Bahai Briefe/Heft 2/Text

Aus Bahaiworks
Wechseln zu:Navigation, Suche

[Seite 23]


BAHÁ'I-

BRIEFE


BLÄTTER FÜR

WELTRELIGION UND

WELTBEWUSSTSEIN



AUS DEM INHALT:


Professor Bausani: Was ist neu in der Bahá’i-Religion?

Die Macht des Gebets

In Memoriam: Horace Holley

Blick in die Bahá’i-Welt



OKTOBER 1960 HEFT 2

Postverlagsort Frankfurt/Main


[Seite 24] [Seite 25]



Die Erde ist eine Heimat[Bearbeiten]

Zum 143. Mal jährt sich am 12. November jener denkwürdige Tag, an welchem Bahá’u’lláh, Der in allen heiligen Schriften verheißene Gottgesandte und große Menschheitslehrer, in diese Welt geboren wurde. Noch stehen wir mitten in gewaltigen, umwälzenden Geschehnissen, und die Wogen geistiger Auseinandersetzungen zwischen den Völkern und Nationen schlagen zu hoch, als daß wir die ungeheure Größe und Bedeutung jenes Ereignisses, des Kommens einer neuen Manifestation, des von Gott gesandten Sprechers für unsere Zeit, voll erfassen können. Sein Kommen bedeutet den Beginn einer neuen Ära in der Geschichte der Menschheit, bedeutet Einheit auf geistig-religiöser Grundlage, bedeutet Gerechtigkeit, Harmonie — Weltfriede! Sein Gebot ist Liebe, Liebe zu Gott und all Seinen Geschöpfen. „Ihr seid alle die Blätter eines Zweiges und die Früchte eines Baumes“... „Die Erde, diese Handvoll Staub, ist eine Heimat; laßt sie eine solche in Einigkeit sein.“ Diese Worte hat Bahá’u’lláh an die ganze Menschheit gerichtet.

Durch Seine tiefen religiösen und ethischen Lehren, aber auch durch die Offenbarung einer für die heutige Menschheit unumgänglich notwendigen neuen Weltordnung wurde uns Menschen ein machtvolles Instrument in die Hände gegeben, dessen Wert wir wohl erkennen und für welches wir zutiefst dankbar sein sollten.

„O Sohn der Höhe!“ — so spricht Gott durch Bahá’u’lláh zu uns — „Zum Unvergänglichen rufe Ich dich, du aber verlangst nach dem Vergänglichen. Warum hast du Meinen Willen vernachlässigt und folgst nur deinen Wünschen?“ — „O Sohn der Menschheit! Vom Baume der Herrlichkeit habe Ich dir die edelsten Früchte bestimmt. Warum gingst du an ihnen vorüber und hast dich mit Geringerem begnügt? Komme doch zu dem, was im Reiche der Herrlichkeit das Beste für dich ist... Mein Recht auf dich ist groß und wird nicht vergessen. Meine Gnade für dich ist überreich und wird nicht verhüllt. Meine Liebe in dir lebt und bleibt nicht verborgen. Mein Licht für dich strahlt und wird nicht verdunkelt.“

Möge die Menschheit hören auf den Ruf von Bahá’u’lláh, der Gottes Ruf ist, und Ihn erkennen als den großen göttlichen Arzt, der alle Krankheiten unserer Gegenwart zu heilen und alle unsere Probleme zu lösen vermag.

H. Sch.

[Seite 26]



Professor Dr. A. Bausani, Rom

Was ist neu in der Bahá’i-Religion ?[Bearbeiten]

Wir sind jetzt überall Zeugen einer Wiedergeburt alter und neuer Glaubensrichtungen. In diesem eisernen Weltalter, nach zwei zerstörenden Kriegen, kehren viele Menschen wieder zu Gott zurück; sie fühlen wieder die Hände Gottes, die den Fall der Menschheit in diesem traurigen Herbst der Welt auffangen, wie Rilke so schön sang:

„Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt,
und sieh dir andre an: Es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.“


Die allgemeine Richtung in dieser modernen Wiedergeburt des Religionsgefühls hat aber in sich etwas Trauriges, etwas Herbstlich-Abendliches. Es scheint, als ob sich die Menschen nicht aus dem Überfluß des Lebens heraus wieder Gott zuwenden, sondern aus der Ahnung eines persönlichen oder kosmischen, rasch sich nähernden Todes. Ich habe ein Buch mit Berichten bekannter Persönlichkeiten — Wissenschaftler, Schriftsteller usw. — gelesen, die sich wieder zum Katholizismus bekehrt haben. Sie sprechen alle von einer Rückkehr zum traditionellen Glauben der Väter; mit einer Nuance dämmeriger Genugtuung sprechen sie von der Rückkehr nach Hause.

Nach meiner Meinung und nach der der Bahá’í ist das nicht die richtige Weise, neues religiöses Leben zu begründen. Gewissermaßen als Einleitung dieses Aufsatzes könnte ich auch sagen, das eigentlich Neue in der Bahá’í-Religion ist ihr aktiver, zukunftsoffener, heiterer, positiver, diesseitiger und doch religiöser Gehalt.

Kurz und zusammenfassend dargestellt, ist die Bahá’í-Religion auf folgende Punkte gegründet:

❶ Gott ist in Seinem Wesen unfaßbar.

❷ Was wir von Gott wissen, stammt von den Offenbarungen der großen Religionsstifter, der Gottgesandten. Ihre Offenbarung ist für ihre Zeit das religiös Absolute, weltgeschichtlich gesehen aber relativ. Auch in der Zukunft, auch nach Bahá’u’lláh, werden Offenbarer in diese Welt kommen.

❸ Was die Gottgesandten uns offenbaren oder enthüllen, ist nicht in erster Linie die Kenntnis der Eigenschaften Gottes und des göttlichen [Seite 27] Wesens. Die Bahá’í-Religion ist weniger eine gnostische Religion, als vielmehr eine sozial-ethische. Mit anderen Worten, das intellektuelle Erkennen ist Aufgabe der Wissenschaft, das schöpferische Handeln aber ist Aufgabe der prophetischen Offenbarung. Das Gesetz, nicht die mystische Schau, ist das Hauptanliegen der Offenbarer, das praktisch-ethische Gesetz, nicht Dogmen und Sakramente.

❹ Ziel und Zweck dieser sozial-ethischen Offenbarung ist die Verwirklichung einer immer weiteren Einheit. Die Einheit Gottes hat keinen Sinn, wenn sie nicht auch in dieser Welt verwirklicht wird. So haben die verschiedenen Propheten der Vergangenheit immer weitere Formen der Einheit in die Welt gebracht: Adam die Einheit der menschlichen Persönlichkeit nach der Entwicklung vom Tier zum Menschen, Noah die Einheit der Familie, Abraham die der Sippe, Moses die des Volkes usw.


Einige logische Folgerungen

a) Religion und Offenbarung, die sich ihrem Wesen nach mit dem Ethisch-Sozialen beschäftigen, können nicht gegen die Wissenschaft sein. Alle Dogmen, die im Widerspruch zur Wissenschaft stehen, sagt Bahá’u’lláh, müssen abgelehnt werden.

b) Das Jenseits ist für die Religion nicht das Wesentliche. Diese Welt ist das Gebiet der Religion. Diese Welt ist das Feld Gottes, das Wirkungsfeld der Kämpfer Gottes, und jetzt — nicht gestern oder in einer fernen Zukunft — ist es die Aufgabe dieser geistigen Kämpfer, die Einheit der Menschenrasse zu verwirklichen. Die Bahá’í-Religion nimmt natürlich das andere Leben an, aber man sollte folgendes im Auge behalten:

Erstens sagt ’Abdu’l-Bahá, wir sollten nicht zuviel über die Verhältnisse in der anderen Welt nachgrübeln. Es wäre, als ob der Fötus im Mutterschoß versuchte, sich über die Luft und die Erde, Tiere und Pflanzen unserer Welt ein Bild zu verschaffen.

Zweitens: „Jene, die durch den Tod hindurchgingen, haben“ — nach ’Abdu’l-Bahá — „eine eigene Welt, aber sie ist nicht von der unsrigen getrennt...“ Bahá’u’lláh geht noch weiter und sagt, daß alle die großen Erfindungen der Technik, die glänzenden Errungenschaften der Wissenschaft nicht nur die Frucht unseres Menschengeistes sind; sie wären vielmehr undenkbar ohne die Mitarbeit, die Mit-Inspiration der großen Scharen der Toten. Diese wirken und weben heute mit uns, um eine neue Welt zu erbauen.

c) Einige „moderne“ Prinzipien, wie z. B. das selbständige Suchen nach der Wahrheit, die Einheit der geschichtlichen Religionen, die Übereinstimmung zwischen Religion und Wissenschaft, die Gleichberechtigung der Geschlechter, der Kampf gegen Vorurteile und Fanatismus jeder Art — nationaler und Rassen-Fanatismus sind eingeschlossen —, Friedensarbeit, beste Erziehung für alle, die Lösung der sozialen Frage usw. werden bestätigt (und das schon im mittelalterlichen Persien des 19, Jahrhunderts), aber unter einem religiösen Vorzeichen.

d) Religion und Politik werden in einer neuen Weise wiedervereinigt. „Wir modernen Menschen“, sagt G. A. Shook, ein amerikanischer Bahá’í, [Seite 28] Professor der Physik an einer amerikanischen Universität, „haben mit gewisser Berechtigung eine entschiedene Abneigung gegen eine Verwaltungsordnung, die mit den uns bekannten Theokratien irgendwelche Ähnlichkeit aufweist... Die völlige Trennung von Kirche und Staat stellt daher einen unverkennbaren Fortschritt in der Entwicklung unseres Gesellschaftslebens dar. Es darf dabei jedoch nicht außer acht gelassen werden, daß sowohl die Kirche als der Staat unter dieser Trennung zu leiden hatten.“

Es ist allen Bahá’í verboten, Mitglieder politischer Parteien zu sein, damit sie frei von parteipolitischen Bindungen zur Verwirklichung einer neuen, gottgegebenen politisch-religiösen Weltordnung beitragen können.


Die Wahrheit ist immer dieselbe

Natürlich ist die Wahrheit ihrem Wesen nach zeitlos und unverändert, wie die Sonne von gestern und die von heute die gleiche Sonne ist. In diesem Sinn ist auch die Wahrheit als die Grundlage aller Religionen immer dieselbe. „Dies ist, was vom überirdischen Machtbereich durch die Sprache der Kraft und Stärke den göttlichen Botschaftern schon in früheren Zeiten geoffenbart wurde,“ sagt Bahá’u’lláh (Einleitung zu den „Verborgenen Worten“). Und 'Abdu'l-Bahá fügt hinzu: „Die Bahá’í-Botschaft ist der alte Pfad, der von den Trümmern der Einbildung und des menschlichen Aberglaubens, vom Schutt des Haders und Mißverstehens gereinigt und wieder zu einem deutlichen Pfad für den aufrichtigen Sucher gemacht worden ist, damit er ihn mit Gewißheit betreten und finden möge, daß das Wort Gottes nur ein Wort ist, obgleich der Sprecher viele waren.“

Die Wahrheit als die Grundlage aller Religionen ist immer dieselbe. Aber wir haben gesehen, daß die Bahá’í-Religion nicht nur eine mystische, sondern auch eine sozial-ethische Seite hat. In diesem Sinn veralten auch die Religionen, deren jede einen gesetzlichen, zeitbedingten Teil enthält, und neue Offenbarungen werden notwendig. Um nur einige Beispiele zu nennen, ist das islamische Gesetz, nach welchem dem Dieb eine Hand abgehauen wird, in unseren modernen Zeiten undenkbar. Und auch im Christentum gibt es wenn nicht Gesetze, so doch ethische Richtungen, die zu unserer modernen Zeit nicht passen, z. B. die asketische Richtung, die Ablehnung von Wohlstand und Eigentum.

Die Bahá’í-Religion weist also mindestens drei neue Wesenszüge auf: einen philosophischen, einen sozial-ethischen, einen administrativ-politischen.

Philosophisch: Wir haben schon gesagt, daß das Wesen Gottes nach der Bahá’í-Lehre unfaßbar ist. Bahá’u’lláh sagt: „Die Türe zum Verständnis Gottes war und wird für immer vor dem Angesicht des Menschen verschlossen bleiben. Keines Menschen Verstehen wird je zu Seinem heiligen Hofe Zugang finden.“ Dieser wichtige Punkt bringt viele Folgerungen mit sich. Die Bahá’í-Religion vertritt eine religiöse Diesseitigkeit. Sie lehnt zugleich das Wunder als religiösen Beweisgrund ab. Im Unterschied zu anderen Religionsstiftern hat Bahá’u’lláh ausdrücklich gesagt, daß das Wunder kein gutes religiöses Argument sein kann. [Seite 29]

In alten Zeiten war es religiös produktiv zu glauben, daß ein Gottessohn durch das Wunder seines Todes und seiner leiblichen Auferstehung die Menschheit erlöste und sie von dem Zorn eines von der Sünde Adams beleidigten Gottes rettete. Es ist das süße Osterwunder, das die christliche Welt (und in anderen Formen auch andere religiöse Welten) feiert. Die Bahá’í denken, daß die moderne Welt dieses Wunder — ohne es seiner tief religiösen Wahrheit zu berauben — besser symbolisch verstehen kann. Diese Welt ist reif genug um zu sehen, daß jede Blume, jeder Same, der nach dem Wintertode wieder lebt, in einem gewissen Sinn ein auferstandener Christus ist. Die Natur drückt sich auch in der Religion aus, aber nicht in einem atheistischen oder kontemplativ-pantheistischen Sinn, sondern eher in dem Sinn, daß wir nach der frommen Betrachtung der religiösen Wahrheit der Auferstehung Christi jetzt diese Auferstehung, die Neubelebung einer toten Welt durch die göttliche Kraft des Offenbarers, tatkräftig verwirklichen müssen. Das ist, was ich religiöse Diesseitigkeit genannt habe und was ich als etwas Neues im Bahá’í-Glauben betrachte, etwas Neues, das sogar für Atheisten Gültigkeit hat.

Sozial-ethisch: die religiöse Verwertung einiger sonst rein weltlicher Wahrheiten der Gegenwart. Wir haben unter den verschiedenen Grundsätzen der Bahá’í-Religion auch solche erwähnt — wie die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Friedensarbeit, die Einheit der Religionen —, die die moderne Zivilisation als ihr eigen betrachtet. Aber die traurige jüngste Geschichte Europas läßt uns die Frage stellen: Sind Prinzipien wie die Friedensarbeit ausschließlich auf wissenschaftlich-politischer Grundlage, ohne religiösen Impuls und Enthusiasmus, zu realisieren? Wir haben schon gesagt, daß die Wissenschaft für die Bahá’í zwar eine sehr wichtige, aber eine technisch-erkennende, keine aufbauende Aufgabe hat. Um etwas grundsätzlich Neues aufzubauen, ist der einende Impuls der Religion nötig, aber einer Religion, die — obwohl sie Religion bleibt — solche bis jetzt nur humanitär begründeten Ziele als ihre gottgegebenen Prinzipien betrachtet. Nehmen wir z. B. nur zwei dieser Grundsätze, die Einheit der Religionen und die Friedensarbeit.

In der Frage der Einheit der Religionen unterscheidet sich der Bahá’í-Glaube von gewissen modernen Synkretismen (z. B. der Theosophie) dadurch, daß er alle Religionen zwar als wahr ansieht, aber jede zu ihrer Zeit. Jede Religion hat eine zeitlich begrenzte Aufgabe. Gott offenbart in jedem Weltalter eine neue Religion, die im Wesen gleich den anderen, nur ihren Gesetzen nach verschieden ist, damit sie den Bedürfnissen einer immer vorwärtsschreitenden Menschheit dienen möge.

Friedensarbeit: Nach der Bahá’í-Lehre wird sich die Verwirklichung des Weltfriedens in zwei Stadien vollziehen: Zuerst wird der sogenannte „Geringere Friede“ erreicht werden, der auf internationalen Verträgen beruht, den Krieg ächtet und ihn als Mittel politischer Auseinandersetzungen abschafft, Geistig gesehen wird der „Geringere Friede“ noch das Mißtrauen der Staaten gegeneinander und die Furcht vor dem Krieg zur Grundlage haben. Im Laufe der Jahre, wenn die Völker die Segnungen [Seite 30] des Friedens verspüren und harmonisch zusammenarbeiten, wird aus dem „Geringeren Frieden“ der „Größte Friede“, der religiös wahre Friede, erwachsen, der im Friedenswunsch der Völker und in der Demut vor Gottes Gebot begründet sein wird.

Dieser letzte Satz wäre schon genug zu zeigen, daß der Bahá’í-Friedens-Begriff vom rein politischen Friedensgedanken grundverschieden ist. Aber die Bahá’í sind zu wirklichkeitsverbunden um anzunehmen, daß es genügt, über den Frieden nachzudenken, von ihm zu reden und für ihn zu beten. So kommen wir zu dem dritten neuen Wesenszug der Bahá’í-Religion,

dem administrativ-politischen: Dies ist vielleicht das Einmalige in der Bahá’í-Religion, und wir sollten tiefer darüber nachdenken. Um diesen Punkt zu begreifen, müssen wir zuerst etwas erfassen, was leicht zu sagen, aber besonders in unserer modernen Welt sehr schwer zu verstehen ist: Wenn Gott existiert, muß Er und nur Er der König der Welt sein. Zweitens (was vielleicht für den westeuropäischen Menschen noch schwerer annehmbar ist): Die Grundaufgabe der Offenbarer als der Sprecher des Willens Gottes ist die geistige Gesetzgebung. Drittens: Die Welt ist jetzt reif, eine umfassende religiös-administrative Gesetzgebung anzunehmen.

Dies sind schwierige Thesen für das christliche Bewußtsein, das seit Jahrhunderten gewohnt ist, das Wesen der Religion in der persönlichen Erlösung durch das Blut Jesu Christi zu sehen, und das mit Weltordnung und Politik, der Domäne des „Teufels“, nichts oder so wenig wie möglich zu tun haben will. Aber hierin liegt gerade das Neue der Bahá’í-Religion. Sie ist zwar nicht die einzige Religion, die diese Einstellung vertritt: Auch der Islam und das alte Judentum verfochten eine der Welt zugewandte Religiosität; aber gegenüber der mit dem Kommen eines jeden Gottesoffenbarers verbundenen Umwertung aller Werte ragt die für die Bahá’í-Sendung kennzeichnende Erneuerung durch die allumfassende Größe ihres Ausmaßes hervor, das in diesem Umfang schon deshalb in der Geschichte der bekannten Religionen neu sein muß, weil bei keiner der früheren Offenbarungen auch nur ähnliche, die ganze Welt umfassende Voraussetzungen gegeben waren. Die neuen Voraussetzungen sind ziemlich klar zu sehen:

a) das durch die technischen Fortschritte (die die Bahá’í auch als gottgewollt ansehen) hervorgerufene räumliche Zusammenschrumpfen der Erde, wodurch ihre sämtlichen Völker in größte Nähe zusammengerückt sind;

b) infolge dieses Zusammenrückens der Völker eine ungleich größere Fülle verschiedenartiger Probleme. Alle Probleme der gesamten Menschheit an jedem Punkt der Erde verdichten sich zu einem unauflösbaren Komplex;

c) eine weitgehende Verteilung der Kräfte auf der Erde. Die Lösung weltweiter Probleme wird nicht mehr durch die einseitige Vorherrschaft einzelner Völker oder Interessengruppen erzwungen; sie kann nur noch [Seite 31] im Zusammenwirken aller in einer höheren, universalen Einheit herbeigeführt werden.

Weshalb verlangen diese neuen, vorher nie dagewesenen Probleme eine neue Lösung?

Man findet in unserer Welt viele Menschen, die um die Lösung dieser Probleme der Einheit kämpfen. Die einen schlagen eine koloniale Lösung vor. Die sogenannte westlich-christliche Kultur sei die beste und die einzige, die die Welt regieren könne. Sie müsse sich also — sei es mit zwingenden, sei es mit überzeugenden Mitteln — der ganzen Welt aufdrängen. Das römische Recht, die uns bekannten ökonomischen Gesetze, unsere — geschichtlich betrachtet — germanisch-lateinisch-griechisch-christliche Zivilisation sollte zur Zivilisation der gesamten Welt werden.

Die anderen — ich meine die Kommunisten — suchen etwas Ähnliches. Nur die Mittel sind verschieden; es handelt sich gleichfalls um eine Regierungsform, die von europäischen Köpfen erfunden wurde (Marx, Engels usw.), die aber den Bedürfnissen eines Hottentotten oder eines Inders so wenig angemessen ist wie die andere. Andererseits haben auch die Kolonialvölker außer einem verbitterten Nationalismus, der vielleicht teilweise gerechtfertigt ist, aber in keiner Weise zum Weltfrieden beiträgt, nichts Neues für die Lösung dieser Weltprobleme zu bieten. Es bleibt als einer der aufrichtigsten und wohlgesinntesten Versuche, die Weltfragen zu lösen, der Gedanke des Weltföderalismus. Die verschiedenen weltföderativen Systeme sind in manchem sehr gut, aber sie weisen alle einen zentralen Mangel auf: den Mangel an Kraft, an geistigem Impuls.

„Gebt mir einen Stützpunkt“, sagte Archimedes, „und ich werde die Welt aus den Angeln heben.“ — Dem Hebel der weltföderativen Systeme mangelt es an einem göttlichen, außerweltlichen Stützpunkt. Diese Systeme haben kein heiliges Zentrum, kein zentrales Heiligtum. Und außerdem setzt man, obwohl man von Weltföderalismus spricht, immer instinktiv eine Föderation von weißen, zivilisierten Völkern voraus, mit Gesetzen, die praktisch nur den Bedürfnissen der westeuropäischen Völker dienen.


Entwicklung in der Zeit, Welteinheit in der Gegenwart

Es würde zu weit führen, hier alle Einzelheiten des Bahá’í-Planes einer Weltföderation zu erläutern. Nur auf die folgenden wichtigen Kennzeichen sei hingewiesen:

❶ Dieser Weltordnungsplan ist für die Bahá’í gottgegeben. Er besitzt eine als unfehlbar betrachtete göttliche Grundlage. Er hat ein geistiges Oberhaupt, den Hüter des Glaubens, dessen Autorität zwar erblich, aber auf Auslegungsfragen beschränkt ist. Es gibt ein Weltzentrum, ein Heiligtum, von Pilgern besucht, am Berge Karmel im Heiligen Land.

❷ Zusammen mit diesem Autoritätsprinzip umfaßt der Bahá’í-Weltordnungsplan auch ein Elastizitäts- oder Relativitätsprinzip. Die Gesetze, die [Seite 32] nicht von der gottgegebenen Verfassung vorgesehen worden sind, werden von einem höchsten, auf Wahl begründeten Weltparlament gegeben und in Einklang mit den Erfordernissen der Zeit auch geändert. Örtliche Angelegenheiten werden von lokalen, nationale Fragen von nationalen „Häusern der Gerechtigkeit“ erledigt. Aber hier kommt das religiöse Moment wieder zum Ausdruck: Die Wahlen sind zwar demokratisch, aber Wählende und Gewählte werden als Instrumente des Willens Gottes betrachtet. Mit anderen Worten, ungleich dem normalen demokratischen Wahlsystem sind die Gewählten den Wählern gegenüber nicht verantwortlich. Während des einen Jahres ihrer Amtstätigkeit kommt ihre Autorität, die sie nur in gemeinsamer Beratung ausüben können, von Gott. Das Datum der jährlichen Wahl und die Dauer des Amtes sind in der gottgegebenen Verfassung bestimmt worden.

❸ Verschiedene andere geistig-administrative Gesetze, wie z. B. das tägliche Gebet, gewisse jährliche Feiern, eine jährliche Fastenzeit von neunzehn Tagen, ein neuer Kalender usw. muten vielleicht dem westeuropäischen Auge ein wenig seltsam an. Sie tragen aber auch zur Lösung des zentralen Problems bei, ein Weltbewußtsein, ein gemeinsames Weltgewissen zu schaffen, nicht nur ein Gewissen für die weiße Rasse und für die sogenannten „zivilisierten“ Völker.

❹ Diese Prinzipien und Institutionen arbeiten schon in mehr als 250 Ländern der Welt, überall wo kleinere oder größere Bahá’í-Zentren bestehen. Sie wurden nicht an einem stillen Schreibtisch aufgezeichnet und theoretisch geplant. Sie sind das Werk einer Persönlichkeit, die fast ihr ganzes Leben hindurch in persischen und osmanisch-türkischen Gefängnissen unter grausamen Verfolgungen lebte; sie sind vom Blut von mehr als zwanzigtausend Märtyrern befruchtet und dadurch von einer starken sakralen Kraft erfüllt.

Als zusammenfassender, kurzer Kernsatz, der die wichtigsten Punkte der Bahá’í-Lehre in sich vereinigt, könnte vielleicht der folgende dienen: „Entwicklung in der Zeit, Welteinheit in der Gegenwart.“

Zum Schluß sei mir erlaubt, einige Zeilen des großen islamischen Denkers al-Ghazzali zu zitieren, der fünf Jahrhunderte vor Descartes im Mízánu’l-'amal schrieb:

„Und wenn auch du in diesen Worten nur etwas findest,
das dich an deinem ererbten Glauben zweifeln läßt,
so wären diese Worte für dich nützlich genug gewesen.
Denn wer nicht zweifelt, der schaut nicht.
Und wer nicht schaut, der sieht nicht.
Und wer nicht sieht, der bleibt in ewig staunender Blindheit.
Nimm, was du siehst, und laß das nur Gehörte.
Im Sonnenglanz brauchst du kein Sternbild mehr!“


[Seite 33]



Bahá’í am UN-Konferenztisch[Bearbeiten]

Zum fünfzehnten Male jährt es sich in diesen Wochen, daß mit dem Inkrafttreten der Charta der Vereinten Nationen ein neuer Abschnitt auf dem Wege der Menschheit zu ihrer politischen Einheit eingeleitet wurde. So schwach und unvollkommen die Weltorganisation auch heute noch erscheint, sie hat doch mehr als einmal Auseinandersetzungen zu verhindern oder beizulegen vermocht, welche leicht zu einem großen Weltbrand sich hätten ausweiten können. Oft im Verborgenen und der breiten Öffentlichkeit unbewußt haben insbesondere die Spezialorganisationen der UN — wie etwa die Weltbank, die UNESCO oder die Weltgesundheits-Organisation — wesentlich zur Befriedung der Welt und zur wirtschaftlich-sozialen Entwicklung weiter Gebiete beigetragen, in enger Zusammenarbeit mit den akkreditierten „internationalen nicht-staatlichen Organisationen“, zu denen auch die Internationale Bahá’í-Weltgemeinschaft gehört. Unser Bild zeigt vier der fünf Bahá’í-Delegierten und -Beobachter bei der letzten UN-Konferenz der „nicht-staatlichen Organisationen“, die am 17./18. Mai 1960 im UN-Hauptquartier, New York, stattfand. Von links: Mildred R. Mottahedeh, Florence Steinhauer, Harriett Wolcott und Charles Wolcott.



[Seite 34]34



'Abdu'l-Bahá[Bearbeiten]

Zu Seinem Todestag am 28. November

Aus dieser Nebelwelt fliehn unsre Schritte,
der Seele Sehnsucht zieht uns nach dem Lichte
zum ewigen Leben, zu der inneren Mitte,
zum Herrn der Gnaden und der Weltgerichte.
Da leuchtest Du, im Dreigestirn der Dritte,
auf uns aus liebevollem Angesichte:
der Dienende, der Strahlende, der Milde
— glückselig trinkt das Herz von Deinem Bilde.


Weltschuld und Unheil reiften bis zur Stunde,
da alles stürzt in grauenvollen Dramen.
Da schuf sich Gott Bahá zu Seinem Munde,
und Gottes Wille sprach in neuen Namen
und ward Gestalt in einem neuen Bunde
und senkte in die Welt den neuen Samen.
Als Er entschwand, rief Er Dich in die Lücke,
als Wort und Weg und Mittelpunkt und Brücke.


Wenn sich die Menschen fragend zu Dir drängten,
warst Du der goldene Klang der Himmelsharfe.
Wenn sich der Geister Trug und Wahrheit mengten,
warst Du der Blitz, der klärende, der scharfe.
Und all den vielen Seufzenden, Beengten
warst Du der Arzt zu jeglichem Bedarfe.
In dieser Zeit, der stürmenden, verwirrten,
warst Du der Leuchtturm der im Meer Verirrten.


So finden sie als Maß und Vorbild Dich,
sie, die aus ihrer inneren Führung fielen,
und sehn beschämt Dich groß und meisterlich,
sie, die sonst achtlos mit den Werten spielen.
Sie beugen dankerfüllt dem Meister sich,
dem Weiser zu den höchsten Menschenzielen.
Da wächst aus ihrem gläubigen Vertrauen
die Kraft, ihr Dasein neu sich aufzubauen.


Dahingegangen — bist Du nie entschwunden,
denn eng ist unser Herz mit Dir verschlungen,
und immer enger bleibt es Dir verbunden,
je reiner wir von Deinem Geist durchdrungen.
So mögen unsre Seelen hell gesunden
zu Lichtes Kerzen, frohen, ewig jungen,
die dienend, dankend, liebend ganz vergehen
in Deinem Dienen für das Weltgeschehen.


Adelbert Mühlschlegel


[Seite 35]




'Abdu'l-Bahá


[Seite 36]



Die Macht des Gebets[Bearbeiten]

„Gesegnet sind der Ort und das Haus und der Platz
und die Stadt und das Herz und der Berg und die
Zuflucht und die Höhle und das Tal und das Land
und die See und die Insel und die Wiese, wo Gott
erwähnt worden ist und Sein Lob verherrlicht wurde.“


Bahá’u’lláh


„Die Absicht, die der Offenbarung eines jeden himmlischen Buches, nein, jedem göttlich geoffenbarten Vers zugrunde liegt, ist, alle Menschen mit Gerechtigkeit und Einsicht zu begaben, damit Friede und Ruhe fest unter ihnen begründet werden. Was immer Sicherheit in die Herzen der Menschen flößt, was immer ihre Stufe erhöht oder ihre Zufriedenheit fördert, ist vor dem Antlitz Gottes annehmbar. Wie erhaben ist die Stufe, die der Mensch erlangen kann, wenn er sich aus eigenem Willen dazu entschließt, seine hohe Bestimmung zu erfüllen! In welche Tiefen der Erniedrigung aber kann er sinken, in Tiefen, welche die niedrigsten der Geschöpfe niemals erreichten! Ergreift, o Freunde, die Gelegenheit, die dieser Tag euch bietet, und beraubt euch nicht selbst der großmütigen Ausgießung seiner Gnade. Ich flehe zu Gott, daß Er gnädig einen: jeden von euch befähige, sich an diesem gesegneten Tag mit dem Schmuck reiner und heiliger Taten zu zieren. Er, wahrlich, tut, was immer Er will,“

Bahá’u’lláh, „Ährenlese“ CI, Sonne der Wahrheit Januar 1953, Seite 12


Unser Leben ist ein Gebet

In gewissem Sinn ist unser Leben ein ständiges Gebet: Unbewußt beten wir alle um Leben, Gesundheit, Liebe und Zuneigung. Bewußt streben wir danach, uns zu verbessern, und wir sehnen uns danach, mehr von jener Kraft zu erfahren, die im Innersten aller Wesen schwingt.

'Abdu'l-Bahá, der Sohn des Begründers des Bahá’í-Glaubens, nannte das Gebet das „Fundament der Sache Gottes unter den Menschen“. Über die Weisheit des Gebetes befragt, sprach Er: „Wisse, daß das Gebet unentbehrlich und obligatorisch für den Menschen ist, daß der Mensch unter keinem Vorwand davon entschuldigt ist, es sei denn, er wäre geistesgestört oder durch ein unüberwindliches Hindernis davon abgehalten. Die Weisheit des Gebetes ist die, daß es eine Beziehung zwischen dem Diener und dem wahren Einen herstellt. Dies ist so, weil der Mensch im Zustand des Gebetes mit seinem ganzen Herzen und seiner ganzen Seele sein Angesicht dem Allmächtigen zuwendet, Verbindung mit Ihm sucht sowie Seine Liebe und Zuneigung erwünscht1)).“

'Abdu'l-Bahá verglich das Gebet mit einer Zwiesprache zwischen Liebenden. So, wie jenen die Zwiesprache das wertvollste sei, bedeute für den Suchenden das Erreichen des Gesuchten das größte Glück. „Neben all dem“, fügte Er hinzu, „sind Gebet und Fasten die Ursache des [Seite 37] Erwachens und der Aufmerksamkeit und führen zu Schutz und Bewahrung vor Prüfungen 2).“

Gebet und Meditation sind die stärksten Kräfte, eine fortschreitende geistige Erkenntnis zu fördern und allgemeinen Wohlstand unter der Menschheit herbeizuführen. Viele Gebete sind über die Beschränkung der Worte erhaben und erinnern uns an eine Stelle der „Sieben Täler“ von Bahá’u’lláh: „Vieles ist verborgen, und unendlich groß ist die Anzahl derer, die unwissend sind. Bücher reichen nicht aus, um des Geliebten Geheimnis zu fassen, noch können es diese Seiten erschöpfen, und wäre es nur ein Wort, nur ein einziges Zeichen. Wissen ist nur ein Punkt, den die Toren vervielfacht haben3).“

Durch Gebet und Meditation werden unsichtbare und ungeahnte Kräfte frei. Sie ermöglichen dem Menschen, in neue, unentdeckte Gebiete der Wissenschaften einzudringen, und sie bringen unbekannte Gaben hervor. Die Unteilbarkeit der Schöpfung, das Zusammenschwingen aller Atome, sind schon genug Zeugen einer alles umfassenden Einheit. Das Geheimnis des Gebetes und die in ihm verborgenen Kräfte verdeutlicht wohl am besten der folgende Auszug aus den Schriften von Bahá’u’lláh: „Singe die Verse Gottes, die du empfangen hast, so, o mein Diener, wie jene sie singen, die sich Ihm genähert haben, damit die Süße deines Gesanges deine eigene Seele entflamme und die Herzen aller Menschen anziehen möge... Wer immer zurückgezogen in seiner Kammer die von Gott geoffenbarten Verse spricht, wird erfahren, wie die gabenspendenden Engel des Allmächtigen den Duft der Worte, die sein Mund geäußert hat, verbreiten und das Herz eines jeden Gerechten höher schlagen lassen. Mag er sich auch anfangs ihrer Wirkung nicht bewußt werden, so muß doch die Kraft der ihm gewährten Gnade früher oder später ihren Einfluß auf seine Seele ausüben 4).“

Wie oft verzagen Menschen, weil ihnen die Wirkung eines Gebetes nicht sofort bewußt wird! Wie oft muß aber z. B. auch ein Wissenschaftler mit sich ringen, bis ein neues Problem gelöst ist, und wie lange dauert es mitunter, bis sich neue Erkenntnisse den Menschen mitteilen lassen und Früchte zeitigen! Die Kraft des Gebetes ist eine Gnade, die Wirkung des Gebetes ist es gleichfalls. Die Wirkung des Gebetes ist zu spüren, wenn der Mensch ernsthaft, aufrichtig, aufmerksam und mit Beständigkeit sucht.

Wenn wir im Leben keine Fortschritte machen, wenn unser Verständnis für den Mitmenschen und die Geduld mit uns selbst versagen wollen, beten wir: „Gibt es einen Befreier von Schwierigkeiten außer Gott? Sprich: Gelobt sei Gott, Er ist Gott. Alle sind Seine Geschöpfe, und alle stehen unter Seinem Befehl5).“

Wenn die Widerstände in uns und um uns zu groß werden, erinnern wir uns eines Satzes aus dem „Buch des Bundes“ von Bahá’u’lláh: „Alle sind durch Gott erschaffen“. Er führt uns zurück zu den Kraftquellen des wahren, unteilbaren Seins. Durch Gebet und Meditation werden wir uns der Bedeutungen bewußt, die hinter dem Wort Gottes und hinter den [Seite 38] Symbolen Seiner Schöpfung verborgen sind. Bahá’u’lláh sagte in den „Verborgenen Worten“:

„O Sohn des Menschen! Ich war im Ursein Meines Wesens und in der Ewigkeit Meines Seins. Da erkannte Ich Meine Liebe zu dir: Ich erschuf dich, Ich senkte Mein Ebenbild in dich und offenbarte dir Meine Schönheit.“

In Augenblicken des Verzagens, wenn wir um die wahre Bedeutung unseres Seins ringen, schenken uns die Gebete und Meditationen des Báb, Bahá’u’lláhs und ’Abdu’l-Bahás Ermutigung und Kraft. Das Bewußtsein einer unermeßlichen Gnadenfülle dämmert beim Nachdenken über diese geoffenbarten Worte herauf. Plötzlich wird uns die Weisheit des Satzes klar: „Eine Stunde Nachdenkens ist mehr wert als 70 Jahre frommer Andacht“6). Mit dieser Erkenntnis ist das Gebet nicht mehr nur ein Plappern von Silben, ein Hersagen von Worten — es wird eine unerschöpfliche Kraftquelle. Beim Beten dürfen wir denken, beten und meditieren gehen ineinander über. Das reinste Gebet ist der Anruf Gottes: „O Du Herrlichster aller Herrlichen!“ (Ya Bahá’u’l Abhá). Er vereint heute Menschen aller Nationen, Rassen, Klassen und Religionen zu einer die Erde umspannenden Gemeinschaft.

„Wer an den Wassern Meiner Offenbarung teil hat“, schreibt Bahá’u’lláh, „wird alle unvergänglichen Wonnen kosten, die durch Gott von Anfang an, der keinen Anfang hat, bis ans Ende, das kein Ende hat, verordnet wurden.“ Die Kraft der Offenbarung noch weiter beschreibend, fährt Er fort: „Jeder einzelne Buchstabe, der von Unserem Munde ausgeht, ist derart mit erneuernder Kraft versehen, daß er imstande ist, eine neue Schöpfung wachzurufen — eine Schöpfung, deren Größe unerforschlich für alle außer Gott ist7).“


Taten müssen folgen

Die besten und wohl praktischsten Anregungen für Gebet und Meditation hat Ruth Moffat anläßlich einer Pilgerreise nach Haifa aufgezeichnet. Sie faßte einige Ausführungen des ersten Hüters des Bahá’í-Glaubens, Shoghi Effendi, zusammen und berichtete wie folgt:

„Nachdem auf die Notwendigkeit häufigeren Betens und Meditierens hingewiesen worden war, sprach er von fünf Schritten, die wir unternehmen sollten, um ein Problem zu lösen.

1. Bete und meditiere darüber. Sprich die Gebete der Offenbarer, da diese am meisten Wirkungskraft haben. Darauf verweile einige Minuten in der Stille des Nachdenkens.

2. Komme zu einem Entschluß. Er wird gewöhnlich während der Meditation geboren und erscheint oft zunächst undurchführbar. Wurde er aber als Ergebnis des Gebetes gefaßt, unternimm sofort den nächsten Schritt.

3. Fasse die Kraft, den Entschluß zu verwirklichen. Viele versagen hier. Der Entschluß wird dann zum Wunschtraum. [Seite 39]

4. Habe deshalb Glauben und Vertrauen, daß dir Kraft geschenkt wird, der richtige Weg sich weist, die richtige Türe sich öffnet, die richtige Botschaft dich erreicht. Besitze Vertrauen!

5. Handle! Handle mit nie ermüdender Energie. In dem Maße, in dem du handelst, wirst du wie ein Magnet werden, der mehr und mehr Kraft anzieht, bis du gleich einem gereinigten Kanal bist, durch den göttliche Kraft fließen kann.“

Viele beten, vergessen aber den zweiten Teil des ersten Schrittes. Viele, die nachdenken, kommen zwar zu einem Entschluß, aber sie halten sich nicht an ihn. Wenige sind so standhaft, den Entschluß auszuführen, noch weniger Menschen aber besitzen das Vertrauen, daß Gott helfen wird. Wie wahr sind doch die Worte: „Größer als das Gebet ist der Geist, in dem es gesprochen wird“ und: „Größer noch als die Art, in der es gesprochen wird, ist die Art seiner Ausführung8).“

Aus dem bisher Gesagten geht das eigentliche Ziel von Gebet und Meditation hervor: Erkenntnis und Handeln, bewußtes, entschiedenes Handeln im Dienst der Menschheit. Ohne Handeln wurde noch nie ein Plan verwirklicht; ohne Handeln hat noch kein Gedanke Früchte getragen; ohne Handeln wurden noch nie aufbauende Resultate erzielt; ohne Handeln werden unsere Gebete ohne bleibende Wirkung sein; ohne Handeln kann der Mensch die ungeahnten Kräfte des Universums nicht freimachen.

Die größte Kraft, so haben wir schon festgestellt, strömt immer aus dem Gebet und aus den Meditationen des Offenbarers. Die göttlichen Manifestationen geben uns den Schlüssel, um unser geistiges Sein zu erkennen.

Bahá’u’lláh kennzeichnet die Stufe des Gottesoffenbarers folgendermaßen: „Nichts ist in Meinem Tempel zu sehen als Gottes Tempel, und nichts ist in Meiner Schönheit zu erblicken als Seine Schönheit. Nichts lebt in Meiner Seele als die Wahrheit, und außer Gott ist nichts in Mir zu sehen9).“

Die Kraft des Gebetes, Gottes Gnade und Führung und stetes Forschen in Gottes allumfassender Offenbarung helfen uns, die Zeichen des Schöpfers in uns selbst und in unserer Umwelt zu entdecken. Das Wort des Offenbarers hat Schöpferkraft, es wirkt in dem Maße, in dem der Mensch darüber nachdenkt, meditiert und es zum Maßstab für all sein Tun und Denken nimmt. Wenn wir dies vor Augen haben, dann wird uns auch die tiefe Bedeutung dieses Gebetes von Bahá’u’lláh bewußt:

„Du bist derjenige, Der durch Seinen Befehl Erniedrigung in Herrlichkeit verwandelt, Schwäche in Kraft, Machtlosigkeit in Macht, Furcht in Ruhe und Zweifel in Gewißheit. Es gibt keinen Gott außer Dir, dem Mächtigen, dem Gütigen.“10)

Sollten wir bei unseren ersten Versuchen, bewußt zu beten, Zweifeln begegnen, dürfen wir uns nicht entmutigen lassen. Wir alle sprachen [Seite 40] unvollkommen, ehe wir mit zunehmendem Alter flüssig sprechen konnten. Wir verstanden in der Schule zunächst vieles nicht und mußten z. B. um die Bedeutung der Formeln und Experimente im Chemie- und Physiklabor ringen. Wieviel schwieriger muß es da sein, unsere geistigen „Werkzeuge“ zu erkennen, sie uns anzueignen und mit ihnen Herz und Verstand zu formen! Und doch: Was immer uns von ihnen abhält, ist unser eigenes Selbst! Wir benötigen nie versagende Geduld — nicht nur im Zusammenleben mit anderen, sondern vor allem auch mit uns selbst. Und alle Zweifler an der Macht des Gebets, wie auch wir selbst, sollten immer wieder an die Zusicherung Bahá’u’lláhs erinnert werden:

„Du enttäuschest keine Seele, die Dich gesucht hat, Du hältst niemanden von Dir zurück, der Dich ersehnt. Bestimme denn für mich, was dem Himmel Deiner Großmut und dem Ozean Deiner Gnadenfülle entspricht. Du bist wahrlich der Allmächtige, der Machtvollste.“ 11)


René Steiner


*


O mein Gott, mein Meister, Du über alles Geliebter! Ich bin Dein Diener und der Sohn Deines Dieners. Ich habe mich am Seil Deiner Gnade festgehalten und mich festgeklammert am Saume des Gewandes Deiner liebevollen Vorsehung. Ich flehe zu Dir bei Deinem Größten Namen, den Du zur unfehlbaren Waage zwischen den Völkern bestimmtest und zu Deinem untrüglichen Beweis für alle Menschen: Laß mich nicht im Stich und überlasse mich nicht meinen verderbten Neigungen. Behüte Du mich im Schutze Deiner erhabenen Sündlosigkeit und mache mich fähig, inmitten der Menge Deiner Geschöpfe Dein eigenes Selbst zu rühmen. Halte den göttlichen Hauch Deiner Tage nicht von mir ab und beraube mich nicht der süßen Düfte, die vom Tagesanbruch Deiner Offenbarung wehen. Gewähre mir, was in dieser und der nächsten Welt gut für mich ist, durch die Kraft Deiner Gnade, die alles Erschaffene umschloß, und Deiner Barmherzigkeit, die die ganze Schöpfung überragt. Du bist Der, Der das Reich aller Dinge in Seinem Griffe hält. Du tust durch Deinen Befehl, was Du willst, und durch die Kraft Deiner Macht erwählest Du, was immer Du wünschest. Niemand kann Deinem Willen widerstehen, und niemand kann die zwingende Kraft Deines Gebots aufhalten. Es gibt keinen Gott außer Dir, dem Allmächtigen, dem Allherrlichen, dem Großmütigsten.

(„Prayers and Meditations“, LXII)

Bahá’u’lláh


Literatur-Hinweise:

1) 'Abdu’l Bahá, „The Divine Art of Living“ (Göttliche Lebenskunst) Seiten 26-7, Wilmette, III, USA. 5. Aufl. 1956 — 2) Gleich wie 1). — 3) Bahá’u’lláh, Kitab’i’Iqan (Buch der Gewißheit), Seite 113, Bahá’i-Verlag, Frankfurt a. M. (1958-115). — 4) Bahá’u’lláh, Bahá’í Gebete. Vorwort, George Ronald. Oxford 1948. — 5) Der Báb, Bahá’í Gebete, Seite 28, George Ronald, Oxford, 1948. — 6) Bahá’u’lláh, Buch der Gewißheit, Seite 144, Frankfurt a. M. 1958-115. — 7) Bahá’u’lláh, zitiert in Shoghi Effendi: „Die Sendung Bahá’u’lláhs“, Seite 17, George Ronald, Oxford, 1948. — 8) Mrs. Ruth Moffat, zitiert in „Principles of Bahá’í Administration“ Seite 102, Bahá’í Publishing Trust, Manchester 1950. — 9) Bahá’u’lláh, zitiert in Shoghi Effendi: „Die Sendung Bahá’u’lláhs, Seite 19, vergleiche 7). — 10) Bahá’u’lláh Bahá’í Gebete, Seite 4, George Ronald, Oxford, 1948, — 11) wie 10), Seite 5.


[Seite 41]



Die Seele: Sinnbild der Loslösung[Bearbeiten]

Du hattest Mich über den Zustand der Seele nach ihrer Trennung vom Körper gefragt. Wisse wahrlich, daß die menschliche Seele, wenn sie auf den Wegen Gottes gewandelt ist, gewißlich zur Herrlichkeit des Geliebten zurückkehren und in sie aufgenommen werden wird. Bei der Gerechtigkeit Gottes! Sie wird eine Stufe erreichen, die keine Feder beschreiben und keine Zunge zu schildern vermag. Die Seele, die der Sache Gottes treu geblieben ist und unbeirrbar fest auf Seinem Pfade blieb, wird nach ihrem Emporsteigen mit solcher Macht begabt werden, daß alle Welten, die der Allmächtige erschaffen hat, durch sie gefördert werden können. Eine solche Seele versieht und durchdringt auf Geheiß des wahren Königs und göttlichen Erziehers die Welt des Seins mit dem reinen Sauerteig und spendet die Kraft, die Künste und Wunder in der Welt offenbar werden läßt. Bedenke, wie das Mehl Sauerteig zum Säuern braucht. Jene Seelen — die Sinnbilder der Loslösung — sind der Sauerteig der Welt. Denke darüber nach und werde einer der Dankbaren.

In mehreren Unserer Tablets haben Wir Uns auf dieses Thema bezogen und die verschiedenen Stufen in der Entwicklung der Seele gezeigt. Wahrlich, Ich sage: Die menschliche Seele ist erhaben über jeden Fortgang und jede Rückkehr. Sie verharrt, und dennoch schwingt sie sich empor; sie bewegt sich, und dennoch ist sie unbeweglich. Sie ist in sich selbst ein Beweis, der Zeugnis ablegt für das Vorhandensein einer Welt, die zufallsbedingt ist, wie für die Wirklichkeit einer Welt, die weder Anfang noch Ende hat.

Bahá’u’lláh

(„Ährenlese“ LXXXII, Sonne der Wahrheit, 20. Jg. Juli/September 1950, Seite 75).


[Seite 42]



In Memoriam[Bearbeiten]

Horace Holley

Am 14. Juni erreichte die Nachricht vom Hinscheiden Horace Holleys, Hand der Sache Gottes, die Bahá’í-Welt. Er war in Haifa, seinem letzten Wirkungsfeld, einem Herzleiden erlegen. Die Trauer um den hervorragenden Vorkämpfer des Bahá’í-Glaubens wurde durch das Bewußtsein verstärkt, daß seine weitreichenden Erfahrungen und sein Rat gerade in der gegenwärtigen Entwicklungsphase des Glaubens, der gradweisen Erreichung des internationalen Aufbaus der administrativen Ordnung, von unschätzbarem Wert gewesen wäre.


Um zu einer annähernden Würdigung der historischen Dienste, die Horace Holley seinem Glauben geleistet hat, zu kommen, muß man sich die Gegebenheiten vergegenwärtigen, in denen sie sich vollzogen. Man muß den Blick in die Zeit des Hinscheidens ’Abdu’l-Bahás zum Beginn der zwanziger Jahre zurückwenden und verstehen, in welcher Situation die Bahá’í-Welt damals war. Die Wirkungszeit ’Abdu’l-Bahás kann in gewissem Sinne als eine Fortführung der Zeit Bahá’u’lláhs betrachtet werden, eines patriarchalischen Zeitalters für die Nachfolger des Glaubens. Er war der Vater, der die Gemeinde führte, der für alles und für jeden Seinen liebenden Rat bereithielt. Mit Seinem Hinscheiden fiel die Verantwortung auf die Schultern der Gläubigen. Wenige nur ahnten wohl, als sie Seinen „Willen und Testament“ in Händen hielten, daß dieses wichtige Dokument den Plan in sich schloß, der sie in die Lage versetzen sollte, diese Aufgabe auf sich zu nehmen. Horace Holley, damals in den Vereinigten Staaten von Amerika, bekannte von sich, daß er beim Studium von „Wille und Testament“ „etwas über den künftigen Bahá’í-Glauben zu ahnen begann, nicht in Einzelheiten, sondern über seinen Fortbestand, für den der Meister Sorge getragen hatte.“ Über jene Zeit sagt Shoghi Effendi in „Gott geht vorüber“: „Zu Ende war nun das Zeitalter, das miterlebt hatte, wie der Glaube entstand und sich erhob... Nun setzte die Gestaltungsperiode, das Eiserne Zeitalter jener Verkündigung ein, die Zeit, da die örtlichen, nationalen und internationalen Einrichtungen des Glaubens von Bahá’u’lláh Gestalt annehmen, sich entwickeln und innere Festigung gewinnen sollten.“ In der gleichen Darlegung gedenkt er der Rolle, die die amerikanische Bahá’í-Gemeinde dabei spielte, mit den folgenden Worten: „Bei der Einführung und Festigung der Bahá’í-Verwaltungseinrichtungen war der Einfluß ihrer Glieder tatsächlich so vorherrschend, daß ihr Land wohl verdient, als Wiege der [Seite 43] Verwaltungsordnung zu gelten, die der Schau Bahá’u’lláhs entstammt und die durch den Willen des Mittelpunktes Seines Bundes ins Dasein gerufen worden war.“

An der Lösung dieser Aufgabe hatte Horace Holley hervorragenden Anteil. In seiner Eigenschaft als Sekretär des Geistigen Rates von New York und als Sekretär des Nationalen Geistigen Rates richtete er, dem es nicht rasch genug vorangehen wollte, Anfragen darüber an Shoghi Effendi und, indem die Antworten eintrafen, verwirklichte sich die Verwaltungsordnung Stück um Stück. Schließlich stellte Horace Holley diese Antworten zusammen, und das Buch „Bahá’í-Administration“ entstand. Nach dem Muster von USA traten alsbald in der ganzen Welt, wo Bahá’í lebten, örtliche und Nationale Geistige Räte mit ihren Ausschüssen ins Dasein. Doch nach seinen eigenen Worten erschienen diese Errungenschaften Shoghi Effendi nur als Vorspiel zu einer noch weit wichtigeren Unternehmung, an der wiederum Horace Holley entscheidenden Anteil hatte, die Ausarbeitung und Annahme einer nationalen Satzung der Bahá’í im Jahre 1927 und 1931, einer ähnlichen Urkunde, die das örtliche Bahá’í-Gemeinderecht enthält. Sie wurden in der Folge zum Muster für alle örtlichen und nationalen Bahá’í-Verfassungen in der Welt und bereiteten so die Verfassung der kommenden Bahá’í-Weltgemeinde vor.

Für seinen einzigartigen Beitrag zu der Entfaltung der Bahá’í-Ordnung wurde Horace Holley vielfach von Shoghi Effendi gepriesen, desgleichen sind seine Verdienste um die Ausbreitung des Glaubens und seine Beiträge zur Bereicherung des Bahá’í-Schrifttums unvergessen. Sein Leben war der Beweis seiner Aufopferungsfähigkeit. Seine Persönlichkeit zeichnete sich durch eine bemerkenswerte geistige Kraft, durch Weisheit, Wahrhaftigkeit, Großzügigkeit, Furchtlosigkeit, herzliche Freundlichkeit und nicht zuletzt durch einen köstlichen Humor aus. Seine letzten Lebensjahre waren durch viele Krankheiten belastet, die aber seine geistige Kraft und Elastizität nicht brechen konnten. Als er im Dezember 1959, dem Ruf der Hände der Sache folgend, seine Tätigkeit im Weltzentrum in Haifa aufnahm, schien es, als könnte dies eine gesundheitliche Erfrischung für ihn bedeuten, doch war ihm die Ausübung seiner Tätigkeit nur ein halbes Jahr vergönnt. Nun ruht er in Haifa am Fuße des Berges Karmel neben dem Erbauer des Tempels von ’Ishqábád und John Esslemont.

Uns gelten die Worte, die er bei seinem Abschied an die amerikanische Bahá’í-Gemeinde richtete: „Unsere gegenwärtige Aufgabe ist es, den Glauben Tag um Tag zu leben, zu lehren und überall im Leben die geistigen Gesetze und Prinzipien anzuwenden, die vom lebendigen Gott kommen. Ihr und ich seid als Bahá’í nicht nur darauf vorbereitet, den Sieg des Glaubens zu verstehen, sondern genießt auch das Vorrecht, in einer Zeit unaussprechlichen Glanzes zu leben. Laßt uns in diesen entscheidenden Tagen nicht mit unseren kleinen Verschiedenheiten beschäftigt sein, sondern mit den glorreichen Gelegenheiten, die uns geboten werden um mitzuhelfen, den Beginn des Königreiches Gottes auf Erden herbeizuführen.“

A. Gr.


[Seite 44]



Bahá’í-Tempel in Afrika und Australien[Bearbeiten]

Bahá’í-Tempel in Kampala

Auf zwei Kontinenten geht in diesen Monaten der Bau von Bahá’í-Tempeln dem Ende entgegen. Für die Weihe des „Hauses der Andacht“ in Kampala, Uganda, hat der Nationale Geistige Rat der Bahá’í von Zentral- und Ostafrika den Monat Januar 1961 in Aussicht genommen. Der Termin für die Weihe des Hauses in Sidney, Australien, liegt dagegen noch nicht genau fest. Wie die beiden ersten Tempel, die von den Bahá’í in Russisch-Turkistan, Zentralasien und an den Ufern des Michigansees in den USA errichtet worden sind, werden auch diese vor der Fertigstellung stehenden Häuser neun Eingänge haben — Symbol der neun Hochreligionen dieser Erde, die in der Offenbarung von Bahá’u’lláhh, dem Begründer der Bahá’í-Weltreligion, ihre Erfüllung gefunden haben. Bahá’í-Tempel öffnen ihre Tore Menschen aller Rassen und Bekenntnisse zur Anbetung Gottes. Sie dienen der geistigen Einheit der Menschheit und dem Verstehen aller Völker und Religionen.

Der erste Bahá’í-Tempel auf europäischem Boden wird in der Nähe von Frankfurt/Main gebaut werden. Auf dieses Vorhaben werden die „Bahá’í-Briefe“ noch eingehen.




Der noch eingerüstete Tempel in Sidney



[Seite 45]



Sommerschulen vereinten Bahá’í aus vielen Ländern[Bearbeiten]

Sommerschul-Teilnehmer in den Niederlanden


Auch in diesem Sommer veranstalteten die Bahá’í in zahlreichen europäischen Ländern — wie auch in Übersee — ihre Sommerschulen. Bahá’í und Bahá’í-Interessenten fanden sich so zu ernsthaftem Studium der Bahá’í-Weltreligion und der anderen Religionen wie auch zu geselliger Unterhaltung zusammen u. a. in den Niederlanden (Benelux-Sommerschule), in Skandinavien, in Frankreich, in Österreich, der Schweiz und in Deutschland. Eine internationale Bahá’í-Jugendsommerschule vereinte in Weilburg an der Lahn zahlreiche junge Menschen aus vielen Teilen der Welt.




Die Bahá’í-Jugend traf sich in der modernen Jugendherberge Weilburg


[Seite 46]



Dies ist die Lampe, dies ist die Sonne ...[Bearbeiten]

Gelobt sei Dein Name, o Herr mein Gott! Wie groß ist Deine Macht und Deine Souveränität; wie unermeßlich Deine Herrschaft und Deine Stärke! Du hast Ihn ins Leben gerufen, Der in Deinem Namen spricht vor allen, die in Deinem Himmel und auf Deiner Erde sind, und hast Ihm geboten, Seinen Ruf inmitten Deiner Geschöpfe erschallen zu lassen.

Kaum hatte Er jedoch vor Deinem Volke ein Wort ausgesprochen, als die Schriftgelehrten Ihm den Rücken kehrten und die Gelehrten Seine Zeichen verspotteten. Dadurch wurde das Feuer des Aufruhrs in Deinem Lande geschürt, bis die Könige selbst sich erhoben, um Dein Licht auszulöschen, o Du König aller Könige!

Die Feindseligkeit verstärkte sich so sehr, daß man meine Verwandten und Anhänger in Deinem Lande gefangen nahm, und daß man sie, die Dir teuer sind, daran hinderte, Deine Schönheit zu schauen und Deine Barmherzigkeit zu suchen. Doch konnte diese Feindseligkeit das Feuer, das in ihren Herzen brannte, nicht löschen. Schließlich nahm der Feind Ihn, die Manifestation Deiner Schönheit, den Enthüller Deiner Zeichen, gefangen und kerkerte Ihn ein in der Festung ’Akká und versuchte, Ihn daran zu hindern, Deiner zu gedenken und Deinen Namen zu preisen. Dein Diener ließ sich jedoch nicht abhalten, das zu tun, was Du Ihm geboten hattest. Über dem Horizonte der Heimsuchung hat Er Seine Stimme erhoben und rufet laut; Er ladet alle Bewohner des Himmels und alle Einwohner der Erde ein zur Unermeßlichkeit Deiner Gnade und zum Hofe Deines Erbarmens. Tag und Nacht sendet Er die Zeichen Deiner unumschränkten Macht herab und enthüllt die klaren Beweise Deiner Majestät, um die Seelen Deiner Geschöpfe zu Dir hinzuziehen, damit sie sich selbst vergessen und sich Dir zuwenden, sich von ihrem Elend befreien, nach dem Heiligtum Deines Reichtums streben und aus ihrer Erbärmlichkeit zum Hofe Deiner Majestät und Herrlichkeit fliehen.

Dies ist die Lampe, die das Licht Deines eigenen Wesens angezündet hat, und die Winde des Mißklanges können ihren Glanz niemals auslöschen. Dies ist das Weltmeer, das durch die Macht Deiner unumschränkten Gewalt ebbt und flutet, und die Ungläubigen, die am Jüngsten Gericht gezweifelt haben, können seine Wogen niemals glätten. Dies ist die Sonne, die am Himmel Deines Willens scheint, und ihre Pracht kann niemals durch die Schleier der Bösen und die Zweifel der Übeltäter verdunkelt werden.

Ich bringe Dir meinen Dank dar, o mein Gott, da Du mich auf Deinem Pfade aufgeopfert hast und mich zum Ziel der Leidenspfeile machtest, als ein Zeichen Deiner Liebe zu Deinen Knechten, und mich um der Wiedergeburt Deines Volkes willen für alle Arten von Heimsuchungen ausersehen hast.

Wie süß schmecken mir die Leiden, die Du mir schickst, und wie teuer sind die Fügungen Deiner Vorsehung meinem Herzen! Wehe der [Seite 47] Seele, die vor den Drohungen der Könige flieht und versucht, sich in Deinen Tagen selbst zu retten! Ich schwöre bei Deiner Herrlichkeit! Wer von den lebendigen Wassern Deiner Gunst getrunken hat, braucht auf Deinem Pfade keine Schwierigkeiten zu fürchten, und keine Heimsuchungen können ihn daran hindern, Deiner zu gedenken oder Dein Lob zu preisen.

Ich bitte Dich, o Du mein Herrscher, Du Besitzer aller Namen — behüte diejenigen, die von mir abstammen, die Du mit Dir Selbst verbunden hast, denen Du in dieser Offenbarung Deine besondere Gunst zeigtest, und denen Du geboten hast, sich Dir zu nähern und sich dem Horizonte Deiner Offenbarung zuzuwenden. Verweigere ihnen die Ausgießungen Deiner Barmherzigkeit nicht, o mein Gott, oder den Glanz des Tagesgestirns Deiner Gnade. Befähige sie, sich unter Deinem Volke auszuzeichnen, damit sie Dein Wort preisen und Deine heilige Sache fördern mögen. Hilf ihnen, o mein Gott, Deinen Willen zu tun und Dir wohlzugefallen.

Es gibt keinen Gott außer Dir, dem Allmächtigen, dem Erhabensten, dem Höchsten.

Bahá’u’lláh

(„Prayers and Meditations“, XCI)



NEU AUF UNSEREM Büchertisch[Bearbeiten]

Friedrich Heiler: „Die Religionen der Menschheit in Vergangenheit und Gegenwart“. Unter Mitarbeit von Kurt Goldammer u. a. Mit 48 Tafeln, Stuttgart, Reclam 1959. 1063 Seiten, Lw., 16.80 DM.

Der Autor behandelt das Thema allgemeinverständlich; den lebenden Religionen hat er größeren Raum zugebilligt. In seiner Darstellung der außerchristlichen Religionen sind Originaltexte eingestreut; im Kapitel „Christentum“ hat er darauf verzichtet, wohl weil die Quellen für jeden leicht zugänglich sind.

Heiler und seine Mitarbeiter zeichnen einleitend ein Bild von den verschiedenen Erscheinungsformen der Religion und berichten dann von der Religion der prähistorischen und schriftlosen Zeit, von den Religionen der Hochkulturen Amerikas (Azteken, Maya, Inka). Außer den bekannten Hochreligionen behandelt Heiler die griechische, römische und germanische Gottverehrung. Sekten führt er nicht an. Entgegen sonstiger Gepflogenheiten wird die Bahá’í-Religion nicht als Sekte oder Reformbewegung des Islam aufgeführt. Vielmehr hat Heiler sie mit anderen Bestrebungen, deren Ziel die Einheit der Religion ist, in einem besonderen Kapitel: „Versuche einer Synthese der Religionen und einer neuen Menschheitsreligion“ zusammengefaßt. Bei Durchsicht des sehr reichhaltigen Literaturverzeichnisses fällt auf, daß der Verfasser offensichtlich nur die Schriften von Roemer und Rosenkranz benutzte. Sollten ihm keine authentischen Bahá’í-Schriften von Bahá’u’lláh, ’Abdu’l-Bahá oder Shoghi Effendi zur Verfügung gestanden haben? Dankbar begrüßt man die Erkenntnis, daß der sich abzeichnende Weg zur Einheit der Menschheit auch zur Einheit der Religionen führen wird und daß heute eine „splendid isolation“ auch auf dem Gebiet der Religion nicht mehr möglich ist.

-awe-


[Seite 48]


Gert von Natzmer: „Die geistigen Mächte unseres Jahrhunderts. Religionen und Heilslehren, Sekten und Ideologien.“ Berlin, Safari-Verlag 1958. 230 Seiten, Lw., 19.80 DM.

Welche geistigen Mächte wirken heute? Der Verfasser unternimmt es, Antwort auf diese Frage zu geben. Das geschieht in einer gut lesbaren, lebendigen und von einem starken Einfühlungsvermögen getragenen Weise. Die beigegebene Bildauswahl ist mit sicherem Instinkt für die religiöse Erlebniswelt und Frömmigkeit der einzelnen Glaubensrichtungen getroffen.

Es sind vielerlei geistige Mächte, die den Sucher von heute formen und gestalten. Der Verfasser beginnt mit der Darstellung des Christentums, das mit seinen mannigfachen Erscheinungsformen einen breiten Raum in dem Buch einnimmt. Kürzer behandelt werden der Islam und die Weltreligionen des Ostens sowie die Ideologien. Auch die Bahá’í-Religion findet eine sachliche Würdigung. von Natzmer versteht es gut, die Erscheinungs- und Erlebniswelt sowie das Wesen der Religionen und Sekten darzustellen. Bemerkenswert, zu welchem Ergebnis er in seiner ruhig abwägenden Art kommt: „Die Leitbilder der Vergangenheit sind fast überall verblaßt und haben vieles von ihrer einstigen Strahlungskraft verloren.“ Im Schlußkapitel „An der Schwelle des kommenden Weltalters“ finden wir, wie bei Heiler, die Auffassung, „daß bis dahin einander ferne und fremde geistige Welten auf neu gewonnener Ebene zueinander finden.“

-awe-



Arnold J. Toynbee: „Das Christentum und die Religionen der Welt.“ Aus dem Englischen. 1959. 126 Seiten, Lw., 8.80 DM.

In diesem Buch wird die Einstellung der Christen zu den Anhängern der anderen großen Religionen von heute aufgezeigt, wie sie ist und wie sie sein sollte, Es geht also nicht vorwiegend um eine religionswissenschaftliche Darstellung der übrigen Religionen; vielmehr kommt Toynbee als Mahner. Er will auf die Gefahr aufmerksam machen, die heute der Religion droht „durch die Anbetung unserer eigenen Person in der Gestalt menschlicher Kollektivmacht.“ Toynbee hält es für besonders notwendig, daß das Christentum einen Weg der Annäherung an die übrigen Religionen findet. Er ist der Meinung, das Christentum müsse sich von der überkommenen „christlichen Vorstellung“ lösen, es sei „völlig einzigartig“; auch müsse es sich vom Geist der Exklusivität und Intoleranz befreien. Im Hinblick auf die Bahá’í-Religion äußert der Verfasser, zwar erwarte er keine Verschmelzung der historischen Religionen, doch habe er beim Anblick des Bahá’í-Tempels in Wilmette „das Gefühl, daß dieses schöne Gebäude in gewisser Weise für die Zukunft von Vorbedeutung sein könnte.“ Die Tendenz des Buches: Die Religionen sollten angesichts der Gefahr zusammenstehen, und: „Alle Religionen sollen unter Beibehaltung ihrer geschichtlich gewachsenen Form füreinander aufgeschlossener im Geist und, was noch wichtiger ist, im Herzen werden.“ Das jedoch wäre der von der Bahá’í-Religion aufgezeichnete Weg der Einheit.

-awe-



Die „BAHA’I-BRIEFE“ werden vierteljährlich herausgegeben vom Nationalen Geistigen Rat der Baha’i in Deutschland e. V., Frankfurt/Main, Westendstraße 24. Alle namentlich gezeichneten Beiträge stellen nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers oder der Redaktion dar.

Redaktion: Dipl.-Volksw. Peter A. Mühlschlegel, Leinfelden/Württ., Jahnstraße 8, Telefon (07 11) 79 16 74, und Dieter Schubert, Leinfelden/Württ., Fliederweg 3, Telefon (07 11) 795 35.

Druck: Buchdruckerei Karl Scharr, Stuttgart-Vaihingen, Scharrstraße 13.

Vertrieb: „BAHA’I-BRIEFE“, Auslieferungsstelle Eßlingen-Obereßlingen a. N., Georg-Deuschle-Straße 86, Telefon (07 11) 35 91 08.

Preis: DM —,80 je Heft, einschließlich Versandkosten, im Abonnement DM 3,20 jährlich. Zahlungen erbeten an den Nationalen Geistigen Rat der Baha’i in Deutschland e. V., Baha’i-Verlag, Frankfurt (Main), Postscheckkonto Stuttgart 35 768, mit dem Vermerk „BAHA’I-BRIEFE“.