Bahai Briefe/Heft 1/Text

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BAHÁ'I-

BRIEFE


BLÄTTER FÜR

WELTRELIGION UND

WELTBEWUSSTSEIN



AUS DEM INHALT:

Die Baha’i-Religion — die Religion der Einheit

’Abdu’l-Baha: Sendschreiben an Professor Forel

Die christlichen Dogmen


JULI 1960 HEFT 1


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An unsere Leser!

Von vielen früheren Lesern der „SONNE DER WAHRHEIT“ wurde immer wieder an uns der Wunsch herangetragen, diese Zeitschrift, die bis 1953 erschienen ist, erneut wieder herauszubringen. In den Jahren 1955—1958 haben die „NEUNZEHN-TAGE-BRIEFE“ in zunehmendem Maße Freunde gewonnen. Nachdem sich der Nationale Geistige Rat der Bahá’i in Deutschland e.V. entschlossen hatte, wieder eine umfassendere Bahá’i-Zeitschrift ins Leben zu rufen, wurden die „NEUNZEHN-TAGE-BRIEFE“ eingestellt.

Wir freuen uns nun, Ihnen heute die erste Ausgabe der „BAHÁ’I-BRIEFE“ vorlegen zu können, die zunächst vierteljährlich erscheinen werden. Diese Zeitschrift in schlichtem Gewande soll dazu dienen, unserem Leserkreis neben der Veröffentlichung von Texten aus Heiligen Schriften, vornehmlich aus der Bahá’i-Religion, die Behandlung aktueller Fragen im Lichte dieses Glaubens zu vermitteln. Darüber hinaus wollen die „BAHÁ’I-BRIEFE“ ein lebendiges Bild vom Geschehen in der weltweiten Bahá’i-Gemeinde geben.

Vielleicht ist es möglich, zu einem späteren Zeitpunkt das Wiedererscheinen der „SONNE DER WAHRHEIT“ als Fortführung der „BAHÁ’I-BRIEFE“ in neuer Gestalt in Angriff zu nehmen. Mögen die „BAHÁ’I-BRIEFE“ einen wachsenden Leser- und Freundeskreis finden! In diesem Sinne wünschen wir dieser Zeitschrift, die von dem göttlichen Impuls eines neuen, umfassenden und einigenden Glaubens künden will, ein gutes Echo.

Der Nationale Geistige Rat der Bahá'i in Deutschland e.V.


[Seite 2]

Die Religion der Einheit[Bearbeiten]

In unseren Tagen dürfen wir Zeuge sein von etwas Seltenem und Erhabenem. Wir dürfen Zeuge sein vom Entstehen und Wachsen einer religiösen Bewegung, die den Anspruch erhebt, die Weltreligion der Zukunft zu sein.

Ihre Geschichte begann im Jahre 1844, als sich ein 25jähriger Kaufmann aus Schiraz, Ali Muhammad, als der „Báb“ erklärte, als das „Tor“ für den, den Gott offenbaren werde, und der größer als Er selbst sei. Sechs Jahre noch waren dem Báb vergönnt zu wirken; Er wurde von Gefängnis zu Gefängnis deportiert, bis Er schließlich auf Betreiben der orthodoxen Geistlichkeit am 9. Juli 1850 den Märtyrertod erleiden mußte.

Der, dessen Kommen vorausgesagt wurde, scharte die traurigen, mutlosen Anhänger des Báb um sich und erklärte sich als Bahá’u’lláh, die „Herrlichkeit Gottes“, Er bekräftigte seinen Anspruch in zahllosen Schriften und Briefen, die Er den Gläubigen, der Geistlichkeit und den Herrschern des Ostens und des Westens zusandte. Bis zum Jahre 1892, dem Jahre seines Hinscheidens, blieb Er ein Gefangener, insgesamt 40 Jahre lang, zuletzt in der Strafkolonie von Akka in Palästina, wo Seine irdischen Überreste heute ruhen.

Sein ältester Sohn ’Abbás Effendi, bekannt unter Seinem geistigen Namen ’Abdu’l-Bahá, der „Diener Gottes“, wurde von Bahá’u’lláh testamentarisch zum Mittelpunkt Seines Bündnisses und zum Ausleger Seiner Schriften ernannt. Auch Er blieb bis zur Jungtürkischen Revolution im Jahre 1908 ein Gefangener. Nach Seiner Befreiung unternahm Er 1911 bis 1913 Reisen durch Europa und die Vereinigten Staaten von Amerika, wo Er die Lehre Seines Vaters in Kirchen, Synagogen und Veranstaltungen aller Art vorbrachte. Als ’Abdu’l-Bahá im Jahre 1921 in Palästina starb, hatte die Bahá’i-Religion bereits in 39 Ländern Fuß gefaßt.

Mit dem Hinscheiden ’Abdu’l-Bahás endete das Heroische Zeitalter des Bahá’i-Glaubens, und es begann eine Periode, welche die Bahá’i das „Gestaltede Zeitalter“ nennen. In Seinem Willen und Testament bestimmte ’Abdu’l-Bahá Seinen Enkel Shoghi Effendi zum Hüter des Glaubens.

In den 36 Jahren des Wirkens von Shoghi Effendi wurde die Lehre Bahá’u’lláhs in über 250 Ländern verbreitet, die Bahá’i-Literatur in 260 Sprachen übersetzt, und in mehr als 4500 Städten und Dörfern in allen Kontinenten entstanden Bahá’i-Zentren und Gemeinden.

Nach dem Hinscheiden von Shoghi Effendi im November 1957 arbeiteten die Bahá’i in der ganzen Welt an einem von ihm entworfenen Plan, der als End- und Höhepunkt die Errichtung des „Universalen Hauses der Gerechtigkeit“ zum Ziel hat. Dieser hohe Rat, als Institution von Bahá’u’lláh geschaffen, wird die gesetzgeberischen Belange der Bahá’i-Welt in Zusammenarbeit mit lokalen und nationalen Häusern der Gerechtigkeit regeln.

Einheit ist die Achse, um die sich alle Lehren Bahá’u’lláhs drehen. Er lehrt die Existenz und die Einheit eines persönlichen Gottes, Er lehrt [Seite 3] die Einheit der Gottgesandten, die, obwohl unter verschiedenen Bedingungen und dem Fassungsvermögen der Völker angepaßt, das gleiche Wort Gottes und die gleiche Wahrheit verkündet haben. Nach Bahá’u’lláh umfaßt der göttliche Offenbarungsplan auch diejenigen Religionen, die nicht in der biblischen Reihe der Offenbarung stehen, wie Buddha, Zarathustra und Muhammad. Er anerkennt den göttlichen Ursprung selbst der Naturreligionen, deren Überreste wir heute als Götzenanbetung betrachten.

Es ist die Absicht der Sendung Bahá’u’lláhs, innerhalb der Kette der nie abgeschlossenen Gottesoffenbarungen die Einheit des ganzen Menschengeschlechtes zu errichten und eine göttliche Weltzivilisation zu begründen. Die Religion Gottes im Zeitalter von Bahá’u’lláh besteht darin, für die Erlösung der gesamten Menschheit zu leben und zu wirken.

Bahá’u’lláh lehrt, daß jeder Gottesoffenbarer mit absoluter göttlicher Macht und göttlichem Wissen ausgestattet ist, daß aber jede Offenbarung dem Begriffsvermögen der Menschen und der Völker ihres Zeitalters angepaßt und daher relativ und fortschreitend ist.

Viele Prinzipien, die die moderne Welt ihr eigen nennt, gehören zu den Glaubenslehren der Bahá’i-Religion, so z.B. das selbständige Suchen nach Wahrheit, das Ablegen jeglicher Vorurteile religiöser, rassischer und nationaler Art, die Gleichberechtigung und bestmögliche Erziehung beider Geschlechter, die Einführung einer Welthilfssprache und einer Weltschrift sowie internationaler Systeme für Geld, Maß und Gewicht, ferner die Forderung nach gegenseitiger Ergänzung und Übereinstimmung von Wissenschaft und Religion, wobei die Wissenschaft für die Bahá’i vor allem eine technische, erkennende und die Religion eine schöpferische und aufbauende Aufgabe hat, die Lösung der sozialen Fragen dahingehend, daß extremer Reichtum und krasse Armut verschwinden sollen, daß jede Arbeit, die im Dienst an der Menschheit getan wird, zum Gottesdienst erhoben und jedermann zur Pflicht gemacht ist. Alle diese Grundsätze wurden von Bahá’u’lláh schon vor 90 Jahren im mittelalterlichen Persien aufgestellt.

Bahá’u’lláh bejaht das Leben nach dem Tode und spricht von der Einheit von Diesseits und Jenseits. Das Verhältnis zwischen dieser Welt und der kommenden ist vergleichbar mit der Welt im Mutterleibe im Vergleich zu dieser Welt. Wir können durch Gebet und gute Werke die geistige Entwicklung derer fördern, die das irdische Gewand abgelegt haben. Andererseits ist unsere irdische Entwicklung beeinflußt durch den Beistand der Abgeschiedenen, die heute mit uns weben an der Einheit der ganzen Menschheit.

In Bahá’u’lláh erblicken die Bahá’i die Erfüllung aller geschichtlichen Religionen. In Seinem „Buch der Gewißheit“ lehrt Er die grundsätzliche Einheit der Religion. Er zeigt, wie die Heiligen Schriften der verschiedensten Religionen völlig im Einklang miteinander sind. Diese Einheit erstreckt sich auf die Boten Gottes, die gleich einem vollkommenen Spiegel die göttliche Wirklichkeit widerspiegeln. Ein zerbrechlicher Spiegel darf im Anblick der Sonne mit Recht von sich behaupten: „In mir ist die Sonne“ [Seite 4] oder „Ich bin ein Mittler“ oder „Ich bin ein vergänglicher Spiegel“. Genauso darf uns die verschiedenartige Sprache der Gottesoffenbarer, die als Mensch, Mittler und zugleich als lebendiger Gott zu den Menschen gesprochen haben, nicht dazu verleiten, aus ihren Äußerungen Absolutheits- und Endgültigkeits-Ansprüche für eine der geschichtlichen Religionen abzuleiten. Solche Ansprüche stünden im Widerspruch nicht nur zur Erkenntnis der Einheit der Religion, sondern auch zum Gedanken der Wiederkunft des Offenbarers, welcher in allen Hochreligionen auftritt.

Die Bahá’i wissen das Vorrecht zu schätzen, im Besitze von nicht weniger als einhundert authentischen Schriften Bahá’u’lláhs zu sein, die zum größten Teil im Bahá’í’-Archiv im Original aufbewahrt werden.

Gott, in Seinem Wesen unerkennbar, hat, so glauben die Bahá’i, in dieser düsteren Stunde der Menschheit Bahá’u’lláh gesandt, um ihr die göttliche Absicht des geistigen Friedens, dem ein politischer Friede vorangehen wird, kundzutun. Jede Organisation, die sich gegen die Verwirklichung des hohen Zieles der Einheit stellt, gleichgültig, ob es sich um eine religiöse, politische oder sonstige Gemeinschaft handelt, trägt den Keim der Vernichtung in sich. Die geistige Einheit der Menschheit ist der Inbegriff des göttlichen Planes, und was den menschlichen freien Willen betrifft, so kann er nicht weniger und nicht mehr als die Qualen und die Zeitspanne, die uns von diesen herrlichen Tagen trennen, verringern oder vermehren. Die Bahá’i-Religion erklärt ausdrücklich, daß die Reifezeit der Menschheit bald die Erschütterungen der Jugendzeit ablösen wird, und daß das Reich Gottes in unserer sichtbaren Welt errichtet werden wird. So finden wir in allen Lehren Bahá’u’lláhs, ob sie den einzelnen oder die Gemeinschaft angehen, Ansatzpunkte für die potentielle Reife: Dem einzelnen wird die Pflicht auferlegt, mit eigenen Augen zu sehen und mit eigenen Ohren zu hören. Die Einrichtung eines bezahlten Priestertums wird abgeschafft. Die Predigt verliert ihre Bedeutung im Gottesdienst. In den Häusern der Andacht sollen Heilige Schriften der verschiedenen Religionen ohne menschliche Kommentare und Auslegungen vorgetragen werden. Riten und menschengesetzte Dogmen verschwinden, die sakramentalen Handlungen werden im Sinne der neuen Darlegungen der ewigen Wahrheiten durch Bahá’u’lláh geistig-symbolisch verstanden, ihre Beibehaltung wird nicht mehr empfohlen.

Die Bahá’i arbeiten heute in der ganzen Welt mit einem beispiellosen Enthusiasmus, frei von konfessionellen und parteipolitischen Bindungen, an der Verwirklichung der Ziele, welche sie von Bahá’u’lláh, dem Sprachrohr Gottes in unserer Zeit, gesetzt bekommen haben. Nicht weniger als 20000 Gläubige zeugten in der kurzen Geschichte dieser Religion mit ihrem Blut für die Wahrheit ihrer Sache. Erfüllt von der Begeisterung dieser heldenhaften Märtyrer, bemühen sich die Bahá’i heute in aller Welt, suchenden Menschen aus allen Völkern, Rassen und Gesellschaftsschichten die frohen Botschaften Bahá’u’lláhs zu bringen; denn die Bahá’i-Religion, die trotz ihres raschen Fortschrittes erst einen kleinen Teil der Menschheit erfaßt hat, ist für die, die sich zu ihr bekennen, Gewißheit und Zuversicht, daß Gott uns in dieser Schicksalsstunde nicht allein gelassen hat.

Huschmand Sabet.

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'Abdu'l-Bahá:

Sendschreiben an Professor Forel[Bearbeiten]

Dr. med. Auguste Henri Forel wurde am 1. 9. 1848 in Morges (Kanton Waadt, Schweiz) geboren. Von 1879 bis 1898 war er Professor der Psychiatrie in Zürich. Er machte wertvolle Entdeckungen auf dem Gebiet der Hirn- und Nervenanatomie, der Entomologie (Insektenkunde) und grundlegende Studien über den Hypnotismus; daneben betätigte er sich als Sozialethiker, als Vorkämpfer der Abstinenzbewegung und Förderer des Friedensgedankens. Seit 1921 Bahá’í, starb er am 27. 7. 1931 in Yvorne.
Über seinen Übertritt zur Bahá’i-Religion schrieb Forel: „Erst im Januar 1921 lernte ich im Hause meines Schwiegersohns die Bahá’i-Bewegung kennen. Ich schrieb dann direkt an 'Abdu'l-Bahá, der damals noch lebte. Er versicherte mir, daß Monisten und Darwinisten wie ich ebenso Bahá’i sein könnten wie die Anhänger der verschiedenen Glaubensrichtungen... Dann wurde ich Bahá’i wie mein Schwiegersohn, Dr. A. Brauns.“
(Forel, The World Vision of a Savant, in: Bahá’i-Magazine „Star of the West“, Jg. 18, Nr. 11, Febr. 1928, S. 341).
In seinem Testament schrieb Forel: „Ich wurde Bahá’i. Möge diese Religion leben und gedeihen zum Wohle der Menschheit; dies ist mein innigster Wunsch!” (Zitiert in: „Appreciations of the Bahá’i Faith“, 2. Aufl., Wilmette 1947, S. 37).
’Abdu’l-Bahás Brief an Professor Dr. Forel, datiert Haifa, 21. September 1921, ist die Antwort auf Forels Brief vom 28. Juli 1921, und Shoghi Effendi bezeichnete ihn als „eines der schwerstwiegenden Sendschreiben, die Er je geschrieben hat“. (Shoghi Effendi, „Gott geht vorüber“, Oxford 1954, S. 350).
Die vorliegende deutsche Übersetzung wurde von der 1922 in Kairo gedruckten Ausgabe des persischen Originaltextes und der englischen Übersetzung von Shoghi Effendi (in: Bahá’i Magazine „Star of the West“, Jg. 14, Nr. 4, Juli 1923, S. 101-109; desgl. in: “The Bahá’i Peace Program“, New York 1930, S. 31-47), angefertigt; die erste deutsche Veröffentlichung („Sonne der Wahrheit“, III. Jg. 1923, S. 98) wurde herangezogen.


Dem geschätzten und verehrten Herrn Professor Dr. Forel — auf ihm sei die Herrlichkeit Gottes, des Allherrlichen!

Er ist Gott!1)

O verehrter Wahrheitssucher! [Seite 6]

Dein Brief vom 28. Juli 1921 kam an. Sein Inhalt brachte große Freude und bewies, daß Du — Preis sei Gott! — noch jung bist und nach der Wahrheit strebst, daß die Kräfte Deines Denkens stark und die Entdeckungen Deines Geistes offenbar sind.

Von dem Brief, den ich an Dr. Fisher geschrieben hatte, sind viele Abschriften verbreitet worden; jeder weiß, daß er im Jahre 1910 geoffenbart worden ist. Außer diesem Brief wurden vor dem Kriege viele weitere gleichen Inhalts verfaßt, und in der Zeitschrift der Universität von San Franzisco2) ist auf diese Fragen hingewiesen worden. Das Datum jener Zeitschrift ist zweifellos bekannt, ebenso auch das hohe Lob weitsichtiger Philosophen über eine Rede, die in der erwähnten Universität mit äußerster Beredsamkeit gehalten wurde; ein Exemplar jener Zeitschrift liegt deshalb diesem Briefe bei.

Deine Werke sind zweifellos sehr segensreich; darum sende uns von jedem ein Exemplar, soweit sie veröffentlicht sind.

Mit den Materialisten, von deren Ansichten über das Göttliche die Rede war, sind nicht die Philosophen im allgemeinen, sondern jene Gruppe von Materialisten gemeint, die kurzsichtig das sinnlich Wahrnehmbare verehren, die sich nur auf die fünf Sinne verlassen, und deren Erkenntnismaßstäbe auf das begrenzt sind, was durch die Sinne wahrgenommen werden kann. Alles sinnlich Wahrnehmbare ist ihnen wirklich, während sie alles, was nicht der Kraft der Sinne unterliegt, entweder für unwirklich oder für zweifelhaft erachten. Daß es eine Gottheit gibt, halten sie für völlig zweifelhaft.

Gemeint sind nicht die Philosophen insgesamt; es ist, wie Du geschrieben hast: Gemeint sind die geistig kurzsichtigen Naturphilosophen. Die an Gott glaubenden Philosophen wie Sokrates, Plato und Aristoteles sind in der Tat verehrungswürdig und verdienen höchstes Lob; sie haben der Menschheit hervorragende Dienste erwiesen. In gleicher Weise schätzen wir die feingebildeten und bescheidenen Naturphilosophen, die der Menschheit Dienste geleistet haben.

Wir betrachten Erkenntnis und Weisheit als Grundlagen des Fortschrittes der Menschheit und verehren weitsichtige Philosophen. Lies die Zeitschrift der Universität von San Franzisco genau durch, damit Dir die Wahrheit offenbar werde.

Was die Verstandeskräfte angeht, so gehören sie wahrlich zu den Besonderheiten der menschlichen Seele, wie die Leuchtkraft eine Grundeigenschaft der Sonne ist. Die Sonnenstrahlen erneuern sich stets, aber die Sonne selbst ist unveränderlich und beständig. Bedenke, wie sich der menschliche Verstand entwickelt und wieder nachläßt oder manchmal ganz schwindet; aber die Seele verbleibt im selben Zustand. Die Offenbarung des Verstandes ist von der Gesundheit des Körpers abhängig. Ein gesunder Verstand kann nur in einem gesunden Körper wohnen, aber die Seele ist nicht vom Körper abhängig. Durch die Kraft der Seele hat der Verstand Auffasung und Vorstellungsvermögen, durch sie übt er [Seite 7] seinen Einfluß aus; aber die Seele ist eine freie Kraft. Der Verstand begreift das Abstrakte mit Hilfe des Konkreten, aber die Seele hat unbegrenzte, eigenständige Offenbarungen. Der Verstand ist begrenzt, die Seele unbegrenzt. Mittels der Sinne — Gesicht, Gehör, Geschmack, Geruch und Gefühl — begreift der Verstand, aber die Seele bedarf solcher Werkzeuge nicht. Wie Du bemerkst, ist die Seele immer in Bewegung und Tätigkeit, ob wir schlafen oder wachen. Es mag sein, daß sie im Traume eine schwierige Frage löst, die sie im wachen Zustand nicht 1ösen konnte. Wenn dagegen die Sinne nicht arbeiten, kann der Verstand nichts begreifen; im Embryonalzustand und in der frühen Kindheit ist die Urteilskraft noch gar nicht da, indes die Seele immer mit ganzer Stärke ausgestattet ist. Kurz, es gibt viele Beweise, daß die Kraft der Seele fortbesteht, auch wenn der Verstand verloren geht. Jedoch hat der Geist verschiedene Grade und Stufen.

Was das Vorhandensein des Geistes im Mineral anbelangt, so ist es sicher, daß das Mineral mit einem Geist und Leben ausgestattet ist, entsprechend den Notwendigkeiten seiner Stufe. Auch dieses verborgene Geheimnis ist von den Materialisten erkannt worden. Sie behaupten heute, daß alle Dinge Leben haben, wie im Qur’án gesagt ist: „Alle Dinge sind belebt.“

Im Pflanzenreich kommt die Kraft des Wachstums hinzu, und diese Kraft ist der Geist. In der Tierwelt ist die Fähigkeit der Empfindung, im Reiche des Menschen jedoch ist eine allumfassende Kraft vorhanden. Auf allen vorhergegangenen Stufen fehlt die Kraft des Verstandes, aber der Geist (die Seele) ist da und offenbart sich. Der Sinn des Fühlens versteht nicht den Geist, aber die Urteilskraft des Verstandes beweist, daß er existiert.

Ebenso beweist der Verstand das Dasein einer unsichtbaren Wirklichkeit, die alles Erschaffene umfaßt. Sie ist auf jeder Stufe vorhanden und offenbar, aber ihr Wesen liegt über dem Begriffsvermögen des Verstandes. Auch das Mineralreich kann ja das Wesen und die Vollkommenheiten der Pflanzenwelt nicht verstehen; die Pflanzenwelt begreift nicht das Wesen des Tierreiches, und das Tierreich kann die wesenhafte Wirklichkeit des Menschen, die alle Dinge entdeckt und umfaßt, nicht erfassen.

Das Tier ist der Gefangene der Natur, und es kann deren Regeln und Gesetze nicht überschreiten, aber im Menschen ist eine Forscherkraft, die über die Natur hinausreicht und deren Gesetze beherrscht und beeinflußt. Zum Beispiel sind alle Minerale, Pflanzen und Tiere Gefangene der Natur. Selbst die Sonne in all ihrer Pracht ist der Natur derart unterworfen, daß sie keinen eigenen Willen hat und nicht um Haaresbreite von den Naturgesetzen abweichen kann. Ebensowenig können alle anderen Lebewesen, ob sie nun dem Mineral-, dem Pflanzen- oder dem Tierreich angehören, von den Naturgesetzen abgehen; sie sind vielmehr allesamt Sklaven der Natur. Der Mensch dagegen — wenn auch körperlich ein Gefangener der Natur — ist in seinem Verstand und seiner Seele frei und herrscht über die Natur. [Seite 8]

Bedenke wohl: Nach dem Gesetz der Natur lebt und bewegt sich der Mensch auf der Erde, aber sein Geist und sein Verstand greifen in die Naturgesetze ein. Wie der Vogel fliegt er durch die Luft, mit großer Geschwindigkeit fährt er über das Meer, und wie der Fisch taucht er in die Tiefe des Meeres und treibt dort seine Forschungen. Das ist fürwahr ein großer Sieg über die Naturgesetze.

Ebenso steht es mit der Elektrizität. Diese unbändige Kraft, die Berge spaltet, bannt der Mensch in eine Glühlampe — ein offenbarer Eingriff in die Naturgesetze. Auch entdeckt der Mensch die verborgenen Geheimnisse der Natur, die nach dem Naturgesetz geheim bleiben sollen; aus dem Bereich des Unsichtbaren bringt er sie auf die Ebene des Sichtbaren — wiederum ein Eingriff in die Naturgesetze. Der Mensch dringt in die tiefsten Eigenheiten der erschaffenen Dinge, die zu den Geheimnissen der Natur gehören. Auch bringt er längst vergangene und vergessene Ereignisse ans Licht und schließt durch seine Kraft der Induktion auf künftige Geschehnisse, die noch unbekannt sein müßten. Nachrichtenaustausch und Wahrnehmung sind nach den Naturgesetzen auf kurze Entfernungen begrenzt, aber dennoch verbindet der Mensch den Osten und den Westen, dank seiner Geisteskraft, die die Wirklichkeit aller Dinge entdeckt. Auch dies ist ein Eingriff in die Naturgesetze. Alle Schatten sind nach dem Naturgesetz flüchtig; der Mensch jedoch bannt sie auf eine Platte — ein weiterer Eingriff in ein Naturgesetz. Bedenke genau: Alle Wissenschaften, Künste, Handfertigkeiten, Erfindungen und Entdeckungen waren Geheimnisse der Natur und müßten nach dem Naturgesetz verborgen bleiben; aber der Mensch greift in die Gesetze der Natur dank seiner Entdeckerkraft ein und bringt diese verborgenen Geheimnisse aus dem Bereich des Unsichtbaren auf die Ebene des Sichtbaren. Dies ist also wiederum ein Eingriff in die Naturgesetze.

Kurz, jene dem Menschen innewohnende, unsichtbare Geisteskraft nimmt der Natur das Schwert aus der Hand und versetzt ihr einen schweren Schlag. Alle anderen Geschöpfe, wie groß sie auch sein mögen, sind dieser Vollkommenheiten beraubt. Der Mensch besitzt die Kräfte des Willens und des Begreifens, aber die Natur besitzt sie nicht. Die Natur ist gebunden, der Mensch ist frei. Die Natur ist ohne Verstand, der Mensch jedoch ist mit Verstand begabt. Die Natur weiß nichts von der Vergangenheit, der Mensch aber weiß um sie. Die Natur sieht die Zukunft nicht voraus, der Mensch aber erkennt dank seinem Urteilsvermögen, was kommen wird. Die Natur weiß nichts über sich selbst, der Mensch aber weiß von allem.

Wenn jemand annimmt, der Mensch sei nur ein Teil der natürlichen Welt, diese Vollkommenheiten, die er besitzt, seien nur Erscheinungen der Natur, und die Natur sei die Urheberin dieser Vollkommenheiten — deren sie folglich nicht ermangele —, so antworten wir: Der Teil hängt vom Ganzen ab; er kann unmöglich Vollkommenheiten besitzen, die das Ganze nicht hat.

Unter „Natur“ sind die Eigenheiten und die zwangsläufigen Beziehungen zu verstehen, die aus den Wirklichkeiten der Dinge herrühren. Diese Wirklichkeiten der Dinge sind eng miteinander verknüpft, obwohl sie [Seite 9] höchst verschieden sind. Für diese verschiedenen Wirklichkeiten ist eine allvereinigende, wirkende Kraft vonnöten, die sie alle miteinander verbindet. Zum Beispiel sind die Glieder und Organe, Teil und Elemente, die den Körper des Menschen bilden, äußerst verschieden, aber eine vereinigende Wirkkraft, die wir die menschliche Seele nennen, verbindet sie alle miteinander, läßt sie in vollkommener Harmonie und Regelmäßigkeit zusammenwirken und ermöglicht so den Fortbestand des Lebens. Der Körper des Menschen ist dieser alles-vereinenden Kraft völlig unbewußt, und doch hält er sich an ihre Ordnung und arbeitet nach ihrem Willen.

Es gibt zweierlei Schulen von Philosophen. So glaubt Sokrates der Weise an die Einheit Gottes und an das Leben der Seele nach dem Tode. Da seine Meinung der Ansicht seiner kurzsichtigen, ungebildeten Zeitgenossen widersprach, vergiftete man diesen göttlichen Weisen. Alle göttlichen Philosophen, alle Menschen von Weisheit und Einsicht erkannten, wenn sie die unendliche, Vielzahl der Geschöpfe betrachteten, daß in diesem großen, unermeßlichen Weltall alle Dinge im Mineralreich ihr Ende finden, daß aus dem Mineralreich das Pflanzenreich, aus dem Pflanzenreich das Tierreich und aus dem Tierreich die Welt des Menschen entsteht. Die Vollendung dieses grenzenlosen Weltalls in all seiner Größe und Herrlichkeit ist der Mensch, der sich einige Zeit in dieser Welt des Seins müht und von verschiedenen Leiden und Schmerzen quälen läßt; danach zerfällt er, ohne Spuren und Früchte zu hinterlassen. — Wenn dem so wäre, würde dieses unendliche Weltall ohne Zweifel mit all seinen Vollkommenheiten zu nichts anderem führen als zu Wahn und Trug, es bliebe ohne Ergebnis, ohne Frucht, ohne Beständigkeit und ohne Folgen. Es wäre völlig sinnlos. Die Philosophen gewannen hieraus die Gewißheit, daß dem nicht so ist: Diese große Werkstatt mit all ihrer Macht, ihrer verblüffenden Großartigkeit und ihren unendlichen Vollkommenheiten kann nicht einfach in ein Nichts versinken. Es muß folglich noch einen anderen Lebensbereich geben; wie aber das Pflanzenreich das Menschenreich nicht erahnen kann, so wissen auch wir nicht um das hehre Leben, das unserem Erdendasein folgt. Unser Nichtbegreifen jenes Lebens ist jedoch kein Beweis für sein Nichtvorhandensein. Auch das Mineralreich weiß zum Beispiel nichts von der Menschenwelt und kann sie nicht begreifen. Aber Unkenntnis ist niemals ein Beweis für das Nichtvorhandensein. Es gibt zahlreiche treffende Beweise dafür, daß diese unendliche Welt nicht mit dem Menschenleben aufhören kann.

Nun zum Wesen der Gottheit: In Wahrheit ist sie keineswegs durch irgend etwas anderes als sich selbst bestimmt, und es ist unmöglich, sie zu verstehen; denn alles, was der Mensch sich vorstellen kann, ist eine begrenzte, keine unendliche, eine umfaßte, keine umfassende Wirklichkeit — eine Wirklichkeit, die vom Menschen begriffen werden kann und von ihm beherrscht wird. Ebenso ist gewiß, daß alle menschlichen Vorstellungen zufalls- und zeitbedingt und nicht absolut gültig sind; sie haben ein gedankliches, kein reales Sein. Außerdem sind die Stufenunterschiede in dieser Welt des Zufalls ein Hindernis für das menschliche Verständnis. Wie kann also das Zufallsbedingte die Wirklichkeit des [Seite 10] Absoluten begreifen? Es ist, wie wir sagten: Der Unterschied der Stufen im Bereich des Zufallsbedingten ist ein Hindernis für das Verstehen.

Das Mineral, die Pflanze und das Tier entbehren der Verstandeskräfte mit denen der Mensch die Wirklichkeiten der Dinge entdeckt. Der Mensch aber begreift die niedrigere Stufe und entdeckt deren Wirklichkeit. Aber die niedrigere Stufe weiß nichts von der höheren und kann sie unmöglich begreifen. Darum kann sich der Mensch das Wesen der Gottheit nicht vorstellen, doch durch die Gabe seiner Vernunft, durch Beobachtung, durch seine intuitiven Fähigkeiten und durch das Einfühlungsvermögen seines Herzens kann er an Gott glauben und Seine Gnadengaben erkennen. Er kommt zu der Gewißheit, daß schlüssige (geistige) Beweise das Vorhandensein dieser unsichtbaren Wirklichkeit bekräftigen, auch wenn sie unfaßbar ist und dem Auge verborgen bleibt. Das Wesen des Göttlichen jedoch, wie es in sich selbst besteht, ist über jede Beschreibung erhaben. So ist auch das Wesen des Äthers unbekannt; daß es ihn aber gibt, wird aus seinen Wirkungen deutlich: Wärme, Licht und Elektrizität sind seine Schwingungen. Durch diese Schwingungen wird das Dasein des Äthers bewiesen. Und wenn wir die Ausgießungen der göttlichen Gnade erleben, wird uns das Dasein Gottes zur Gewißheit. Wir beobachten zum Beispiel auch, daß das Sein aller erschaffenen Dinge auf der Verbindung verschiedener Elemente, ihr Nichtsein jedoch auf der Auflösung dieser Elemente beruht; denn Auflösung verursacht die Trennung der einzelnen Elemente. Wenn wir so sehen, daß die Verbindung der Elemente die Geschöpfe ins Leben ruft, und wenn wir wissen, daß die Geschöpfe — also die Wirkungen — unendlich sind, wie kann dann die Ursache begrenzt sein?

Nun gehen alle Verbindungen auf dreierlei Art vor sich — eine vierte gibt es nicht: Sie geschehen zufällig, zwangsläufig oder gewollt. Die Verbindung der vielen Elemente, die die erschaffenen Dinge aufbauen, kann nicht zufällig sein; denn jede Wirkung setzt eine Ursache voraus. Sie kann auch nicht zwangsläufig sein; denn dann müßte die Verbindung eine wesenhafte Eigenschaft der zusammengesetzten Teile sein. Wesenhafte Eigenschaften einer Sache lassen sich aber nicht von ihr trennen. Das Licht etwa, das die Dinge sichtbar macht, die Wärme, die die Elemente sich ausdehnen läßt, und die Strahlen sind wesenhafte Eigenschaften der Sonne. Unter solchen Umständen könnte sich keine Verbindung auflösen, da die wesenhaften Eigenschaften einer Sache nicht von ihr zu trennen sind. So bleibt nur die dritte Möglichkeit einer gewollten Verbindung: Eine unsichtbare Kraft, die wir als die urewige Macht bezeichnen wollen, läßt die Elemente zusammenkommen und aus jeder Verbindung ein besonderes Geschöpf entstehen.

Die Eigenschaften und Vollkommenheiten — Wille, Wissen, Macht und andere verehrungswürdige Eigenschaften —, die wir jener göttlichen Wirklichkeit zuschreiben, sind Zeichen, die das Sein der Dinge im Bereich des Sichtbaren widerspiegeln, nicht aber die wahren Vollkommenheiten der göttlichen Wesenheit, die zu begreifen unmöglich ist. Wenn wir zum Beispiel die erschaffenen Dinge betrachten, erkennen wir unendliche Vollkommenheiten, und weil die erschaffenen Dinge von höchster [Seite 11] Ordnung und Vollendung sind, folgern wir, daß jene urewige Macht, von der das Dasein aller Dinge abhängt, nicht unwissend sein kann; wir sagen deshalb, daß sie allwissend ist. Und es steht fest, daß sie nicht schwach sein kann — folglich ist sie allmächtig. Sie ist nicht arm — sie muß allbesitzend sein. Und gewißlich ist sie vorhanden; sie muß also ewiglebend sein. Damit soll gezeigt werden, daß diese Eigenschaften und Vollkommenheiten, die wir jener umfassenden Wirklichkeit zuschreiben, nur dazu dienen, Unvollkommenheiten an ihr zu bestreiten, nicht dagegen die Vollkommenheiten, die im Bereich des menschlichen Verstehens liegen, an ihr zu beweisen. Folglich sagen wir, daß ihre wirklichen Eigenschaften unerforschlich sind.

Kurz, jene umfassende Wirklichkeit mit all den Merkmalen und Eigenschaften, die wir ihr zuschreiben, ist heilig und erhaben über alles Erfühlen und Begreifen. Aber wenn wir mit hellem Geist über dieses unendliche Weltall nachdenken, wird uns klar, daß es ohne bewegende Kraft keine Bewegung, ohne Ursache keine Wirkung geben kann, daß jedes Geschöpf unter zahlreichen Einwirkungen entstanden ist und fortgesetzt neuen Einwirkungen unterliegt. Diese Einwirkungen gehen wieder auf andere Einwirkungen zurück. Die Pflanze zum Beispiel wächst und blüht durch das Strömen der Frühlingsschauer, während die Wolke durch andere Kräfte entsteht; diese Kräfte gehen auf wieder andere Kräfte zurück. Pflanze und Tier wachsen und gedeihen unter dem Einfluß dessen, was die Gelehrten unserer Tage als Sauerstoff und Wasserstoff bezeichnen; sie stehen unter der Einwirkung dieser beiden Elemente, aber diese selbst entstehen wieder unter anderen Einflüssen. Das gleiche kann von anderen erschaffenen Dingen gesagt werden, ob sie nun wieder andere Dinge beeinflussen oder von ihnen beeinflußt werden. Diese Ursachenkette setzt sich fort; aber die Behauptung, sie sei ohne Ende, ist offenkundig absurd. Sie muß am Ende notwendigerweise zu Ihm führen, dem Ewig-Seienden, dem All-Machtvollen, der der Selbstbestehende und die letzte Ursache ist. Diese umfassende Wirklichkeit kann nicht wahrgenommen, nicht erschaut werden, Das muß notwendigerweise so sein; denn sie ist allumfassend und nicht begrenzt, und die ihr zugeschriebenen Eigenschaften kennzeichnen die Wirkung und nicht die Ursache.

Wenn wir weiter nachdenken, stellen wir fest, daß der Mensch wie eine winzige Mikrobe in einer Frucht ist. Diese Frucht hat sich aus der Blüte entwickelt, die Blüte ist aus dem Baum hervorgegangen, und der Baum ernährt sich aus dem Pflanzensaft, der aus Erde und Wasser entsteht. Wie kann nun diese kleine Mikrobe das Wesen des Gartens begreifen, sich den Gärtner vorstellen und dessen Dasein verstehen? Dies ist unmöglich. Aber wenn jene Mikrobe Verstand hätte und nachdenken könnte, würde ihr klar, daß der Garten und der Baum, die Blüte und die Frucht niemals von selbst in solcher Ordnung und Vollkommenheit entstehen konnten. In gleicher Weise erkennt der vernünftige Mensch, wenn er überlegt, daß dieses unendliche All in seiner ganzen Größe und Ordnung nicht von selbst entstanden sein kann.

Ebenso gibt es in der Welt der Schöpfung unsichtbare Kräfte, unter anderen die vorerwähnte Kraft des Äthers, die nicht wahrnehmbar und [Seite 12] nicht sichtbar sind. Doch durch die Wirkungen des Äthers, durch seine Wellen und Schwingungen, werden Licht, Wärme und Elektrizität bemerkbar und offenbar. Das gleiche gilt für die Kräfte des Wachstums, der Gefühle, des Verstandes, des Denkens, des. Gedächtnisses, der Vorstellung und des Urteilsvermögens. Diese geistigen Kräfte sind alle unsichtbar und nicht wahrnehmbar, werden aber offenkundig durch die Wirkungen, die sie hervorbringen.

Was nun die unendliche Kraft betrifft, die keine Grenzen kennt, so ist die Begrenzung der Beweis für das Vorhandensein des Unbegrenzten, denn das Begrenzte wird durch das Unbegrenzte bekannt, so wie die Schwäche der Beweis dafür ist, daß es Macht gibt. Die Unwissenheit beweist, daß es Wissen gibt. Die Armut beweist, daß es Reichtum gibt. Ohne Reichtum gäbe es keine Armut, ohne Wissen keine Unwissenheit, ohne Licht keine Finsternis. Die Finsternis ist ein Beweis für das Vorhandensein des Lichts, denn Finsternis bedeutet Mangel an Licht.

Was die Natur angeht, so besteht sie nur aus den wesentlichen Eigenheiten und den zwangsläufigen Beziehungen, die den Wirklichkeiten der Dinge eigen sind. Obwohl diese unbegrenzten Wirklichkeiten wesensverschieden sind, stehen sie doch in innigster Eintracht und in engster Verbindung zueinander. Wer seinen Blick weitet und scharf beobachtet, dem wird klar, daß jede Wirklichkeit nichts weiter als eine wesentliche Voraussetzung für andere Wirklichkeiten ist. Um diese verschiedenartigen unendlichen Wirklichkeiten zu verbinden und in Einklang zu bringen, ist eine alles vereinende Macht vonnöten, die bewirkt, daß jeder Teil der Schöpfung seine Aufgabe in vollendeter Ordnung erfüllt. Betrachte etwa den Körper des Menschen und nimm ihn, den Teil, als Sinnbild für das Ganze. Sieh, wie die verschiedenen Teile und Glieder des menschlichen Körpers eng und harmonisch miteinander verbunden sind. Jeder Teil ist eine unabdingbare Voraussetzung aller anderen Teile und hat seine eigene Aufgabe. Doch die Seele, die allvereinende Kraft, verbindet alle Einzelteile derart miteinander, daß sie ihre Aufgabe in vollendeter Ordnung erfüllen; Zusammenarbeit und Rückwirkungen werden so ermöglicht. Alle Teile arbeiten nach bestimmten Gesetzen, die lebensnotwendig sind. Wird jene vereinende Kraft, die alle Teile leitet, auf irgendeine Weise gestört, dann hören die Einzelteile auf, ordnungsgemäß zu arbeiten. Und obwohl die vereinende Kraft im menschlichen Körper weder wahrnehmbar noch sichtbar und dem Wesen nach unbekannt ist, offenbart sie sich doch mit ganzer Macht durch ihre Wirkungen.

Damit ist bewiesen und dargelegt, daß die unendlich vielen Geschöpfe in diesem wunderbaren Weltall nur dann ihre Aufgaben richtig erfüllen können, wenn sie gelenkt und überwacht werden von jener allumfassenden Wirklichkeit, die in der Welt Ordnung schafft. So ist es zum Beispiel unzweifelhaft klar, daß die verschiedenen Organe des menschlichen Körpers aufeinander einwirken und zusammenarbeiten, aber das genügt nicht. Eine alles vereinende Kraft ist notwendig, die die einzelnen Organe lenkt und überwacht, damit sie durch Wechselwirkung und Zusammenarbeit ihre jeweiligen lebensnotwendigen Aufgaben in vollkommener Ordnung erfüllen. [Seite 13]

Gottseidank weißt Du wohl, daß zwischen allen erschaffenen Dingen, ob groß oder klein, bewiesenermaßen Wechselwirkung und Zusammenarbeit herrschen. Bei großen Körpern sind die Wechselwirkungen so klar wie die Sonne; bei kleinen mögen Wechselwirkungen zwar unbekannt bleiben, aber was für das Ganze gilt, ist auch für seine Teile gültig. All diese Wechselwirkungen sind folglich mit einer allumfassenden Kraftquelle verbunden, welche ihre Achse, ihr Mittelpunkt, ihr Ursprung und ihr Antrieb ist.

So ist, wie wir sahen, die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Organen des menschlichen Körpers klar erwiesen; die einzelnen Organe und Glieder leisten allen anderen Körperteilen ihre Dienste. Z. B. Hände, Füße, Augen, Ohren, Verstand und Vorstellungskraft — sie alle helfen den verschiedenen Teilen und Gliedern des Körpers, aber alle ihre Wechselwirkungen sind durch eine unsichtbare, umfassende Kraft verbunden, die diese Wirkungen mit vollkommener Regelmäßigkeit ablaufen läßt. Es handelt sich um die Seelenkraft des Menschen, das heißt, um seinen Geist und seinen Verstand, die beide unsichtbar sind.

Ebenso kannst Du beobachten, wie bei Maschinen und in Werkstätten die verschiedenen Bestandteile und Arbeitsgruppen zusammenwirken, wie sie eines mit dem anderen verbunden sind. Alle diese Verbindungen und Wechselwirkungen laufen jedoch bei einer zentralen Kraft zusammen, die ihr Antrieb, ihr Angelpunkt und ihr Ursprung ist. Dies kann die Kraft des Dampfes sein oder etwa die Geschicklichkeit des Meisters.

Damit ist also klar erwiesen, daß die Wechselwirkung, die Zusammenarbeit und die vielseitigen Beziehungen zwischen allen erschaffenen Dingen unter der Leitung und dem Willen einer bewegenden Kraft stehen, die der Ursprung, der Antrieb und der Angelpunkt allen Zusammenwirkens im Weltall ist.

Jede Anordnung, jede Gestaltung, die nicht vollkommen in ihrer Ordnung ist, bezeichnen wir als zufällig; wenn sie aber geordnet, regelmäßig und vollkommen in ihren Beziehungen ist, wenn jeder Teil an seinem richtigen Platz steht und eine wesentliche Voraussetzung für die anderen Bestandteile bildet, sprechen wir von einem Gebilde, das mit Willen und Wissen gestaltet wurde. Die zahllosen erschaffenen Dinge und die Verbindung der verschiedenen Elemente zu unzähligen Formen sind gewiß von einer Wirklichkeit ausgegangen, die keineswegs ohne Willen und ohne Verstand sein kann. Das ist bei vernünftiger Betrachtung klar und erwiesen, und niemand kann es abstreiten. Es bedeutet jedoch nicht, daß wir diese umfassende Wirklichkeit oder deren Eigenschaften begriffen hätten. Weder ihr Wesen noch ihre wahren Eigenschaften sind von irgend jemand erfaßt worden; aber wir halten daran fest, daß diese zahllosen erschaffenen Dinge, diese zwangsläufigen Beziehungen und diese vollkommene Anordnung notwendigerweise von einem Ursprung ausgehen, der des Willens und der Vernunft nicht ermangelt, und daß diese unendlichen Verbindungen, in unendlich viele Formen gegossen, auf eine allumfassende Weisheit zurückzuführen sind. Dies kann nur der bestreiten, der halsstarrig und verstockt ist, der klare, unverkennbare Beweise ablehnt, und auf den sich die heiligen Verse beziehen: „Taub, [Seite 14] stumm und blind sind sie — darum finden sie keine Umkehr.“ (Qur’án 2, 19).

Was die Frage betrifft, ob die verstandlichen Fähigkeiten und die Seele des Menschen ein und dasselbe sind: Die Verstandeskräfte sind nur Eigenschaften der Seele, ebenso wie die Kraft der Vorstellung, des Denkens und des Begriffsvermögens — alles Kräfte, die wesentliche Erfordernisse der Wirklichkeit des Menschen sind, so wie der Sonnenstrahl die natürliche Eigenschaft der Sonne ist. Der Körper des Menschen ist wie ein Spiegel, seine Seele wie die Sonne, und seine Verstandeskräfte sind wie die Strahlen, die von dieser Lichtquelle ausströmen. Der Strahl kann aufhören, auf den Spiegel zu fallen, aber er kann nicht von der Sonne getrennt werden.

Kurz gesagt, der wesentliche Punkt ist der, daß die Welt des Menschen im Verhältnis zum Pflanzenreich übernatürlich ist — in Wirklichkeit ist der Mensch dies selbstverständlich nicht. Doch auf die Pflanze bezogen ist die Wirklichkeit des Menschen, sein Hör- und Sehvermögen übernatürlich, und es ist der Pflanze unmöglich, das Wesen und die Natur der menschlichen Verstandeskräfte zu erfassen. Ebenso ist es für den Menschen völlig unmöglich, das Wesen des Göttlichen und des Lebens nach dem Tode zu begreifen. Die Gnadengaben des Göttlichen umfassen alles Erschaffene, und der Mensch hat die Pflicht, über die Ausgießungen dieser göttlichen Gnadengaben, zu denen auch seine Seele gehört, nachzudenken in seinem Herzen — nicht aber über das Wesen der Gottheit; denn dies liegt an der Grenze menschlichen Begreifens. Wie bereits gesagt, sind die Eigenschaften und Vollkommenheiten, die wir dem Wesen der Gottheit zuschreiben, dem Leben und der Beobachtung der erschaffenen Dinge entnommen, und es ist nicht so, daß wir damit Gott in Seinem Wesen und in Seiner Vollkommenheit begriffen hätten. Wenn wir sagen, die göttliche Wirklichkeit sei vernünftig und frei, bedeutet dies nicht, daß wir den Willen und die Absicht Gottes entdeckt hätten, sondern daß wir aus den göttlichen Gnadengaben, die sich in den Wirklichkeiten der Dinge offenbaren und kundtun, Erkenntnisse über den Willen und die Absicht Gottes abgeleitet haben.

Zu unseren sozialen Prinzipien: Die Lehren Seiner Heiligkeit Bahá’u’lláhs, die vor 50 Jahren verbreitet wurden, umfassen alle anderen Lehren, und es ist klar erwiesen, daß die Menschheit ohne diese Lehren keinerlei Fortschritte machen kann. Jede Gemeinschaft auf der Welt findet in diesen göttlichen Lehren die Verwirklichung ihrer höchsten Ziele. Sie sind wie ein Baum, der unter allen Bäumen die besten Früchte trägt. So sehen zum Beispiel die Philosophen in diesen himmlischen Lehren ihre sozialen Probleme in vollkommener Weise gelöst; darüber hinaus finden sie eine wahre und eindrucksvolle Auslegung ihrer philosophischen Fragen. Ebenso sehen religiöse Menschen die Wahrheit der Religion in diesen himmlischen Lehren deutlich geoffenbart; treffend und klar finden sie bewiesen, daß diese Lehren das wirkliche Heilmittel für die Leiden und Gebrechen der ganzen Menschheit sind. Wenn diese erhabenen Lehren Verbreitung finden, wird die ganze Menschheit von allen Gefahren, von all ihren chronischen Leiden und Krankheiten befreit werden. Auch die Bahá’i-Grundsätze für das Wirtschaftsleben verkörpern [Seite 15] die höchsten Bestrebungen aller Arbeitnehmergruppen und die Ziele der verschiedensten wirtschaftlichen Richtungen. Kurz, alle Parteien und Interessengruppen finden ihre Ziele in den Lehren Bahá’u’lláhs verwirklicht.

Wenn diese Lehren in Kirchen, Moscheen und anderen Stätten der Anbetung — sei es nun bei den Anhängern Buddhas oder denen des Konfuzius —, wenn sie in politischen Kreisen oder sogar bei den Materialisten verkündet werden, so werden alle eingestehen, daß diese Lehren der Menschheit neues Leben verleihen und das rasch wirksame Heilmittel für alle Krankheiten der Gesellschaft sind. Niemand kann etwas an ihnen auszusetzen haben; vielmehr finden alle diese Lehren Beifall, wenn sie dargelegt werden. Jeder wird bekennen, wie lebenswichtig sie sind, und wird ausrufen: „Dies ist die Wahrheit, und neben der Wahrheit gibt es nichts als offenkundigen Irrtum.“

Diese wenigen Worte sind nun geschrieben, und sie werden für jeden ein treffender, klarer Beweis der Wahrheit sein. Erwäge sie in Deinem Herzen! Der Wille jedes Herrschers gilt, solange seine Herrschaft währt; der Wille jedes Philosophen findet bei einer Handvoll Schüler zu seinen Lebzeiten Ausdruck. Aber die Macht des Heiligen Geistes strahlt hell aus dem innersten Wesen der Gottgesandten, stählt ihren Willen in solcher Weise, daß er ein großes Volk für Tausende von Jahren beeinflußt, die menschliche Seele erneuert und die ganze Menschheit neu belebt. Bedenke, wie groß diese Macht ist! Es ist eine ungeheuere Macht, der beste Beweis für die Wahrheit der Sendung der Propheten Gottes und ein untrügliches Zeichen für die Kraft göttlicher Eingebung.

Die Herrlichkeit der Herrlichkeiten sei mit Dir!

Haifa, 21. September 1921
(gez.) ’Abdu’l-Bahá ’Abbäs.


1) Diese Formel, die im allgemeinen die Briefe von ’Abdu’l-Baha einleitet, ist ein Bekenntnis zur Einheit Gottes: daß Er einzig und allein Gott ist. (Anmerkung der Schriftleitung)

2) Stanford University, Palo Alto, 1912.


[Seite 16]



Die christlichen Dogmen[Bearbeiten]

Unter Dogmen versteht der Wissenschaftler feste Lehrmeinungen, die sich so durchgesetzt haben, daß sie sozusagen unbesehen weiterverbreitet werden. Auf dem Gebiete der Religion bezeichnet man damit alle Lehrsätze, die das Glaubensgut einer Religionsgemeinschaft ausmachen und die teils auf den Stifter der Religion selbst zurückgeführt werden, teils auch erst von seinen Nachfolgern aufgestellt wurden. Die christlichen Kirchen haben viele Dogmen. Wenn wir uns mit diesen beschäftigen, erleben wir in eindrücklicher Weise, wie jedes Dogma eine Spaltung verursacht hat. Es gibt kein einziges christliches Dogma, das von sämtlichen Kirchen verkündet oder gar von allen Christen geglaubt würde.

*

Von der ersten Spaltung berichtet das Neue Testament in Apostelgeschichte 15. Etwa im Jahre 48 versammelten sich die Jünger Christi in Jerusalem auf dem sogenannten Apostelkonzil, um zu entscheiden, ob vom Heidentum herkommende Christen sich beschneiden lassen, und welche Gesetze Mose überhaupt noch gelten sollten. Auf Antrag des Paulus schaffte das Apostelkonzil das Gesetz Mose völlig ab, vor allem den Ritus der Beschneidung. Doch die meisten der vom Judentum herkommenden Christen nahmen diesen Beschluß nicht an und blieben dem Gesetz Mose treu, wobei sie sich auf das Wort Jesu beriefen: „Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn ich sage euch wahrlich: Bis daß Himmel und Erde zergehe, wird nicht zergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüttel vom Gesetz, bis daß es alles geschehe.“ (Matthäus 5, 17-18). Diese judenchristliche oder ebionitische Kirche bestand mehrere Jahrhunderte lang in Palästina, Syrien und Arabien, bis ihre Reste im Islam aufgingen.

Die Ebioniten machten die dogmatische Entwicklung der Großkirche nicht mit. Jesus blieb für sie der Sohn Josephs und Marias, der den Heiligen Geist bei der Taufe durch Johannes den Täufer erhielt. Die Ebioniten hielten auch einzelne Kapitel des Alten Testaments für gefälscht, wofür eine Reihe biblischer Aussagen angeführt wurde (Jesaja 29, 13, Jeremia 8, 8, Hesekiel 13,9 und 20,25, Matthäus 15, 13). Obwohl die ebionitische Kirche im Laufe der Jahrhunderte untergegangen ist, hat sie trotzdem ungeheure Bedeutung für die Entwicklung der Religion. Es steht fest, daß Mohammed das Christentum vor allem in der ebionitischen Form kannte. Er behielt auch viele ihrer Lehren und einige ihrer Gebräuche im Islam bei, zum Beispiel die Waschung vor dem Gebet und das Beten in Richtung auf Jerusalem, wobei die Gebetsrichtung später auf Mekka abgeändert wurde.

Die blutigen Verfolgungen im Römischen Reich gestatteten es den christlichen Gemeinden nicht, in aller Freiheit das Gedankengut ihres [Seite 17] Glaubens zu ordnen und weiter zu entwickeln. Dies wurde anders, als von Kaiser Konstantin (274 bis 337) an das Christentum begünstigt und schließlich zur Staatsreligion erhoben wurde. Die erste große Kirchenversammlung, das Konzil zu Nicäa im Jahre 325, befaßte sich mit der Frage des Wesens Gottes. Besonders durch die Lehren des Paulus hatte Jesus in der Urkirche schon früh nicht nur als Gottesoffenbarer gegolten, sondern auch als Erlöser der Menschheit. Der Gedanke von der Erlösung wurde zuerst von Paulus entwickelt. In seinem Brief an die Römer, Kap. 5, 14, und im Ersten Brief an die Korinther, Kap. 15, 45, tritt Adam als Urheber der Sünde und des Todes in Gegensatz zu Christus, dem Urheber des Lebens. Die Erlösungslehre, die sich in der allgemeinen Kirche während der ersten Jahrhunderte durchsetzte, überhöhte die Gestalt Christi immer mehr und führte schließlich zur Lehre von der göttlichen Natur und jungfräulichen Geburt Christi und zum Dogma der Dreifaltigkeit.

Im Dogma der Dreifaltigkeit erkannte man drei Seiten oder Personen Gottes: Gott Vater, Sohn und Heiligen Geist. Gott Vater ist das schöpferische Prinzip. Der Sohn, Jesus Christus, ist der Stellvertreter des Vaters und Erlöser der Menschheit. Die dritte Person, der Heilige Geist, ist das unmittelbare Heilswirken Gottes in seiner Schöpfung, er verbindet Gott Vater und den Sohn Gottes und ist der Stellvertreter des Sohnes. Alle drei Personen sind einander völlig gleich und bilden zusammen eine Einheit.

Der Gedanke der Dreifaltigkeit tritt auch in anderen Religionen auf, zum Beispiel im Hinduismus, wo das höchste Sein, die Weltseele, sich in den drei höchsten Gottheiten verkörpert: Brahma, dem Schöpfer, Wischnu, dem Erhalter, Schiwa, dem Zerstörer.

Der Glaubenssatz der Dreifaltigkeit ist dem christlichen Gläubigen von jeher unbegreiflich und wunderbar erschienen, den Freigeistern dagegen war er der größte Stein des Anstoßes. Zum Beispiel sagt Goethe im Faust (Mephistopheles in der Hexenküche):

„..ein vollkommner Widerspruch
bleibt gleich geheimnisvoll für Kluge wie für Toren.
Mein Freund, die Kunst ist alt und neu.
Es war die Art zu allen Zeiten,
durch Drei und Eins, und Eins und Drei
Irrtum statt Wahrheit zu verbreiten.
So schwätzt und lehrt man ungestört;
wer will sich mit den Narr’n befassen?
Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört,
es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.“

[Seite 18]

Der Beschluß des Konzils von Nicäa war jedoch sehr umstritten. Der Führer des Widerstandes war der Presbyter von Alexandrien, Arius (mit betontem i). Dieser lehnte die Dreifaltigkeit ab. Nach seiner Lehre war Christus ein durch göttlichen Willen erschaffenes Geschöpf, dem Gott wegen seiner sittlichen Bewährung die Würde seines Sohnes verlieh. Es ist kein Zweifel, daß der biblische Text weit mehr Arius rechtgibt als dem Konzil, vor allem die Stellen 5. Mose 6, 4-5, Markus 12,29 und 13, 32, Kolosser 1,15 und besonders Philipper 2,5-11. Die Parteien des Konzils prägten das Schlagwort, Christus wäre laut Arius „homoi-usios“, das heißt von ähnlicher Natur, laut Athanasius aber „homo-usios“, das heißt von gleicher Natur. Man streite sich also um ein i, ein griechisches Iota.

Arius wurde abgesetzt, und Kaiser Konstantin ließ die Beschlüsse des Konzils als Reichsgesetz verkünden, doch der Widerstand gegen die Beschlüsse von Nicäa behauptete sich lange Zeit. Kaiser Konstantios, der Sohn Konstantins, erhob ein Vierteljahrhundert später während der Synode von Rimini die Lehre des Arius wieder zur Staatsreligion, und große Teile der Kirche traten hinter Arius und leugneten jahrhundertelang das Glaubensbekenntnis von Nicäa, so die Goten und Langobarden, die erst im siebten Jahrhundert zur siegreichen Lehre von der Dreifaltigkeit einschwenkten.

Da nicht nur Arius selber, sondern auch alle seine Schriften auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden, kennen wir seine Lehren nicht genau. Ein großartiges Denkmal blieb jedoch vom Untergang verschont: die Christuskirche in Ravenna, heute Sant’Apollinare Nuovo genannt, Sie wurde von dem Ostgotenkönig Theoderich erbaut. Ihr reicher Mosaikschmuck stellt Szenen aus dem Alten und Neuen Testament dar, wobei sich Auffassung und Gestaltung stark von den späteren Darstellungen unterscheiden. Zum Beispiel begleitet den jugendlichen Jesus bei allen Schritten und Handlungen, einem antiken Genius vergleichbar, eine Gestalt, die die Wunder Christi mit ausdrucksvollen Gesten unterstreicht. Bezeichnend für den Arianismus ist wohl auch, daß Christus bis zum Beginn seiner Leidenszeit als junger, bartloser Mann mit langem Lockenhaar und fast sorglosem Gesichtsausdruck dargestellt wird, während die Bilder der Passion einen gereiften, bärtigen Dulder zeigen, dessen müdes Antlitz von seelischer und leiblicher Qual erfüllt ist. Man darf in diesem Wandel des Christusgesichtes die arianische Lehre von der Läuterung durch das Leiden und der immer größeren Annäherung an Gott vermuten.


Für und wider die Dreifaltigkeit

Moderne Gemeinschaften, die die Dreifaltigkeit ablehnen, sind die Mennoniten, die Unitarier, die Quäker und Jehovas Zeugen, wobei letztere sich auf die Worte des Apostels Paulus berufen: Denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus (1. Timotheus 2, 5). Die Mennonitische Gemeinschaft wurde von dem Friesen Menno Simons um 1540 gegründet. Sie lebt nach der Bergpredigt und anerkennt keine bindenden Bekenntnisschriften. Menhoniten gibt es unter den Rußlanddeutschen, in Holland, den Vereinigten [Seite 19] Staaten, Kanada und Paraguay. Die Unitarier gehen auf Faustus Socin (1539-1604) zurück; kleinere unitarische Kirchen bestehen in Siebenbürgen, England und Nordamerika. Die Quäker, oder die Gesellschaft der Freunde, gehen auf den Engländer George Fox im 17. Jahrhundert zurück. Sie streben nach einer innerlichen, dogmatisch freien Frömmigkeit. Sie verwerfen die Kindertaufe, das Abendmahl, den Eid, teilweise den Kriegsdienst, alle Vergnügungen und leeren Höflichkeitsformen. Jehovas Zeugen, früher Ernste Bibelforscher genannt, sind eine Laiengemeinschaft, die von dem Amerikaner Russell gegründet wurde. Sie erwarten die leibliche Wiederkunft Christi in naher Zukunft und ein materielles Messiasreich auf Erden ohne Tod und Leiden. Sie lehnen die meisten Lehrsätze der großen Kirchen ab, sogar das Kreuzeszeichen, und betrachten den Papst als Antichrist. Weil die Zeugen Jehovas Eid und Kriegsdienst verweigern, werden sie in allen totalitären Staaten streng verfolgt.

Die großen protestantischen Kirchen Luthers, Calvins und Zwinglis haben das Dogma der Dreifaltigkeit übernommen und dadurch etwas eingängiger zu machen versucht, daß sie von der „Dreieinigkeit“ sprechen. Jedoch nur der Ausdruck „Dreifaltigkeit“ oder „Dreiheit“ ist die genaue Übersetzung des griechischen Begriffes trias. Der Ausdruck Dreieinigkeit soll darauf hinweisen, daß von Gott nur in der Einzahl gesprochen werden kann, obwohl drei göttliche Personen bestehen.

Die nächste Frage, nachdem Nicäa das Dogma der Dreifaltigkeit aufgestellt hatte, galt den Naturen Christi. Jesus Christus wird im Neuen Testament als Mensch geschildert, der sich in seinem Auftreten nicht von den anderen Menschen unterschied. In welcher Weise waren nun in ihm die menschliche und göttliche Natur verteilt?

Die eine Meinung war, daß die göttliche und menschliche Natur in Christus vereint seien, daß er eine einzige, gottmenschliche Natur besitze. Diese Richtung nannte sich Monophysiten.

Ihnen widersprach der Patriarch von Konstantinopel, Nestorius, demzufolge die menschliche und göttliche Natur in Christus getrennt und Maria nur die Mutter Jesu nach seiner menschlichen Natur sei.

Zwischen den beiden Meinungen wurde auf dem Konzil von Kalchedon 451 ein Kompromiß geschlossen. Danach besitzt Christus zwei Naturen, die menschliche und die göttliche, die weder vermischt noch getrennt sind. Diese Formel wurde von den Extremen abgelehnt, und der Großteil der östlichen Christen trennte sich ab. Die Monophysiten, also die Anhänger der gottmenschlichen Natur Christi, siegten in Ägypten, Äthiopien, Armenien und einem Teil Syriens. Die Anhänger. der zwei getrennten Naturen Christi, die Nestorianer, gewannen die Oberhand in einem Teil Syriens, in Persien und Innerasien. Durch den Islam verloren später alle diese Kirchen an Bedeutung und sind heute auf kleine Gruppen zusammengeschmolzen.

Obwohl die römische Kirche und die Ostkirchen über die Stellung Christi innerhalb der Dreifaltigkeit dasselbe lehren, denkt der West- und [Seite 20] Mitteleuropäer anders über Christus als der christliche Osten. Dies zeigt sich ganz deutlich in der Kunst. Michelangelo stellte zum Beispiel in der Sixtinischen Kapelle im Vatikan Gott Vater selbst dar — für die östlichen Christen noch heute eine Gotteslästerung, denn Gott wird für sie nur in der Person Christi sichtbar. Darum heben auch die russischen Ikone, Fresken und Mosaiken das göttliche Wesen Christi hervor, während die westliche Kunst zeigt, was an Christus menschlich war.


Die Stellung Marias

Der Beschluß von Kalchedon wies nun auch Maria indirekt eine größere Stellung zu. Nach Lehre der katholischen Kirche wurde sie im Hinblick auf die Würde ihres Sohnes frei von der Erbsünde geschaffen. Dies ist der Gedanke der Unbefleckten Empfängnis, die 1439 durch das Konzil von Basel als Dogma verkündet wurde. Maria blieb frei von jeder persönlichen Schuld. Sie empfing den Heiland unter Bewahrung ihrer Jungfräulichkeit aus der Kraft des Allerhöchsten und brachte ihn in Bethlehem zur Welt. Seit dem Konzil von Ephesus des Jahres 431 heißt sie Muttergottes oder Gottesgebärerin, weil sie der göttlichen Person ihres Sohnes die menschliche Natur in der Zeit gegeben hat. Der Überlieferung zufolge starb sie in Ephesus. Ihr Leib wurde nach dem Tode auferweckt und, ohne durch Verwesung hindurchzugehen, in den Himmel aufgenommen, ein Dogma, das erst 1950 verkündet wurde. Die katholische Kirche feiert das Fest Mariä Himmelfahrt am 15. August.

Die Anschauung der protestantischen Kirchen gründet sich dagegen nur auf die Berichte des Neuen Testamentes. Diese deuten an, daß Maria zu Lebzeiten Jesu seine Sendung teilweise nicht verstand (Matthäus 12, 46 ff., Evangelium Johannis 2,3 ff.). Zum Kreise der Gläubigen gehörte sie wohl schon gegen Ende seines Wirkens (Evangelium Johannis 19, 26 ff.), sicher bald nach seinem Tode (Apostelgeschichte 1, 14). Die Jungfräulichkeit Mariä ist in Matthäus 1,18 ff. und Lukas 1,34 f. unzweifelhaft vorausgesetzt. Andererseits weisen die Protestanten auf mehrere Stellen des Neuen Testamentes, wonach Jesus noch Brüder gehabt hat; dies bestreitet die katholische Kirche. Nach römischer Anschauung lebte Maria nach der Geburt Jesu in jungfräulicher Ehe mit Joseph zusammen.

Die Lehre vom Abendmahl ist ein weiteres wichtiges Dogma. In den meisten christlichen Kirchen gilt das Abendmahl als Höhepunkt des Gottesdienstes, als eine Feier, die die Gläubigen zum Gedenken an das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern vereint. Paulus erhob das Abendmahl zu einem feierlichen Gedächtnismahl. Gegen Ende des ersten Jahrhunderts wurde es auch schon als Sakrament aufgefaßt, und nur in diesem Sinne wurden die Stellen Evangelium Johannis 6, 22-58 und 15,1 aufgefaßt.


Der Gedanke des Abendmahls

Die katholische Lehre vom Abendmahl wurde auf der Vierten Lateransynode von 1215 und auf dem Konzil von Trient 1551 als Dogma festgelegt. Danach werden Brot und Wein durch das Aussprechen der [Seite 21] Einsetzungsworte während der Messe in Leib und Blut Christi verwandelt. Auch die östliche Kirche nahm 1672 diese Lehre von der Wandlung oder Transsubstantiation an.

Die Reformatoren verwarfen die katholische Abendmahlslehre, konnten sich aber nicht einigen. Luther betonte die wirkliche Gegenwart des Leibes Christi beim Abendmahl in und unter Brot und Wein. Nach dem Züricher Reformator Zwingli sind Brot und Wein nur Sinnbilder des Leibes und Blutes, während der Genfer Reformator Calvin deren geistige Gegenwart im Abendmahl lehrte. Die späteren Jahrhunderte haben die Unterschiede zwischen den protestantischen Kirchen gemildert.

Die katholische Kirche teilt das Abendmahl den Laien unter einer Gestalt aus. Sie reicht nur das Brot, da es, als Leib Christi, auch das Blut Christi einschließe. Die protestantischen Kirchen reichen das Abendmahl unter beiderlei Gestalt. Der Laienkelch ist seit den Tagen von Johannes Hus ein Hauptmerkmal des Protestantismus.

Nun zum katholischen Dogma vom Vorrang des Papstes. In der Urkirche fühlte sich zunächst jeder Bischof als Nachfolger der Apostel. Die Bischöfe der großen Städte gewannen jedoch bald einen Vorrang, wobei wegen der Verfolgung der Kirche keine klare hierarchische Gliederung aufzustellen war. Dies wurde anders, als Kaiser Konstantin — ohne schon selber Christ zu sein — das Christentum zur Staatsreligion erhob und den Patriarchen von Konstantinopel, Eusebios, zu seinem Hoftheologen machte. Eusebios erklärte, der Kaiser sei von Gott erwählt und werde unmittelbar von ihm gelenkt. Der Kaiser berief auch die Synoden der Bischöfe ein, und nur seine Bestätigung gab ihren Beschlüssen Gesetzeskraft. So entwickelte sich ganz natürlich Konstantinopel zum Mittelpunkt der Kirche, und alle großen Zusammenkünfte erfolgten in dieser Stadt oder in ihrer Umgebung.

Von allen Bischöfen war dem Bischof von Rom diese Entwicklung am meisten zuwider. Den alten römischen Familien, denen die Bischöfe von Rom nunmehr entstammten, mißfiel es ohnehin, daß Rom seinen Rang als Hauptstadt an Konstantinopel abtreten mußte und nun dem Zugriff der Germanen ausgesetzt war, die Rom mehrmals eroberten. Zwar war der Bischof von Rom auf dem Konzil von Nicäa 325 mit der Aufsicht über die Bischöfe des lateinisch sprechenden Teiles des Römischen Reiches betraut worden, also Italien, Gallien, Spanien, Illyrien und Nordafrika, doch bestand kein Zweifel darüber, daß der Patriarch von Konstantinopel allen Bischöfen übergeordnet war.

Mit großem Entsetzen bemerkten der Hof von Konstantinopel und der Patriarch, wie die Bischöfe von Rom in den Wirren der Völkerwanderung im alten Italien immer mehr in die Funktionen des Kaisers einrückten, die weltliche Regierung in Mittelitalien übernahmen und bei ihrer Hofhaltung den gleichen Prunk zu entfalten suchten wie der Kaiser. Als er sich militärisch nicht mehr halten konnte, schloß der Bischof von Rom gar im achten Jahrhundert ein Bündnis mit den fränkischen Reichsfeinden. Im Jahre 800 verlieh der Bischof von Rom aus eigener Vollmacht [Seite 22] dem Frankenkönig Karl den Kaisertitel, obwohl der Thron des Römischen Reiches in Konstantinopel immer noch durch einen rechtmäßigen Nachfolger der alten Römerkaiser besetzt war.


„Du bist Petrus ...”

Die römische Gemeinde glaubt, vom Apostel Petrus gegründet worden zu sein, und diesem Jünger werden in Matthäus 16, 18-19 besondere Rechte eingeräumt: „Und ich sage dir auch: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeine, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. Und ich will dir des Himmelreichs Schlüssel geben: alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel los sein.“

Dieser Ausspruch ist sicherlich erstaunlich, denn überall sonst macht Jesus seinen Jüngern ausdrücklich alle Sonderrechte streitig. Wenige Verse später schilt Jesus diesen Jünger: „Hebe dich, Satan, von mir! Du bist mir ärgerlich; denn du meinest nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist.“ Petrus war auch der einzige Apostel, der seinen Herrn nach dessen Gefangennahme verleugnete. Nichtsdestoweniger findet sich die Stelle Matthäus 16, 18-19, aus der die Päpste ihr Vorrecht als Stellvertreter Christi auf Erden ableiten, bereits in der ältesten erhaltenen, vollständigen Handschrift der Bibel, dem Codex Vaticanus aus dem vierten Jahrhundert.

Die weiten Ländereien, die der Frankenkönig Pippin und später Karl der Große dem Papste schenkten, wurden zum Kirchenstaat vereinigt, und der Papst herrschte darüber fast ununterbrochen bis zum Jahre 1870. Im Zuge der Einigung Italiens besetzten damals italienische Truppen die Stadt Rom; Rom wurde zur Hauptstadt des Königreichs Italien gemacht. Im Jahre 1929 erhielt der Papst die unumschränkte Herrschaft über die sogenannte Vatikanstadt in Rom, einen Bezirk, der die Peterskirche, den Vatikan und die vatikanischen Gärten umfaßt. Damit ist der Papst wieder ein weltlicher Herrscher, welcher diplomatische Beziehungen zu den meisten Staaten unterhält.

Die kirchliche Stellung des Papstes ist seit dem Vatikanischen Konzil von 1869/70 unumschränkt. Der Papst hat die volle und höchste Regierungsgewalt in Sachen des Glaubens, der Sitte und in allem, was die Ordnung der katholischen Kirche betrifft. Wenn der Papst eine Glaubens- oder Sittenlehre als von Gott geoffenbart und für alle Gläubigen verbindlich erklärt, gilt er als durch Gottes Beistand unfehlbar.

Dieses Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes führte damals zur Abtrennung der Altkatholiken unter Ignaz von Döllinger, der 1871 vom Papst gebannt wurde. Die Altkatholiken schafften dann noch weitere Bräuche der römischen Kirche ab, so den Ausschluß der Laien von der kirchlichen Verwaltung, die lateinische Kirchensprache, die Ohrenbeichte und die Ehelosigkeit der Priester. Es gibt auf der Welt etwa 400 000 Altkatholiken, eine geringe Zahl neben rund 380 Millionen Katholiken, die dem Papst Gehorsam leisten. [Seite 23]

Zuletzt wollen wir uns noch mit dem Dogma von der Heiligenverehrung befassen. Nach Meinung der römischen und der östlichen Kirchen gibt es Menschen, die ihre Hingabe an Gott durch ein christliches, den Grundsätzen des Evangeliums entsprechendes Leben bewiesen haben. Diese Seelen erfreuen sich nach dem Tode der Anschauung Gottes und sind also imstande, bei Gott Fürbitte einzulegen. Ein solcher Mensch kann nun auf Grund eines langwierigen Verfahrens vom Papst seliggesprochen werden, worauf er in einem bestimmten Gebiet der Kirche öffentlich verehrt werden darf. Eine höhere Stufe ist die Heiligsprechung; danach kann der Betreffende von der ganzen Kirche als Heiliger verehrt und um Fürbitte angerufen werden. Es besteht keine Pflicht, die Heiligen zu verehren, doch verurteilt es die Kirche, wenn die Zulässigkeit der Heiligenverehrung bezweifelt wird.

Zu den Heiligen gehören vor allem die Heilige Familie, die Apostel Christi, alle Märtyrer der Christenverfolgungen, viele Bischöfe und Päpste, später auch viele Mönche, Laien und sogar Fürsten und Kaiser, zum Beispiel König Stephan von Ungarn, Landgraf Ludwig von Thüringen und der römisch-deutsche Kaiser Heinrich II.

Die Reformatoren haben sich samt und sonders mit aller Schärfe gegen die Heiligenverehrung gewandt. Das Fehlen der Heiligenverehrung ist wohl der auffälligste Unterschied der protestantischen Kirchen zu den übrigen christlichen Gemeinschaften.

*

Wir haben die wichtigsten christlichen Dogmen gestreift und sind mit vielen christlichen Kirchen in Berührung gekommen. Wie sollen wir nun zu diesen verwickelten Fragen Stellung nehmen?

Die Antwort darauf ist sehr einfach: Wir nehmen überhaupt nicht Stellung. Da jeder einzelne christliche Glaubenssatz von irgendeiner der vielen christlichen Richtungen doch abgelehnt wird, wäre unsere Stellungnahme eine Einmischung in die inneren Streitigkeiten der Kirchen. Wir halten es wie die Mennoniten oder die Quäker: Die christlichen Dogmen gehören nicht zum Gespräch, wir unterstützen sie nicht, wir greifen sie auch nicht an, Wenn jemand mit bestimmten dogmatischen Anschauungen großgeworden ist, fällt es ihm sehr schwer, sich davon zu befreien. Die Dogmen gehören zu seinem Weltbild, und er fürchtet, alles müsse einstürzen, wenn daran gerüttelt werde. Einem solchen Menschen gegenüber werden wir größte Rücksicht üben. Statt mit ihm Streitgespräche zu führen, werden wir ihn zum Beispiel auf die „Gespräche und Lehren“ von ’Abdu’l-Bahá verweisen, wo eine Reihe von Kapiteln christlichen Dogmen gewidmet ist (Kap. 17: Die Geburt Christi, 19-20: Die Taufe, 21: Abendmahl, 22: Wunder, 23: Auferstehung, 24-25: Der Heilige Geist, 26: Wiederkunft Christi, 27: Dreieinigkeit, 34: Petrus).

Der Suchende wird dann erkennen, daß wir die geistige Schönheit und symbolische Kraft mancher christlicher Dogmen hoch schätzen. So ist die Verehrung der Maria ein schönes Sinnbild der Achtung und Liebe, die man der eigenen Mutter und allen Frauen entgegenbringt. In einer Kirche, deren Geistlichkeit ausschließlich männlich ist und die die [Seite 24] Gleichberechtigung der Frau schroff ablehnt, erfüllt der Mariendienst eine wichtige Aufgabe.

Das Dogma von der wunderbaren Geburt Christi ist uns ein Symbol der Allmacht Gottes, die in jedem Offenbarer neu sichtbar wird. Es ist uns eine Verherrlichung des menschlichen Lebens überhaupt, das voller Wunder steckt, weil es in jedem einzelnen Menschenkind von Gott stammt.

Dr. Johann Karl Teufel.



Gebet von 'Abdu’l-Bahá

Gelobt seist Du, o mein Gott, denn Du hast mir gewährt, den Wein Deiner Erkenntnis aus dem herrlichen Kelch in der Versammlung der Geliebten Gottes zu trinken. Du hast mich befähigt, in Dein Königreich einzutreten. Du erwecktest mich durch den Ruf Deiner heiligen Engel und zogst mich an mit dem Magnet Deiner Liebe. Du hast mein Gesicht erleuchtet mit dem Licht Deiner Einheit, Du hilfst mir, Deinen Namen auszusprechen. Du hast mich mit dem Feuer Deiner Liebe entzündet und meine Brust mit Freude erfüllt durch das Licht Deiner Erkenntnis, Du hast mich durch Deinen Hauch erweckt und durch Deinen Geist belebt.

O mein Gott! Mache mich treu und aufrichtig vor Deinem Angesicht, befähige mich, Deine Harmonie zu verbreiten und Dein Wort zu verkünden. Mache mich zu einem Diener Deiner Geliebten, zu einem Bittenden in Deinem Königreich und zu einem Flehenden an den Toren Deiner Einheit. Gib mir die Fähigkeit, mich selbst mit Deinen Eigenschaften zu veredeln! Du bist der Allmächtige, Du bist der Barmherzige, Du bist der Gerechte, der Erbarmende, der Großmütige.



Die „BAHA’I-BRIEFE“ werden vierteljährlich herausgegeben vom Nationalen Geistigen Rat der Baha’i in Deutschland e. V., Frankfurt/Main, Westendstraße 24. Alle namentlich gezeichneten Beiträge stellen nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers oder der Redaktion dar.

Redaktion: Dipl.-Volksw. Peter A. Mühlschlegel, Leinfelden/Württ., Jahnstraße 8, Telefon (07 11) 79 16 74, und Dieter Schubert, Leinfelden/Württ., Fliederweg 3, Telefon (07 11) 795 35.

Druck: Buchdruckerei Karl Scharr, Stuttgart-Vaihingen, Scharrstraße 13.

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