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BAHÁ'I-
BRIEFE
BLÄTTER FÜR
WELTRELIGION UND
WELTBEWUSSTSEIN
AUS DEM INHALT:
Grundsteinlegung für europäischen Mutter-Tempel
Bildberichte aus Langenhain und Frankfurt
Das Haus der Andacht am Michigansee
Das Christentum im Lichte der Bahá’í-Religion
JANUAR 1961 HEFT 3
Postverlagsort Frankfurt/Main
20. November 1960:
Grundsteinlegung für europäischen Muttertempel[Bearbeiten]
Haus der Andacht wird im Taunus gebaut
Wohl noch selten hatte die Taunus-Gemeinde Langenhain bei
Frankfurt einen so großen Besucherstrom erlebt wie an diesem Sonntagmorgen,
am 20. November 1960, dem Tag der Grundsteinlegung des Muttertempels von Europa
der Bahá’í-Weltgemeinde, des ersten Mashriqu’l-Adhkár auf europäischem Boden.
Ein herrischer, kalter Wind, stark genug, um die wohl mehr als 500 Gläubigen aus Holland, Belgien, Luxemburg, Skandinavien, England, Österreich, Schweiz, Persien und Deutschland tüchtig durchzupusten, jedoch zu schwach, um den vom Regen völlig aufgeweichten Boden schnell zu trocknen, fegte über das Gelände des künftigen Hauses der Andacht. Trotzdem sah man nur glückliche, frohe Gesichter und fühlte sich von der Herzlichkeit, mit der sich die Mitglieder der großen „Bahá’í-Familie“ begrüßten, warm berührt. Das wind- und wetterschützende Zelt konnte nicht alle Teilnehmer an dieser denkwürdigen Feierstunde aufnehmen.
Den Beginn der Feier bildeten Worte von Bahá’u’lláh und ‘Abdu’l-Bahá. Zuvor waren alle Anwesenden, unter denen sich auch viele Gäste sowie Bewohner Langenhains befanden, namens des Nationalen Geistigen Rates der Bahá’í in Deutschland durch Ruprecht Krüger herzlich begrüßt worden.
- Die Platte über dem Grundstein
Der Architekt des Hauses der Andacht, Dipl.-Ing. Teuto Rocholl,
betonte in seiner Ansprache, daß dieses Gelände von all den Bauplätzen,
die in der langen Vorbereitungszeit in Erwägung gezogen
worden seien, das für einen Tempelbau günstigste sei. Ein schönerer
Rundblick, als man ihn von dieser Anhöhe aus habe, sei in der Umgebung
Frankfurts kaum zu finden. Ein tiefer symbolischer Sinn liege darin, daß
der Weg zum künftigen Tempel ansteige. Allein schon der Weg zur Höhe
könne eine Vorbereitung zur Andacht sein, besonders in dieser wohltuenden
Abgeschiedenheit. Das runde und symmetrische Gebäude mit seinen neun Toren
erfordere ein Gelände, das nach allen Seiten hin frei ist.
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Er erläuterte umrißhaft das Modell des Tempels und sagte abschließend:
„Zwei Dinge sind es, die mich bewegen. Das ist erstens mein Dank dem
gegenüber, der die Idee zu dieser großen Aufgabe gehabt und gegeben
hat. Und das zweite ist meine Bitte, daß alle, die an diesem Bauwerk
arbeiten, in Gottes Schutz stehen mögen.“
Durch Ströme der Gnade und des Segens sei nun, nach sieben Jahren voller Widerstände und Schwierigkeiten, der ersehnte Tag gekommen, an dem der Grundstein zum Muttertempel von Europa, dem fünften Mashriqu’l-Adhkár, gelegt werden könne, sagte Amelia Collins, Hand der Sache Gottes und hochbetagte Vertreterin des Bahá’í-Weltzentrums in Haifa/Israel. Die Kraft Bahá’u’lláhs habe sich hierdurch erneut geoffenbart; ein weiterer Sieg sei in Seinem Namen errungen worden. Ausgezeichnet werde diese Grundsteinlegung durch ein kostbares Geschenk des ersten Hüters des Bahá’í-Glaubens, Shoghi Effendi: eine Handvoll Erde vom Heiligen Schrein auf dem Berge Karmel. Anläßlich der Interkontinentalen Konferenz der Bahá’í im Jahre 1958 in Frankfurt habe sie dieses Geschenk zur Aufbewahrung übergeben.
Frau Collins sprach abschließend die Hoffnung aus, das Haus der Andacht möge als Zeichen der Liebe der Bahá’í der ganzen Welt und unterstützt durch Gebete und Gaben als sichtbare Verkörperung des Glaubens bald vollendet werden.
Dr. Eugen Schmidt, der Vorsitzende des Nationalen Geistigen Rates der Bahá’í in Deutschland, brachte in seiner Ansprache die tiefe Dankbarkeit aller Bahá’í dem Stifter des Hauses der Andacht, Bahá’u’lláh, Begründer der Bahá’í-Weltreligion, zum Ausdruck. Wörtlich sagte er: „Im Hinblick auf das höchste Ziel, dem die Sendung Bahá’u’lláhs nach Worten Shoghi Effendis dient —, die Erlösung des ganzen Planeten durch Einigung — bedeutet der Grundstein des nun beginnenden Bauwerks einen Markstein in der Ära der Einigung der Menschheit in einem Glauben an den einen und einzigen Schöpfer und Erhalter aller Dinge.“
Die Einheit der Offenbarungsreligionen solle sichtbar gemacht werden durch die Häuser der Andacht der Bahä’i, in denen das Wort Gottes aus den Heiligen Schriften aller Hochreligionen verkündet und dem kein menschliches Wort hinzugefügt werde. Durch die verehrende Anbetung Gottes im Hause der Andacht werde in den Herzen der Gläubigen aller
- In Langenhain: John Long — Amelia Collins — Bürgermeister Heuss
Weitere Fotos von der Grundsteinlegung finden die Leser auf den Seiten 58 und 59
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Religionen, Rassen und Völker eine gemeinschaftsbildende göttliche
Geistesmacht wirksam werden. Als Institution der Verehrung Gottes
werde das entstehende Haus der Andacht im Laufe der Zeit seinen Niederschlag
in sozialen, humanitären, erzieherischen und wissenschaftlichen
Einrichtungen für jeden finden.
Es sei der göttlich verbriefte Auftrag der Bahá’í, ein geistiges Lichtzentrum als Beitrag zur Weltbefriedung zu errichten, die den „tragenden Grund der liebenden Einheit und Zusammenarbeit der verantwortungsbewußten Anhänger aller Religionen dringend braucht.“ Dr. Schmidt schloß mit den Worten: „Die Führung, Heilung und Genesung der von Mißtrauen und Angst befallenen Menschheit kann allein aus dem einenden Wort Gottes strömen.“
Als nächster Sprecher ergriff der Bürgermeister der Gemeinde Langenhain, Heuss, das Wort. Er begrüßte mit freundlichen Worten alle Anwesenden und sagte: „Wir wollen bei der Grundsteinlegung des Hauses der Andacht alle Schwierigkeiten vergessen, die berechtigt und unberechtigt aufgetreten sind. Wir wollen alle mithelfen, daß das gegenseitige Verstehen Wirklichkeit werden kann. Es soll ein friedliches Zusammenleben geschaffen werden. Ich wünsche diesem Bau einen guten Fortschritt und eine Vollendung, wie sie im Sinne des Bauherrn und der Bauleitung erwünscht ist.“
Als Vertreter der Bahá’í in England und zugleich als Sprecher der anderen europäischen Schwestergemeinden überbrachte John Long herzliche Grüße und innige Glückwünsche. „Es wäre für unseren geliebten Hüter, Shoghi Effendi, den wir genau heute vor drei Jahren auf einem Londoner Friedhof zur letzten Ruhe gebettet haben, eine unendliche Freude gewesen“, betonte John Long, „wenn er diese Grundsteinlegung des Hauses der Andacht, die ihm so sehr am Herzen lag, noch hätte erleben dürfen... Wir Bahá’í in England versprechen unseren deutschen Freunden, daß wir ihnen bei der Errichtung und Vollendung dieses Hauses beistehen und jede nur mögliche Hilfe zuteil werden lassen wollen.“
Den Höhepunkt der Feier bildete die Grundsteinlegung selbst. Eine Handvoll Erde vom Heiligen Schrein Bahá’u’lláhs wurde von Frau Collins zusammen mit einer Urkunde folgenden Inhalts in den Grundstein gelegt:
- In Anwesenheit von sieben Händen der Sache Gottes, europäischen Hilfsamtsmitgliedern und Vertretern der europäischen Nationalen Geistigen Räte wurde am heutigen Tag von unserer lieben, hochverehrten Frau Amelia Collins, als Beauftragte der Hände der Sache im Heiligen Land, der Grundstein für das Haus der Andacht Europas (Mother Temple of Europe) an diesem Ort der Gemarkung Langenhain im Taunus bei Frankfurt am Main, im Herzen Europas, gelegt.
- Freudig und mit tiefempfundenem Dank an Bahá’u’lláh gedenkt die Bahá’í-Weltgemeinschaft in Liebe und Verehrung des Hüters Shoghi Effendi, der diesen Platz am Vorabend seines Hinscheidens gutgeheißen hat.
- Frankfurt am Main, am 20. November 1960, 17. Qudrat 117
Beschwert wurde diese Urkunde mit einer Silberplatte, die die Worte trägt:
- Haus der Andacht
- Mother Temple of Europe
- Mashriqu’l Adhkár
- Grundsteinlegung
- 20. November 1960, Bahá’í Era 17. Qudrat 117
Mit drei Hammerschlägen besiegelte danach Amelia Collins die feierliche
Handlung. Beendet wurde die unvergeßliche, schlichte Feierstunde
mit einem Gebet von ‘Abdu’l-Bahá für den Weltfrieden.
- Ursula Schubert
„Warum ein Bahá’i-Tempel?”[Bearbeiten]
Über 500 Personen hatten sich schon am Vorabend der Grundsteinlegung in Frankfurt im „Kantate“-Saal anläßlich einer öffentlichen Veranstaltung eingefunden. „Warum ein Bahá’í-Tempel?“ lautete das Thema, zu dem Ruprecht Krüger sprach.
Er setzte sich zunächst mit den Argumenten auseinander, welche die Repräsentanten der großen christlichen Konfessionen gegen das Bauvorhaben ins Feld geführt hatten, schilderte den wechselvollen Verlauf der Bemühungen um die Bauerlaubnis und verwies in eindringlichen Worten auf die im Grundgesetz der Bundesrepublik verankerte Freiheit der Religionsausübung. Zitate aus den Bahá’í-Schriften führten den Zuhörern die überragende Bedeutung vor Augen, die der Mashriqu’l-Adhkár mit seinen Nebenbauten als geistiges, kulturelles und soziales Zentrum in der künftigen Gemeinschaft einnimmt.
David Hofman, London, gab eine kurze Einführung in die Bahá’í-Religion, unter dem Aspekt des Friedensgedankens. Im Unterschied zu früheren Offenbarungen verhieß Bahá’u’lláh die Verwirklichung des Weltfriedens, das Goldene Zeitalter, nicht für eine ferne Zukunft, sondern für die unmittelbar vor uns liegende Zeit. Die Entwicklung zur vollkommenen politischen Gesellschaft ist, wie es auch Kant ausdrückte, das Ziel der Geschichte, das Ergebnis des organischen Fortschreitens der Menschheit. Das chaotische Übergangsstadium, das die Welt heute durchläuft, ist eine notwendige Vorbereitungszeit. An uns allen ist es jetzt, umzudenken und uns auf die neue geistige Kraft und die neuen Gesetze, die der Menschheit geoffenbart wurden, einzustellen. Vor Gott sind alle Völker und Rassen gleich. Von besonderer Bedeutung ist, daß Bahá’u’lláh nicht nur die Verheißung und die Idee, sondern auch das administrative Gefüge der neuen Weltordnung brachte.
- David Hofman, London, spricht
- Dipl. Ing. Teuto Rocholl:
Die architektonische Konzeption des Hauses der Andacht[Bearbeiten]
Es gibt für jedes Bauwerk eine vorgegebene Reihenfolge der einzelnen Phasen seines Entstehens:
- die Bauidee,
- das Raumprogramm,
- die architektonische Konzeption,
- die Durcharbeitung in funktioneller, konstruktiver und wirtschaftlicher Hinsicht
- und die Ausführung.
Als Architekt kommt es mir nicht zu, über die geistige Idee des
Hauses der Andacht der Bahá’í zu schreiben. Diese darf ich wohl auch
in den folgenden Betrachtungen als bekannt voraussetzen. Gleichwohl ist
das Erfassen der Idee Voraussetzung für das Entstehen einer architektonischen
Konzeption. Diesen Vorgang möchte ich versuchen zu schildern. Die Arbeit des
Architekten beginnt mit der Durcharbeitung des gegebenen Raumprogrammes. Je
klarer sich die Idee in der Aufstellung des Raumprogrammes widerspiegelt,
desto weniger Umwege müssen später bei der architektonischen Durcharbeitung
gegangen werden.
Es galt also, in gemeinsamer Arbeit mit dem Bauherrn, dem Nationalen Geistigen Rat, das Raumprogramm von all den Dingen zu befreien, die der Bauidee abträglich sind. Alle Nebenräume, die technischen Einrichtungen und mancher heute so selbstverständlich gewordene Komfort wurden deshalb aus dem Tempelgebäude verbannt zu Gunsten der Wirkung des einen Raumes, um dessen willen das Gebäude entsteht: des großen Andachtsraumes.
Neun Zugangswege sollen von allen Seiten her auf das Gebäude zuführen, und mit neun Eingängen soll der Innenraum aufgeschlossen werden. Diese Forderung läßt den Wunsch einer betonten Verbindung zwischen Außenwelt und Innenraum erkennen; denn bereits zwei Eingänge würden der Funktion nach ausreichende Dienste tun.
Die dadurch bewirkte, bewußt starke, allseitige Auflösung der Innenraumwand hat also tieferen Sinn. Warum sollte sie dann nicht zum Thema erhoben werden für den Gesamtbau, sollte die Durchdringung von innen und außen, die Auflösung der umhüllenden, abgrenzenden Schale nicht Teil der architektonischen Konzeption werden?
Als weitere prägnante Punkte bestehen die Forderungen nach dem
Zentralraum und nach der sich darüber erhebenden Kuppel; die Forderung
nach einem Raum, in dem sich die Menschen gleichberechtigt zusammenfinden
können, bei gleichzeitiger Ausrichtung der Gemeinde nach Osten.
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Das sind Auflagen, die sich nach erster Überlegung zu widersprechen scheinen. So waren auch die ersten Entwurfskizzen, die diese Bedingungen allzu wörtlich nahmen, letztlich unbefriedigend. Nach meinem Empfinden verstößt es gegen die Gesetze des Zentralraumes, wenn die Sitzreihen, ohne den Gebäudemittelpunkt zu berücksichtigen, in einer Richtung in Reihen hintereinander — nach Art eines Vortragsraumes — angeordnet sind. Erst nach weiterem Durchdenken wurde mir die Wertigkeit dieser einzelnen Auflagepunkte klar. Eine Ordnung zu schaffen, die das Gesetz des zentralen Raumes achtet und unterstreicht, die den Kreis als gemeinschaftsbildende Kraft nutzt und die trotzdem einen fühlbaren östlichen Bezugspunkt außerhalb des Raumes berücksichtigt, war ein weiterer Teil der architektonischen Konzeption.
Die Entwurfslösung möchte ich nun an Hand von Zeichnungen — Grundriß, Schnitt und Ansicht — erläutern:
Es wurde vom Gebäudemittelpunkt aus ostwärts ein zweiter Punkt gesucht,
um den sich die Sitzplätze anordnen und in dessen Nähe Sprecher
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und Sänger ihren Platz finden. Dadurch verlagert sich der Schwerpunkt
des Raumes nach Osten. Sprecher und Sänger wenden sich westwärts zur
Gemeinde hin, schließen den für den Zentralraum notwendigen Kreis
und stehen zugleich am akustisch günstigsten Ort des Raumes. Dreimal
neun Pfeiler, welche die Kuppel tragen, begrenzen den Innenraum. Die
verbleibenden 27 Felder werden durch große Glaswände geschlossen. Neun
Portale führen in den Umgang, der den Tempel ringförmig umgibt. Diese
Halle soll den Besucher auf den zentralen Tempelraum vorbereiten; sie gibt
die Möglichkeit zur Sammlung und zum Gespräch. Weitere neun Portale
führen über Freitreppen hinab in das Gelände. Der engere Tempelbezirk
wird durch eine bewachsene, niedrige Natursteinmauer begrenzt.
Das zweite Bild zeigt einen Querschnitt durch das Gebäude. Die Kuppel besitzt die Form einer Elipse. 27 Rippen führen vom Fußboden des Tempelraumes bis in die Kuppelspitze und enden in einem Ring, der die Leuchte trägt. Die Kuppelfelder zwischen den Rippen erhalten in bestimmtem System übereinander angeordnete verglaste Öffnungen, die das Tageslicht hereinfließen lassen und hierdurch der Kuppel das lastende Element nehmen. Auf diese Weise wird der Tempelraum neben aller Strenge und Feierlichkeit eine helle und freudige Stimmung erhalten.
Der Fußboden des Innenraumes senkt sich zur Mitte hin um 60 cm. Dadurch ergibt sich von jedem Platz aus eine gute Sicht auf den Sprecher. Chor und Sprecher stehen aus akustischen Gründen leicht erhöht.
Bis in eine Höhe von ca. 3 m werden die Stützen mit Natursteinplatten
verkleidet. Bis zur gleichen Höhe reichen die 27 Glasabschlußwände
zwischen Tempelraum und Umgang. Der Umgang besitzt eine nach außen
ansteigende Decke und eine durchsichtige Verglasung. Eine ca. 1 m hohe
Erdaufschüttung hebt das Gebäude aus seiner Umgebung heraus. Vom
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gewachsenen Boden bis zur Spitze hat der Tempel eine Höhe von nahezu
28 m. Der Kuppelraum besitzt einen Durchmesser von 25 m. Für das Gebäude
wird eine Grundfläche von ca. 48 m im Durchmesser benötigt. Für
den engeren Tempelbezirk erweitert sich der Durchmesser auf 75 m.
Das Bauwerk läßt sich in drei Arten von Konstruktionselementen aufgliedern: tragende Teile, verbindende Teile und füllende Teile. Die tragenden Teile bestehen aus vorfabrizierten Fertigbetonteilen mit Stahleinlagen, die an der Baustelle mit Hilfe eines großen Krans lediglich aufgestellt werden müssen. Es sind dies in erster Linie die 27 Stützen.
Die verbindenden Teile sind die beiden großen Ringe — der eine in der Kuppelspitze unterhalb der Leuchte, der andere in Verbindung mit dem Dach des Umganges —, die auf der Baustelle geschalt und gegossen werden; sie geben den großen Rippen untereinander den Halt. Alle verbleibenden Öffnungen werden nun mit Glas oder mit dünnen Betonschalen ausgefacht. Durch die konsequente Trennung der Bauteile in diese drei Aufgabengebiete ergibt sich die Möglichkeit maschineller Vorfabrikation und damit einer wesentlichen Kostensenkung.
Die schuppenförmig übereinander angeordneten Dachteile erfüllen zugleich mehrere Aufgaben:
- Sie machen die Anordnung von Lichtöffnungen in der Kuppelschale möglich;
- sie verhindern durch ihre Vorkragungen die direkte Sonneneinstrahlung in den Tempelraum;
- sie leiten das Regenwasser in seitlich der Stützen angeordnete Rinnen ab;
- sie verhindern die Nachhallbildung im Kuppelraum und verbessern auf diese Weise die Akustik.
Der Umgang ist nur zum Teil unterkellert und birgt die Kanäle für
eine Luftheizungsanlage. Alle notwendigen Nebenräume sind in einem
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besonderen Gebäude in angemessener Entfernung vom Tempel untergebracht.
Das dritte Bild zeigt die Ansicht des fertigen Tempels. Auch von außen, durch die Verglasung des Umganges hindurch, lassen sich die Stützen vom Erdboden bis zur Kuppelleuchte hin verfolgen. Jede dritte Rippe erhält eine Betonung, um auch in der Kuppel die Neunteilung deutlich werden zu lassen. Die starke Plastik der Felder, die zwischen den Rippen der Kuppel liegen, ergibt ein interessantes Spiel von Licht und Schatten, welches durch die Sonnenreflexe auf den 570 Glasscheiben der Kuppel noch unterstrichen wird. Der Umgang wirkt mit seiner schlanken, vorgesetzten Stützenreihe und der leicht ansteigenden Decke einladend und aufgeschlossen. Das Bauwerk liegt eingebettet in parkartige Gartenanlagen.
Es mögen viele bedauert haben, daß die Umstände den Baubeginn immer wieder hinausgeschoben haben. Aus der heutigen Sicht muß ich aber sagen, daß ich dankbar bin für die Zeit, die ich dadurch gewonnen habe und die sich für die architektonische Arbeit fruchtbar ausgewirkt hat.
Daß der errichtete Tempel die Bauidee in reinster Form sichtbar werden läßt, ist das hohe Ziel.
Das Tempel-Gebet[Bearbeiten]
„O Herr, mache diese heiligen Seelen, die sich erhoben haben, diesen Tempel zu bauen, zu Aufgangsorten des Lichtes und zu Offenbarern Deiner Zeichen. Mache jeden zu einem Eckstein in diesem großen Gebäude, zu einer Säule seiner Säulen; denn Du bist der Helfer, der Beistand, der Belohner!
Diese Seelen haben sich erhoben, Dir ergeben zu dienen, und haben mit ihrem Dienste begonnen. Bestätige, hilf und ermutige jeden durch die Verheißung der Gaben Deiner göttlichen Gunst, und mache sie zu Auserwählten. Wahrlich, Du bist der Mächtige, der Kraftvolle, der Könner, der Geber, der Strahlende, der Hörende und der Sehende!
O Gott! O Gott! Ich flehe zu Dir mit klopfendem Herzen und strömenden Tränen und bitte Dich, einem jeden beizustehen, der sich um die Errichtung des Hauses des Herrn bemüht, des Gebäudes, darin Dein Name jeden Morgen und Abend gepriesen wird. Sende Deine Segnungen auf jeden hernieder, der bemüht ist, inmitten der Sekten und Religionen diesen Bau erstehen zu lassen, und bestätige ihn in jeder guten Tat für die Menschheit. Öffne ihm die Tore des Reichtums und des Wohlstandes und mache ihn zum Erben der Schätze des unvergänglichen Königreiches. Mache ihn zum Zeichen des Spendens unter den Völkern und stärke ihn durch das Meer Deiner Freigebigkeit und Güte, das brandet mit Wogen der Gnade und Gunst.
Wahrlich, Du bist der Freigebige, der Barmherzige, der Wohltätige!“
- ‘Abdu’l-Bahá
Im Gesellschaftshaus des Frankfurter Zoos fand aus Anlaß der Grundsteinlegung für das Haus der Andacht am 20. November 1960 eine Lehrtagung statt. Unsere Fotos auf dieser Seite vermitteln einen Eindruck davon. Oben und unten links ein Blick auf das Podium, auf dem die anwesenden Hände und die Vertreter des Nationalen Geistigen Rates Platz genommen hatten. Am Mikrofon Dr. Eugen Schmidt. Unten rechts ein Teil der Gäste aus aller Welt. — Die Bilder auf der gegenüberliegenden Seite wurden während der Grundsteinlegung bei Langenhain aufgenommen. Man erkennt u.a. oben links Frau Amelia Collins, neben ihr den Architekten des Hauses der Andacht, Teuto Rocholl. Unten ein Teil des Zeltes, das die Hunderte von Bahá’í nicht fassen konnte. Rechts die Urkunde, die dem Grundstein beigegeben wurde.
- Fotos: A. Kohler, D. Schubert
Das Ringen um die Bauerlaubnis[Bearbeiten]
8. 10. 1952: Proklamation des Hüters Shoghi Effendi: „.. . Errichtung eines Mashriqu’] Adhkar auf dem europäischen Kontinent...“
19. 4. 1953: Botschaft des Hüters Shoghi Effendi: „... Kauf eines Baugrundstücks im Raum Frankfurt/Main und Errichtung eines Mashrigu’l Adhkar...“
Oktober 1953: Baudezernat der Stadt Frankfurt/M lehnt Kaufantrag der Bahá’í-Gemeinde für ein stadteigenes Grundstück ab. Es wird empfohlen, Baugrundstücke außerhalb des Stadtgebietes zu suchen.
10. Juli 1954: Kaufvertragsabschluß über drei Grundstücke in der Gemarkung Eschborn mit einer Gesamtfläche von 1,7 ha durch den Nationalen Geistigen Rat.
8. August 1954: Protestversammlung der evangelischen Kirche in Eschborn unter Einsatz von Posaunenchören und mehreren Geistlichen der Katholischen und Evangelischen Kirche des gesamten Landkreises; Austeilung von Flugblättern, Anschlag von Warnungen, Eingaben von Resolutionen an die Regierung — alle des Inhalts, daß die Errichtung eines Bahá’í-Tempels innerhalb einer christgläubigen Gemeinde eine Herausforderung der Christenheit bedeute.
11. August 1954: Ablehnung der beantragten Genehmigung der Kaufverträge durch die Aufsichtsbehörde.
11. Oktober 1954: Erste Verhandlung beim Amtsgericht Frankfurt über die eingereichte Beschwerde des Nationalen Geistigen Rats. Ein Urteil ergeht nicht.
16. Juli 1955: Vorauswahl des Tempelentwurfs aus 19 von 16 Architekten eingereichten Entwürfen.
9. November 1955: Zweite Verhandlung des Amtsgerichts Frankfurt. Die Kaufverträge von Eschborn werden nicht genehmigt.
7. Juli 1956: Verhandlung vor dem Oberlandesgericht Frankfurt/M über die weiter eingereichte Beschwerde des Nationalen Geistigen Rats mit dem Urteil: Den Kaufverträgen von Eschborn wird die Genehmigung endgültig versagt; eine weitere Beschwerde beim Bundesgerichtshof wird nicht gestattet.
22. Juli 1956: Entscheidung des Nationalen Geistigen Rats zugunsten des Tempelentwurfs von Architekt Teuto Rocholl, Frankfurt/M.
1. März 1957: Kaufvertragsabschluß über 2,10 ha Wiesenland unweit von Frankfurt/M in der Gemeinde Diedenbergen.
23. März 1957: Verhandlung vor dem Amtsgericht Hochheim. Die Kaufverträge von Diedenbergen werden seitens des Bauerngerichts genehmigt.
11. August 1957: Kaufverträge Diedenbergen werden vom Landkreis nicht
genehmigt.
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29. Oktober 1957: Kaufvertrag über 2,06 ha in der Gemarkung Langenhain bei Frankfurt.
5. Januar 1958: Bauvorfrage des Architekten Teuto Rocholl für den Tempel in der Gemeinde Langenhain beim Landrat, Frankfurt/Main-Höchst.
14. Januar 1958: Kaufvertrag vom Amtsgericht, Abteilung für Landwirtschaftssachen, Frankfurt/Main, nach einem Ortstermin genehmigt.
30. Juli 1958: Schriftliche Appelle der Interkontinentalen Bahá’í-Konferenz, Frankfurt/Main, an den hessischen Ministerpräsidenten, den hessischen Minister des Innern und den Regierungspräsidenten in Wiesbaden zur Ausräumung der Schwierigkeiten bei der Errichtung des Bahá’í-Tempels.
16. Dezember 1958: Bauvorfrage wegen der Errichtung des Tempels im Außengebiet der Gemeinde Langenhain von der Bauaufsichtsbehörde aus „planerischen und baurechtlichen Gründen“ abgelehnt.
23. Dezember 1958: Beschwerde seitens der Gemeinde Langenhain und des Nationalen Geistigen Rates gegen diesen Ablehnungsbescheid.
13. Januar 1959: Nachreichung der Beschwerdebegründung.
25. März 1959: Vom Regierungspräsidenten in Wiesbaden wird der Beschwerde stattgegeben und die Angelegenheit an den Kreisausschuß des Landkreises Main-Taunus zur anderweitigen Entscheidung zurückgegeben.
6. April 1959: Wohnsiedlungs- und Preisgenehmigung des Landrats des Landkreises Main-Taunus.
7. April 1959: Kreisausschuß hebt seine negative Entscheidung auf.
18. Dezember 1959: Der Nationale Geistige Rat der Bahá’í in Deutschland e.V. als Eigentümer des Langenhainer Tempelbaugeländes im Grundbuch eingetragen.
7. Juni 1960: Der Regierungspräsident erteilt seine Zustimmung zur Baugenehmigung gegenüber der Bauaufsichtsbehörde.
15. Juli 1960: Die Bauaufsichtsbehörde macht die Erteilung der Baugenehmigung von zahlreichen vorab zu erfüllenden Bedingungen neben bestimmten Auflagen abhängig.
22. Juli 1960: Form- und fristgerechter Widerspruch vom Bauherrn erhoben.
30. 9. 1960: Teilbaugenehmigung für den Tempelbau in der Gemarkung Langenhain.
Mitte Oktober 1960: Erd-, Beton- und Stahlbetonarbeiten vergeben.
15. 11. 1960: Endgültige Baugenehmigung durch die Bauaufsichtsbehörde mit Zustimmung des Regierungspräsidiums in Wiesbaden.
Der Mashriqu’l-Adhkár und seine geistige Bedeutung[Bearbeiten]
Worte von Bahá’u’lláh, ’Abdu’l-Bahá und Shoghi Effendi
- I
O Versammlung der Schöpfung!
Errichtet Gebäude in äußerster Schönheit in jeder Stadt, in jedem Land, im Namen des Herrn der Religionen. Schmücket sie mit dem, was ihrer würdig ist. Alsdann verherrlicht darin in Andacht den Herrn, den Gnädigen, den Barmherzigen, im Geiste des Duftes der Eintracht.
- Bahá’u’lláh
- II
Heute ist es fürwahr die größte Aufgabe und die wichtigste Angelegenheit, einen Mashriqu’l-Adhkár zu errichten und einen Tempel zu erbauen, von dem sich die Stimme des Lobpreises zum Reiche des erhabensten Herrn erheben mag. Gesegnet seid ihr, daß ihr daran denkt und beabsichtigt, ein solches Bauwerk zu errichten, daß ihr euch drängt, euer Vermögen für dieses große Ziel, dieses herrliche Werk hinzugeben. Bald werdet ihr sehen, wie euch die Engel der Bestätigung auf dem Fuß folgen, und wie sich die Heerscharen der Unterstützung vor euch sammeln.
Wenn der Mashriqu’l-Adhkár vollendet ist, wenn seine Lichter erstrahlen, die Rechtschaffenen sich in ihm versammeln, die Gebete mit demütigen Bitten an das geheimnisvolle Königreich verrichtet werden, die Stimme der Verherrlichung zum Herrn, dem Höchsten, erhoben wird, dann werden die Gläubigen frohlocken, ihre Herzen werden sich weiten und überfließen mit der Liebe des allbelebenden, selbstbestehenden Gottes. Die Menschen werden herbeieilen, um in diesem himmlischen Tempel am Gottesdienst teilzunehmen, die Düfte Gottes werden sich erheben, die göttlichen Lehren werden tief in den Herzen verankert, gleichwie Sein Geist fest in der Menschheit begründet wird. Dann werden die Menschen unerschütterlich in der Sache eures Herrn, des Barmherzigen, stehen. Preis und Gruß seien mit euch!
- ‘Abdu’l-Bahá
- III
Der Mashriqu’l-Adhkár ist die wichtigste Aufgabe und die höchste
göttliche Einrichtung. Bedenket, wie Seine Heiligkeit Moses nach Seinem
Auszug aus Ägypten als erste Einrichtung dieser Art die „Stiftshütte des
Opfers“ errichtete, die ein transportabler Tempel war. Sie war ein Zelt,
das man in der Wüste aufschlug, wo immer man lagerte, und in dem man
Gott diente. Auch nach dem Kommen Seiner Heiligkeit Christi — möge
der Geist der Welt ein Opfer für Ihn sein — war die erste Einrichtung
Seiner Jünger ein Tempel. Sie faßten den Plan, in jedem Land eine
Kirche zu erbauen. Betrachtet die Bibel, und die Bedeutung des
Mashriqu’l-Adhkár wird euch klar werden.
[Seite 63]
Kurz gesagt, ich hoffe, daß alle Geliebten Gottes auf dem amerikanischen Kontinent, Männer wie Frauen, einmütig Tag und Nacht bestrebt sein werden, den Mashriqu’l-Adhkár in höchster Gediegenheit und Schönheit zu erbauen.
- ‘Abdu’l-Bahá
- IV
Der Tempel ist die höchste Stiftung für die Menschenwelt; er hat viele Nebengebäude. Während der Tempel selbst die Stätte der Andacht ist, sind ihm ein Krankenhaus, eine Apotheke, ein Pilgerhaus, eine Schule für Waisen und eine Hochschule für das Studium der Wissenschaften angegliedert. Jeder Tempel ist mit diesen Einrichtungen verbunden. Ich hoffe, daß man nun in Amerika einen Tempel errichtet und ihm mit höchster Tatkraft und Gründlichkeit nach und nach das Krankenhaus, die Schule, die Hochschule, die Apotheke und das Pilgerhaus beigibt... Der Tempel ist nicht nur eine Stätte der Andacht; nein, er ist Vollkommenheit in jeder Hinsicht.
- ‘Abdu’l-Bahá
- V
Der Mashriqu’l-Adhkár muß neun Seiten und Tore, dazu Brunnen, Wege, Pforten, Säulen und Gärten haben, mit Erdgeschoß, Galerien und Kuppel, und in Entwurf und Ausführung muß er herrlich sein. Das Mysterium des Baues ist groß und kann jetzt noch nicht enthüllt werden, aber seine Errichtung ist das wichtigste Werk dieses Tages. Der Mashriqu’l-Adhkár hat wichtige Ergänzungsgebäude, welche bei der Gründung schon mit in Rechnung gezogen werden. Diese sind: ein Waisenhaus, ein Krankenhaus und eine Apotheke für die Armen, ein Heim für die Arbeitsunfähigen, eine Hochschule für höhere wissenschaftliche Bildung und ein Fremdenheim. In jeder Stadt muß nach diesem Befehl ein großer Mashriqu’l-Adhkár begründet werden. Im Mashriqu’l-Adhkár werden jeden Morgen Gottesdienste gehalten. Eine Orgel wird im Mashriqu’l-Adhkár nicht sein. In den Nebenbauten werden Feste, Gottesdienste, öffentliche Zusammenkünfte und geistige Versammlungen gehalten werden, aber im Tempel werden Lied und Gesang unbegleitet sein. Öffnet die Tore des Tempels allen Menschen!
Wenn diese Einrichtungen geschaffen sind, werden die Tore allen Nationen und Religionen offenstehen. Es wird keine Trennungslinie gezogen werden. Ihre Tore werden dem Menschengeschlecht geöffnet sein. Vorurteil gegen niemand, Liebe für alle. Auf diese Weise... wird Religion mit Wissenschaft in Einklang gebracht, und die Wissenschaft wird zur Dienerin der Religion werden. Beide werden ihre materiellen und geistigen Gaben auf die ganze Menschheit strömen lassen.
- ‘Abdu’l-Bahá
- VI
Man sollte sich vergegenwärtigen, daß der Zentralbau des Mashriqu’l-Adhkár,
um den sich künftig einmal soziale Nebengebäude zur Unterstützung der
Notleidenden und Armen, zum Schutze der Heimatlosen
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und Trost der Elenden sowie zur Erziehung der Unwissenden scharen
werden, als völlig unabhängig von diesen Baulichkeiten betrachtet werden muß,
nämlich als ein Haus, das ganz und gar der Anbetung Gottes
geweiht ist, im Einklang mit den wenigen, doch klar formulierten Prinzipien
Bahá’u’lláhs im Kitáb-i-Aqdas (Buch der Gesetze). Aus diesen allgemeinen
Worten sollte nun nicht geschlossen werden, daß das Innere
des Zentralbaues selbst in einen Schmelztiegel religiöser Anbetungsformen
verwandelt werden soll, die mit den seitherigen Gepflogenheiten der
Kirchen, Moscheen und Synagogen sowie anderer Gotteshäuser verknüpft
sind. Seine verschiedenen Zugänge, die alle auf die Halle im Zentrum
unter der Kuppel weisen, dienen nicht dem Einlaß sektiererischer
Anhänger von starren Glaubenssätzen und menschengeschaffenen
Bekenntnisformen, die gemäß ihrer Richtung bestrebt sind, ihre Riten zu
beachten, ihre Gebete zu lesen, ihre religiösen Gebräuche auszuführen
und die besonderen Symbole ihres Glaubens innerhalb getrennt begrenzter
Teile des Universalen Hauses der Anbetung zur Schau zu stellen.
Das Zentralgebäude der Anbetung Gottes, das im Mittelpunkt des Mashriqu’l-Adhkár stehen wird, möchte vielmehr in seinen geheiligten Mauern, in einer geistig geläuterten Atmosphäre, nur diejenigen versammeln, die für immer die Hüllen einer ausgeklügelten und tendenziösen Zeremonie aufgegeben haben und willige Anbeter des Einen wahren Gottes sind, Der Sich in diesem Zeitalter durch Bahá’u’lláh geoffenbart hat. Ihnen wird der Mashriqu’l-Adhkár Symbol für die grundlegende Wahrheit sein, die dem Bahá’í-Glauben innewohnt, daß religiöse Wahrheit nicht absolut, sondern relativ ist, und daß die göttliche Offenbarung keine abgeschlossene, sondern eine fortschreitende ist. Sie werden davon überzeugt sein, daß ein alliebender und allgegenwärtiger Vater, der in der Vergangenheit zu bestimmten Zeitabschnitten der menschlichen Entwicklung Seine Propheten als die Träger Seiner Botschaft und die Manifestationen Seines Lichtes für die Menschheit aussandte, in dieser kritischen Kulturepoche Seinen Kindern nicht die Führung versagen kann, die sie in dieser dunklen Stunde dringend benötigen, die weder das Leuchten der Wissenschaft noch Intellekt und Weisheit des Menschen erfolgreich erhellen können. In Bahá’u’lláh die Quelle des göttlichen Lichts erkennend, fühlen sie sich mit Macht bewogen, den Schutz Seines Hauses zu suchen und sich darin zu versammeln, wo sie ungehindert durch Zeremonien und Bekenntnisse dem einen wahren Gott huldigen, dem Wesen und Zentrum ewiger Wahrheit, und die Namen Seiner Boten und Propheten erhöhen und preisen, die seit Urgedenken bis heute unter wechselnden Bedingungen und in verschiedenem Maße das Licht göttlicher Führung einer finsteren und irrenden Welt widerspiegeln.
- Shoghi Effendi
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Quellenhinweise: I „Das Haus der Andacht (Mashriqu’l-Adhkár), Idee und Aufgabe, Frankfurt 1958, S. 2; II — IV „Bahá’í World Faith, Selected Writings of Bahá’u’lláh and ’Abdu’l-Bahá“, Wilmette/Ill., USA, 1943, S. 415 ff.; V Dr. J. E. Esslemont, „Bahá’u’lláh und das neue Zeitalter“, 3. Aufl. 1948, 11. Kap., S. 185; VI aus „The Bahá’í World“, Band XII, Wilmette/Ill., USA, 1956, zitiert in „Das Haus der Andacht...“, S. 5.
WORTE VON BAHÁ’U’LLÁH[Bearbeiten]
Textinschriften über den neun Eingängen des Bahá’í-Tempels in Wilmette, Illinois, USA
„Diese Erde ist nur eine Heimat und die Menschheit ihre Bürger.”
„Das Kostbarste von allem ist vor Mir die Gerechtigkeit; wende dich nicht ab von ihr, wenn dich nach Mir verlangt.”
„Meine Liebe ist Meine Feste; wer sie betritt, ist sicher und bewahrt.”
„Äußere dich nicht über die Sünden anderer, solange du selbst ein Sünder bist.”
„Dein Herz ist Meine Wohnstätte; heilige sie für Mein Kommen.”
„Ich habe den Tod zu einem Freudenboten für dich gemacht; warum grämst du dich?”
„Erwähne Mich auf Meiner Erde, damit ich in Meinem Himmel deiner gedenke.”
„O ihr Reichen auf Erden! Die Armen unter euch sind Meine Anvertrauten; hütet meine Anvertrauten.”
„Die Quelle aller Gelehrsamkeit ist die Erkenntnis Gottes, gepriesen sei Seine Herrlichkeit!”
Der Zauber des Tempels[Bearbeiten]
Aus der Baugeschichte des amerikanischen Hauses der Andacht
Wer dem Westufer des Michigansees entlang auf der breiten Einfallstraße
nach Chikago fährt, dessen Blick wird unweit der kleinen Stadt
Wilmette gefesselt von einem hochaufragenden, fremdartigen Kuppelbau.
Weit in das Land und über den See leuchtet sein heller Quarzstein.
Tausende Ornamente verzieren die neun Streben, die sich im Zenit der
Kuppel vereinigen. Beim Näherkommen sieht man die drei Stufen des
Bauwerks: das breit ausladende Erdgeschoß mit neun Seiten, an den
Kanten durch neun hohe Pfeiler begrenzt, darüber, von einer Terrasse
umgeben, der gegen das Erdgeschoß versetzte Mittelbau, dessen Seiten
wiederum durch Säulen getrennt sind, und hinter einem zweiten Balkon,
von neun Streben und zahlreichen Doppelsäulen getragen, die Kuppel.
Hat der Besucher auf einem geräumigen Parkplatz seinen Wagen abgestellt, betritt er einen der neun von Blumenbeeten, Sträuchern und kleinen Teichen umgrenzten Kiespfade, die ihn über eine Treppe mit 18 Stufen zu einem der neun Eingangsportale führen. Fast überirdisch verklärt mutet den Eintretenden die Stimmung an, die ihn im Innern dieses Tempels umgibt. Durch ein gläsernes Vestibül gelangt er in die große Halle unter dem Dom. Bequeme Klappsessel laden zum Verweilen ein. Sein Blick geht nach oben und folgt dem Linienflug der Ornamentik, die sich auf farbigem Hintergrund zu den Galerien und höher, vom Sonnenlicht durchflutet, bis in die Kuppel hinaufzieht, in deren Zentrum golden der „Größte Name“ glänzt. Der Zauber dieses Tempels umfängt den Schauenden; er fühlt, daß dies kein Bauwerk ist, das den Menschen und seine Errungenschaften in den Himmel heben soll, keine neue Kirche neben den vielen alten, sondern ein geistiger Mittelpunkt, der inmitten unserer Unrast den Geist eines neuen Zeitalters widerspiegelt. ...
- Ein Traum wird wahr
Die Geschichte des amerikanischen Muttertempels der Bahá’í hat einer
der technischen Chefberater in einem Buch aufgezeichnet, dem die
folgenden Einzelheiten teilweise entnommen sind*). Schon 1903,
kaum zehn Jahre, nachdem der Bahá’í-Glaube in den USA Fuß gefaßt hatte, bat
die kleine amerikanische Bahá’í-Gemeinde ‘Abdu’l-Bahá um die Erlaubnis,
gleich den Gläubigen von ‘Ishqábád (Turkestan) im Gebiet von Chikago,
im Herzen des nordamerikanischen Kontinents, einen Mashriqu’l-Adhkár
errichten zu dürfen. ‘Abdu’l-Bahá stimmte dem Plan begeistert zu. Jahre
vergingen mit der Aufbringung der ersten Gelder und der Suche nach
einem geeigneten Bauplatz, bis man endlich 1907 das Richtige fand:
Südlich von Wilmette stieg das Ufer des Michigansees zu einer leichten
[Seite 67]
Kuppe an, ein ideales Gelände für den Bau eines Tempels. Einmütig
entschieden sich die Delegierten der amerikanischen Bahá’í-Gemeinden
für diesen Platz, mit dem nebenbei eine Geschichte von geistiger
Vorbedeutung verwoben war; hatte doch hier gegen Ende des 18. Jahrhunderts
der französische Trapper Ouilmette ein Indianermädchen geheiratet und,
als er in geringer Entfernung die nach ihm benannte Siedlung begründete,
viel zur friedlichen Erschließung der Gegend beigetragen.
Aus allen Teilen der Welt strömten nun die Mittel zusammen; schon 1908 wurde der Kern des Tempelgeländes erworben und unter zahlreichen glücklichen Begleitumständen durch Zukäufe abgerundet. 1909 wurde auf Anweisung ‘Abdu’l-Bahás von 39 Delegierten aus allen Gemeinden der USA die „Bahá’í-Tempelvereinigung“ gewählt und als religiöse Körperschaft eingetragen, der erste nationale Rat in der Bahá’í-Welt.
- ‘Abdu’l-Bahá legt den Grundstein
Der 1. Mai 1912 war ein kalter, windiger Tag. Unter einem großen Rundzelt hatten sich die Freunde auf dem Tempelgelände um ‘Abdu’l-Bahá geschart.
„In Ost und West,“ sagte Er, „werden viele tausend Häuser der Andacht für alle gläubigen Menschen erstehen, aber dieses hier, das erste in der westlichen Welt, ist von großer Bedeutung .... Es ist die geistige Grundlage, die wichtigste aller Grundlagen. Auf dieser geistigen Grundlage werden der Menschenwelt Fortschritte und neue Entwicklungsmöglichkeiten jeglicher Art erwachsen.“
Nachdem Er Seine Ansprache beendet hatte, schritt ‘Abdu’l-Bahá hinaus. Vor dem Zelt blieb Er stehen und schaute in die Weite; die Freunde scharten sich um Ihn. Plötzlich ging Er durch die Menge hindurch den Weg zur Straße hinunter. Verwundert sahen die Freunde, wie dort eine kleine alte Frau geschäftig einen Handwagen den Hügel heraufzog. ‘Abdu’l-Bahá geleitete sie zu dem Platz, wo Er gewartet hatte, und hob einen großen Baustein aus dem Wägelchen. Dann ließ Er Sich Pickel und Schaufel geben. Ein Angehöriger jeder Rasse und Nation unter den Anwesenden durfte beim Ausheben der Grube mithelfen. Schließlich setzte ‘Abdu’l-Bahá den Grundstein ein und sagte scherzend: „Der Tempel ist schon fertig.“
Noch Jahre später pflegte die alte Dame aus Chikago in der Versammlungshalle
im Unterbau des Tempels vor dem Stein zu stehen und den Besuchern zu
berichten, wie er hierher kam. Sie hatte erfahren, daß
‘Abdu’l-Bahá das Tempelgelände besuche, und dachte sich, daß Er einen
Stein brauche, um den Bauplatz zu bestimmen. Bei einem Neubau
in der Nähe ihrer Wohnung sah sie eine Anzahl Steine liegen; sie fragte
den Bauführer, ob sie nicht einen davon haben könnte. „Aber bitte,
bedienen Sie sich,“ war die Antwort, „die hier sind übrig.“ Gegen den
Protest der Schaffner verlud sie ihren Stein in die Straßenbahn und
brachte ihn nach verschiedenen Zwischenfällen mit einiger Verspätung auf
das Tempelgelände. Groß war ihre Freude, als „der Stein, den die Bauleute
verworfen haben, zum Eckstein geworden“ war (Psalm 118,22).
[Seite 68]
- Der Plan und sein geistiges Werkzeug
Der erste Weltkrieg verzögerte die zügige Weiterverfolgung des Bauvorhabens. Erst im April 1920 konnte die 12. Nationaltagung der amerikanischen Bahá’í in New York über den Ideenwettbewerb befinden, in welchem sieben Bahá’í-Architekten Entwürfe für den Mashriqu’l-Adhkár unterbreiteten. Drei von ihnen waren anwesend: Sutherland Maxwell, Charles Mason Remey und Louis Bourgeois. Dem Modell des letzteren wurde die größte Anerkennung und Beachtung geschenkt. Begeistert erklärte er, wie ihm nach Jahren pausenloser, unablässiger Bemühungen plötzlich der erleuchtende Einfall kam. Trotz seiner begrenzten Mittel und Möglichkeiten ruhte er nicht, bis er in jahrelanger Arbeit seinen Traum in einem Gipsmodell verwirklicht hatte. „Die Bahá’í-Religion ist eine Synthese der geistigen Wesenszüge aller Religionen und Philosophien. Wenn man die Persönlichkeiten ihrer Begründer und Führer unberücksichtigt läßt, haben alle Glaubensbekenntnisse dieselbe göttliche Grundlage .... Die Lehren Christi, Buddhas und Muhammads sind im Wesen die gleichen. Wie mit den Religionen, so steht es auch mit der Architektur. Wenn man die verschiedenen architektonischen Systeme auf ihre ideelle Grundlage zurückführt und alle extremen Formen beiseite läßt, sieht man, wie sie so vollkommen miteinander harmonieren, daß sie ohne Mißklang verschmolzen werden können. Das ist, was ich bei dem Tempel des Lichts versuchte: alle Baustile zu einem Sinnbild der Bahá’í-Religion zu vereinigen.“
Es bleibt späteren Künstlergenerationen vorbehalten zu entscheiden, ob sie Bourgeois’ synkretistischer Auffassung folgen können. Sicher ist, daß er auf dieser geistigen Grundlage etwas Großes, Neues geschaffen hat, das in der Welt der Baukunst viel beachtet und bewundert wird.
’Abdu’l-Bahá, Dem Bourgeois seinen Entwurf im Januar 1921 auf einer Pilgerfahrt ins Heilige Land vorlegte, bat, das Modell so zu verkleinern, daß die Baukosten 1 Million US-Dollar nicht übersteigen. Bourgeois schuf ein neues Modell, das einen Durchmesser von 50 anstatt 150 Metern vorsah. Wie sehr seine Konstruktion mit althergebrachten Vorstellungen brach, erwies sich in der Kritik, die Bautechniker insbesondere dagegen vorbrachten, daß der erste Stock und der Oberbau des Tempels gegen das Erdgeschoß versetzt sind, was dem anerkannten Architektengrundsatz widerspricht, daß die tragenden Elemente eines Baues auf den Fundamenten fußen müssen. Aber obwohl dies erhebliche Mehrkosten verursachte, hätte doch jede Änderung der Ausdruckskraft des Tempels Abbruch getan.
- Fundament und Rohbau
Über die technische Ausführung des Projekts war sich damals selbst
der Architekt nicht im klaren. Die Neuartigkeit der Konstruktion verlangte
nach neuen Mitteln und Wegen. Ein Ausschuß von Bautechnikern
wurde 1920 eingesetzt; er hatte während der ganzen Bauzeit zusammen
mit dem Architekten immer neue Probleme zu überwinden.
[Seite 69]
Zunächst war ein solider Unterbau zu schaffen. Probebohrungen stießen in dem Schwemmland des Tempelgeländes erst in 40 Meter Tiefe auf Felsen. Eine Pfahlkonstruktion wäre billiger gewesen, aber der Architekt bestand darauf, daß neun große Beton-Senkkästen bis auf den Felsgrund hinabgelassen wurden. In 30 Meter Tiefe behinderten starke unterirdische Wasserströmungen die Grabarbeiten, aber durch neuartige Methoden konnte auch diese Schwierigkeit überwunden werden.
In Wilmette hatten sich die Gemeindebehörden dem Bau der „unerwünschten neuen Kultstätte“ zunächst in den Weg gestellt und die Baugenehmigung verweigert; so kam es, daß erst am 21. März 1921 mit dem Ausschachten begonnen werden konnte. 1922 war der Unterbau mit einer großen Versammlungshalle fertig, nach außen hin ein häßlicher Betonklotz, der wie ein Wasserreservoir aussah.
Neun Jahre vergingen, bis der nächste Schritt unternommen wurde, die Errichtung des Rohbaues. Der Bauausschuß war in der Zwischenzeit nicht müßig gewesen; er hatte alle nur denkbaren Bauverfahren untersucht und sich schließlich auf einen betonverkleideten Stahlskelettbau geeinigt. Der Architekt Louis Bourgeois erlebte den zweiten Bauabschnitt nicht mehr, aber er hinterließ die vollständigen Zeichnungen.
Es war eine buntgemischte Schar von Bauleuten, Angehörige der verschiedensten Rassen und Religionen, die Anfang September 1930 die Arbeit in Angriff nahm. Ein eindrucksvoller Geist der Zusammenarbeit herrschte vor: Jeder Arbeiter hatte vor Baubeginn ein Bild des fertigen Baues mitbekommen, und bald sprachen sie allgemein von „ihrem Tempel“. Die neunfache Wiederholung aller Einzelteile machte sich kostensparend bemerkbar. 1930 war der Bau bis zur Kuppel aufgeführt, die dann in zwei voneinander unabhängigen Rahmensystemen, einem äußeren und einem inneren, aus etwa 10 000 Stahlteilen zusammengefügt wurde. Im Januar 1931 geriet einer der Öfen zur Trocknung der Betonverkleidung in Brand; das Feuer fand in der hölzernen Verschalung reichlich Nahrung, richtete aber keine strukturellen Schäden an. So konnte trotzdem am 1. Mai 1931 der fertige zweite Bauabschnitt abgenommen werden. Da er nach seiner Nachkalkulation 30 000 Dollar eingespart hatte, richtete der Unternehmer, vom Geist des Tempels ergriffen, über den Auftrag hinaus noch einen Teil der Heizanlage und der Nebenräume ein.
- Die Ornamentik
Ein grauer Kuppelbau erhob sich nun am Ortseingang von Wilmette,
verglast und gegen Wind und Wetter geschützt, aber ein Tempel des
Lichts war er noch nicht geworden. Noch war über die äußere Verkleidung
nicht die Entscheidung gefallen: Terracotta, Gußsteine, verschiedene
Gußmetalle boten sich als Materialien an. Aber in neunzehnjähriger
Zusammenarbeit mit der Firma John J. Earley, Washington, beschritt
man einen völlig neuartigen Weg. In handwerklicher Kleinarbeit
wurden Gipsformen gefertigt, in denen aus weißem Zement und zwei
sorgfältig ausgewählten, in Süd-Carolina und Südwest-Virginia
gebrochenen und gemahlenen hellen Quarzsteinen die dicken Platten
für die äußere Verzierung des Tempels gegossen wurden. Nach zwölf Stunden
[Seite 70]
wurden die Formen umgestülpt, aber ehe die Platten zur Montage nach
Wilmette verschickt wurden, blieben sie an Ort und Stelle noch zwei
Wochen der Witterung ausgesetzt. So wurde mit 387 Einzelteilen im
Gewicht von 550 Tonnen zunächst die Kuppel verkleidet, bis sie im
Frühjahr 1934 in ihrem bleibenden Glanz erstrahlte. Aber acht weitere
Jahre vergingen, ehe 1943 die ganze Außenornamentik angebracht war.
- 1953: Die Landschaft um den Tempel ist gestaltet
1949 begann der Innenausbau, bei dem ebenfalls dem dauerhaften Gußzement
vor Stukkatur der Vorzug gegeben wurde. Wie bei den Außenarbeiten, wurden
die etwa 1000 Einzelteile der durchbrochenen Ornamentik, die sich im
unteren Teil des Domes von pastellfarbenem Hintergrund abhebt und in
der Kuppel vom Sonnenlicht durchflutet wird, in
der Werkstatt gegossen, an Ort und Stelle verbracht und eingesetzt.
Die Teilnehmer der Nationaltagung von 1951 traten in den fertigen Tempelbau
ein. Hell erklang der Chorgesang zum Preise Dessen, Dem dieses Haus geweiht war.
[Seite 71]
- Die Ornamentik des Tempels kommt hier augenfällig zur Geltung
Bis 1953 hatte auch die Landschaft um den Tempel ihre erste Gestaltung
erfahren. Blumenbeete, Bäume und Strauchwerk säumen die neun
Wege, die zu seinen Toren führen. Ein Querpfad, der sich im Kreis um
den Zentralbau zieht, gewährt immer neue Ausblicke.
Als erstes der Nebengebäude ist inzwischen ein kleines Altersheim entstanden, in dem verdiente Bahá’í-Pioniere eine Heimstatt für ihren Lebensabend finden. Weitere Bauten sollen folgen.
- Der stumme Lehrer
Das Haus der Andacht ist heute eine der Sehenswürdigkeiten des amerikanischen Mittelwestens. Rund 200 000 Menschen aus aller Herren Ländern, Angehörige der verschiedensten Rassen und Religionen, haben es im Jahr 1959 besucht. Allein im Juli letzten Jahres waren es 17 000 Besucher, darunter der amerikanische Landwirtschaftsminister mit Familie und zahlreiche andere hochgestellte Persönlichkeiten des In- und Auslandes. An sonnigen Wochenenden steigt die Gästezahl bis auf 2000 täglich neben denen, die an der sonntäglichen Andachtsstunde teilnehmen. In diesen Andachten werden, getreu den Vorschriften Bahá’u’lláhs und ‘Abdu’l-Bahás, nur geoffenbarte Gebete und heilige Texte rezitiert. Für Vorträge und andere Veranstaltungen steht die große Versammlungshalle im Untergeschoß des Tempels zur Verfügung.
Schon heute, ehe der heilige Bezirk durch den Bau seiner kulturellen und sozialen Institutionen abgerundet ist, erfüllt der „Muttertempel des Westens“ seine Aufgabe, ein geistiger Sammelpunkt derer zu sein, denen die Sehnsucht nach der Vollkommenheit des neuen Zeitalters ins Herz geschrieben ist.
- Peter Mühlschlegel
*) Allen Boyer Mc Daniel, „The Spell of the Temple“, by Vantage Press,
Inc., New York 1953; vgl. auch Shoghi Effendi, „Gott geht vorüber“, Oxford/Frankfurt
1954, S. 297 ff.
Religion und Völkerrecht[Bearbeiten]
Bahá’í-Vertreter sprach beim zehnten Grotius-Tag in München
Im Rathaus in München fand am 28. August 1960 der zehnte Grotius-Tag statt. Gastgeber war die Internationale Grotius-Stiftung e. V., die sich vornehmlich um die Verbreitung des Völkerrechts bemüht. Hugo Grotius, der von 1583 bis 1645 in den Niederlanden lebte, gilt als der Begründer des modernen Staats- und Völkerrechts. Er war einer der bedeutendsten Juristen und Theologen seiner Zeit.
- *
Anläßlich der Münchner Tagung erhielten vier Persönlichkeiten, die sich in den letzten Jahren um die Verwirklichung des Gedankens des Völkerrechts besonders verdient gemacht hatten, die Grotius-Medaille verliehen: Professor Dr. Giorgio del Vecchio, Rom; Professor Dr. Lucio M. Moreno Quintana, Richter am Internationalen Schiedsgerichtshof in Den Haag; Professor Dr. Gustavo Cordeiro Ramos, Lissabon; Professor Dr. h. c. Wilhelm Röpke, Genf.
Die Tagung in München befaßte sich mit dem Thema: „Religion und Völkerrecht“. Es wurde von zwölf Rednern behandelt. So wies z. B. der Heidelberger Völkerrechtler Professor Dr. Dr. Fr. W. v. Rauchhaupt den religiösen Ursprung des Rechts in den Hochreligionen nach; der Innsbrucker Senator Dr. Karl Baer führte aus, wie die buddhistische Religion sich ständig um die Verwirklichung des Völkerrechts bemühe, und Professor Dr. Dr. Hans Aufhauser, München, gab einen geschichtlichen Abriß über die Verdienste der Religionen um die Erziehung der Menschheit. Er erwähnte dabei auch die „jüngste aller Weltreligionen, die Bahá’í-Religion“, die von „ihrem geistigen Mittelpunkt Haifa aus glühende Friedensliebe verkünde“. Auch der Vorsitzende der Tagung, der Generalsekretär der Grotius-Stiftung, Dr. Dr. Dr. Hans Keller, kam in seinen Ausführungen auf den Bahá’í-Glauben als der „jüngsten Religion“ zu sprechen. In dieser Religion sei die Forderung nach einem weltumspannenden Völkerrecht bereits in den Heiligen Schriften ausdrücklich verankert.
Erstmals bei einer derartigen Veranstaltung nahm auch ein Vertreter der Bahá’í-Religion das Wort. Huschmand Sabet sprach über die Bahá’í-Religion und das Völkerrecht. Seinen Vortrag, der bei den Delegierten in München starkes Echo fand, veröffentlichen wir nachfolgend.
- D. Red.
- Die Einheit Gottes als Grundlage modernen Völkerrechts
Wir stehen der Offenbarung von Bahá’u’lláh heute zeitlich noch zu
nahe, um die Fragen des Völkerrechts im Lichte Seiner Sendung ganz
zu überblicken. Es ist bis jetzt nicht möglich gewesen, alle Seine Schriften
[Seite 73]
unter diesem Gesichtspunkt auszuwerten — einmal, weil es zunächst
galt, die Bahá’í-Religion zu verbreiten und die Gläubigen innerlich zu
festigen, und zum andern, weil außer den rund 100 Büchern von
Bahá’u’lláh einige tausend Briefe von Ihm vorhanden sind, die im
Zusammenhang mit den hier in Betracht kommenden Fragen durchgesehen
werden müssen.
Die Existenz und die Einheit Gottes sind die Grundlage des Völkerrechts in der Bahá’í-Religion. Dabei ist die Einheit Gottes für die Bahá’í gleichbedeutend mit der Einheit der Gottgesandten, der Propheten. Sie alle haben einen Ursprung und wirken im Rahmen eines göttlichen Planes für die Erziehung und Erlösung der Völker. Dies begründet die grundsätzliche geistige Einheit der Völker Die Einheit Gottes muß sich heute in der geistigen und administrativen Einheit der Menschheit spiegeln. In diesem Sinne spricht Bahá’u’lláh stets von der Menschheit, nicht von Nationen. „Es rühme sich kein Mensch dessen, daß er sein Land liebt, sondern eher dessen, daß er die ganze Menschheit liebt“ ... „Durch die Kraft, die durch diese erhabenen Worte frei wurde, hat Er den Vögeln der Menschenherzen frischen Schwung und neue Richtung verliehen und jede Spur von Beschränkung und Begrenzung aus Gottes Heiligem Buche getilgt.“
Zwei Punkte sind für unsere Betrachtungen von Wichtigkeit: 1. Nach Auffassung der Bahá’í ist die Hauptaufgabe der prophetischen Offenbarung die geistige Gesetzgebung. 2. Völkerrecht und Weltfrieden müssen auf Prinzipien beruhen, in denen alle Gemeinschaften und Religionen ihre höchsten Wünsche erfüllt finden. In diesem Sinne schafft Bahá’u’lláh die denkbar breiteste Grundlage. Wesentlich sind Seine Gebote für die Veredelung der Menschen, so, wie wir sie schon aus der Bergpredigt Jesu Christi kennen. Bahá’u’lláh vergleicht einmal den Menschen mit einem Bergwerk, aus dem der göttliche Offenbarer kraft Seines schöpferischen Wortes die edelsten Diamanten und Edelsteine hervorbringt.
Darüber hinaus muß bei der Verwirklichung des Weltfriedens nicht nur die räumliche Einheit, sondern auch die Einheit der Zeiten berücksichtigt werden. Die sogenannten „zivilisierten Völker“ sollen mit „Völkern unter Feudalherrschaft“, mit den „Naturvölkern“, unter dem einen Zelt der Einheit versammelt werden — das bedeutet ein Zusammenleben von Menschen der verschiedensten Entwicklungsstufen. So mögen manche Gebote von Bahá’u’lláh, wie z. B. das tägliche Gebet, gewisse jährliche Feiern oder ein neuer Kalender für westliche Begriffe seltsam anmuten; sie tragen aber zur Lösung des zentralen Problems bei: ein gemeinsames Weltgewissen zu schaffen, nicht nur ein Gewissen für die weiße Rasse, die „zivilisierten Völker“,
In bezug auf die geistige Gesetzgebung durch die Propheten sagt
Bahá’u’lláh: „Wisse wahrlich, daß das Wesen der Gerechtigkeit, wie
auch ihre Quelle, in den Gesetzen verkörpert ist, die von Ihm verordnet
wurden, Der die Offenbarung von Gott Selbst unter den Menschen ist...
Er verkörpert, wahrlich, für die ganze Schöpfung die höchste, die
unfehlbare Stufe der Gerechtigkeit. Würde Sein Gesetz so sein, daß es die
Herzen aller, die im Himmel und auf Erden sind, mit Schrecken erfüllte,
[Seite 74]
so wäre dieses Gesetz dennoch nichts anderes als die offenbare Gerechtigkeit.
Die Furcht und Erschütterung, welche die Offenbarung dieses Gesetzes in den
Herzen der Menschen hervorruft, sollte tatsächlich mit dem
Schreien des Säuglings verglichen werden, der von seiner Mutter Milch
entwöhnt wird... Würden die Menschen die treibende Absicht von
Gottes Offenbarung entdecken, würden sie sicherlich ihre Furcht beiseite
legen und mit dankerfülltem Herzen in außerordentlicher Freude frohlocken.“
Für die Auffassung der Bahá’í vom Völkerrecht sind neben den göttlichen Gesetzen Bahá’u’lláhs Dessen geistige und weltliche Prinzipien richtungweisend. Der einzelne wird aufgefordert, selbständig nach Wahrheit zu suchen, mit eigenen Augen zu sehen, mit eigenen Ohren zu hören. Vorurteile jeglicher Art (seien sie religiöser, nationaler, rassischer oder politischer Natur) müssen abgelegt werden, bestmögliche sittliche und geistige Erziehung für beide Geschlechter wird gefordert. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau betont Bahá’u’lláh ausdrücklich, und Er hebt die besondere Aufgabe der Frau bei der Verwirklichung eines dauerhaften Friedens hervor. Das „Hand-in-Hand-Gehen“ von Religion und Wissenschaft wird damit begründet, daß es nur eine Wahrheit gibt. Weltsprache und -schrift werden von Bahá’u’lláh gefordert; sie sollen in allen Ländern neben der Muttersprache gelehrt werden. Die soziale Frage kann nur gelöst werden, wenn Reichtum als soziale Verpflichtung verstanden wird und sich daraus eine freiwillige Begrenzung des Reichtums und damit zwangsläufig auch eine Linderung der Armut ergibt. Vom Völkerrecht in einer Welt zu sprechen, in der mehr als die Hälfte ihrer Bewohner buchstäblich hungert, heißt eine große Verantwortung tragen.
In den Prinzipien von Bahá’u’lláh ist verankert, daß alle Religionen eine gemeinsame Grundlage haben. Das Ziel ist ein dauerhafter, universaler Friede. Die Bahá’í sehen dies als gottgewollt an und betrachten es als Bestandteil der Bahá’í-Religion.
Sicher nennt die moderne westliche Kultur viele dieser Prinzipien ihr eigen. Aber die neueste traurige Geschichte Europas läßt uns die Frage stellen: „Kann der Weltfriede nur nach wissenschaftlichen, weltlichen Maßstäben, ohne religiösen Impuls und Enthusiasmus, verwirklicht werden?“
Vor 90 Jahren hat Bahá’u’lláh, auf Seinen Gesetzen und Prinzipien aufbauend, eine neue Weltordnung begründet. „Das Gleichgewicht der Welt“, so erklärt Er, „ist durch den schwingenden Einfluß dieser größten, dieser neuen Weltordnung ins Wanken geraten. Das geordnete Leben der Menschheit ist durch die Wirkung dieses einzigartigen, dieses wunderbaren Systems, dessengleichen sterbliche Augen nie bezeugt haben, umgewälzt worden.“
Dieser Weltordnungsplan sieht u. a. örtliche und nationale „Häuser
der Gerechtigkeit“ vor, welche für die jeweiligen Angelegenheiten
zuständig sind. Gekrönt werden diese Institutionen durch das „Universale
Haus der Gerechtigkeit“, welches die gesetzgeberischen Belange der ganzen
[Seite 75]
Menschheit regelt und die letzte Berufungsinstanz darstellt. Die
Wahlen, die der Bildung dieser Gremien vorangehen, sind demokratisch;
aber Wähler und Gewählte werden als Instrumente Gottes betrachtet,
d. h., die Gewählten sind, anders als bei den bekannten demokratischen
Wahlsystemen, den Wählern gegenüber nicht verantwortlich. Ihre
Autorität während des einen Jahres ihres Amtes wird als von Gott
kommend angesehen. Ihr Wirken ist ehrenamtlich.
Eine weitere Institution, die Bahá’u’lláh in Seiner Weltordnung vorgesehen hat, ist der Weltschiedsgerichtshof. Er hat die Aufgabe, eventuelle Differenzen innerhalb des Weltgemeinwesens zu schlichten. „Die Zeit muß kommen,“ erklärt Bahá’u’lláh, „da die gebieterische Notwendigkeit zur Abhaltung einer ausgedehnten, einer allumfassenden Versammlung der Menschen universal erkannt werden wird... . Sollte ein Land die Waffen gegen ein anderes ergreifen, so müßten sich alle vereint erheben und es daran hindern.“
Natürlich kann die Einheit der Menschheit nur stufenweise verwirklicht werden. Zuerst wird der sogenannte „Geringere Friede“ erreicht werden, der auf internationalen Verträgen beruht, den Krieg ächtet und als Mittel zum Austragen von Streitigkeiten abschafft. Im Laufe der Jahre, wenn die Völker die Segnungen des Friedens verspüren, wird aus dem „Geringeren Frieden“ der „Größte Friede“, der religiös wahre Friede, erwachsen, der im Friedenswunsch der Völker und in der Demut vor Gottes Gebot begründet sein wird. (Vgl. „Bahá’í-Briefe“ Nr. 2, Oktober 1960: „Was ist neu in der Bahá’í-Religion?“.)
‘Abdu’l-Bahá, der Sohn Bahá’u’lláhs und Mittelpunkt Seines Bündnisses, vergleicht die Stufen auf dem Weg zur Einheit mit Strahlen, die von der Sonne der Offenbarung ausgehen: „Der erste Strahl ist die Einheit im politischen Bereich, dessen erstes Schimmern bereits wahrgenommen werden kann. Der zweite Strahl ist die Einheit der Denkart in Weltfragen. Der dritte Strahl ist die Einheit in der Freiheit, die gewiß kommen wird. Der vierte Strahl ist die Einheit in der Religion, die durch Gottes Allmacht in aller Herrlichkeit offenbar werden wird. Der fünfte Strahl ist die Einheit der Völker. Der sechste Strahl ist die Einheit der Rassen. Der siebte Strahl ist die Einheit der Sprache. Dieses alles wird unvermeidlich geschehen.“
Wenn wir die Gebote Bahá’u’lláhs sowie Seine Prinzipien betrachten
und die Weltordnung studieren, die Seinen Namen trägt, sollten wir uns
klar werden, daß diese nicht die Ergebnisse theoretischer Erwägungen
sind, sondern das Werk einer Persönlichkeit darstellen, die keine Schule
besuchte und nicht weniger als 40 Jahre ihres kostbaren Lebens im
Gefängnis und in der Verbannung verbringen mußte. Er hat den Anspruch
erhoben, die Offenbarung Gottes für dieses Zeitalter zu sein, und über
20.000 Märtyrer haben auf Seinem Pfad ihr Leben geopfert. In 250 Ländern
versuchen heute die Bahá’í, die Weltordnung Bahá’u’lláhs zu verwirklichen.
Über 2000 örtliche „Häuser der Gerechtigkeit“, „Geistige Räte“ genannt,
regeln bereits die Angelegenheiten der Gläubigen. Im Jahr 1963 werden
die Bahá’í das „Universale Haus der Gerechtigkeit“ gründen.
[Seite 76]
Am Ende dieser Betrachtungen mögen Worte von Bahá’u’lláh stehen: „Er, Der euer Herr ist, Der Allerbarmer, hegt in Seinem Herzen den Wunsch, die ganze menschliche Rasse als eine Seele und einen Körper zu sehen. Eilet, euren Anteil an Gottes Huld und Barmherzigkeit an diesem Tage zu gewinnen, der alle anderen erschaffenen Tage in den Schatten stellt.“
- Huschmand Sabet.
„Ich habe euch noch viel zu sagen ...“[Bearbeiten]
Die Lehre Christi im Lichte der Bahá’í-Religion
Wenn wir Bahá’í sagen, daß die Offenbarer Gottes wie die Glieder
einer Kette aufeinanderfolgen und jeder von ihnen etwas Neues für
die Bedürfnisse der Menschheit bringt, hören wir oft den Einwand:
„Es ist ja möglich, daß Bahá’u’lláh die religiösen Lehren Muhammads
vertieft hat, aber was kann es Tieferes geben als Christi Gebot: „Liebe
deinen Nächsten wie dich selbst“?
Um diesen Einwand zu beantworten, sollten wir drei Punkte erörtern:
- 1. Was hat Jesus eigentlich gesagt? Was ist das Wesen der Lehre Christi?
- 2. Was hat diese Lehre nach dem Tode Christi praktisch, „kulturhistorisch“
in der Welt zu Wege gebracht?
- 3. Wie ist die heutige Lage des Christentums als Religion und
Kulturträger, und auf welche Weise könnte man sie verbessern?
Um diesen Problemen auf den Grund zu gehen, müßten wir Bände schreiben. Es sei hier nur versucht, knapp und übersichtlich den Bahá’í-Standpunkt zu diesen Fragen darzustellen.
Zu 1: Die Bahá’í sind der Ansicht, daß die Evangelientexte, die wir heute besitzen, nicht buchstäblich die Worte Jesu wiedergeben. Die sicheren Ergebnisse der modernen neutestamentlichen Kritik werden von den Bahá’í — die auch in diesem Sinn ihrer Lehre von der Harmonie zwischen Wissenschaft und Religion treu sind — angenommen. Bekanntlich gibt es aber in der modernen geschichtlichen Kritik viele Lehrmeinungen über das Wesen des Christentums. Zusammenfassend und von der — meiner Meinung nach unhaltbaren — Lehre der sogenannten mythologischen Schule abgesehen, könnten wir die folgenden beiden Schulen erwähnen:
a) Die Liberalen, die, Harnack folgend, sagen, daß das Wesen des Christentums die zwei Punkte seien: Gott als Vater und eine neue Ethik, die Ethik der Liebe, die die Absicht mehr als das Gesetz betont und sich in dem berühmten Gebot: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst,“ ausdrückt.
b) die eschatologische Schule, zu der auch Dr. Albert
Schweitzer gehört, die das Wesen der Lehre Christi in einer zukunftweisenden,
asketisch-weltverneinenden Ethik sieht, in der Vorbereitung eines
künftigen Reiches Gottes auf Erden.
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- Das Wesen des Christentums
Jedenfalls könnten wir mit einer gewissen Sicherheit das Wesen des Christentums wie folgt zusammenfassen: eine neue, reinere, persönlichere Ethik, die sich von den Ketten der Abhängigkeit, von den äußerlichen Riten und den kanonischen Gesetzen des Judentums losmacht, zusammen mit einem starken asketisch-eschatologischen Element: Reinigt euch, verlasset alles, denn das Reich Gottes ist nah. Die spätere Theologie wird dieses individualistische Element der Ethik Christi noch mehr betonen: Wer glaubt: „Christus ist mein persönlicher Erlöser“, wird seine Seele retten.
Zu 2: Die Bahá’í glauben, daß alle Offenbarer wirkliche Manifestationen Gottes, alle von Gott gesandt, sind. Gott kann es also unmöglich zulassen, daß Seine Religion vor der Ankunft des neuen Propheten (in diesem Fall Muhammad) keine in sich vollkommene religiöse Kultur bewirkt. So haben wir als Bahá’í ein anderes Mittel zur Verfügung, um zu verstehen, was das Wesen des Christentums tatsächlich gewesen ist. Nach den Bahá’í-Lehren hat das Christentum als einzig wahre und autorisierte Gottesoffenbarung und gottgewollte Zivilisation mehr oder weniger sieben Jahrhunderte gedauert, d. h. bis auf Muhammad, dessen erste prophetische Erfahrung ungefähr im Jahre 610 n. Chr. stattfand. Aber Bahá’u’lláh hat auch gesagt, daß die verschiedenen religiösen Zyklen in sich einen Frühling, einen Sommer und einen Herbst aufweisen: Die Jahre vor dem Kommen Muhammads waren schon die Herbst- und Winterjahre des Christentums, seine Verfallsjahre. Also können wir vom Bahá’í-Gesichtspunkt her sagen, daß das Christentum seine religiös-kulturhistorische Mission in seinen ersten vier Jahrhunderten erfüllt hat. Aber gerade im vierten Jahrhundert, bald nach dem historischen Befreiungsedikt Konstantins (Mailänder Edikt, 313), haben die christlichen Theologen angefangen, die Dogmen vom göttlichen Wesen Christi, Marias als der Mutter Gottes usw. zu definieren, die von Muhammad als dem folgenden Offenbarer kategorisch abgelehnt wurden. So müssen wir zu der Schlußfolgerung kommen, daß das wahre Christentum das Christentum der ersten drei Jahrhunderte, das Christentum der Verfolgungen und der Märtyrer war. In diesem zyklisch-geschichtlichen Sinn ist das Wesen des Christentums eine heroisch-asketische, weltverneinende Reinigung der individuellen Herzen durch Blut und Feuer, eine ethisch vollkommene Vorbereitung einer neuen, von Christus nur angekündigten Weltkultur.
- „Ich sage euch die Wahrheit: Es ist besser für euch, wenn Ich von euch gehe, denn wenn Ich nicht von euch gehe, wird der Tröster nicht zu euch kommen. Wenn Ich aber hinweggehe, so will Ich Ihn zu euch senden. ....
- Ich habe euch noch viel zu sagen, aber ihr könnt es jetzt noch nicht tragen. Wenn aber Jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, so wird Er euch in die ganze Wahrheit leiten.... Er wird Mich verherrlichen, denn Er wird von dem Meinigen nehmen und es euch zeigen. Alles, was der Vater besitzt, ist Mein — darum sage Ich, daß Er von dem Meinigen nehmen und es euch zeigen wird.
- Nun aber habe Ich es euch gesagt, ehe es geschehen ist — damit ihr glaubt, wenn es geschieht!“ (Ev. Joh. 16: 7,12—15; 14: 29).
Die Beziehungen zwischen zwei aufeinander folgenden Offenbarungszyklen könnten nicht klarer dargestellt werden. Nur eine weitverbreitete kirchliche Überlieferung, für die „der Tröster“ ein unpersönlicher Heiliger Geist sein sollte, hat es verhindert, daß der zukunftweisende Charakter des christlichen Kulturzyklus erkannt wurde.
Als Beispiel für diesen Charakterzug des Christentums mag die Stellung Christi zu den Fragen der Ehe und des Reichtums dienen: Obwohl einige liberale Protestanten es abzustreiten: versuchten, steht zweifelsfrei fest, daß die alten Christen stark dazu neigten, das Zölibat im Gegensatz zum Ehestand als einen Zustand moralischer Reinheit zu betrachten. Einige Erklärungen Christi (z. B. Matth. XIX, 10 ff.), die ausdrücklichen Empfehlungen des Paulus (1. Kor. 7) und vieles in der ersten Geschichte des Christentums zeigen uns, daß das Mönchtum keine späte Erfindung der Priester, sondern eine gut fundierte christliche Praxis war.
Was den Reichtum betrifft, gibt es mehr als eine Episode in den Evangelien, die uns deutlich beweist, daß die Stellung des frühen Christentums zu Geld und Wohlstand durchaus negativ war. Nirgends ist in den Evangelien von einer besseren Verteilung des Wohlstands die Rede — man: nimmt sogar an, daß es immer Armut geben werde —, sondern nur von einem asketischen Auf-das-Geld-Verzichten, einem Alles-den-Armen-Geben.
- Das höchste Gebot...
Die Bahá’í sind durch die Lehre von der Relativität aller religiösen Wahrheit imstande, diese geschichtlichen Tatsachen hinzunehmen, ohne „aus dem Konzept zu kommen“. Beide Einstellungen waren für eine Übergangszeit der individuellen Läuterung und der geistigen Erwartung sehr nützlich; aber für die moderne Welt, die z. B. den Reichtum nicht verachten, sondern ihn gerechter, humaner und produktiver verteilen will, sind sie unannehmbar.
Nun zum höchsten Gebot Christi: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Geschichtlich sollte dieses Gebot auch als eine eschatologisch-reinigende Vorschrift betrachtet werden. Ausschließlich mit diesem Gebot kann man ja wohl eine hohe individuelle Moral schaffen, aber keine Gemeinschaftsorganisation aufbauen. Wir bleiben im Bereich der individuellen Ethik, und Christus ist für uns vor allem der gottgesandte Begründer aller möglichen künftigen individual-ethischen Richtungen.
Zu 3: Ist das, und nur das, für die moralischen, religiösen
und kulturhistorischen Bedürfnisse der modernen Welt genügend? Vergessen wir
nicht, daß die Probleme unserer Welt keine rein ethischen sind; die
ethische Frage wurde von Gott durch Christus schon gelöst. Es sind eher
Probleme einer moralischen Organisation. Es ist eine ungeheuere
Heuchelei zu sagen, daß die moderne Zivilisation eine christliche Zivilisation
sei. Die moderne westliche Zivilisation ist nur darin christlich,
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daß sie ohne die von Christus in die Welt gebrachte asketische
Reinigung des Herzens, ohne die vom alten Christentum erreichte Vertiefung der
ethischen Werte objektiv undenkbar wäre. Aber organisatorisch betrachtet kam
die moderne Zivilisation nach dem Verfall des Christentums im IV.—VIII. Jahrhundert,
und nachdem sie die neue weltorganisatorische, aber schon von christlichen ethischen
Werten durchdrungene islamische Offenbarung abgelehnt hatte, vorwiegend durch
menschlich-weltliche Geistesströmungen zustande; es ist auch wahr, daß
diese moderne Kultur ohne den befruchtenden Einfluß der islamischen
Renaissance des VIII.-X. Jahrhunderts, durch den die griechische Philosophie
und die experimentelle Wissenschaft der Moslem Europa erreichte,
nicht hätte zustande kommen können; aber praktisch blieben die Anfänge
der modernen westlichen Zivilisation rein menschlich,
ohne den Segen des Wortes Gottes, und was wir jetzt in der Welt sehen,
ist vielleicht eine Folge davon.
Die Welt als ethisches Wirkungsfeld
Die Bahá’í-Offenbarung, die die islamische Kultur in dem Sinne fortbildet, daß der Islam zu religiös-traditionell und zu konservativ wurde und dadurch zum Verfall verurteilt war, stellt für unsere moderne weltliche Zivilisation eine Richtigstellung in dem Sinne dar, daß wir Europäer seit dem VII. Jahrhundert den Islam nicht annahmen und dadurch das vorbereitende reinigende Element des Christentums, das seitdem nicht mehr zu einem weltkulturorganisatorischen Faktor werden konnte, entweder aufgaben oder rein menschlich und falsch deuteten.
Die Bahá’í-Religion ergänzt die Lehren Christi in folgender Weise:
a) Sie verlegt das Schwergewicht der religiösen Ethik vom Individuellen ins Soziale. Die Christen sagen: „Christus ist mein persönlicher Erlöser, und ich kann durch meinen Glauben an Ihn meine Seele retten.“ Die Bahá’í sagen: „Bahá’u’lláh hat uns die Mittel gegeben, zur Erlösung der Welt beizutragen.“ Wenn Bahá’u’lláh sagt: „Gesegnet ist, wer seinen Bruder sich selbst vorzieht“ so ist das kein Wortspiel, denn dieses Gebot wird in den Bahá’í-Lehren von praktischen „Gesetzen“ für eine bessere Weltordnung begleitet, Bahá’u’lláh sagt auch: „Man sagte (im Islam): Liebet euer Vaterland! Aber ich sage euch: Liebet eher die ganze Welt“. Die Welt wird im Bahá’í-Glauben zum ethischen Wirkungsfeld, anstelle bloßer Individualethik. Das konnte Jesus zu seiner Zeit, in der „die Welt“ nicht mehr als „niedere materielle Interessen“ bedeutete, nicht sagen.
b) Da die Bahá’í-Lehre die Welt als ethische Wirklichkeit umwertet, heiligt sie auch das Weltliche. Ehe, Reichtum, Kunst, Arbeit, Staats- und Weltordnung sind positive religiöse Werte im Bahá’í-Glauben.
c) Diese Gewichtsverlagerung drückt sich auch darin aus, daß das
Organisatorische, das religiöse Gesetz des Zusammenlebens, das von Christus
als vorläufig unnützlich abgelehnt und von Muhammad wegen der sozialen
Bedürfnisse einer ziemlich rückständigen Bevölkerung auf einer niedrigen
kulturellen Ebene gehalten wurde, von Bahá’u’lláh neu belebt wird.
Aber wir sollten nicht vergessen, daß die religiösen Gesetze Bahá’u’lláhs
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nicht mehr die talmudische vorchristliche Gesetzgebung sind; die absolute
Ethik Christi bleibt eine unumstrittene Eroberung des Geistes, sie lebt in
ihnen weiter. Anders ausgedrückt: Bahá’u’lláh hat uns die praktischen
Mittel gegeben, in dieser modernen Zeit die religiöse Ethik zum Kern
und zum Samenkorn einer Weltordnung zu machen.
Man könnte diese kurzen Ausführungen nicht besser schließen als mit folgenden Worten Shoghi Effendis, die zeigen, wie eng die geistigen und weltorganisatorischen Fragen in den Augen der Bahá’í verknüpft sind:
„Die Lebenskraft, welche die organischen Einrichtungen dieser großen, sich ständig ausbreitenden Ordnung in so hohem Maße zeigen, die Hindernisse, die bereits durch den hohen Mut und die kühne Entschlossenheit ihrer Sachwalter überwunden worden sind, das Feuer einer mit unverminderter Glut in den Herzen ihrer reisenden Lehrer glühenden unauslöschbaren Begeisterung, die Höhe der Selbstaufopferung, die ihre Vorkämpfer erreichen, die Weite des Blicks, die zuversichtliche Hoffnung, die schöpferische Freude, der innere Friede, die unbestechliche Lauterkeit, die vorbildliche Selbstzucht, die unauflösbare Einigkeit und Einmütigkeit, die ihre mutigen Verfechter an den Tag legen, der Grad, in dem ihr beweglicher Geist sich fähig erwiesen hat, die mannigfachen Elemente ihres Bereiches anzugleichen, sie von jeglicher Art von Vorurteilen zu reinigen und in ihre eigene Gliederung einzufügen, dies sind Beweise einer Kraft, die zu übergehen eine enttäuschte und überaus erschütterte Gesellschaft sich schwerlich leisten kann.“ (Die Sendung von Bahá’u’lláh, S.71 f.).
- Professor A. Bausani, Rom.
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