaft schon weit vorangebracht, so weit, daß eine Implosion, ein schlagartiger Zusammenbruch durch Überdruck von außen und innere Leere, droht. Die Biologen haben uns schon viel über die substantielle Zusammensetzung des Menschen erzählt: Wir sind alle aus demselben Stoff. Die Psychologen sondieren die Persönlichkeit des Menschen, untersuchen seine Bedürfnisse und sein Wachstum: Auch psychologisch scheinen wir uns in etwa gleich zu sein, ob wir nun australoid, kaukasoid, negroid oder mongoloid sind. Die Soziologen und Anthropologen schlitzen die kulturelle Deckschicht von jeder Sorte und Gruppe Mensch auf. Überall scheint dieser Gruppenmensch dieselben Bedürfnisse und Leitlinien zu verfolgen. Psychiater, Philosophen und Religionsführer bewegen sich auf einen Generalnenner zu, von der Psychiatrie des Menschengeistes, die der Superfreudianer Viktor Frankl entwickelt, bis zu Teilhard de Chardins revolutionären Vorstellungen eines planetarischen Gruppendenkens, das alle Menschen in der Bewegung auf den letzten Punkt Omega, den Schöpfer Gott, sieht. Aber in dem Maße, wie der Mensch seine Gedankenwelt erobert, heranbildet, ausweitet und vereint, muß er sich selbst in das Gehege einer weltweiten Disziplin begeben, die paradoxerweise eine neue Freiheit ist. Nur so wird die Menschheit ein neues Zeitalter und eine neue Daseinsstufe erreichen.
Trotz alledem und wegen alledem fühlen wir uns als Reiter auf der Lawine nicht wohl. Wir nehmen nicht wahr, welche Hand am Steuer ist, wenn dieser Mechanismus überhaupt eine Steuerung besitzt.
So steht der Mensch in dieser Stunde vor dem klassischen Dilemma einer neuen Schöpfungsgeschichte. Gott, der Schöpfer, hat ihm einen Garten von planetarischen Ausmaßen gegeben, reicher als ihn je ein Dichter besungen oder ein Seher erträumt hätte; aber der Mensch kann ihn noch nicht bewohnen. Gott hat ihm wiederum, in den Worten seines neuen Sprachrohrs, Bahá’u’lláh, erklärt, was er tun und was er lassen soll. Bald wird der Menschengeist wieder zu essen bekommen, diesmal die Frucht von dem neuen Baum wahren Lebens. Bei allen großen Entscheidungen gibt es ein Risiko; aber diesmal wird der Mensch als Gattung aussterben, wenn er nicht von der Frucht ißt. Und wenn er ißt, wird er noch sicherer sterben, aber nur für seine zerbrochene Vergangenheit. Und so wird er das neue Leben eines neuen Menschen gewinnen.
Das zwanzigste Jahrhundert muß sich für die Explosion des Wissens um die Dinge dieser Welt und für die Implosion innerhalb des Menschen entscheiden. Um diesen Entschluß fassen zu können, muß sich der Mensch die Grundgedanken und die Sittenlehre, von der der moderne Adam wirklich leben kann, bewußt machen und einverleiben.
- Der Weg zum Garten der Menschheit
Um diese neue Daseinsstufe zu erreichen, müssen wir, die Menschheit, wiedergeboren werden. Nicht eher können wir, Einzelmensch oder Menschheitsfamilie, in den neuen Garten Eden eingelassen werden, als bis wir ein gutes Stück unserer Vergangenheit abgeworfen haben. Wir müssen auf neuen ethischen Tragpfeilern fußen, die auf der alten Grundlage errichtet sind. Die neue ethische Kultur kann nur dann wachsen und blühen, wenn wir unser eigenes Ich, unser Gruppenich und Gott neu entdecken. Bahá’u’lláh, der Begründer der Bahá’í-Religion, ist der Architekt der neuen Kultur; Er hat die neue Bibel für die neue Schöpfungsgeschichte niedergeschrieben. Er stammt aus dem Osten von Eden, aus Iran. Er dringt zum Kern unserer Gegenwartskrise vor. Er weist unseren Kompassen den wahren Pol auf großen neuen Wegen.
Bahá’u’lláh lehrt, daß der Mensch seinem Wesen nach gut ist, daß die Fähigkeiten jedes einzelnen entwickelt werden müssen, daß das höhere, geistige Ich notwendig die Oberhand im Menschen gewinnen muß. Er bringt mindestens zwei neue ethische Grundsätze: daß Arbeit im Geist des Dienens schöpferischer Gottesdienst ist, und daß der Überfluß und die mit ihm gewonnene freie Zeit den Befreiungsmechanismus für eine optimale Persönlichkeitsentwicklung darstellen. Gesellschaftliche Zusammenarbeit als eine der möglichen Ausdrucksformen des Gruppenbewußtseins wird von Bahá’u’lláh entworfen und planmäßig angewandt.
Der Mensch ist gut: Bahá’u’lláh macht uns klar, daß wir die Vorstellung hinwegräumen müssen, der Mensch sei von Grund auf sündig und böse. „O Sohn des Geistes!“ spricht Er den Menschen an. „Edel erschuf Ich dich.“ Unmittelbar darauf stellt Er die leidvolle Frage, die den freien Willen des Menschen offenlegt: „Warum hast du dich selbst erniedrigt?“ Dann die klare Aufforderung: „Erhebe dich doch zu dem, wozu du erschaffen wurdest!“
Bahá’u’lláhs positive Aussage über den Adel des Menschen, bereits in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts verkündet, hat ihre Entsprechung in der Negativbehauptung des trappistischen Philosophen Thomas Merton, der 1966 schrieb: „Wir leben in einer Welt ohne Erbsünde“ 6). Der neue Glaube Gottes wagt sogar zu sagen, daß wir in einer ursprünglich guten Welt leben. Bahá’u’lláh hat dem Menschen verkündet, er müsse, um in den neuen Paradiesgarten eintreten zu können, an der grundlegenden Vorstellung festhalten, daß er dem Wesen nach gut ist. So liegt die Verantwortung für die persönliche Erlösung von der persönlichen Sünde ganz beim einzelnen Menschen. Der Weg zu dieser Erlösung wird von dem neuen großen Erzieher der Menschheit aufgezeigt.
Der Weg zur Reife: Die Machtmittel der Wissenschaft werden uns, die
wir in einer „Hochkultur“ leben, die Möglichkeit eröffnen, unsere
persönlichen Talente auszuwerten und unsere Fähigkeiten zu verwirklichen.
Nicht nur ein paar Aristokraten, sondern alle Menschen können durch die
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Kunst, die Musik, die Dichtung oder den Tanz sich selbst entdecken. Alle
können am Erlebnis des Schönen teilhaben.
Bahá’u’lláh sagt, wir müssen „den Menschen als eine an Edelsteinen von unschätzbarem Wert reiche Fundgrube ansehen”7). Er spricht von „jenen Edelsteinen, die in den Gesteinsadern“ unseres „wahren und innersten Selbstes verborgen liegen“. Er verspricht, daß „die der Stufe des Menschen innewohnenden Möglichkeiten, das volle Maß seiner Bestimmung auf Erden, der angeborene Vorzug seiner Wirklichkeit, alle an diesem verheißenen Tage Gottes offenbar werden“ müssen 8). Wenn der religiöse Antrieb zur Lebensmitte wird, kann der Mensch durch einen radikalen Wandel zum Frieden kommen. Er kann sich den beschleunigten Entdeckungen und Neuerungen anpassen. In dem neuen Paradiesgarten hat Bahá’u’lláh alle Menschen angehalten, auf dem Marktplatz des Lebens zuhause zu sein und in Fülle teilzuhaben. Jeder Mensch muß eine Fülle und Vielfalt des Lebens innerhalb seiner eigenen Persönlichkeit entwickeln, ein Leben, das seine persönliche Kultur, auf alltäglichem wie auf höchstem Niveau, zu derjenigen heiligen Hingabe verfeinert, die allein Glück vermitteln kann.
Die Herrschaft des geistigen Ichs: Bahá’u’lláh verkündet zum erstenmal eine Goldene Regel höherer Ordnung: „Selig ist, wer seinen Bruder sich selbst vorzieht“ 9). Mit dieser Aussage eröffnet Er einen neuen Begriff von der höchsten Stufe der Hingabe an andere, wie sie in dieser Form früher nicht möglich war: ein Lebenszweck, der wahrscheinlich nur in einer genossenschaftlichen Gesellschaft mit materiellem Überfluß, Freizeit, Sicherheit und Dienstbereitschaft erfolgreich in die Tat umgesetzt werden kann. Die mörderische Gesellschaft, die sich ganz der selbstischen Anhäufung und Gewinnmaximierung hingibt, wird eines Tages bloße Erinnerung sein. Dem Volk des neuen Paradiesgartens hat Bahá’u’lláh befohlen, den neuen Typus eines vergeistigten, wissenschaftlichen Menschen zu entwickeln, eines Menschen, der in einem genossenschaftlichen Organismus, von schöpferischem Wettbewerb geleitet, für andere lebt. In dem Maße, wie der einzelne Mensch heranreift, wird er seinen höchsten persönlichen Wert in seinem Dienst für andere entdecken, wenn er dem Leitspruch gehorcht: „O Volk Gottes! Beschäftige dich nicht mit deinen eigenen Angelegenheiten. Lenke deine Gedanken vielmehr auf das, was das Glück der Menschheit wiederherstellt und die Herzen und Seelen der Menschen heiligt“ 10).
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Arbeit als Gottesdienst: Bahá’u’lláh fordert eine neue Arbeitsethik von
uns, indem Er sagt, daß „Arbeit, die im Geist des Dienens verrichtet wird,
Gottesdienst ist“. In einer Welt schwindender Kunstfertigkeit und
geschmälerten Leistungsstolzes, in der der Wert der Arbeit durch die
schmarotzerische Gier nach Freizeit ohne Sinn und Ziel, durch geisttötende
Fließbandroutine und durch Automation verdunkelt wird, ist dies eine
Herausforderung. Unsere „niedere Kultur“ einer Arbeit zum Zweck des
Überlebens muß jetzt mit dem religiösen Geist des Dienens angereichert
werden. Jede Arbeit muß auf ihren wirklichen Wert geprüft werden; wenn
sie wertlos oder gar verderbniserregend ist, muß der Mensch seine
Gesellschaft von solchen Tätigkeiten säubern. In dem neuen Paradiesgarten
muß jede Arbeit von der religiösen Bedeutung des Dienstes an anderen
erfüllt sein. Alle Arbeiter müssen ihre eigene Würde und ihr wahres
Verdienst spüren, und alle Arbeit muß der Hingabe, der Würde und der
Tugend jedes Gotteskindes entsprechen, anstatt diese Werte herabzumindern.
Überfluß als Chance und Verpflichtung: Die Machtmittel der Wissenschaft haben uns Überfluß und Freizeit gebracht. Wenn Wohlstand für alle erzeugt wird, ist es gut für alle, aus den Fesseln des Mangels befreit zu werden; alle müssen wissen, daß „Gott alle in den Himmeln und auf Erden erschaffenen guten Dinge für solche Seiner Diener bestimmt (hat), die wirklich an Ihn glauben“ 11). Galbraith war vielleicht der erste, der auf die Notwendigkeit einer Ethik des Überflusses in Verbindung mit einer Ethik der Freizeit hingewiesen hat 12). Die neue Ethik macht uns klar, daß Wohlstand etwas Gutes ist, wenn er als Chance und als Verpflichtung behandelt wird. Bahá’u’lláhs Mahnung an die Reichen gibt Seine Goldene Regel höherer Ordnung in anderen Worten wieder: „Wohl den Reichen, die ihren Reichtum den Bedürftigen schenken und sie höher schätzen als sich selbst“ 13).
So lange der Mangel der Ausgangspunkt menschlichen Daseins war, konnte freiwillige, selbstlose Armut eine Tugend sein; aber wenn der Überfluß zur Grundlage wird, ist selbstlos bewirtschafteter Wohlstand der Pfad des Dienens. In dem Maße, wie die materielle Not zwangsläufig verschwindet, wird der neue Mensch für seine geistigen und intellektuellen Lebensziele befreit. Der Mensch des neuen Paradiesgartens wird die Kräfte der Wirtschaft als vorzügliches Werkzeug betrachten, das er zum Wohl des Menschen und für die Schaffung eines auf alle verteilten Wohlstandes einsetzen kann.
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Der Geist der Gesellschaft: In dieser kritischen Phase der Weltgeschichte
bekräftigt Bahá’u’lláh die Leitsätze für die Schaffung der Gesellschaftsordnung
zusammenwirkender Menschen, während Er die Bedürfnisse jedes
Menschen als eines einzigartigen Individuums voll anerkennt. Er beschreibt
Seine Weltordnung als „dieses wunderbare System, desgleichen die Welt
noch nie erlebt hat“. Seine Zivilisation wird „eine Lebensfülle haben, wie
sie die Welt noch nie gesehen hat oder sich auch nur heute schon vorstellen
könnte“. Es ist eine schöpferische Gesellschaft, die Er vorhersagt, anführt
und gebieterisch fordert. Bahá’u’lláh erkennt und berücksichtigt, daß der
Mensch nach Wesen und Neigung kooperativ angelegt ist. Ein Blick in
unsere gefährlich gewordene Welt genügt, um uns klar zu machen, daß
heute die „natürliche Zuchtwahl“ weit eher zu solchen Menschen führt,
die zusammenarbeiten können und wollen, als zu solchen, die Bomben
werfen. Die Anthropologen bestätigen dies 14).
Für die Gesellschaft des neuen Paradiesgartens baut Bahá’u’lláh das Fachwerk eines Gemeinwesens, das dem Gemeinschaftsgeist aller Menschen eine Heimstatt bietet. Seine göttliche Ordnung bestätigt die Verheißung, daß wir wirklich eines Tages „eine Seele und ein Körper“ sind. „... das Volk Bahás... wird sich miteinander verbinden, sich zu einander gesellen und in seinem Leben, Trachten, Sehnen und Streben so eng verwachsen, als wäre es eine Seele“ 15).
„Was ist der Mensch, daß Du seiner so sehr achtest?“ sang der Psalmist vor dreißig Jahrhunderten. Der Mensch ist das größte Werk der Schöpfung, und er wird seinem Schöpfer näher kommen an dem großen neuen Tage Gottes, dem „Tag, an dem das Weltmeer von Gottes Gnade über den Menschen ergossen wird“. Die Ureinwohner von Arnhemland werden in moderner Kleidung in Chikago, Paris und Lagos auftreten. Es werden Menschen sein, die mit sich selbst und ihren Mitmenschen in Frieden leben, die ihre Kräfte entwickeln und sie in dienender Andacht einsetzen; es werden Kinder des Lichtes sein. Alle Menschen werden von den Früchten der Bäume des Lebens und der Erkenntnis essen. Durch den geistigen Impuls Bahá’u’lláhs wird dieser Tag Gottes mit Sicherheit kommen; Er wird die harte Kruste des Menschlichen sprengen, damit die unentdeckten Sonnen unserer Seelen nach außen strahlen.
Das Auftreten einer neuen Manifestation Gottes ist eine Zeit der Wiedergeburt und der Auferstehung. Als Bahá’u’lláh 1863 im Garten Ridván bei Baghdad Seine göttliche Bestimmung auf sich nahm, wurde Er die Stimme, die uns in den Garten der Erfüllung ruft. Wir, die drei Milliarden Schläfer, können an dem großen Erwachen teilhaben.
- ——————————
Aus „World Order, a Bahá’í Magazine“, Wilmette/Ill., USA, Frühjahr 1968.
David S. Ruhe, M. D., war Professor für medizinisches Informationswesen und Hygiene an der Universität von Kansas, Verfasser zahlreicher medizinischer Bücher und Aufsätze und Mitproduzent von ärztlichen Filmen. Er war lange Jahre Sekretär des Nationalen Geistigen Rates der Bahá’í der Vereinigten Staaten von Amerika und wurde von der Internationalen Bahá’í-Tagung 1968 in das Universale Haus der Gerechtigkeit gewählt.
- 1) ‘Abdu’l-Bahá lehrt in den „Beantworteten Fragen“ (Frankfurt 1962, Kap. 30, S. 125), die Geschichte von Adam und Eva nach Genesis 2 und 3 enthalte „göttliche Geheimnisse und umfassende Bedeutungen“ und stehe „wunderbaren Erklärungen offen... Diese Verse des Alten Testaments enthalten zahlreiche Bedeutungen“, Eine dieser Bedeutungen erklärend, führt Er aus, daß Adam der Geist Adams und Eva seine Seele sei, während die Schlange die Bindung an die Menschenwelt versinnbildliche. Aus der „Welt der Freiheit“, dem tierischen Paradies der „Reinheit und des absolut Guten“, kam er in die „Welt der Bindung..., die Menschenwelt... des Guten und Bösen“.
- Adam kann auch als „Vater der Menschheit“ und als der erste Prophet des gegenwärtigen Religionszyklus betrachtet werden. Es gibt Hinweise auf die „Geschlechter vor Adam“ und „die Unterschiede, die seit den Tagen Adams eingetreten sind“ (Bahá’u’lláh, Ährenlese LXXXVII). An anderen Stellen in den Bahá’í-Schriften wird Adam als der erste Prophet, der vorgeschichtliche Entdecker und Verkünder des freien Willens und der Werte bezeichnet, die wir jetzt „menschlich“ nennen, weil sie jenes neue Reich des Bewußtseins kennzeichnen, das damals menschliches Erbgut wurde.
- Am 13. 5. 1912 sagte ‘Abdu’l-Bahá in New York (Promulgation S. 120, Bahá’í World Faith S. 233): „Bahá’u’lláh wandte sich an die ganze Menschheit und sagte, Adam, der Stammvater aller Menschen, könne mit dem Baum des Lebens verglichen werden, an dem sie die Blätter und Blüten sind. Wenn demnach ihr Ursprung der gleiche ist, müssen sie auch jetzt in Einheit und Verträglichkeit leben... .“
- Carl G. Jung schreibt in „Antwort auf Hiob“ (Zürich 1952, Rückübersetzung): „Adam und Eva: Bilder von Gottes männlichem Wesen und dessen weiblicher Emanation... Eva wird aus Adams Körper herausgenommen als ein Nachgedanke“
- 2) Loren Eiseley, „The Immense Journey“ (Random, New York N. Y., 1956; Vintage Books 1958, p. 210). Deutsch in „Fischer-Bücherei“ Nr. 1048, März 1969, S. 88.
- 3) Edward L. Ruhe, „Bark Paintings from Arnhemland“ (Lawrence, Kansas City 1966, p. 28).
- 4) Natürlich gab und gibt es Schicksalsstrafen dafür, daß man ein „vornehmer Wilder“ ist. Es gab und gibt tödliche Säuglingskrankheiten, und die meisten Eingeborenen sterben vorzeitig. Es gibt ein System von Stammesfehden, das die Männer umbringt. Die Frauen haben die Gleichberechtigung nicht durchgesetzt, werden als Lasttiere mißbraucht und sterben oft im Kindbett. Das Leben ist schwer; es läßt keinen dick werden und manchen hungern. Die Verhältnisse des Daseinskampfes üben einen ständigen Druck aus, und es bleibt zu wenig von der kostbaren Freizeit, die es den Eingeborenen gestatten würde, ihrer hohen Kultur vollen Ausdruck zu verleihen.
- 5) Pierre Teilhard de Chardin, „The Phenomenon of Man“ (Harper & Row, New York 1965, p. 320). Teilhard leitet das Wort Noogenese vom griechischen „Nous“ = Verstand, Vernunft, her und versteht darunter die Entstehung des Denkens im Gruppensinn.
- 6) Thomas Merton, „Conjectures of a Guilty Bystander“ (Doubleday, Garden City, N. Y., 1966, p. 328).
- 7) „Das Ewige Wesen sagt: Sieh den Menschen als eine an Edelsteinen von unschätzbarem Werte reiche Fundgrube an. Nur die Erziehung kann es erreichen, daß sie ihre Schätze enthüllt, und sie allein kann die Menschheit befähigen, Nutzen daraus zu ziehen“ (Ährenlese CXXII). „Die Absicht des einen, wahren Gottes — erhaben sei Seine Herrlichkeit —, als Er sich den Menschen offenbarte, war, jene Edelsteine loßzulegen, die in den Gesteinsadern ihres wahren und innersten Selbstes verborgen liegen“ (Ährenlese CXXXII).
- 8) Ährenlese CLXI.
- 9) Aus den „Worten des Paradieses“. „Vergeßt euer eigenes Selbst und wendet eure Augen eurem Nächsten zu. Lenkt eure Kräfte auf alles, was der Erziehung der Menschen dienlich ist. Nichts ist vor Gott verborgen oder könnte es jemals sein. Wenn ihr auf Seinem Weg bleibt, werden Seine unermeßlichen und unvergänglichen Segnungen auf euch herniederströmen“ (Ährenlese V).
- 10) Ahrenlese XLIII; vgl. „BAHA’I-BRIEFE“ 21, S. 512.
- 11) „Sollte ein Mensch den Wunsch haben, sich mit dem Schmuck dieser Erde zu
zieren, ihr Gewand zu tragen und an den Wohltaten teilzuhaben, die sie zu verleihen vermag, so kann ihm das nicht schaden, wenn er keinem von diesen erlaubt, zwischen ihn und Gott zu treten. Gott hat alle in den Himmeln und auf Erden erschaffenen guten Dinge für solche Seiner Diener bestimmt, die wirklich an Ihn glauben. O Menschen! Kostet von den guten Dingen, die Gott euch erlaubt hat, und beraubt euch nicht selbst Seiner wunderbaren Gaben. Dankt Ihm und preist Ihn und gehört zu den wirklich Dankbaren!“ (Ährenlese CXXVIII).
- 12) Vgl. „BAHA’I-BRIEFE“ 33, S. 849f.
- 13) Ährenlese C.
- 14) Der Anthropologe Ashley Montagu stellt fest, daß der gegenwärtige Zerstörungstrieb des Menschen von „den ungesunden Werten herrührt, nach denen der Mensch in einer überfüllten, bedrohlichen, durch übertriebenen Wettbewerb geprägten Welt auf so unzweckmäßige Weise zu leben versucht“. Vgl. „Original Sin Revisited“ in „Vista“, Vol. II, No. 4, Jan./Febr. 1967.
- 15) „Der Allbarmherzige, der euer Herr ist, hegt in Seinem Herzen das Verlangen, die ganze menschliche Rasse als eine Seele und einen Körper zu sehen“ (Ährenlese CVII). „Wisse, daß die Seelen des Volkes Bahás, die in die „Purpurne Arche“ eingegangen sind und darin wohnen, sich innig miteinander verbinden, sich aneinander gesellen und in ihrem Leben, Trachten, Sehnen und Streben so eng verwachsen, als wären sie eine Seele« (Ährenlese LXXXVI).
Moselfahrt zur Sommerschule
Das ist die „Moselterrasse Zurmaien“ in Trier — Ort der diesjährigen deutschen Bahá’í-Sommerschule vom 2. bis 10. August. Für alle Interessenten bietet sich so die hübsche Gelegenheit, den Besuch der Sommerschule mit einer abwechslungsreichen Moselfahrt zu verbinden. Die Woche der Begegnung und der gemeinsamen Studien wird unter dem Leitthema: „Verantwortung für heute und morgen“ stehen; sie soll aber auch den Teilnehmern die alte Kaiserstadt Trier und die pittoreske Landschaft erschließen. Für die Unterbringung stehen Hotels, das in unmittelbarer Nähe der „Moselterrasse“ gelegene moderne Studentenwohnheim „Cusanushaus“, ein Campingplatz und die Jugendherberge zur Verfügung. Anmeldungen nimmt Wolfgang Schumacher, 55 Trier, Udostraße 23, entgegen.. Überlegen Sie es sich nicht mehr lange! — Wer sonst gerne seinen Urlaub mit dem Besuch einer Bahá’í-Sommerschule verbinden möchte, hat dazu in vielen europäischen Ländern — von Norwegen und Finnland bis Italien — Gelegenheit. Auskünfte erteilt das Sekretariat des Nationalen Geistigen Rates in 6000 Frankfurt, Westendstraße 24.
Muhammad - ein Lügenprophet?[Bearbeiten]
Eine Klarstellung gegenüber der Katholischen Glaubens-Korrespondenz / von Udo Schaefer
- Viele unserer Leser mögen schon an den Büchertischen in katholischen Kirchen Bestellkarten liegen gesehen oder in Tages- und Wochenzeitungen Anzeigen gelesen haben, mit denen eine „Katholische Glaubens-Korrespondenz“, herausgegeben von Prof. Dr. Dr. Alois Spendeler, 32 Hildesheim, Domhof 29, Nichtkatholiken zehn „Briefe für Suchende“ über den katholischen Glauben anbietet. Der Herausgeber erklärt sich überdies bereit, „auf schriftliche Anfragen persönlich zu antworten“.
- Gleich der erste dieser „Briefe für Suchende“ befaßt sich mit der Frage: „Sind alle Religionen gleichwertig?“ Vom Ringgleichnis Lessings aus „Nathan der Weise“ ausgehend, legt der Verfasser dar, daß nur der echte Ring die Weisheit verleiht. Folglich scheiden alle Religionen aus, die ein falsches Gottesbild oder ein falsches Menschenbild haben oder aber auf falscher Prophetie beruhen. Dies gilt besonders für den Islam. Wörtlich heißt es in der Schrift, die das erzbischöfliche „Imprimatur, Coloniae, die 8 m. Octobris a. 1965, Jr.Nr. 51821 I/65 Jansen, vic. glis.“ trägt:
- „Es scheiden auch alle die Religionen als annehmbar aus, die auf einer falschen, lügenhaften oder nebelhaft-phantistischen Grundlage aufbauen. Wenn sich z.B. jemand als Gottgesandter und Prophet ausgibt, als solcher „göttliche Offenbarungen“ ausbreitet oder sie mit Gewalt zum Glauben auferlegt, dann ist er halt ein Lügenprophet, selbst wenn er noch so große Erfolge hätte oder seine Lehre eine gewisse Verbesserung zur Hebung der bestehenden sozialen oder religiösen Ordnungen bzw. Unordnungen herbeigeführt hätte. So ist und bleibt Mohammed ein falscher Prophet, der gewiß manchen Völkern höhere Kultur, geistigere Frömmigkeit und politische Erfolge gebracht hat, nicht zuletzt deshalb, weil er aus dem Judentum und Christentum einige wesentliche Lehren gestohlen und zu seiner eigenen Offenbarungslehre umgemünzt hat, „wie die Lehre vom einen, persönlichen Gott, dem letzten Gericht, der Messiastat Christi“. Diese wahren Lehren sind aber durch sein annektiertes Prophetentum, das eben keines war, mit so vielen und so unwahren Sätzen etwa von der schicksalhaften Vorherbestimmung des Menschen, von den „Freuden“ des Himmels, der Verworfenheit aller Nichtmuselmanen, von der Entmenschung der Frauen usw. vermischt, daß das Ganze unannehmbar ist, weil es falsch und unwürdig ist. — Wir sind zwar heute solche Klarheiten in der Sprache nicht mehr gewöhnt, aber sie sind notwendig und nützlich, weil jede Anerkennung der Unwahrheit, der Sünde, der bösen Folgen einer falschen Lehre über Gott und sein ebenbildliches Geschöpf keine Wohltat, sondern im besten Falle
- unwahrhaft Weichheit oder Gleichgültigkeit gegen Gott und seine Wahrheit ist.“
- Diese mittelalterlich anmutende Gemisch von Vorurteilen spiegelt die Meinung vieler abendländischer Zeitgenossen wider, wie wir Bahá’í es fast täglich erleben, auch wenn solche Ansichten nur noch selten geäußert, sondern meist höflich verborgen und ins Unterbewußte verdrängt werden. Dabei sollte gerade das Zweite Vatikanische Konzil der katholischen Kirche auch den konservativsten Gläubigen inzwischen gelehrt haben, daß das friedliche Zusammenleben der Völker und Kulturen nur dann möglich ist, wenn man die anderen gerade in demjenigen anerkennt, was ihrem Leben Sinn und Gehalt gibt. Wer diese Pflicht zum brüderlichen Dialog vernachlässigt, kann niemals hoffen, die Kausalzusammenhänge zu durchschauen, die zu unserer heutigen Weltkrise geführt haben, oder irgendeinen produktiven Beitrag zu deren Überwindung zu leisten.
- Dr. Udo Schaefer, als Jurist an die nüchterne Beurteilung von Motiven und Fakten gewöhnt, hat es in dem folgenden Brief an den Herausgeber jener „Katholischen Glaubens-Korrespondenz“ unternommen, einige grundlegende Denkfehler und Mißinterpretationen aufzudecken. Seit vielen Jahren befaßt sich Schaefer mit dem abendländischen Urteil über die nachchristlichen Religionen; in seiner kürzlich erschienenen Schrift „Die mißverstandene Religion — Das Abendland und die nachbiblischen Religionen“ (Bahá’í-Verlag, Frankfurt 1968, vgl. Besprechung in „BAHÁ'Í-BRIEFE“ 35/Jan. 1969, S. 920 ff.) hat er sich eingehend mit dieser Thematik auseinandergesetzt.
- D. Red.
- *
Sehr geehrter Herr Professor!
Die Lektüre von Heft 1 der von Ihnen herausgegebenen Katholischen
Glaubenskorrespondenz setzte mich in Erstaunen: Wie einfach ist doch zu
beweisen, daß allein die katholische Religion wahr und alle anderen
Religionen falsch seien! Wie erstaunlich nur, daß diese Beweisgründe sich nicht
mehr herumgesprochen haben und die Katholiken noch immer auf dem
Erdkreis in der Minorität sind. Verstehen Sie mich recht: die eigene
Religion für richtig und die konkurrierenden, davon abweichenden Lehren für
falsch zu halten, ist im Grunde das Fazit jeder Glaubensentscheidung. Was
mein Erstaunen erregt, ist nicht Ihr aus Ihrer Auffassung folgerichtig
abgeleitetes Ergebnis, sondern Ihre Beweisgründe und die Art Ihrer
Argumentation. Auch ich, der ich von der ewigen Wiederkehr des Offenbarungswirkens
Gottes und der wesensmäßigen Einheit aller historischen Religionen überzeugt bin,
teile Ihre Ansicht, daß die östlichen Religionen für den abendländischen
Menschen schwer durchschaubar sind1) und daß bei
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ihrer Beurteilung Behutsamkeit geboten ist. Diese Behutsamkeit haben
Sie jedoch in Ihrem Urteil über den Islam leider nicht walten lassen.
Daß Sie als Katholik von der Basis des kirchlichen Anspruchs auf
Endgültigkeit und Ausschließlichkeit der christlichen Offenbarung in
Muhammad einen falschen Propheten sehen, ist Ihr gutes Recht. Daß Sie ihn
jedoch einen „Lügenpropheten“ nennen und die Grundlagen des Islam als
„lügenhaft“ und deshalb diese Religion zum „Opium für das Volk“ deklarieren,
ist ein arger Lapsus. Man hält bei der Lektüre inne, schaut nach dem
Jahr des Erscheinens 2) und wundert sich umso mehr, daß in
nachkonziliarer Zeit mit bischöflichem Imprimatur eine solche Sprache geführt
wird. Sie meinen zwar, solche „Klarheiten der Sprache“ seien wir heute
nicht mehr gewöhnt, sie seien aber notwendig und nützlich. Das II. Vatikanische
Konzil, das die Söhne der katholischen Kirche zum Gespräch und
zur Zusammenarbeit mit den Anhängern anderer Religionen in „Klugheit
und Liebe“ auffordert und alle ermahnt, die vergangenen Zwistigkeiten
und Feindschaften zwischen Christen und Moslems beiseite zu lassen und
sich „aufrichtig um gegenseitiges Verstehen zu bemühen“, war offenbar
anderer Auffassung, als es dekretierte: „Mit Hochachtung betrachtet die
Kirche auch die Moslems, die den alleinigen Gott anbeten ... den Schöpfer
des Himmels und der Erde, der zu den Menschen gesprochen hat“3). Von
dieser Hochachtung ist in Ihrer Schrift leider nichts zu spüren. Man fragt
sich, wie Sie sich wohl den Dialog und die Zusammenarbeit mit den Anhängern
anderer Religionen vorstellen, wenn Sie deren Stiftern gegenüber
ein solches Vokabular benutzen. War es wirklich notwendig, in der Sprache
mittelalterlicher Autoren Muhammad als „Lügenpropheten“ zu beschimpfen?
Für Ihre Deduktion hätte es doch genügt, wenn Sie ihn — sozusagen
nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ — des Irrtums geziehen hätten.
Denn ob Irrtum oder Lüge gewaltet haben, ist doch auch von Ihrem
Standpunkt aus kaum zu entscheiden. Ein Blick in die Lehrbücher der
Islamforschung hätte Sie belehrt, daß der Vorwurf, Muhammad sei ein Betrüger
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gewesen, von keinem modernen Forscher mehr vertreten wird. Seine
subjektive Aufrichtigkeit und die Ehrlichkeit seiner Überzeugung werden
heute allgemein anerkannt. 4)
Im übrigen erweisen sich sämtliche Argumente, die Sie gegen den Islam ins Feld führen, von der Nähe besehen als haltlos. Ich habe auf den angeschlossenen Blättern versucht, diesen Gründen nachzugehen und nachzuweisen, daß sie auf weitverbreiteten Vorurteilen und Mißverständnissen beruhen. Dabei habe ich mir erlaubt, Sie mit Ihrer eigenen Glaubensgeschichte und den im Christentum vertretenen Auffassungen zu konfrontieren: nicht der Polemik halber, sondern um zu zeigen, daß die Christen, oft des Splitters im eigenen Auge nicht gewahr, nicht so viel Anlaß hätten, sich über den Islam zu entrüsten. Ich halte gewiß nicht viel von der Methode, sozusagen mit dem Mülleimer durch die Kirchengeschichte zu wandern, und allen Unrat, der sich angesammelt, aufzulesen; denn es ist ungerecht, die Religionen nach ihren Zerfallserscheinungen, aus der Perspektive ihrer Entartung, zu betrachten. Aber das, was die Kirche unwiderrufen gelehrt und zum Teil sogar ex cathedra verkündet hat, muß sie sich präsentieren lassen, wenn sie über andere Religionen richtet. Meiner angeschlossenen Schrift „Die mißverstandene Religion“ mögen Sie entnehmen, daß man die Ihnen fremde Glaubenswelt auch anders sehen und beurteilen kann, als Sie es getan haben.
Ich meine, Sie sollten Ihre von mir kritisierten Ausführungen nochmals überdenken und sie, der historischen Wahrheit halber, revidieren. Ich würde mich freuen, wenn Sie mir gelegentlich Ihre Meinung mitteilten.
Gleichzeitig möchte ich mit der angeschlossenen Schrift „Die mißverstandene Religion“ Ihre Aufmerksamkeit auf eine religionsgeschichtliche Erscheinung der Gegenwart lenken, von der bisher die Fachgelehrten kaum Notiz genommen haben und die sicher auch Ihnen noch unbekannt ist: die Bahá’í-Religion. Wurde sie von dem einen oder anderen Forscher behandelt, so wurde sie zumeist in ihrem Wesen verkannt und — wie ich meine — in ihrer Bedeutung unterschätzt. Dies dürfte darauf zurückzuführen sein, daß sie in Europa, wo die Skepsis gegen jede Art von Religion und die Abneigung, sich religiös zu engagieren, besonders ausgeprägt ist, noch verhältnismäßig wenig Anhänger gefunden hat. Auf dem asiatischen, afrikanischen und südamerikanischen Erdteil hingegen ist die Bahá’í-Religion im Begriff, zu einer echten Massenbewegung zu werden. „Islamische Sekte“ oder „Synkretismus“, das sind die Qualifizierungen, die ihr in der Regel von den abendländischen Forschern, die sie behandelten, zuteil wurden. Die beiliegende Schrift bemüht sich um den Nachweis, daß diese Vorwürfe zu Unrecht erhoben wurden.
Sollten Sie Fragen haben oder weiteres Schriftmaterial wünschen, so stehe ich Ihnen jederzeit zu Diensten.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Ihr sehr ergebener
(gez.) Udo Schaefer
- „Keinen Zwang im Glauben“
Soweit Sie behaupten, der Islam sei „mit Gewalt zum Glauben auferlegt“ worden, darf ich Sie auf die Ausführungen auf Seite 78 bis 92 meiner Schrift „Die mißverstandene Religion“ verweisen, wo im einzelnen dargelegt ist, daß diese seit Jahrhunderten überkommene, ebenso populäre wie falsche Behauptung auf einer Unkenntnis der tatsächlichen Gegebenheiten beruht und von der Geschichtsforschung längst widerlegt ist. Dieses unausrottbare Vorurteil von der Verbreitung des Islam „mit Feuer und Schwert“ und der Vergewaltigung aller Andersgläubigen wird noch immer in den Lehrbüchern der Schulen verbreitet (die Frage stellt sich: cui bono?), obwohl jeder Kenner dieser Materie bezeugen kann, daß bis in unser Jahrhundert im islamischen Herrschaftsgebiet Andersgläubigen gegenüber eine Toleranz herrschte, die es im christlichen Abendland nie gegeben hat, weil im Islam ein anderes Gebot als das verhängnisvolle „cogite intrare“ Augustins (mit dem Scheiterhaufen als dem wichtigsten Argument) Geltung hatte: das Gesetz Muhammads: „Laßt keinen Zwang im Glauben sein“5). Die in die Augen stechende, bei keiner der historischen Religionen zuvor beobachtete Geschwindigkeit der Verbreitung dieser Religion beruht nicht — wie Sie wähnen — auf der Zerschlagung der vorgefundenen Strukturen der Hochreligionen, die völlig unangetastet blieben, sondern auf der äußeren und inneren Attraktivität der neuen Religion, auf dem schöpferischen Impuls des neuen Gotteswortes und dem überzeugenden neuen Modell eines in sich geordneten und geeinten Gemeinwesens, in dem Menschen aller Rassen und Hochreligionen friedlich beisammenlebten; auf einer Anziehungskraft, der das damals in sich zerstrittene, fast in der Agonie liegende östliche Christentum nichts entgegenzusetzen hatte.
- Eigenständigkeit und Fortentwicklung
Mit Ihrer Auffassung, Muhammad habe einige wesentliche Lehren dem Judentum und Christentum „gestohlen“, die Anleihen bei diesen Religionen seien beim Islam „klar festzustellen“, befinden Sie sich zwar in guter Gesellschaft. Sie können sich auf die Mehrzahl der Islamforscher berufen, die — begreiflicherweise — so die Entstehung dieser Religion zu erklären versuchen. Denn diese Anleihehypothese ist neben dem Glauben an ein Offenbarungsgeschehen in Muhammad die einzige vorstellbare Alternative. So verweisen die Forscher auf die unbestreitbaren Parallelen und streiten sich dann, ob mehr jüdische oder mehr christliche, ob mehr nestorianische oder mehr ebionitische oder gar babylonische Einflüsse am Werke waren. Zahlreiche Theorien wurden über diese angebliche Rezeption aufgestellt, die sich häufig widersprechen oder gar ausschließen. Das alles aber sind unbeweisbare Hypothesen, mit exakten Methoden so wenig beweisbar wie der Glaube der Muselmanen an den Offenbarungscharakter der Botschaft Muhammads. Was ich von dieser Methode der vergleichenden Religionswissenschaft halte, habe ich in meiner angeschlossenen Schrift, auf die ich insoweit verweisen darf, ausgeführt 6).
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Im übrigen: Die zahlreichen Bemühungen von der Frühzeit bis zum
heutigen Tag, die Originalität des Christentums zu widerlegen 7)
und es als ein Gemisch jüdisch-hellenistisch-heidnischer Lehrbestandteile zu
entlarven 8), bis hin zur Verstiegenheit, die Historizität Jesu zu
bestreiten und die Evangelien als ein „Gemisch von Wahrheit und Dichtung“ oder
als eine „Anekdotensammlung“ zu qualifizieren9), sollte Ihnen doch
zu denken geben. Warum soll die gleiche Methode auf das Christentum angewandt
falsch, auf den Islam angewandt aber richtig sein? Doch nur deshalb, weil
Sie allein das Christentum für wahr, den Islam für falsch halten! Das aber
ist eine Glaubensentscheidung, die mit Wissenschaft nichts zu tun hat.
„Klar festzustellen“ ist also gar nichts. Würden Sie es doch begreifen: Eine
Religion, die die Menschen verwandelt und einen neuen Menschentypus
geschaffen, die unter Überwindung des christlichen Dualismus von Staat
und Kirche ein neues religiöses Kollektivbewußtsein entwickelt, die
Grundlagen einer Hochkultur abgegeben und die Jahrhunderte überdauert hat,
kann nicht synthetisch gezeugt, wie ein Cocktail zusammengebraut sein!
Hier hat dieselbe verwandelnde und gestaltende Kraft gewirkt, die auch
die Entstehungsursache Ihrer Religion ist: das lebendige Wort Gottes.
- Gläubige und Ungläubige
Steht es den Christen wirklich an, an der von Ihnen behaupteten Lehre von der „Verworfenheit aller Nichtmuselmanen“, wenn es sie gäbe, Kritik zu üben und ihretwegen den Islam als „unannehmbar, falsch und unwürdig“ abzutun?
Im Evangelium steht geschrieben: „Wer glaubt und sich taufen läßt, wird
selig werden, wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden“ 10).
„Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, daß er die Welt richte,
sondern daß die Welt durch ihn gerettet werde. Wer an ihn glaubt, wird
nicht gerichtet, wer nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er an den Namen
des einzigen Sohnes Gottes nicht geglaubt hat“ 11). Es ist also für
den Menschen nicht gleichgültig, ob er die Botschaft Gottes annimmt oder nicht.
Dies bezeugt auch der Qur’an 12). Der Glaube ist also heilsnotwendig.
Ich vermag hier keinen prinzipiellen Unterschied zu erkennen. Ein Unterschied
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besteht freilich in den Konsequenzen, die aus dieser Einsicht gezogen werden.
Nach kirchlicher Auffassung wird das Heil überhaupt nur dem der
Kirchenanstalt als dem mystischen Corpus Christi eingegliederten
Gläubigen zuteil. Verworfen sind also nicht nur Juden und Heiden, die nach
der auf dem Konzil von Florenz ausdrücklich verkündeten Lehre allesamt
in die Hölle kommen 13), verworfen sind auch alle Häretiker und
Schismatiker. Denn die Kirche ist alleinseligmachend: „Der kann Gott nicht zum
Vater haben, der die Kirche nicht zur Mutter hat“; „der ist kein Christ,
der nicht in der Kirche Christi ist“; „außerhalb der Kirche gibt es kein
Heil“, so lehrte der Kirchenvater Cyprian. Und Augustinus lehrte: „Wenn
du außerhalb der Kirche stehst und abgeschnitten bist vom Band der Einheit
und der Fessel der Liebe, verfällst du der ewigen Höllenstrafe, selbst
wenn du dich für Christus lebendig verbrennen ließest“ 14).
Bonifaz VIII. dekretierte ex cathedra, es sei für jede Kreatur heilsnotwendig,
dem römischen Pontifex zu unterstehen.
Nach dem Qur’an sind verworfen die Gottlosen, die das „Äußere des irdischen Lebens kennen“, „des Jenseits aber gänzlich achtlos“ sind 15), die Gottlosen, die sich einem gedankenlosen Genußleben hingeben, törichte Reden führen, scherzen, spielen, voll heiteren Leichtsinns sind und alles tun, was ihre Lüste ihnen bieten. Deshalb wird sie unvorbereitet und nichts ahnend das Gericht ereilen 16).
Nicht unter dem Verdammungsurteil des Gerichts stehen die Angehörigen der anderen Offenbarungsreligionen 17). Sie gehören zur großen Gemeinde der Glaubenden und haben Anteil am ewigen Leben. Darum gilt die Bezeichnung Moslem im Qur’an nicht allein für die Anhänger Muhammads und seiner Offenbarung, sondern allgemein für diejenigen, die in der geoffenbarten Religion Gott ergebene Gläubige waren 18). Einen Anspruch, alleinseligmachend zu sein, hat der Islam nie erhoben. Er beansprucht nur, die letzte und vollkommenste Offenbarung Gottes an die Menschheit zu sein.
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Summa: Nicht nur auf Erden (durch die Gesetzgebung Muhammads) 19),
auch im zukünftigen Leben (nach der islamischen Glaubenslehre) werden
die Anhänger der anderen Offenbarungsreligionen toleranter behandelt,
als in der Lehre der Kirche.
- Die Symbolik der Jenseitsvorstellungen
Mit den „Freuden des Himmels“ beanstanden Sie offenbar die Schilderungen, die der Qur’an vom Paradiese gibt, von Edens Garten, wo die Diener des Allmächtigen „kein Geschwätz hören, sondern nur Friede!“, wo sie des morgens und des abends ihren Unterhalt finden, wo sie mit den Propheten, den Gerechten, den Märtyrern und Frommen Gemeinschaft pflegen, dem Garten, durchzogen von Bächen, wo die Gläubigen wohlbehütet sind, sie keine Müdigkeit verspüren und aus dem sie nie vertrieben werden 20), dem Garten, wo sie reine Gefährten und reine Gefährtinnen haben werden21). Die schwarzäugigen Himmelsgefährtinnen, die „Huris“ sind es offenbar, die die im Qur’an verheißenen Paradiesfreuden den Christen verdächtig machen. Aber der Qur’an verheißt kein himmlisches Lotterleben, denn die Schwarzäugigen sind Jungfrauen und sittsam, wie ja auch der Qur’an den Gläubigen beiderlei Geschlechts an vielen Stellen das Gebot der Keuschheit einschärft und sie ermahnt, die Unzucht zu meiden. Natürlich erscheinen die Himmelsfreuden in mancher Hinsicht sinnlich. Das Ganze sind jedoch Allegorien, in denen Muhammad seinen Landsleuten — Wüstenbewohnern! — das Paradies nahezubringen sucht. Das Volk, an das Muhammad sich wandte, war, im Gegensatz zu Juden, Griechen und Römern, unzivilisiert, barbarisch, ungeistig. Wie sollte er ihm das Leben der Gläubigen im „Himmel“ anders verständlich machen, als in Symbolen 22), die diesem Volk Ideale waren: Wiesen, Bäche, Quellen usw. Würden Sie den Sufismus kennen, so wüßten Sie, zu welchen Höhen der Gottesschau sich später islamische Mystiker erhoben haben. Auch sie haben das Übersinnliche, Spirituelle, durch das Sinnliche allegorisch umschrieben, wie beispielsweise die berühmten Liebenden Laylí und Majnún als Symbol für die mystische Wanderung und die Suche nach der Wahrheit genommen wurden.
Die Offenbarung ist eben abhängig von den Zeitverhältnissen, in denen
sie erscheint. Die verkündeten Wahrheiten tragen ein zeitgemäßes Gewand.
Das wird doch heute gerade von der christlichen Theologie immer wieder
betont. Auch im Christentum waren die heute vorherrschenden Vorstellungen
von „Himmel“ und „Hölle“ als geistige Zustände erst das Fazit einer sich
unserem heutigen Weltbild annähernden Entwicklung. Solange Himmel und Hölle
Orte waren, also bis in unsere jüngste Zeit, trugen die Aussagen über diese
oft Züge primitiver Mythologie. Und während die Qualen
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der Sünder in dicken Farben gezeichnet wurden, waren die Hinweise auf
die geistigen Freuden der Himmelsbewohner karger. Eine außerordentliche
Freude für die Seligen — und das ließe sich gegen die christlichen
Himmelsfreuden einwenden — ist das Schauen der Qualen und des Elends der
Verdammten, des Himmels „größte Attraktivität“, wie Karl-Heinz Deschner
sarkastisch bemerkt23). Tertullian 24), Cyprian, Laktans
malten sich diese „Freuden“ in glühenden Farben aus und Thomas von Aquin lehrte:
„Damit den Heiligen die Seligkeit besser gefalle und sie Gott noch mehr dafür
danken, dürfen sie die Strafen der Gottlosen vollkommen schauen“ 25).
Ich denke, daneben kann der Himmel des Qur’an bestehen.
- Die Frau — Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung
Sie sprechen von der „Entmenschung der Frauen“ im Islam und behaupten, nach islamischer Lehre habe die Frau keine Seele und sei nicht menschliche Person; die Vielweiberei beruhe auf einer Leugnung der Gottähnlichkeit der Frau. Eine Lehre, daß die Frau der Seele entbehre, findet sich aber weder im Qur’an noch in den mündlichen Überlieferungen, den Hadithen. In der Auseinandersetzung zwischen den Vertretern der islamischen Frauenbewegung, die im Wege einer relativierenden Interpretation aus dem Qur’an sogar die Gleichberechtigung der Geschlechter herauslesen wollen, und den konservativen Theologen, wird von diesen — was doch naheläge — niemals das Argument ins Feld geführt, die Frau sei ohne Seele und dem Mann gegenüber ein Wesen minoris qualitatis 26). In keinem der von mir benutzten Werke über den Islam habe ich für diese angebliche Lehre einen Anhalt gefunden. Ich glaube, Sie sind Karl May aufgesessen, der sich in seinen Jugendbüchern alle Mühe gibt, den Vorrang des Christentums über den Islam zu beweisen und unter anderem diese Talmi-Lehre verbreitet.
Daß die Ehe nach dem Gesetz des Qur’an patriarchalisch geregelt ist, ist
unbestreitbar. Darin unterscheidet sich der Islam weder vom Judentum
noch vom Christentum. Bei der Erbteilung, der Zeugenschaft, der Polygamie
und der Ehescheidung räumt der Qur’an unbestreitbar dem Mann
mehr Rechte ein als der Frau. Dies war jedoch eine „Konzession an die
noch aus der Heidenzeit stammende Hartherzigkeit und Brutalität des
Mannes“ 27). Diese Konzession ist zu verstehen aus dem Kampf
des Propheten gegen das altarabische Heidentum und dessen Einfluß auf seine
Gesetzgebung. Denn eine jede Gesetzgebung ist von den vorgefundenen
Strukturen abhängig und muß ihnen Rechnung tragen. Muhammad Konnte
sein Volk nicht mit einem Schlag von der Barbarei der Vorzeit zu
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Welt- und Lebensanschauungen führen, wie sie uns Heutigen gemäß sind.
Gegenüber dem altarabischen Heidentum bedeuteten die qur’anischen
Vorschriften, die auch den barbarischen Brauch der heidnischen Araber, neu
geborene Mädchen lebendig zu begraben, verbaten, eine wesentliche Hebung
der sozialen und rechtlichen Stellung der Frau. Dies gilt selbst für die von
Muhammad zugelassene Polygamie, die im Abendland, wo nach dem Gesetz 28)
die Monogamie gilt, schon immer Befremden erregt hat. Der daran geübten Kritik
ist entgegenzuhalten, daß Muhammad die Polygamie nicht eingeführt, sondern
die vorgefundene fast schrankenlose Polygamie stark eingeschränkt hat,
indem er die Zahl der Frauen auf vier begrenzte: „Heiratet Frauen,
die euch gut dünken, zwei, drei oder vier, — und wenn ihr fürchtet,
nicht gerecht zu sein, dann heiratet nur eine... Dies schützt euch vor
Ungerechtigkeit“ 29). Schon früh gab es islamische Exegeten, die
aus dem Rat, nur eine Frau zu heiraten, um vor Ungerechtigkeit geschützt
zu sein, den Schluß zogen, Muhammad habe im Grunde die Einehe angestrebt,
da es unmöglich sei, mehrere Frauen gerecht zu behandeln. Für
diese Auffassung spricht auch der Vers: „Und ihr könnt die Frauen nicht
gleich gerecht behandeln, so sehr ihr auch danach trachtet“ 30).
Gesetzlich abschaffen konnte Muhammad bei den damaligen Zeitverhältnissen die
Polygamie ebenso wenig wie die Sklaverei. Dazu war die Zeit noch nicht
reif. Denn: „Alles auf einmal tun zu wollen, zerstört alles auf einmal“
(Lichtenberg). Muhammad konnte beide Institutionen nur mildern und ihre
Auswüchse beseitigen. Das hat er getan.
Auch das Scheidungsrecht des Qur’an, so antiquiert es uns heute anmutet, war gegenüber der von Muhammad vorgefundenen Ordnung ein großer Fortschritt. Die Frau war nicht mehr der launenhaften Willkür des Mannes ausgeliefert, sondern erlangte eine gesicherte Rechtsposition. Der Willkür des Mannes wurden Grenzen gesetzt, indem sein Verstoßungsrecht eingeschränkt, Unterhaltspflichten für die geschiedene Frau stipuliert und ein Scheidungsrecht der Frau (im Klagewege) eingeführt wurde. Auch Muhammad hat — wie Moses 31) — mit Rücksicht auf die „Hartherzigkeit“ der Männer 32) die Scheidung in der Form der einseitigen Verstoßung erlaubt. Aber auch nach islamischer Auffassung ist die Institution der Scheidung vor Gott ein Greuel. Sie sei ihm, wie der Prophet Muhammad einmal sagte, von allem gesetzlich Erlaubten am meisten verhaßt 33).
Daß die Rechtspraxis zum Teil zu schlimmen Auswüchsen geführt hat, ist nicht zu bestreiten. Diese Auswüchse gehen aber auf das Konto der islamischen Juristen, die die Scheidungsvorschriften in teilweise rabulistischer Exegese zugunsten des Mannes verschärften. Im ganzen wird die Scheidung als notwendiges Übel betrachtet, das tunlichst zu vermeiden sei. Im übrigen steht fest, daß Ehescheidungen in islamischen Ländern weniger häufig als in europäischen Staaten oder gar den USA vorkommen.
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Die rechtlich verschiedene Behandlung von Mann und Frau im Qur’an
hat mit Wertunterschieden nicht das Geringste zu tun. Die Herrschaft des
Mannes bezieht sich auf die äußeren Lebensverhältnisse des Diesseits. Vor
Gott sind Mann und Frau gleich. Die Frau ist in der Schrift kein religiös
und intellektuell minderwertiges, sondern ein dem Manne ebenbürtiges
Wesen 34). Muhammad schärft den Gläubigen eine moralische Auffassung
von der Ehe ein und gebietet, die Frau mit Güte, Freundlichkeit und
Gerechtigkeit zu behandeln 35).
Die Geschichte gibt freilich Zeugnis davon, daß diese Gerechtigkeit der
islamischen Frau häufig vorenthalten wurde. Zwei Institutionen sind es
vor allem, die das Leben der islamischen Frau jahrhundertelang bedrückt
haben und die der Europäer seit je mit Recht kritisiert hat: der
menschenunwürdige Verschleierungszwang und die Absperrung. Die Frau soll
möglichst wenig aus dem Haus kommen und ihre Gemächer nicht verlassen,
sobald männlicher Besuch im Hause weilt. Geht die Frau aus, so hat sie
nicht nur Arme und Hals, sondern auch das Gesicht durch einen von der
Stirn herabfallenden Schleier zu bedecken, der nur zwei Löcher für die
Augen freiläßt. Nun besteht unter allen Forschern völlige Übereinstimmung
darüber, daß weder die Verschleierung noch die Absperrung von Muhammad
gewollt waren. Weder aus dem Qur’an, noch aus den Überlieferungen
(Hadith), noch aus dem consensus 36) lassen sich diese Einrichtungen
ableiten 37). Im Qur’an finden sich vier Stellen, die bei
oberflächlicher Betrachtung eine solche Verschleierung und Absperrung
nahezulegen scheinen: Sure 33:33 ff., 33:54, 33:60 und 24:32. Abgesehen
davon, daß sich aus den Versen der Sure 33 der Verschleierungszwang nicht
ableiten läßt, kommen sie schon deshalb nicht als Grundlage dieser Institution
in Betracht, weil sie nach ihrem Wortlaut nur die Frauen des Propheten betrafen.
Sure 24, Vers 32, lautet: „Und sprich zu den gläubigen Frauen, daß sie ihre
Blicke zu Boden schlagen und ihre Keuschheit wahren sollen und daß sie
ihre Reize nicht zur Schau tragen sollen, bis auf das, was davon sichtbar
sein muß, und daß sie ihre Schleier über ihre Busen ziehen sollen und ihre
Reize vor niemand enthüllen als vor ihren Gatten, oder ihren Vätern, oder
den Vätern ihrer Gatten, oder ihren Söhnen ... oder solchen ihrer
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männlichen Diener, die keinen Geschlechtstrieb haben, und den Kindern, die von
der Blöße der Frauen nichts wissen ...“ Die Frage, die sich stellte, war,
wo die weiblichen Reize beginnen, die zu verhüllen sind. Muhammad sprach
vom Busen, und so war die Muselmanin ursprünglich nicht verschleiert.
Die Araberin der ersten Jahrhunderte war keineswegs unterdrückt und
unfrei. Die im öffentlichen Leben stehende, selbstbewußte,
schlagfertige und kluge Ehefrau Muhammads, Chadidscha, war das Leitbild
der arabischen Aristokratie. Gemäß der Forderung des Propheten,
daß auch die Frau Bildung und Wissen suchen solle, forderten bedeutende
Juristen für die Frau das Richteramt. Sigrid Hunke schreibt hierzu: „Man
sieht Juristinnen in den Moscheen auftreten, öffentliche Vorlesungen halten
und Gesetze auslegen. Unter ihnen eine Staatsrechtlerin, die vielgepriesene
„Meisterin der Juristinnen“. Als „Scheicha“, „Frau Professor“, und als
„Stolz der Frauen“ wird die Gelehrte Schochda gefeiert, die nach dem
Studium bei den verschiedensten Leuchten der Wissenschaft die
Lehrerlaubnis erhalten hat und nun selbst ihr Lichtlein anzündet. Dichterinnen
wetteifern noch wie früher mit den männlichen Dichtern, und niemand
findet das absonderlich“ 38).
Schleier und Harem sind auf persische und byzantinische Einflüsse während der Zeit der Abbassidenchalifen, insbesondere während der Regentschaft des engstirnigen al-Kadir, zurückzuführen. „Was so harmlos als Mode begonnen hat, wird unter ihrem finsteren Blick religiöser Zwang. Und die Klausur im Harem, nach persischem Muster unter der Bedienung von Eunuchen nach althergebrachter byzantinischer Sitte, anfangs elegante Mode der Vornehmen, Wohlhabenden, Verwöhnten, wächst sich, unter Berufung auf das „bleibet zu Hause“ des Propheten an seine eigenen Ehefrauen, dämonengroß aus zur zwangshaften Verbannung der Frau und Ausklammerung alles Weiblichen aus dem öffentlichen Leben“ 39). Theologen entscheiden nunmehr, auch das Gesicht sei zu den verbotenen Reizen zu zählen. Und so ist Verschleierung und Absperrung noch heute in weiten Kreisen der islamischen Welt, vor allem in den Städten, Sitte. Die Beduinin hat niemals den Schleier getragen „noch jemals in der Abgeschlossenheit des Harems gelebt. Schon wirtschaftliche und arbeitstechnische Gründe hätten den einfachen Steppen- und Wüstenbewohnern ... niemals solchen ‚Luxus‘ gestattet, ebensowenig wie den Luxus der vom Propheten auf vier Frauen begrenzten Mehrehe ... Und darum ist die Beduinin der ersten islamischen Jahrhunderte noch freier, noch selbständiger und einflußreicher selbst als die hochgeachteten, vornehmen Frauen der höchsten Hofkreise von Damaskus“ 40). Die Unterdrückung der islamischen Frau ist somit nicht im Gesetz des Propheten begründet, sondern eine Entartungs- und Zerfallserscheinung, für die Muhammad nicht verantwortlich gemacht werden kann.
Zum Ganzen sei bemerkt, daß es ungerecht ist, die Stellung der islamischen
Frau mit der Elle des Artikels 3 unseres Grundgesetzes zu messen
und unsere heutigen Vorstellungen von Gerechtigkeit als Maßstab zu
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nehmen. Werfen wir einen Blick auf die Geschichte des Christentums, so
sehen wir, daß dieses die Gleichberechtigung der Frau nicht auf seine
Fahnen geschrieben hatte 41). Mit dem Apostel Paulus hielten
Geschlechtsfurcht und Frauenverachtung Einzug im Christentum 42).
Paulus, der die Frau das „Gefäß“ des Mannes nennt 43), war sie — im
Gegensatz zu Jesus — ein „Mensch zweiter Klasse“ 44): Der Mann ist
der Abglanz Gottes, die Frau nur „Abglanz des Mannes“ 45). Der Mann
ist nicht der Frau willen, aber die Frau des Mannes willen geschaffen 46).
Darum hat sie in der Kirche zu schweigen und als Zeichen ihrer Niedrigkeit ihr
Haupt zu verhüllen 47). Der Kirchenvater Tertullian wollte die Frau
überhaupt nur als Jungfrau gelten lassen und bezeichnete sie als „Einfallspforte
des Teufels“ 48). Die gleiche Haltung nahmen die extrem sinnenfeindlichen
Kirchenväter Hieronymus und Ambrosius ein. Augustinus, dem selbst die Geburt ein
schmutziger Vorgang war („inter faeces et urinam nascimur“), teilte die
Geringschätzung des Weibes vorbehaltlos. Zu einer sittlichen und
geistigen Hochstellung der Frau kam es erst durch die Troubadoure und
Minnesänger im 11. und 12. Jahrhundert. Und woher kommt der Minnesang?
Er ist arabisch-islamischen Ursprungs 49)!
- Vorherbestimmung und freier Wille
Nach dem Qur’an ist Gott der Erhabene, der Gewaltige, der Allmächtige:
„Was in den Himmeln und was auf Erden ist, preist Gott. Er ist der
Allmächtige, der Weise, Sein ist die Herrschaft über Himmel und Erde. Er
gibt Leben und Tod, und er ist allmächtig. Er ist der Erste und der Letzte,
der Offenbare und der Verborgene. Und er ist der Allwissende“ 50).
Gott ist souverän, seinem absoluten Willen sind keine Schranken gesetzt: „Er kann
nicht befragt werden über sein Tun“ 51). Er sendet Strafen, wenn es ihm
gefällt, und wenn er will, erbarmt er sich. Es gibt keine Norm, die seinen
Willen beschränkt und nach der man sein Handeln bestimmen und berechnen kann.
Dieser souveräne und freie Wille Gottes ist Ursache alles Seienden und kann
vom Menschen nicht gezwungen werden. Aus dieser Allmacht Gottes und der
schlechthinnigen Abhängigkeit des Menschen schlossen schon in früher Zeit
islamische Theologen, die Macht Gottes erstrecke sich auch auf die Bestimmung
des menschlichen Willens, der Mensch könne nur wollen, was Gott bestimmt hat;
wenn aber dem so sei, so lehrten sie, so beruhe Glaube und Unglaube letzten
Endes nicht auf dem Willen des
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Menschen; Gott sei es vielmehr, der die Gabe des Glaubens schenke oder
verweigere. Aber dieser Glaube an die Prädestination, an die göttliche
Gnadenwahl, findet sich keineswegs als expressis verbis verkündete Lehre
im Qur’an. Sie ist ein Produkt theologischer Reflexion. Der Qur’an enthält
allerdings zahlreiche Verse, die in deterministischem Sinne gedeutet werden
können 52). Aber Gott ist nicht nur allmächtig, er ist auch gerecht.
Und so gab es bereits in der Zeit des Kalifats der Umayyaden Muslime, die für
die Willensfreiheit des Menschen eintraten. Man nannte sie „Kadariten“
(von Kadar = Bestimmung) im Gegensatz zu den den Determinismus vertretenden
Dschabriten (von dschabr = Zwang). Es handelt sich hierbei um
den ältesten dogmatischen Meinungsstreit im Islam. Die Kadariten — der
herrschenden Umayyadendynastie ein Dorn im Auge53) — konnten sich
auf mindestens ebensoviele Verse des Qur’an berufen, die sich für die
Willensfreiheit des Menschen anführen lassen, denn daß Gott gerecht sei
und jeder den Lohn erhalte, den seine Handlungen wert sind, ist eine
immer wiederkehrende Versicherung des Propheten Muhammad.54) Als
im 8. und 9. Jahrhundert mit der Blütezeit der „Mu’tazila“ die systematische
Theologie des Islam einsetzte und die Vernunft (’akl) als Quelle religiöser
Erkenntnis ihren Einzug hielt, wurde die Frage neu diskutiert. Im Zuge
der Reinigung des monotheistischen Gottesbegriffs von allen Verunstaltungen
herkömmlichen Volksglaubens wurden alle Vorstellungen entfernt, die
der Einheit und Gerechtigkeit Gottes Abbruch tun. Nach der Lehre dieser
Schule ist Gott notwendig gerecht. Der Begriff der Gerechtigkeit ist vom
Gottesbegriff nicht zu trennen. Gott ist kein Despot, der Paradies und Hölle
willkürlich und launenhaft bevölkert, seine Herrschaft ist keine
Willkürherrschaft. Der Mensch ist Herr seines Handelns. Mit ihrer Lehre,
daß die Menschen die zu ihrem Heil geoffenbarten Lehren frei befolgen und
ebenso frei verwerfen können, während der gerechte Gott die Guten belohnen und
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die Schlechten bestrafen müsse, fanden die Mu’taziliten in der
überlieferungsmäßigen Rechtgläubigkeit auf die Dauer keinen Anklang, weil
in ihr die Taten Gottes vermenschlicht werden und letzten Endes dem freien
Menschen ein unfreier Gott gegenübersteht.
Diesen beiden extremen Lehrauffassungen stehen zwei vermittelnde Meinungen gegenüber, von der die des Theologen Asch’ari (gest. 935), die dem Prädestinationsgedanken nähersteht, in die scholastische Theologie eingegangen ist :55) , ohne aber als die allein zulässige betrachtet zu werden.
Diese Ausführungen mögen zeigen, daß die islamische Theologie für
dieses theologische Grundproblem, für die Frage nach Willensfreiheit und
göttlicher Prädestination, verschiedene Lösungen angeboten hat, ohne für
diese Antinomie eine logisch befriedigende Lösung zu geben. Im Wege der
Logik kann dieses Problem nicht gelöst werden. Goldziher hat jedoch auf
einen wesentlichen Umstand hingewiesen, der für das Verständnis des
Problems der Willensfreiheit von Bedeutung ist: ein großer Teil der
Qur’an-Verse, die für die Folgerung in Anspruch genommen werden, Gott
selbst sei es, der die Sündhaftigkeit des Menschen veranlaßt, der ihn in die
Irre führt, gewinnt eine andere Bedeutung, wenn das auf dieses Irreführen
deutende Wort adalla schärfer erfaßt wird: nicht als „irreleiten“, sondern
als „irren lassen“, sich um jemand nicht kümmern, ihm nicht den Ausweg
zeigen. Wenn es heißt: „Gott leitet, wen er will, und läßt in die Irre gehen,
wen er will“, so bedeutet dieser Vers nicht, daß Gott den Irregehenden
unmittelbar auf den schlechten Weg bringt, sondern daß er ihm strafweise
die Gnadenleitung entzieht. Goldziher führt aus: „Man möge sich einen
einsamen Wüstenwanderer vergegenwärtigen — aus solcher Anschauung
ist die Ausdrucksweise des Qur’an über Leitung und Irrung hervorgegangen.
Der Wanderer irrt im grenzenlosen Raume, die rechte Richtung
nach seinem Ziel spähend. So ist der Mensch auf seiner Lebenswanderung.
Wer durch Glauben und gute Werke sich des Wohlwollens Gottes verdient
gemacht hat, den belohnt er mit seiner Leitung; den Missetäter läßt er
irren, er überläßt ihn seinem Schicksal ..., er reicht ihm nicht die führende
Hand, nicht aber, daß er ihn geradezu auf den schlechten Weg brächte.
Darum wird von den Sündern auch gern das Bild der Blindheit und des
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Herumtappens gebraucht 56).... Dieses Sichselbstüberlassenbleiben,
die Entziehung der göttlichen Fürsorge ist eine im Qur’an vorherrschende
Vorstellung in Bezug auf Leute, die sich durch ihr vorhergehendes Verhalten
der göttlichen Gnade unwürdig machen ... Gott vergißt die Sünder, d.h., er
kümmert sich nicht um sie. Die Leitung ist eine Belohnung für die Guten.
‚Gott leitet nicht das frevelhafte Volk‘ 57). Er läßt es planlos
umherziehen. Der Unglaube ist nicht die Folge, sondern die Ursache des
Herumirrens“ 58).
Über das Versiegeln der Herzen lautet die Lehre des Theologen Hasan al-Basri: „Für die Versündigungen der Menschen ist durch Gott eine Grenze bestimmt; ist diese erreicht, versiegelt Gott das Herz und führt den Menschen nicht mehr im Guten. Er überläßt ihn sich selbst“ 59).
Ich habe diesem Gegenstand breiteren Raum gewährt, um zu zeigen, daß im Islam über dieses Problem sehr verschieden gedacht wurde und es zu einem die Gläubigen verpflichtenden Dogma nicht gekommen ist. Daß eine katholische Publikation glaubt, wegen dieser Frage den Islam als „unannehmbar“ und „unwürdig“ qualifizieren zu müssen, ist unverständlich. Denn das Problem der Willensfreiheit und der Prädestination ist während der ganzen Kirchengeschichte nicht weniger heftig diskutiert worden als von der islamischen Theologie. Dieses apodiktische Unwerturteil wird gefällt, als habe es im Christentum Vertreter der Prädestinationslehre nie gegeben. Doch bereits der Apostel Paulus, der eigentliche Schöpfer der christlichen Gnadenlehre, vertrat die Lehre von der Gnadenwahl, und auf ihn haben sich später mit Recht alle berufen, die wie er dachten 60). Augustinus griff den Prädestinationsgedanken auf, baute ihn aus und verteidigte ihn mit äußerster Radikalität. Auch die Reformatoren übernahmen diese Lehre. Nach Calvin sind „Heil und Verdammnis des Menschen“ durch freien Entschluß Gottes ein für allemal festgelegt. Diesem „schrecklichen Beschluß“, der der Ehre Gottes dient, muß der Mensch sich beugen. Diese Lehre wurde auf der Synode von Dordrecht (1618/19) von allen calvinistischen Kirchen angenommen. Auch Thomas von Aquin vertrat die Lehre von der Vorherbestimmung, und so stritten in der katholischen Kirche Thomisten und Molinisten über die Frage nach dem Zusammenwirken von Gnade und Freiheit, ohne daß ein einheitliches Ergebnis erzielt worden wäre. Oskar Simmel SJ bemerkt hierzu sehr richtig: „Eine rational befriedigende Lösung der hier angelegten Antinomien wird es niemals geben.
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Sinn der Gnadenlehre ist indes nicht die Lösung metaphysischer Rätsel,
sondern die Ermöglichung eines rechten Lebens vor Gott“ 61).
Wie subjektiv Ihr Urteil ist, zeigt die Bewertung der angeblich im Qur’an vertretenen Prädestinationslehre durch einen dem calvinistischen Christentum verpflichteten Forscher, Tor Andrae, der sich als dezidierter Christ 62) ansonsten keine Gelegenheit entgehen läßt, über Muhammad und seine Religion sich abfällig zu äußern, und selbst vor der Behauptung nicht zurückschreckt, der Qur’an sei in „orakelmäßigen, feierlichen Knittelversen“ abgefaßt63), aber für diese angebliche Lehre Muhammads die schönsten Worte findet: „Es ist ein bedeutungsvolles Zeugnis für die rein religiöse Stärke des Gotteserlebnisses von Muhammad, daß er, soweit ich sehen kann, ohne Beeinflussung vom Judentum und Christentum zu dieser kühnen Auffassung von der unbeschränkten Majestät und Allmacht Gottes gelangt ist“ 64).
Und nun die Frage an Sie: Ist das Christentum „unwürdig“ und „unannehmbar“, weil Paulus, Augustinus, Thomas, Luther, Calvin und andere die Lehre von der göttlichen Vorherbestimmung vertreten haben?
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- 1) In ihren heutigen Erscheinungsformen tragen sie manche Züge, die uns befremden, gelegentlich sogar abstoßen. Die Religionen haben einen langen Weg hinter sich; sie haben im Laufe ihrer ereignisreichen Geschichte nahezu ihre Identität verloren und durch menschliche Zutaten so viele Verkrustungen angelegt, daß der ursprüngliche Glanz der Offenbarung verdunkelt wurde. Sie bedürfen — wie Sie richtig bemerken — der Reinigung und Verwandlung. Diesem Prozeß der geschichtlichen Abnutzung sind aber alle überkommenen Religionen erlegen, auch das Christentum. Auf dieser Einsicht beruht die Reformation. Jedoch: Die Reformierung einer Religion, die Rückkehr zum Ursprung, etwa im Wege der „Entmythologisierung“, wird als menschlicher Versuch immer fragmentarisch, unzulänglich und zum Scheitern verurteilt sein. Welches soll der Maßstab sein, wer soll die Autorität haben? In diesen über jeder Reformation stehenden Fragen ist keine Einigkeit zu erzielen. Die Religionsgeschichte gibt davon Zeugnis. Reformation kann daher nicht vom Menschen, sondern nur von Gott her geschehen. Er selbst reformiert: durch Neuoffenbarung. Zurück zu den östlichen Religionen: In den Grundfragen unseres Seins, der Frage nach dem letzten Geheimnis unserer Existenz, aus dem wir kommen und wohin wir gehen, dem Sinn und Zweck unseres Lebens, nach dem Leid, dem Weg zum Glück, stimmen alle Religionen überein. Sie alle lehren, bei aller Mannigfaltigkeit im Erscheinungsbild, den Glauben an die geistige Natur des Menschen, die Notwendigkeit seiner Wandlung und Veredelung, an die Unsterblichkeit der Seele und ihre Verantwortlichkeit vor dem göttlichen Richtstuhl. Dabei dürfen wir uns an unterschiedlichen Begriffen, Bildern und Betrachtungsweisen nicht stören. Sie laufen letzten Endes alle auf das gleiche hinaus.
- 2) 1. Auflage 1966
- 3) Konzilsdekrete, Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, Ziffer 2 und 3.
- 4) „Daß sich Muhammad im guten Glauben befand, kann jemand, der mit der Psychologie der Inspiration vertraut ist, kaum bezweifeln.“ (Tor Andrea, Mohammed, Sein Leben und Glaube, Göttingen 1932, S. 38).
- 5) Qur’an 2:257.
- 6) S. 56-58; 69-74.
- 7) Zahlreiche Theologen nennen den Glauben an die Einzigartigkeit der Lehre Jesu eine „naive Vorstellung“ (so z. B. H. Windisch, Der Sinn der Bergpredigt, 1929, S. 105).
- 8) Der um 180 schreibende Philosoph Celsus sah im Christentum eine Mixtur aus stoischen, platonischen, jüdischen, persischen und ägyptischen Elementen (C. Andresen, Logos und Nomos, Die Polemik des Celsus wider das Christentum, 1955, S. 223 ff.). Porphyrius (223-304) sah in den Evangelien eine Mythensammlung und in den Evangelisten „Lügner und Fälscher“ (Nachweis bei Karl-Heinz Deschner, Abermals krähte der Hahn, 1962, S. 125).
- 9) A. Jülicher, Einleitung in das Neue Testament, 1931, S. 352; M. Werner, Die Entstehung des christlichen Dogmas, 1941, S. 65; M. Goguel, Das Leben Jesu, 1934, S. 73.
- 10) Markus 16:16.
- 11) Joh. 3:17-18.
- 12) „Glaubet an Gott und seinen Gesandten und spendet von dem, was er euch anvertraut. Jenen von euch, welche glauben und geben, wird großer Lohn zuteil“ (57:8). Vgl. auch 48:29.
- 13) Beleg bei Deschner, S. 222.
- 14) Belege für die Zitate a.a.O.
- 15) Qur’an 30:8.
- 16) „Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Allbarmherzigen! Das Streben nach Mehr beherrscht euch, bis ihr die Gräber aufsucht! Fürwahr, ihr werdet wissen, ja fürwahr, ihr werdet wissen! Fürwahr, wüßtet ihr es doch mit dem Wissen der Gewißheit! Ihr werdet die Hölle sehen, ja, ihr werdet sie sehen mit dem Auge der Gewißheit! Dann werdet ihr an jenem Tage nach der Wonne (des Irdischen) gefragt werden!“ (Qur’an Sure 102) „Ist etwa der Gläubige den Gottlosen gleich? Sie sind nicht gleich! Was diejenigen anlangt, welche glauben und Gutes tun — ihnen sollen die Gärten eine Stätte sein, zum Lohn für ihr Tun! Was aber die Gottlosen anlangt — ihre Stätte ist das Feuer!“ (32:19-21) „Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Allbarmherzigen! Bei der dahineilenden Zeit! Der Mensch ist wahrlich verloren, außer denen, welche glauben und das Rechte tun und einander ermahnen zur Wahrheit, einander ermahnen zur Geduld!“ (Sure 103).
- 17) „Jene, die glauben, und die Juden und die Christen und die Sabäer — und wer immer an Gott glaubt und an den jüngsten Tag und Gutes tut, die haben ihren Lohn bei ihrem Herrn, und keine Furcht wird über sie kommen, noch werden sie traurig sein!“ (Qur’an 2:63).
- 18) Rudolf Jockel, Islamische Geisteswelt, 1954, S. 315; so wird z. B. Abraham als Moslem bezeichnet (Qur’an 3:68).
- 19) Vergleiche die angeschlossene Schrift S. 82 ff.
- 20) Qur’an 19:62-63; 16:32; 2:26; 9:72; 15:48-49.
- 21) Qur’an 2:26.
- 22) Muhammad nennt diese sinnliche Schilderung des Himmels und der Hölle selbst ein Gleichnis: „Ein Gleichnis vom Paradiese, den Rechtschaffenen verheißen...“ (Qur’an 47:16).
- 23) a.a.0., S. 110.
- 24) „Was für ein umfassendes Schauspiel wird es da geben?“, meinte er in Bezug auf die Hölle, „was wird da Gegenstand meines Staunens, meines Lachens sein? Wo der Ort meiner Freude, meines Frohlockens?“ (Nachweis bei Deschner, a.a.0.).
- 25) Nachweis bei Deschner, a. a. O.
- 26) Rudi Paret, Zur Frauenfrage in der arabisch-islamischen Welt, 1934, 29 ff.
- 27) Al-Anisa Nazíra Zainaddin, Al-fatáh wásh-shnyúkh, Beirut 1348/1929 (Zitiert bei Rudi Paret, a. a. O., S. 31;) vergl. auch Math. 19:8.
- 28) Die tatsächlichen Verhältnisse laufen hier seit je auf eine illegitime Polygamie hinaus.
- 29) Qur’an 4:4.
- 30) Qur’an 4:130.
- 31) 5. Mose, 24:1 ff.
- 32) Matth. 19:8.
- 33) N. Zainaddin, Nachweis bei R. Paret, a. a. O., S. 59.
- 34) „Und zu Seinen Zeichen gehört, daß er euch aus euch selber Gattinnen geschaffen hat, damit ihr in der Zuneigung zu ihnen Ruhe findet. Und er hat Liebe und Barmherzigkeit zwischen euch gesetzt. Darin sind wahrlich Zeichen für ein Volk, das nachdenkt“ (Qur’an 30:22, vergl. auch 4:2). „Ich lasse das Tun des Tuenden unter euch, ob Mann oder Weib, nicht verlorengehen“ (3:196). „Wahrlich, die Gott ergebenen Männer und Frauen, und die gläubigen Männer und gläubigen Frauen, und die gehorsamen Männer und die gehorsamen Frauen, und die wahrhaftigen Männer und die wahrhaftigen Frauen, und die geduldigen Männer und die geduldigen Frauen, und die demütigen Männer und die demütigen Frauen, und die almosengebenden Männer und die almosengebenden Frauen, und die fastenden Männer und die fastenden Frauen, und die ihre Keuschheit wahrenden Männer und die ihre Keuschheit wahrenden Frauen, und die Gottes häufig gedenkenden Männer und die Gottes häufig gedenkenden Frauen — Gott hat ihnen Vergebung und reichlichen Lohn bereitet“ (Qur’an 33:36).
- 35) Tor Andrae, a. a. O., S. 155.
- 36) = idschma, vgl. S. 43 Anm. 76 der angeschlossenen Schrift.
- 37) R. Paret, a. a. O., S. 36 ff.
- 38) Allahs Sonne über dem Abendland, 1962, S. 278/79.
- 39) Sigrid Hunke, a. a. O., S. 279.
- 40) a.a.O., S. 280/81.
- 41) Die beginnende Frauenemanzipation im 19. Jahrhundert wurde von den Kirchen keineswegs begrüßt.
- 42) 1. Kor. 11:3.
- 43) 1. Thes. 4:4.
- 44) J. Leipoldt, Jesus und die Frauen, 1921, S. 109.
- 45) 1. Kor. 11:7 ff.
- 46) 1. Kor. 11:9.
- 47) 1. Kor. 11:3 und 1. Kor. 14:34.
- 48) 1 Tert. cultu fem. XI.
- 49) Sigrid Hunke a. a. O., S. 341 ff.; Rudolf Erckmann, Der Einfluß der arabischspanischen Kultur auf die Entwicklung des Minnesangs, Diss. Gießen, 1933.
- 50) Qur’an 57:2-4.
- 51) Qur’an 21:24.
- 52) „Und keine Seele kann ohne Gottes Erlebnis gläubig werden, und er wirft seinen Zorn über jene, die nicht begreifen“ (10:101). „Wahrlich, Gott läßt im Irrtum, wen er will, und er leitet recht, wen er will“ (35:9; 74:32). „Und wenn wir gewollt hätten, wahrlich, wir hätten jeder Seele ihre Rechtleitung gegeben. Aber mein Wort war gerecht: ‚Füllen will ich die Hölle mit Dschinn und Menschen allzumal‘“ (32:14), „Die nicht geglaubt haben — es ist ihnen gleich, ob du sie warnst oder nicht warnst — sie werden nicht glauben. Versiegelt hat Gott ihre Herzen und Ohren und über ihren Augen liegt eine Hülle“ (2:7-8). „Wahrlich, wir haben Schleier über ihre Herzen gelegt, so daß sie nicht begreifen, und Taubheit in ihre Ohren. Auch wenn du sie unter die Leitung rufst, werden sie nicht den rechten Weg einschlagen“ (18:58). „Wir hätten nicht die Leitung zu finden vermocht, hätte Gott uns nicht geführt“ (7:44). „Dein Herr schafft und erwählt, was er will. Nicht ihnen steht die Wahl zu. Gepriesen sei Gott und hoch erhaben ist er über das, was sie ihm zur Seite stellen“ (28:69). „Darum, wen Gott leiten will, dem weitet er die Brust für die Annahme des Islam; und wen er in die Irre gehen lassen will, dem macht er die Brust eng und bang, als sollte er zu den Himmeln emporklimmen. So verhängt Gott Strafe über die Ungläubigen“ (6:126).
- 53) Sie beriefen sich zur Beglaubigung ihrer Dynastie auf die Lehre von der Vorherbestimmung (Ignaz Goldziher, Vorlesungen über den Islam, 1925, S. 92).
- 54) „Gott belastet kein Seele über ihr Vermögen, Ihr wird, was sie verdient, und über sie kommt, was sie gesündigt“ (2:287). Jede Seele erhält „was sie verdient“ (3:27). „Das, was Sie (die Übertreter) zu wirken pflegten, hat auf ihre Herzen Rost gelegt“ (83:15). Selbst wenn vom „Versiegeln der Herzen“ gesprochen wird, heißt es, daß diejenigen „ihren Neigungen folgen“ (47:17). Nicht Gott, sondern die Bosheit der Sünder verhärtet ihre Herzen, daß sie „wie Steine und noch härter werden“ (2:75). Gott hat den Menschen den Weg gezeigt, aber vom Menschen hängt es ab, ob er nun „dankbar oder undankbar sei“ (76:4). „Sprich, jeder handelt nach seiner Weise und euer Herr weiß am besten, wessen Weg der beste ist“ (17:85). „Und sprich: die Wahrheit ist von eurem Herrn. Darum laß den gläubig sein, der will, und den ungläubig, der will“ (18:30). „Wahrlich, dies ist eine Ermahnung. So möge, wer da will, den Weg zu seinem Herrn nehmen“ (76:30). „Wahrlich, uns obliegt es zu leiten; und unser ist die kommende wie die diesseitige Welt. Darum warne ich euch vor einem flammenden Feuer. Keiner soll darin eingehen, als der Bösewicht, der im Unglauben verharrt und den Rücken kehrt, Doch weit ferne von ihm wird der Gerechte sein, der seinen Reichtum dahingibt, um sich zu läutern“ (92:13-19). Gott steht also den Bösen nicht im Wege. Er gibt ihnen die Fähigkeit, das Schlechte zu tun, wie den Guten das Gute.
- 55) Handwörterbuch des Islam, Leiden 1941, S. 246 ff.; Enzyklopädie des Islam, Leiden 1927, Bd. II, S. 647 ff.
- 56) „Es sind Erleuchtungen von eurem Gott gekommen; wer nun sieht, der tut es zu seinem eigenen Nutzen; und wer blind ist, der ist es zu seinem Schaden“ {6:105) „Wir haben dir das Buch für die Menschen geoffenbart; wer sich (dadurch) leiten läßt, der tut es für sich, wer aber umherirrt, der tut es zu seinem eigenen Schaden“ (39:42).
- 57) Qur’an 9:109.
- 58) Goldziher, a. a. O., S. 86 ff.; vergl. auch Qur’an 61:6: „Wie sie nun eine krumme Richtung nahmen, da ließ Gott ihre Herzen krumm werden; denn Gott leitet nicht das widerspenstige Volk“; siehe auch 4:156; 9:127.
- 59) Nachweis bei Goldziher, S. 325 Anm. 42.
- 60) „Wir wissen aber, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken, denen, die nach seiner zuvor getroffenen Entscheidung berufen sind. Denn die er zum voraus ersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt...“ (Röm. 8:28-29) Vgl. auch 9:14-16 und 18.
- 61) Fischer-Lexikon „Christliche Religion“, 1957, S. 107.
- 62) a. a. 0., S. 56.
- 63) a. a. 0., S. 88.
- 64) a. a. 0., S. 52.
Kräfte in Gebet und Meditation (II*))[Bearbeiten]
Weg zu den geistigen Wirklichkeiten / von Hans Randel
Wie die Kraft der Meditation uns lehrt, die Wirklichkeit der Dinge zu
unterscheiden, so läßt uns das Gebet Anteil an den Kräften der göttlichen
Welt gewinnen. Leider haben Vorurteile das Verständnis vieler Menschen
für Gebet und Meditation eingeschränkt: Sie beten nicht und versuchen
nicht zu meditieren. Sie überschätzen die Schwierigkeit der Meditation,
aber unterschätzen Wesen und Wirkung des Gebets. Sie irren sich, wenn
sie meinen, man könne mit Gebeten bestenfalls kleine Kinder erziehen und
ihnen das Gefühl der Geborgenheit geben. Sie irren sich, wenn sie meinen,
nur schwache oder einfältige Naturen suchten Stütze und Halt für den
„Lebenskampf“ im Gebet — dagegen müßten sich erwachsene, selbstbewußte
und vor allem ehrliche Menschen auf ihre eigene Kraft besinnen
und die Hoffnung auf Hilfe durch Gebete aufgeben. Diese Meinungen
gehen an der eigentlichen Bedeutung des Gebetes vorbei.
- Gebet — Zugang zur Bestimmung des Menschen
In zahlreichen Äußerungen Bahá’u’lláhs und ‘Abdu’l-Bahás finden wir Hinweise auf das Gebet. Wenn wir sie in der Art des Meditierens bedenken und beachten, wird sich unser Verständnis für das Gebet vertiefen.
[Seite 961]
Im kurzen mittäglichen Gebet sprechen wir: „Ich bezeuge, o mein Gott,
daß Du mich erschaffen hast, Dich zu erkennen und Dich anzubeten ...“
Wenn es Zweck unserer Erschaffung und Bestimmung unseres Daseins ist, Gott zu erkennen und anzubeten — wie wäre dann ein menschliches Leben ohne Gebet überhaupt denkbar?
In den „Verborgenen Worten“ lesen wir: „O Sohn der Offenbarung! Sieh auf zu Meinem Antlitz und wende dich ab von allem außer Mir. Denn Mein Reich ist beständig und Meine Herrschaft vergeht nie. Und suchtest du anderes als Mich, so fändest du doch nichts, selbst wenn du das ganze Weltall in Ewigkeit durchstreiftest.
O Sohn des Lichtes! Vergiß alles außer Mir und werde vertraut mit Meinem Geiste. Dies ist Mein Gebot. Handle du danach!
O Sohn des Menschen! Laß dir genügen an Mir und suche keinen anderen Helfer, denn nichts außer Mir kann dir jemals genügen.“ 11)
Die Worte des Gebetes berühren Ursprung und Bestimmung des Menschen. In den „Verborgenen Worten“ erscheint ein Grundzug unserer Existenz als Abhängigkeit. Aber diese geistige Abhängigkeit des Geschöpfes von seinem Schöpfer ist zugleich Unabhängigkeit von der Schöpfung, und diese Unterordnung bedeutet zugleich einen hohen Rang im Reiche des Daseins; „denn nichts außer Mir kann dir jemals genügen“.
‘Abdu’l-Bahá erklärt: „Der Sinn des Gebetes ist der, daß es die Verbindung zwischen dem Diener und dem Einen Wahren schafft, denn im Zustande des Gebetes wendet der Mensch sein Antlitz mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele der Erhabenheit des Allmächtigen zu und sucht Seine Gemeinschaft und sehnt sich nach Seiner Liebe und Gnade.“ 12)
Im großen täglichen Gebet wiederholen wir diesen Gedanken: „... mache mein Gebet zu einem Feuer, das die Schleier, die mich von Deiner Schönheit trennen, verbrennen, und zu einem Lichte, das mich zum Meere Deiner Gegenwart geleite.“
Diese Worte sind der Ausdruck einer Sehnsucht nach den göttlichen Welten, sie könnten, während wir sie sprechen, diese Sehnsucht in unserem Herzen hervorrufen oder bewußt machen. Dann hätte das Gebet begonnen, seine eigentümliche Wirkung auf uns auszuüben.
Auf die Frage: „Warum beten? Was ist der Sinn des Gebets, denn Gott
hat ja alles so eingerichtet, lenkt alle Dinge nach bester Ordnung ... was
ist also der Sinn des Bittens, Flehens, die Wünsche darzulegen und Hilfe
zu suchen?“, antwortet ‘Abdu’l-Bahá: „Wisse, daß es sich für den
Schwachen geziemt, sich an den Starken zu halten, und daß der Sucher nach
Gnade den Herrlichen, den Freigiebigen, darum bitten soll. Wer zu seinem
Herrn fleht, der wendet sich Ihm zu und sucht Gnade von Seinem Ozean.
So ist dieses Flehen schon an sich Licht für sein Herz, Erleuchtung für
sein Schauen, Leben für seine Seele und Erhöhung für sein Wesen. Beachte
also, wie dein Herz erquickt wird, wenn du zu Gott flehst und sprichst:
„Dein Name ist meine Heilung“, wie dann deine Seele durch den Geist der
[Seite 962]
Liebe Gottes entzückt wird, und dein Gemüt zu dem Reiche Gottes sich
hingezogen fühlt! Dadurch wachsen deine geistigen Anlagen und Fähigkeiten.
Wenn das Gefäß vergrößert wird, nimmt das Wasser darin zu, und
wenn der Durst sich steigert, empfindet der Mensch die Güte der Wolke
angenehm. Dies ist das Geheimnis des Bittens und die Weisheit des
Aussprechens der Wünsche.“ 13)
- Geistige und physische Wirkungen
Wesentlich für die Betrachtung des Gebetes ist die Frage nach seinen Wirkungen. Hier begegnen wir derselben Schwierigkeit, die auch bei der Betrachtung der Meditation aufkam. Denn die Wirkung des Gebetes ist ein geistiges Geschehen. Weil wir nicht gelernt haben, mit dem Geistigen zu leben, wollen wir nicht einsehen, daß Beten nottut. Unsere Sinne nehmen geistige Vorgänge nicht anschaulich wahr, und wir verlassen uns auf unsere Sinne; daher sind wir geneigt, an den Wirkungen unserer Gebete zu zweifeln.
Bahá’u’lláh sagt dagegen mit Bestimmtheit: „Singe die Verse Gottes, die du empfangen hast, wie jene sie singen, die sich Ihm genähert haben, damit die Süße deines Gesanges deine eigene Seele entflammen und die Herzen aller Menschen anziehen möge. Wer zurückgezogen in seiner Kammer die von Gott geoffenbarten Verse spricht, wird erfahren, wie die Engel des Allmächtigen den Duft der Worte, die sein Mund verkündet hat, überallhin verbreiten und das Herz eines jeden Gerechten höher schlagen lassen. Mag er sich auch anfangs ihrer Wirkung nicht bewußt werden, so wird doch die Kraft der ihm gewährten Gnade früher oder später ihren Einfluß auf seine Seele üben.“ 14)
Wir Menschen tragen unsere Wünsche und unsere Gedanken in den Raum des Gebetes hinein, aber die Kräfte, die vom Gebet ausgehen, sind göttliche Kräfte. Unsere Gedanken sind begrenzt und unsere Wünsche hängen von den Bedingungen unseres Daseins ab, aber die göttlichen Kräfte des Gebetes sind umfassend und grenzenlos; sie tragen den Atem der Ewigkeit in die Enge unseres Daseins und verwandeln sie.
In einem Versammlungsgebet heißt es: „Offenbare Dich dann, o Herr, durch Deine gnadenvollen Worte und die Geheimnisse Deines göttlichen Seins, auf daß heilige Inbrunst des Gebetes unsere Seelen erfüllen möge, eines Gebetes, das Worte und Buchstaben überragt und das sich weit erhebt über das Murmeln von Silben und Tönen, so daß alle Dinge in Nichts versinken vor der Offenbarung Deiner Herrlichkeit.“ 15)
Während wir beten, verändern sich unmerklich unsere Wünsche und
Gedanken. Alle Dinge geraten gleichsam unter den Maßstab göttlicher
Betrachtungsweise. Was uns bedrückte, verliert an Gewicht. Was wir
erhofften, erkennen wir in seinem Wert und seiner Zuträglichkeit für uns.
Oft geschieht es dann, daß sich unsere Wünsche dem göttlichen Willen
[Seite 963]
angleichen. Die geoffenbarten Gebete haben die größte verwandelnde
Wirkung. Da alles, was mit dem göttlichen Willen übereinstimmt, seiner
Verwirklichung entgegengeht, brauchen wir um die Erhörung unserer Gebete
nicht besorgt zu sein.
Wichtiger als die Frage, ob unsere Gebete erhört werden, ist die Einsicht, daß die Kraft unserer Gebete alle großen, weltweiten, menschendienlichen Unternehmungen fördert und den Dienst an der ganzen Menschheit allererst möglich macht. Die Kraft der Gebete, die uns erfreut und ermutigt, gehört uns nicht allein; sie wirkt ohne Beschränkung auf alle Menschen und dient dem Wohle aller.
Wenn wir uns anschicken, den göttlichen Plan auszuführen, wenn wir uns die Ziele unseres Neunjahrplanes zu eigen machen und sie zu erfüllen suchen, dann wollen wir uns daran erinnern, daß das Gebet eine der wirksamsten geistigen Waffen ist, mit denen Gott uns ausgestattet. Wir werden beten, beobachten, studieren, meditieren, handeln und siegreich sein.
- Grundlage schöpferischer Leistung
Gebet und Meditation sind im wesentlichen aktive und schöpferische Haltungen. Sie dienen der Vorbereitung von Taten. Tief im menschlichen Wesen veranlagt, gehören sie zu unseren unerläßlichen Pflichten. Ohne sie ist ein geistiges Leben nicht denkbar. Die Anlagen und Kräfte unserer menschlichen Natur können sich ohne sie nicht entfalten. Achten wir aber darauf, daß wir in zwanglos natürlicher Weise meditieren und daß unsere Gebete aufrichtig sind. Wir wollen nicht leere Formen und sinnlose Übungen an die Stelle echten geistigen Lebens treten lassen. Wir wollen kritisch sein und die Weise unseres Betens und Meditierens an den Taten messen, die wir hervorbringen werden.
- ——————————
- *) Fortsetzung von Heft 35, S. 919.
- 11) Bahá’u’lláh: Verborgene Worte. 1948. Aus d. Arabischen Nr. 15-17.
- 12) Göttliche Lebenskunst. 1961. S. 28.
- 13) Göttliche Lebenskunst. 1961. S. 27.
- 14) Bahá’u’lláh: Ährenlese. 1961. CXXXVI.
- 15) Bahá’u’lláh: Verborgene Worte. 1948. S. 111.
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Die „BAHA’I-BRIEFE“ werden vierteljährlich herausgegeben vom Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í in Deutschland e. V., 6 Frankfurt, Westendstraße 24. Alle namentlich gezeichneten Beiträge stellen nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers oder der Redaktion dar.
Redaktion: Dipl.-Volkswirt Peter A. Mühlschlegel, 6104 Jugenheim, Goethestraße 14, Telefon (0 62 57) 74 67, u. Dieter Schubert, 7021 Oberaichen, Viehweg 15, Telefon (07 11) 74 97 67.
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