Bahai Briefe/Heft 24/Text

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BAHÁ'I-

BRIEFE


BLÄTTER FÜR

WELTRELIGION UND

WELTBEWUSSTSEIN



AUS DEM INHALT:


Weltsicherheit durch Religion

„Die Stimme der Macht“

Kommentar: Einheit oder Einförmigkeit?

Aus der Bahá’í-Welt

Buchbesprechungen


APRIL 1966 HEFT 24

D 20 155 F


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Das Haus der Andacht - imposant auch in der Abenddämmerung.


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Weltsicherheit durch Religion[Bearbeiten]

Das Fundament eines neuen Zeitalters

Im Januar dieses Jahres wurde in zahlreichen Städten in aller Welt von den Bahá’í-Gemeinden wieder der „Weltreligionstag“ gefeiert. In Graz, Österreich, hielt Dr. Adelbert Mühlschlegel eine Ansprache, die wir nachfolgend im Wortlaut wiedergeben.


Die selbstlose Liebe ist der größte Beitrag des einzelnen Menschen zur Weltsicherheit. Wären die Menschen allesamt von selbstloser Liebe erfüllt, so gäbe es keine Gefahr eines vernichtenden Weltkrieges mehr. Sicher und frei könnte sich jeder bewegen und sein Schicksal gestalten. Liebe, Rücksicht und Verständnis würden ihm entgegengebracht, ihm, der seinerseits Liebe, Rücksicht und Verständnis auf seine Mitmenschen ausstrahlt.

Das Wort „Liebe“ ist hier natürlich nur in seiner hohen, selbstlosen Verkörperung zu verstehen. Kaum ein Wort unserer Sprache ist ja so zweideutig und so sehr mißbraucht worden wie dieses. Aber lassen wir all das, was die Welt belächelt und beschmutzt, weit hinter uns, wenden wir uns mit reinem Herzen und ungetrübtem Blick empor zu jener heiligen Macht, die Christus als „das vornehmste und höchste Gebot“ bezeichnet: „... Du sollst Gott, deinen Herrn lieben, mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzem Denken. Dies ist das vornehmste und höchste Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. In diesen zweien Geboten hanget das ganze Gesetz und die Propheten.“ (Matth. 22, 37-40)

Und in Matth. 5, 44-48, führt Christus dies noch aus:

„Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen; auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel; denn Er läßt Seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten, und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn so ihr liebet, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und so ihr euch nur zu euren Brüdern freundlich tut, was tut ihr Sonderliches? Tun nicht die Zöllner auch also? Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“

Im Johannes-Evangelium, Kap. 15, 9-14, 17, spricht Christus:

„Gleichwie mich mein Vater liebt, also liebe ich euch auch. Bleibet in meiner Liebe! So ihr meine Gebote haltet, so bleibet ihr in meiner Liebe, gleichwie ich meines Vaters Gebote halte und bleibe in seiner Liebe. Solches rede ich zu euch, auf daß meine Freude in euch bleibe und eure Freude vollkommen werde. Das ist mein Gebot, daß ihr euch untereinander liebet, gleichwie ich euch liebe. Niemand hat größere Liebe denn die, daß er sein Leben läßt für seine Freunde. Ihr seid meine Freunde, so ihr tut, was ich euch gebiete..... Das gebiete ich euch, daß ihr euch untereinander liebet.“

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Und der Apostel Johannes sagt in seinem ersten Brief:

„Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1. Joh. 4, 16)

Diese erhabenen Gedanken, dieses vornehmste und höchste Gebot liegt allen Hochreligionen zugrunde und flößt ihnen geistiges Leben ein. ‘Abdu’l-Bahá sagt darüber:

„Das göttliche Gesetz hat zwei Teile; ein Teil ist die wesentliche Grundlage, die alle geistigen Dinge umfaßt, d. h. er bezieht sich auf die geistigen Tugenden und göttlichen Eigenschaften. Er unterliegt weder Wechsel noch Wandel... . Er bleibt gültig durch die Zeitalter aller Propheten. Niemals wird er aufgehoben, denn er ist geistige, nicht materielle Wirklichkeit. Er ist Glaube, Wissen, Gewißheit, Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Rechtschaffenheit, Vertrauenswürdigkeit, Liebe zu Gott, innerer Friede, Reinheit, Loslösung, Demut, Sanftmut, Geduld und Standhaftigkeit. Er ist Mitleid mit den Armen, verteidigt die Unterdrückten, beschenkt die Unglücklichen und hebt die Gefallenen auf.
... Jene Grundlagen der Religion Gottes, die geistiger Natur und die Tugenden der Menschheit sind, werden niemals aufgehoben. Sie werden nie abgesetzt, sind ewig und werden im Zeitalter jedes Propheten erneuert.“ 1)

So war es schon in der Religion Israels durch Moses ausgesprochen:

„Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allem Vermögen." (5. Mos. 6,5)
"Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; denn Ich bin der Herr." (3. Mos. 19, 18)

Aus dem fernsten Osten spricht in alten heiligen Schriften der Shinto zu uns:

„Es gibt keine Menschen unter dem Himmel, die nicht Brüder wären. —
Liebe und Barmherzigkeit machen das Herz Gottes aus. —
Sei fromm, indem du Gott dafür dankst, andern in der Not helfen zu können.“

Die Bhagavadgita des Hinduismus lehrt: (III, 13, 14)

„Wer gegen alle Wesen ohne Haß, freundschaftlich geeint und mitleidvoll ist, frei von Selbstsucht und Ichbewußtsein, gleichmütig in Lust und Leid, geduldig, zufrieden und immer hingegeben, bezähmten Selbstes und festen Entschlusses auf mich gerichtet, mit Sinn und Geist und mir ergeben ist, der ist mein Freund.“

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Und Buddha lehrt:

„Alle durch das Dasein bedingten Handlungen, durch die man Verdienst erwirbt, ihr Mönche, sie alle sind nicht wert den sechzehnten Teil der Liebe, die den Geist befreit; sondern die Liebe strahlt, glänzt und leuchtet, indem sie als Geistesbefreiung jene übertrifft... “

Und Zarathustra sprach: (Avesta, Yaona XLV, 10)

„Hole dir Kraft vom lebendigen Gott,
er gab dir den Geist,
darum erkenne ihn;
er gab dir die Seele,
darum liebe ihn.
Er wartet deiner,
ewig Vollkommenheit.

Auch der Islam gründet sich auf diese Liebe zu Gott. Muhammed spricht in der 3. Sure:

„Sprich: Wenn ihr Gott liebhabt, so folgt mir. Gott wird euch dann auch lieben und euch eure Sünden vergeben. Denn Gott vergibt gerne und ist barmherzig. .... Gehorchet Gott und Seinen Gesandten.“

Und durch Bahá’u’lláh läßt Gott verkünden:

„O Sohn des Menschen! Deiner Erschaffung galt meine Liebe. Darum erschuf Ich dich. Nun liebe Mich, auf daß Ich dich im Geiste des Lebens festige und immer deiner gedenke“ 2).

Aber neben diesem ewigen, unabänderlichen Gesetz Gottes gibt es noch ein zeit- und ortsbedingtes. ‘Abdu’l-Bahá spricht darüber:

„Der zweite Teil des göttlichen Gesetzes, der die stoffliche Welt betrifft und Fasten, Gebet, Gottesdienst, Ehe und Scheidung, Abschaffung der Sklaverei, Gerichtsbarkeit, geschäftliche Angelegenheiten sowie Strafe und Sühne für Mord, Gewalttat, Diebstahl und Körperverletzung umfaßt — dieser Teil also, der sich auf die materiellen Dinge bezieht, wird in jedem prophetischen Zyklus je nach den Erfordernissen der Zeit geändert und abgewandelt“ 3).

Heute leben wir in einer Epoche des Übergangs, an der Schwelle zu einer neuen Zeit. Die Einheit der Menschheit ist das dringendste, das größte aller Probleme. Die Einheit der Menschheit ist das leuchtende Ziel. das „Reich Gottes auf Erden“, die Zeit des Friedens und des Glücks, der eine geprüfte Menschheit durch viele Irrwege, Leiden und Katastrophen hindurch entgegenstrebt.

„Einheit der Menschheit“ ist ja viel mehr als Weltfriede. Sie bedeutet, daß die Gefühle, Gedanken, Absichten und Taten der Menschen einheitlich, sinnvoll und harmonisch aufeinander abgestimmt sind und von den höchsten Idealen geleitet werden. Das Höchste ist der Wille Gottes, Seine Liebe, Sein Segen, Sein Friede, Sein Reich. „Dein Reich komme! Dein [Seite 593] Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden!“ — so beten Millionen jeden Tag. Der Wille Gottes soll also überall und allein herrschen, im einzelnen Menschen sowohl wie auch in der menschlichen Gemeinschaft. Er soll somit der Maßstab für das menschliche Leben sein.


Fünf wichtige Elemente

Das bedeutet viel, sehr viel. Wird es verwirklicht, ist es die Erfüllung jeder wahren Religion. Aber im Laufe der Jahrhunderte ist die schlichte Wahrheit, das „vornehmste und höchste Gebot“ der Liebe verblaßt und schwach geworden. Alles Lebendige steht in der Zeit, in einer Kette von Kindheit, Jugend, Reife und Alter. Damit ist es bei den Religionen nicht anders als bei jedem einzelnen Menschen. Die Entwicklung schreitet weiter, die verschiedenen Jahrhunderte erleben und deuten das ewig Eine nach ihrer Weise; die Zahl der verschiedenartigen Erkenntnisse und Ideologien nimmt zu. Darum brauchen wir wieder eine neue Offenbarung der alten, ewigen Wahrheiten in einer Sprache und Form, die den alten Religionen ihre Erfüllung und den heutigen und zukünftigen Menschen in ihren heutigen Nöten und Problemen das Heil bringt.

Das Elend der heutigen Menschheit ist der Mangel an Einheit. Alle Leiden und Gefahren, an denen die Menschheit krankt, sind letzten Endes darauf zurückzuführen, daß die verschiedensten Machtgruppen und Denkrichtungen ihre ganz verschiedenen Maßstäbe auf das Leben anwenden und durchsetzen wollen. Es fehlt der eine, durch Gott gegebene Maßstab für die ganze Menschheit. Und nur dieser kann die wahre Einheit bringen.

Aber die hohen, ewigen Ideale der heute lebendigen Bekenntnisse und Machtgruppen sollen weiterleben, soweit sie echt und ewig gültig sind. Darum bedeutet die Sendung Bahá’u’lláhs die Weiterentfaltung und Erfüllung der göttlichen Lehren alter Zeiten wie auch der Erkenntnisse und Bestrebungen der heutigen Zeit, soweit sie zeitlose Gültigkeit haben. Und sie alle werden früher oder später, das ist der liebeerfüllte Glaube der Bahá’i, in dieser neuen, allumfassenden Offenbarung Bahá’u’lláhs ihre Heimat finden, denn hier strahlen ihnen, jugendfroh und in der richtigen Gesetzmäßigkeit vereint, die Elemente entgegen, ohne die ein neues Zeitalter nicht erstehen kann. Es sind vor allem ihrer fünf:

Der Glaube an Gott, die Erkenntnis, daß Er der Schöpfer und Herr ist.

Der Glaube an Seine Mittler, Seine Gesandten. Sie sind alle die Sonnen Seiner Liebe und Wahrheit, ein jeder für den Kreis und das Zeitalter, die Seiner Sendung entsprechen. Ein jeder konnte nur so viel sagen und bringen, wie es den Nöten und der Fassungskraft Seiner Zeit entsprach. Ein guter Arzt verwirrt nicht den Kranken durch vielerlei Lehren und Anleitungen aus der Fülle seines Wissens, sondern verordnet das Wichtigste, was die Not wendet. Und kommt er wieder, so hat das Vorige sich vielleicht erfüllt, aber Neues wird zum Problem und neue Lehren und Verordnungen tun not. Wir stellen Bahá’u’lláh, den Wiedergekommenen, nicht höher als die Heilande der Vergangenheit — das ist uns ausdrücklich untersagt — und auch nach Ihm werden später, in einer ganz andersartigen Zukunft, neue Boten Gottes kommen. Diese Erkenntnisse [Seite 594] sind Voraussetzung für eine echte Einheit der Religionen, ohne die es keine Freundschaft und Einheit der Menschheit und keine Weltsicherheit geben kann.

Das dritte wesentliche Element ist die Wandlung des Charakters, ja der ganzen Natur des Einzelmenschen. Nicht weniger als eine neue Art von Mensch wird entstehen. Ein geistgeführter Mensch, wie ihn Mystiker und Heilige alter Zeiten ersehnt hatten, ein „Übermensch“, wie ihn Nietzsche, wenn auch qualvoll verzerrt, erahnt hatte. Nur ein neuer Mensch kann ein neues Zeitalter gestalten, in demütigem Dienen für Gott und den Nächsten, der zur Menschheit geworden ist. Denn dieser Planet wird immer kleiner, und die Millionen rücken zusammen.


Das Reich, um dessen Kommen wir beten

Das vierte sodann ist die Lehre, uralte Weisheit in nie dagewesener Fülle, den Fragen und Nöten des heutigen Menschen entsprechend, der selbständig nach Wahrheit forschen soll, so daß Glauben zur Gewißheit wird und Gewißheit seinen Glauben beflügelt. Der schmerzhafte Riß im Bewußtsein des Abendlandes, die tragische Zwietracht von Religion und Wissenschaft, die aus Zweifel und Aberglauben geboren war, soll endgültig überwunden werden. Der Mensch, wie ihn Gott erschaffen hat, ist eine Einheit; Glauben und Wissen sind die beiden Schwingen auf seinem Höhenflug. Und die Menschheit ist gleichfalls eine organische Einheit. Das Gebot der Liebe zum Nächsten, das einst vor allem Christus verkündet hatte, ist jetzt weiter entfaltet zum Gebot der Einheit der Menschheit.

Aber all dies genügt nicht: Eine neue Ordnung ist nötig, von Gott gegeben für die neue Menschheit, wie einst vom Sinai herab für jenes kleine Volk, das zu einem auserwählten werden sollte. Denn die geistigen Kräfte dieses anbrechenden Zeitalters müssen sich zu einem Organismus gliedern. Neuartige Institutionen sind zusammengefügt zu Instrumenten der Einheit, die still, bescheiden und liebevoll in der sich rasch über alle Länder ausdehnenden Bahá’í-Weltgemeinde aufgebaut werden und Keimzelle einer neuen Weltordnung sein mögen, des „Reiches“, um dessen Kommen wir beten.

Die Bahá’í sprechen von einem „Geringeren Frieden“ und einem „Größten Frieden“. Der „Geringere Friede“ mag durch bedeutende Staatsmänner, durch Pazifisten und andere Organisationen in absehbarer Zeit — und hoffentlich ohne eine dritten, unausdenkbar fürchterlichen Weltkrieg — verwirklicht werden. Toleranz und Freundschaft zu allen Mitmenschen, uns Bahá’í etwas Selbstverständliches, werden sich allmählich immer mehr verbreiten.

Aber nur der „Größte Friede“, der sich aus den aufgezählten Elementen gestaltet, wird die wahre Sicherheit der Welt bringen, die wahre Einheit, die die Tochter des ewigen „vornehmsten und höchsten Gebotes“ der Liebe ist: aus der Liebe Gottes zu den Menschen, die Liebe des Menschen zu Gott, des Menschen zum Menschen.


—————
1) „Beantwortete Fragen“, 11. Kapitel, Frankfurt/Main, 1962, S. 57 f.
2) Arabische „Verborgene Worte“ 4
3) wie 1), S. 58


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Gebet für den Frieden

O Gott! O Gott! Du siehst, wie schwarze Finsternis alle Bereiche umfangen hat, wie alle Länder in den Flammen der Zwietracht brennen, und wie Krieg und Gemetzel im Osten und Westen der Erde entzündet wurde. Blut wird vergossen, die Leichen liegen dahingestreckt, die Köpfe abgeschlagen und über das Schlachtfeld verstreut.

Herr! Herr! Hab’ Erbarmen mit diesen Unwissenden, schaue auf sie mit dem Auge des Vergebens und Verzeihens. Lösche dieses Feuer, auf daß die düsteren Wolken, die den Himmel bedecken, sich verziehen, auf daß die Sonne der Wirklichkeit leuchte mit den Strahlen der Versöhnung, das Dunkel sich zerteile und alle Länder erleuchtet werden mit dem Licht des Friedens.

Herr! Erwecke sie aus den Tiefen des Meeres der Feindseligkeit, befreie sie aus dieser undurchdringlichen Finsternis, stifte Verwandtschaft zwischen ihren Herzen und erhelle ihre Augen mit dem Lichte des Friedens und der Aussöhnung.

Herr! Errette sie aus den unergründlichen Tiefen des Krieges und des Blutvergießens! Erwecke sie aus dem Düster des Irrtums, reiße den Schleier von ihren Augen, erleuchte ihre Herzen mit dem Lichte der Führung, verfahre mit ihnen nach Deiner Gunst und Gnade, aber begegne ihnen nicht mit Deiner grimmen Gerechtigkeit, die die Mächtigen erzittern ließ.

Herr! Wahrlich, das Meer der Übertretung schlägt hohe Wellen, und die Stürme werden sich nicht legen, es sei denn durch Deine grenzenlose Gnade, die alle Bereiche umfängt.

Herr! Vertreibe dieses Dunkel der Versuchung und erhelle die Herzen mit der Lampe Deiner Liebe, durch die alle Länder erleuchtet werden. Bestätige jene Gläubigen, die ihre Heimat, ihre Familie und ihre Kinder verlassen und durch alle Bereiche wandern um der Liebe zu Deiner Schönheit, der Verbreitung Deiner Düfte und der Verkündung Deiner Lehren willen. Stehe Du ihnen bei in der Einsamkeit, hilf ihnen durch ferne Lande, tilge ihre Sorgen, tröste ihren Jammer, befreie sie aus dem Unglück, lösche ihren Durst, heile sie von ihren Leiden und besänftige das Feuer ihrer Sehnsucht.

Wahrlich, Du bist der Gütige, der Gnädige, und, wahrlich, Du bist der Mitleidvolle und der Allerbarmer.

‘Abdu’l-Bahá

(Aus den „Sendschreiben zum Göttlichen Plan“, April 1917)


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Einheit oder Einförmigkeit?[Bearbeiten]

Denkenden Menschen in allen Teilen der Welt ist seit langem klar geworden, daß das, was der Menschheit von heute am dringendsten nottut, eine tiefgreifende Einheit auf allen Lebensgebieten ist. Aber trotz dieser offenkundigen Notwendigkeit gibt es noch viele, die die Idee der Welteinheit als utopisch und undurchführbar belächeln. Insbesondere behaupten manche Beobachter, die nur oberflächlich Bescheid wissen, die Bahá’í-Religion sei „synkretistisch“ und deshalb „zum Scheitern verurteilt“, Solche und ähnliche Bemerkungen beruhen auf einer völligen Verkennung dessen, was der Bahá’í-Glaube im Grunde ist. Wir wollen hier einige der häufigsten Mißverständnisse untersuchen, damit der Begriff von Welteinheit, wie ihn die Bahá’í verstehen, deutlich wird.

Zum ersten gibt es eine verworrene Vorstellung, das Ziel der Bahá’í sei so etwas wie eine einförmige Gleichheit der ganzen menschlichen Rasse, eine Art „Eintopf“ aus allen Völkern. Das ist ganz entschieden nicht die Bahá’í-Idee der Einheit und ist niemals Bestandteil des Bahá’í-Glaubens gewesen. ‘Abdu’l-Bahá gab die folgende einfache und doch klare Darlegung dieser Tatsache: „Schaut auf die Blumen eines Gartens! Obwohl sie sich nach Art, Farbe, Form und Gestalt unterscheiden, steigert doch diese Verschiedenartigkeit ihre Anmut, und ihre Schönheit wird dadurch noch unterstrichen. Alle werden sie erfrischt von den Wassern eines Brunnquells, belebt vom Hauch eines Windes, gekräftigt von den Strahlen einer Sonne. Wie unbefriedigend wäre es für das Auge, wenn alle Blumen und Pflanzen, Blätter und Blüten, Früchte, Zweige und Bäume dieses Gartens dieselbe Gestalt und Farbe hätten! Die Verschiedenartigkeit der Tönung, Form und Gestaltung bereichert und schmückt den Garten und erhöht seine Wirkung. In der gleichen Weise enthüllt und offenbart sich die menschliche Vollkommenheit in ihrer ganzen Schönheit und Herrlichkeit, wenn verschiedene Schattierungen von Gedanken, Temperamenten und Charakterzügen unter der Macht und dem Einfluß einer zentralen Wirkkraft zusammenkommen. Nichts außer der himmlischen Macht des Wortes Gottes, die die Wirklichkeit aller Dinge beherrscht und überragt, ist in der Lage, die auseinander strebenden Gedanken, Gefühle, Ideen und Überzeugungen der Menschenkinder miteinander in Einklang zu bringen“ 1).

Der Grundgedanke, der in diesem Zitat zum Ausdruck kommt, ist über jede Zweideutigkeit erhaben. Die Idee der Einheit läßt sich nicht mit Ausdrücken wie „Angleichung“, „Einförmigkeit“ oder „Gleichartigkeit“ ausschöpfen. Einheit ist vielmehr eine höhere Form der Beziehung zwischen verschiedenartigen Gruppen. Einheit ist der gesellschaftliche Ausdruck der Liebe. [Seite 597]

Die Liebe, und besonders diejenige, die der christliche Glaube predigt — von der Praxis wollen wir hier nicht reden — ist eine ausgesprochen persönliche Beziehung. Sie ist eine Hochform der Beziehung, wie sie zwischen zwei Individuen herrscht, zwischen zwei Einzelmenschen oder zwischen der menschlichen Seele und ihrem Gott. Einheit könnte man definieren als die höchste Form der Beziehung zwischen Individuen und Gesellschaften oder zwischen Gruppen untereinander, analog der Liebe zwischen Individuen. Gerade deshalb, weil Liebe eine Beziehung zwischen Individuen ist, entwickelte sich das Christentum schon früh zu einer Doktrin des individuellen Heils. Dies ist auch ein Grund, warum das moderne Christentum keine zusammenhängende, praktisch durchführbare Antwort auf die großen gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit geben kann, weil nämlich diese Gesellschaftsprobleme und die Welt, in der sie auftreten, völlig verschieden von dem Sinnzusammenhang sind, in dem Jesus vor 2000 Jahren predigte und das Gesetz der Liebe betonte.

Dies alles bedeutet keineswegs, daß die Idee der Liebe aufgegeben werden müsse; vielmehr ist es heute an der Zeit, daß diese Lehre durch das umfassendere und logischere Konzept einer Ausweitung der Liebe zwischen Individuen zur Einheit zwischen Gemeinschaften vervollständigt wird. An die Stelle der persönlichen Heilsgewinnung muß die universale Erlösung treten. Sicherlich gibt es keinen Widerspruch zwischen beiden Aspekten, kann doch in der Tat keiner ohne den anderen bestehen. Wie man erkennt, daß Liebe vorhanden ist, wenn Individuen in ihren Beziehungen zueinander ein bestimmtes Verhaltensmuster an den Tag legen — wenn sie einander z.B. „Barmherzigkeit erweisen“ — so ist auch Einheit mit einer bestimmten gesellschaftlichen Konzeption verknüpft: derjenigen der Gerechtigkeit. Tatsächlich gab Jesus nur dieses eine Merkmal für Seine Jünger: „Daß sie einander lieben“. Und wie Mitleidslosigkeit und Hartherzigkeit zwischen Einzelmenschen deutliche Zeichen dafür sind, daß keine Liebe herrscht, genau so sind Krieg, Rassendiskriminierung, Haß und halsabschneiderischer Wettbewerb Zeichen dafür, daß Gerechtigkeit und Einheit fehlen.

Ziel des Bahá’í-Glaubens ist es, die Einheit herbeizuführen

1. durch ein göttlich inspiriertes Verhaltensmuster, das dazu bestimmt ist, in den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bereichen des geordneten Lebens der Menschheit Gerechtigkeit und Einheit zu fördern, und
2. dadurch, daß der Menschheit eine Erneuerung durch den Geist Gottes gebracht wird, der allein imstande ist, die Beweggründe individuellen und gemeinschaftlichen Handelns zu läutern.

Eine Diskussion über Fragen der Einheit sollte nicht abgeschlossen werden, ohne daß auf die begeisternden Beweise dafür hingewiesen wird, daß die Bahá’í die Einheit in dem Geiste, in dem sie sie lehren, auch in die Tat umsetzen. Der Bahá’í-Glaube hat nunmehr in jedem Winkel des [Seite 598] Erdballs Eingang gefunden, besonders fest in Afrika, Asien, Südamerika und anderen „unterentwickelten“ Gebieten. Dort steht die Bahá’í-Religion überall in der vordersten Front der Bewegungen, die einheimisches Brauchtum und Farbenfreude fördern und bewahren. Genau genommen, können die Völker der Welt — und besonders des Westens — die Verschiedenartigkeit der Bräuche und Kulturen erst dann richtig würdigen, wenn sie sich von ihren gegenwärtigen kulturellen und rassischen Vorurteilen freigemacht haben. Erst durch die Einheit lernen wir die Verschiedenartigkeit schätzen; ohne Einheit leistet Verschiedenartigkeit der Zwietracht Vorschub, auf der Grundlage der Einheit dagegen bringt sie bunte Freude mit sich. Weil der Bahá’í-Glaube an keine kulturelle Überlieferung des Ostens oder des Westens gebunden ist, muß er auch keine bestehende Kultur verdrängen. Er sucht vielmehr die bestehenden Kulturen zu erhöhen und zu verschönern, ihnen die Grundlage ihres Wachstums zu vermitteln: die Einheit.

Wir wollen die Dinge beim Namen nennen: Es ist unsere materialistische, gleichmacherische westliche Zivilisation, die der ganzen Welt eine starre, falsch verstandene Einförmigkeit aufzuzwingen sucht. Es ist unsere Kultur, die die Verschiedenartigkeit ausschalten und eine fade Eintönigkeit durchsetzen will.

*

Wir wollen uns nun mit einem zweiten oft gehörten Einwand befassen, wonach die Bahá’í-Lehre von der Einheit der Religion einen „Synkretismus“ darstelle. Auch hier müssen wir falsche Vorstellungen, die vielfach über die Bahá’í-Glaubenslehren herrschen, überwinden. Die Bahá’í behaupten nicht, daß die bestehenden religiösen Glaubenssätze und Praktiken miteinander übereinstimmen. Nichts liegt klarer auf der Hand, als daß dem nicht so ist. Jahrhundertelange Streitigkeiten sind ein einfacher Beweis für die realen Gegensätze zwischen den Anhängern verschiedener Religionen. Die Bahá’í versuchen in keiner Weise, diese auseinanderstrebenden Glaubenslehren zu einer Superreligion zu verschmelzen; auch befassen sie sich durchaus nicht damit, wie sie eine Form von Kompromiß zwischen diesen widersprüchlichen Anschauungen und Bräuchen finden könnten. Der Bahá’í-Glaube faßt das Problem vielmehr bei der Wurzel an, denn er erkennt, daß diese ganzen Gegensätze völlig belanglos für die Frage nach dem Wesen und Sinn der Religion sind.

Es ist offenkundig, daß jede der heute bestehenden Religionen im Verlauf ihrer langen Entwicklung kultische Ausschmückungen erfahren hat. Viele dieser Einfügungen weichen von den Lehren des Religionsstifters nicht nur ab, sondern sind diesen geradezu entgegengesetzt. Man kann sich in der Tat nicht genug darüber wundern, wie es kommt, daß jede der Hochreligionen Liebe, Verzeihung und dergleichen lehrt, daß aber die schlimmsten Untaten der Weltgeschichte im Namen der Religion verübt wurden. Bahá’u’lláh erklärt dies damit, daß die geschichtliche und gegenwärtige Form der Religion weit von der ursprünglichen Grundlage abgewichen ist. [Seite 599] Die Menschen haben religiöse Einrichtungen als Deckmantel für ihre egoistischen Pläne und ihre Selbstverherrlichung mißbraucht. Auf diese Weise sind religiöse Einrichtungen häufig auf das Niveau anderer gesellschaftlicher und politischer Institutionen, die miteinander in Wettstreit liegen, herabgesunken, und die ethische Haltung, mit der sie in diesem Wettstreit vorgehen, scheinen nur unmerklich von der Einstellung abzuweichen, die bei Parteien und Verbänden herrscht.

Bahá’u’lláh lehrt, daß die Grundlagen aller Religionen gleich sind, d.h. daß die Stifter der Religionen alle von Gott inspiriert waren und daß es ihre Absicht war, Liebe wachzurufen und die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft voranzutreiben, nicht aber, die Welt in rivalisierende ideologische Lager aufzuspalten. So erklärt Er: „Daß es den verschiedenen Gemeinschaften der Erde und den mannigfachen religiösen Glaubenssystemen niemals erlaubt sein sollte, Gefühle feindseliger Gesinnung unter den Menschen zu nähren, gehört an diesem Tag zum Wesen des Glaubens Gottes und Seiner Religion. Diese Grundsätze und Gesetze, diese sicherbegründeten und mächtigen Systeme sind einer Quelle entsprungen und sind die Strahlen eines Lichtes. Daß sie voneinander abweichen, ist den wechselnden Erfordernissen der Zeitalter zuzuschreiben, in denen sie verkündet wurden“ (Ährenlese CXXXII).

So hat die Religion ein durchaus praktisches Ziel: ein bestimmtes Niveau gegenseitiger Beziehungen in der Gesellschaft zu schaffen, in welche sie eingeführt wird. Wenn dieses Ziel aus den Augen verloren wird, hört Religion auf, Religion zu sein. Inständig fordert Bahá’u’lláh dazu auf, von denjenigen Vorurteilen und Widersprüchen abzulassen, die die Menschen erschaffen haben. Er ermahnt die Menschheit, auf die Einheit zu schauen, die seit Ewigkeit besteht, aber von den Menschen verfinstert wurde.

Einer meiner Professoren hat diese Wahrheit einmal folgendermaßen ausgedrückt: „Wenn Jesus, Moses, Buddha, Muhammad und alle anderen großen Religionsstifter in einem Raum beieinander wären, hätten sie in allen Fragen dieselbe Ansicht.“

In seinem Buch „Das Christentum und die Religionen der Welt“ erzählt Arnold Toynbee, der große Geschichtsforscher, die aufschlußreiche Episode von Symmachus und dem Sieg des Christentums: [Seite 600]

„Als im Römischen Reich der Kampf zwischen der siegreichen christlichen Kirche und dem vorchristlichen Staatskult zu Ende ging, die nunmehr christliche römische Reichsregierung mit Gewalt die heidnischen Tempel schloß und heidnische Andachtsformen im westlichen Teil des Reiches unterdrückte, da kam es zu einem Vorfall, der damals weithin bekannt wurde. Im Verlauf dieser Kampagne befahl die Regierung, daß aus dem Senatsgebäude in Rom das Standbild und der Altar der Siegesgöttin entfernt würde, die von Julius Caesar dort aufgestellt worden waren. Der damalige Sprecher des Senats, Quintus Aurelius Symmachus, hatte darüber einen Disput mit dem heiligen Ambrosius; die Urkunden sind uns erhalten geblieben. Symmachus wurde besiegt, nicht durch überzeugende Beweise, sondern durch höhere Gewalt: Die Regierung schloß einfach die Tempel und entfernte die Standbilder. Schließlich, in einer seiner letzten Verteidigungsreden, gab Symmachus nur noch diese Worte zu Protokoll: „Es ist unmöglich, daß es zu einem so großen Mysterium nur einen einzigen Zugang gibt.“ Das Mysterium, von dem er spricht, ist das Geheimnis des Universums, das Geheimnis der Begegnung des Menschen mit Gott, das Geheimnis des Verhältnisses Gottes zu Gut und Böse. Das Christentum hat Symmachus nie eine Antwort gegeben. Eine rivalisierende Religion zu unterdrücken, ist keine Antwort. Die Frage, die Symmachus aufgeworfen hat, ist auch in der heutigen Welt noch offen. Ich denke, wir werden ihr in unseren Tagen gegenübertreten müssen“ (Christianity among the Religions of the World, pp. 111-112).

Was Symmachus über die Frage der Religion sagte, kann auf alle Fragen ausgedehnt werden. Und was Toynbee vom Christentum sagte, läßt sich allgemein von allen Religionen sagen. Die Welt wird diesen Problemen gegenübertreten müssen — in unseren Tagen.

William S. Hatcher, D. Sec.
1) Bahá’í World Faith, S. 43



„Die Stimme der Macht”[Bearbeiten]

Das Wort Gottes in alter und neuer Zeit / von Eunice Braun (II)

Eines der frühesten Sendschreiben 'Abdu'l-Bahás, in Seinem ersten Amtsjahr verfaßt, wiederholte den Ruf des Báb an die Völker des Westens, wobei ‘Abdu’l-Bahá Sich besonders an den amerikanischen Kontinent wandte, der „alle Völker geistig führen“ sollte Der Aufruf erreichte später seinen Höhepunkt mit den während des Ersten Weltkriegs geoffenbarten „Sendschreiben zum Göttlichen Plan“. Diese Briefe, die kurz nach Kriegsende in Amerika eintrafen, weckten bei jener Gemeinde ein erstes Verständnis für die führende Rolle, die ihr bei der Verbreitung der Lehren Bahá’u’lláhs in der Welt zufallen sollte. Shoghi Effendi nannte diese Sendschreiben „die göttliche Charta“. Sie bildeten die Grundlage für zwei Siebenjahrespläne sowie für den großen Zehnjahresplan, der von Shoghi Effendi 1953 eingeleitet wurde, und sie finden ihre weitere Entfaltung in dem derzeitigen, vom Universalen Haus der Gerechtigkeit geleiteten Neunjahresplan.

‘Abdu’l-Bahás Werke bilden einen einzigartigen Abschnitt im Schrifttum des Bahá’í-Glaubens. Obgleich nicht das schöpferische Wort der Manifestation Gottes, kommt ihnen dennoch Autorität zu — weil 'Abdu'l-Bahá eingesetzt war, die Lehren zu erklären und in Seinem Leben [Seite 601] beispielhaft zu verwirklichen, aber auch wegen der Ihm, dem Träger dieser Autorität, eigenen geistigen Größe.

Die gesamte Entwicklung der Verlagsarbeit war eng mit dem Wirken ‘Abdu’l-Bahás verknüpft. Seine ins Englische übersetzten Schriften sind weitgehend den zahlreichen Briefen entnommen, die Er an einzelne Gläubige und an Gemeinden richtete. Darunter sind jene Briefe, die den Bau des ersten Bahá’í-Hauses der Andacht in der westlichen Welt, in Wilmette/Illinois, anregten und in die Wege leiteten. Das Bedürfnis, diese Briefe zu veröffentlichen und die Schriften Bahá’u’lláhs in Übersetzungen zugänglich zu machen, führte 1902 zur Gründung einer Bahá’í-Verlagsgesellschaft in Chicago. Diese Gesellschaft gab 1909 drei Bände: „Die Sendschreiben ‘Abdu’l-Bahás“ (Tablets of ‘Abdu’l-Bahá) heraus. Schon 1911 waren 26 Titel im „Star of the West“ aufgeführt, einer Bahá’í-Zeitschrift, die erstmals 1910 unter dem Namen „Bahá’í-News“ erschienen war. Kurz nach 1900 war auch in New York eine „Beratende Körperschaft“ gebildet worden, die sich mit Veröffentlichungen befassen sollte; aus ihr ging 1921, zu Beginn des Hütertums Shoghi Effendis, der zentrale Veröffentlichungsausschuß hervor. Um 1955 wurden als ein Ziel des Zehnjahresplans sechs Bahá’í-Verlage an verschiedenen publizistischen Schwerpunkten der Welt gegründet, voran der Bahá’í Publishing Trust in Wilmette/Ill. (USA). Auf der Grundlage der von ‘Abdu’l-Bahá und Shoghi Effendi gegebenen Richtlinien und unter der Leitung der Nationalen Geistigen Räte führen diese Verlage, die während des gegenwärtigen Neunjahresplanes um vier weitere Firmen vermehrt werden, die Veröffentlichungsarbeit fort. Sie arbeiten als Geschäftsunternehmen; sie sollen sich selbst tragen und darüber hinaus die erforderliche Expansion selbst finanzieren.

Mit den Schriften ‘Abdu’l-Bahás war der Westen bereits sehr früh bekannt geworden. Schon 1891 war „Der Bericht eines Reisenden“ (A Traveller’s Narrative) in einer Übersetzung von Prof. E.G. Browne, dem bekannten Orientalisten der Universität Cambridge, beim Verlag dieser Universität erschienen. Der Autor des Werks war zu jener Zeit unbekannt. In Indien war 1875 — ebenfalls ohne Angabe des Verfassers — „Das Geheimnis göttlicher Kultur“ erschienen; eine englische Übersetzung des Werks wurde 1910 in London herausgegeben 14).

Aus dieser Zeit stammen die Tischgespräche ‘Abdu’l-Bahás, Antworten auf Fragen einer Pilgerin während der wohl schwersten Jahre Seiner Amtszeit, zwischen 1904 und 1906. Diese Antworten wurden Laura Clifford Barney in persischer Sprache gegeben, ins Englische übersetzt und mit ‘Abdu’l-Bahás Zustimmung 1908 unter dem Titel „Beantwortete Fragen“ veröffentlicht. Es ist bekannt, daß ‘Abdu’l-Bahá in dieser Zeit mit eigener Hand bis zu 90 Briefe am Tag schrieb und oft die Nachtstunden hindurch arbeitete, um Seinen mannigfachen Pflichten nachzukommen.

Die Reisen, die ‘Abdu’l-Bahá 1911—1913 zur Verkündung des Glaubens Bahá’u’lláhs in den Westen unternahm, fanden ihren Niederschlag in der [Seite 602] Veröffentlichung vieler Reden und Gespräche unter dem Titel „Ansprachen in Paris“ und in der umfassenden amerikanischen Sammlung „Die Verkündung des Weltfriedens“ (The Promulgation of Universal Peace). In Amerika sprach ‘Abdu’l-Bahá in Kirchen, Synagogen, Universitäten, vor philosophischen Gesellschaften und Vereinigungen zur Förderung des Friedens, in der Bowery Mission und in Privatwohnungen, von New York bis Kalifornien und Kanada. Die Ansprachen befaßten sich mit einem weitgespannten Themenkreis: von dem fortschreitenden Charakter der religiösen Offenbarung, der grundsätzlichen Übereinstimmung von Wissenschaft und Religion, der Notwendigkeit, jede Art von Vorurteilen zu beseitigen, bis zu den Maßnahmen, die erforderlich sind, um einen dauerhaften Frieden und eine stabile Weltordnung zu schaffen. Immer aber lag die Betonung auf der gemeinsamen Herkunft und dem gemeinsamen Schicksal der Menschheit, auf der organischen Einheit, die in diesem Jahrhundert erreicht werden müsse und aus der eine weltumspannende Kultur mit höheren moralischen und ethischen Maßstäben, als die Menschheit sie jemals gekannt habe, hervorgehe. Bewirkt werde dies, so sagte ‘Abdu’l-Bahá, durch die Macht des von Bahá’u’lláh freigesetzten neuen göttlichen Wortes.


Das Werk Shoghi Effendis

Wie der Báb und Bahá’u’lláh in einer einzigartigen geistigen Verbindung standen, wie die Offenbarung des „Ersten Punktes“ in die des Verheißenen aller Zeiten einmündete, so war — in einer zwar geringeren, aber gleich wirksamen Weise — auch „Wille und Testament ‘Abdu’l-Bahás“ das Ergebnis einer, wie Shoghi Effendi es ausdrückt, „mystischen Verbindung“ zwischen dem Begründer der Bahá’í-Offenbarung und dem von diesem ernannten Ausleger. In dieser Charta wurde die zukünftige Einheit und Reinheit des Glaubens durch die von Bahá’u’lláh verfügten Einrichtungen des Hütertums, der Hände der Sache Gottes und des Universalen Hauses der Gerechtigkeit gesichert. Das in der Religionsgeschichte einmalige Dokument ernannte Shoghi Effendi zum Hüter des Glaubens. Unter seiner geduldigen, aber festen Leitung wurden die Einrichtungen des Glaubens genauer umrissen und weiter verstärkt, das Rahmenwerk der administrativen Ordnung aufgerichtet und überall in der Welt verankert. Seine lehrreichen Briefe, die diese Entwicklung leiteten, finden sich in dem Buch „Bahá’í-Administration“, in einem ersten Band „Botschaften an Amerika“ und in „Botschaften an die Bahá’í-Welt, 1950-1957“. Mit den letztgenannten Briefen wandte sich Shoghi Effendi nicht mehr an nationale oder örtliche Gemeinden, sondern an die Bahá’í-Weltgemeinde als Ganzheit.

Diese Werke Shoghi Effendis sind ebenso wie die bereits früher erwähnten („Die Weltordnung Bahá’u’lláhs“ „Der verheißene Tag ist gekommen“ und „Das Kommen göttlicher Gerechtigkeit“) sämtlich Analysen und Kommentare zum Glauben Bahá’u’lláhs. Sie behandeln entweder die Anwendung seiner administrativen Grundsätze und stellen seine Ziele dar, oder sie [Seite 603] befassen sich in tiefdringender Weise mit der Bedeutung der Botschaften Bahá’u’lláhs für die moderne Gesellschaft, für die politischen, sozialen und religiösen Krisen unserer Zeit und für die Struktur der künftigen Weltordnung. Shoghi Effendis monumentales Geschichtswerk „Gott geht vorüber“ gibt eine Darstellung des ersten Jahrhunderts des Glaubens.

Die Schriften des Hüters beschließen die Symphonie der Literatur des Glaubens. Als ein inspirierter Dirigent übernahm er das göttliche Werk Bahá’u’lláhs, verband es mit der Koda des Meisters und interpretierte es einer vielfältig zusammengesetzten Zuhörerschaft mit Klarheit und Präzision.

Ein Überblick über Shoghi Effendis Beitrag zur Bahá’í-Literatur wäre unvollständig ohne Erwähnung der „Bahá’í-World“, deren Ausgaben ihm sehr am Herzen lagen und sorgfältig von ihm überwacht wurden. Diese Jahrbücher, die 1925 von Horace Holley begonnen wurden, waren nach den Worten Shoghi Effendis „unübertroffen und unerreicht von irgend einer Veröffentlichung dieser Art“ in der reichhaltigen Literatur des Glaubens. Sie gaben einen internationalen Bericht über die Ziele und Vorhaben des Glaubens und eine Dokumentation seiner weltweiten Unternehmungen.


Die Einteilung der Bahá’í-Literatur

Für das Studium des Glaubens kann die Bahá’í-Literatur in drei große Gruppen eingeteilt werden. Die Originalwerke enthalten Schriften der Zentralgestalten des Glaubens, von denen wir das von den Verfassern unterzeichnete und gesiegelte Manuskript besitzen. An erster Stelle unter diesen Werken stehen die Schriften Bahá’u’lláhs, gefolgt von den Worten des Báb, deren besondere Stellung vom Báb Selbst erklärt wird: „Der Bayán leitet alle seine Herrlichkeit von Ihm her, Den Gott offenbaren wird“ 15), was auch in einem Wort Shoghi Effendis in „Die Sendung Bahá’u’lláhs“ zum Ausdruck kommt: „...eng verbunden, obgleich im Rang untergeordnet...“ 16). Als nächstes kommen die Schriften 'Abdu'l-Bahás, abschließend die Werke Shoghi Effendis. Dies sind die autoritativen Äußerungen.

Die zweite Gruppe von Werken umfaßt die Aufzeichnungen von Ansprachen ‘Abdu’l-Bahás, die mit Seiner Zustimmung veröffentlicht worden sind, denen aber lediglich die englische Übersetzung zugrundeliegt, die der Dolmetscher bei den Ansprachen mündlich gegeben hat. Es handelt sich in der Hauptsache um „Die Verkündung des Weltfriedens“ und einige der in Europa gehaltenen Ansprachen. Diese Werke sollen baldmöglichst aus den ursprünglichen persischen Niederschriften übersetzt werden.

Sekundärliteratur stellt die dritte und letzte Gruppe dar; es sind dies alle über den Glauben veröffentlichten Bücher und Broschüren, die das Verständnis der verschiedenen Autoren von den Lehren zum Ausdruck bringen. Angeführt wird diese Gruppe durch Nabíls unvergleichliches, von Shoghi Effendi übersetztes Geschichtsbuch „Nabíls Erzählungen“ [Seite 604] (The Dawn Breakers), und durch das teilweise von ‘Abdu’l-Bahá herausgegebene Standardwerk „Bahá’u’lláh und das Neue Zeitalter“. Außer diesen Werken gibt es zahlreiche weitere Bücher und Broschüren, die die Bahá’í-Lehren unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten, sowie Studienbeihilfen zu grundlegenden Texten, so daß insgesamt in englischer Sprache augenblicklich fast 200 Veröffentlichungen, in Deutsch gut zwei Dutzend Titel, verfügbar sind.

Aus dem Leben ‘Abdu’l-Bahás wurden viele Geschichten berichtet, zum Teil von Pilgern, die Ihn im Heiligen Land besucht hatten, zum Teil solche, die anläßlich Seiner Reisen im Westen entstanden waren. Diese Geschichten haben von ‘Abdu’l-Bahá ein lebendiges, vielschichtiges Bild gezeichnet, da sie die Eindrücke vieler Beobachter wiedergeben. Shoghi Effendi hat sie nicht abgelehnt; er hat jedoch klar herausgestellt, daß alle Tagebücher und Berichte von Besuchen in Haifa und die über 'Abdu'l-Bahá erzählten Geschichten von der „Liste der, wie wir es nennen können, autoritativen Äußerungen“ entfernt werden müssen, da in ihnen lediglich das Verständnis des Schreibenden oder Berichtenden Ausdruck findet. Shoghi Effendi führt weiter aus: „Bahá’u’lláh hat unmißverständlich dargelegt, daß nur das, was in der Form von Sendschreiben niedergelegt (d. h. geschrieben, unterzeichnet und gesiegelt) ist, für die Freunde verbindlich ist. Auf Hörensagen beruhende Berichte können von Interesse sein, sie können jedoch in keiner Weise Autorität verlangen. Diese grundlegende Lehre Bahá’u’lláhs soll den Glauben vor Verfälschungen bewahren... Da es sich hier um ein grundlegendes Prinzip des Glaubens handelt, dürfen wir nicht geoffenbarte Sendschreiben mit mündlichen Äußerungen zusammenwerfen, die den Gründern der Sache zugeschrieben werden. Die ersteren sind voll verbindlich, während die letzteren in keiner Weise Gehorsam von uns verlangen können. Sie können äußerstenfalls das Handeln desjenigen beeinflussen, der den Ausspruch persönlich gehört hat“ 17).

Auch hier zeigt es sich, welche große Gabe Gott der Menschheit in dieser Offenbarung damit gewährt hat, daß die heiligen Texte unverfälscht bewahrt worden sind.

Die Bahá’í-Literatur wird in Zukunft weiter bereichert werden. Viele Sendschreiben sind noch nicht angemessen ins Englische übersetzt, viele Briefe von 'Abdu'l-Bahá und Shoghi Effendi noch nicht veröffentlicht. Eines ist jedoch sicher: Shoghi Effendi hat in seiner Arbeit nicht geruht, bis die Offenbarung Bahá’u’lláhs authentisch und in Fülle im Englischen wiedergegeben war, aus dem sie seitdem in Hunderte von Sprachen und Stammesdialekte übertragen worden ist. Mit der schweren Aufgabe befaßt, eine Weltgemeinde zu leiten, und zusätzlich zu der Niederschrift seiner eigenen Werke übersetzte er „Das Buch der Gewißheit“, „Brief an den Sohn des Wolfes“, „Verborgene Worte“, „Gebete und Meditationen“, „Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs“, zahlreiche Gebete und Sendschreiben 'Abdu'l-Bahás sowie „Nabíls Erzählung“ (ein Werk, das er als „unvergleichliches Textbuch“ für Sommerschulen und als „Anregung für alle literarischen und künstlerischen Arbeiten“ empfiehlt). [Seite 605]


Der Hüter setzte hohe Maßstäbe

Mit der von Shoghi Effendi eingeleiteten Veröffentlichung dieser Werke in Amerika wurden die für die Verlagsarbeit der Bahá’í geltenden Grundsätze geformt. Sie beinhalten größte Genauigkeit, verbunden mit hohem Stilniveau, damit die Würde des Glaubens gewahrt wird. Shoghi Effendi schreibt: „...alles, was vor die Öffentlichkeit gebracht wird, soll in literarischer und künstlerischer Hinsicht von höchster Qualität sein“ 18). Auf der Grundlage der Prinzipien des Glaubens, wie sie Shoghi Effendi auf die Verlagsarbeit anwendet, sind die Nationalen Geistigen Räte ermächtigt, Richtlinien für die Veröffentlichung und Verbreitung der Literatur auszuarbeiten. Verantwortlich für die Durchführung dieser Aufgaben sind die Bahá’í-Verlage.

Das Problem der literarischen und künstlerischen Qualität wirft natürlich die unvermeidliche und schwierige Frage auf, was als guter Geschmack gelten soll. Die letzte Entscheidung hierüber muß denjenigen überlassen bleiben, die die Arbeit durchführen, letztlich dem Rat, der die Verantwortung delegiert hat. Extreme, die vermieden werden müssen, sind die Festlegung auf flüchtige Tagesmoden, aber auch die Unfähigkeit, sich Veränderungen anzupassen.

Ausgehend von Bahá’u’lláhs Grundsatz der Mäßigung, hat Shoghi Effendi zu dem angeschnittenen Fragenkreis Stellung genommen. Mäßigung, so führt er aus, muß in allem geübt werden, „was Kleidung, Sprache, Vergnügungen und alle künstlerischen und literarischen Unternehmungen betrifft“. „Der Maßstab der Bahá’í“, so erklärt er weiter in entschiedenen Worten, „kann keinen Kompromiß mit den Theorien, Gewohnheiten und Exzessen einer dekadenten Epoche dulden.“

Um sicherzustellen, daß die Veröffentlichungen Wesen und Ziele des Glaubens korrekt wiedergeben, und um die Nationalen Geistigen Räte bei ihren diesbezüglichen Aufgaben zu unterstützen, wurden in den ersten Jahren des Hütertums Überprüfungsausschüsse gebildet. Dieser Grundsatz der Überprüfung war bereits von ‘Abdu’l-Bahá Selbst beachtet worden, der eine eigene Übersetzung zur Billigung an einen Geistigen Rat gesandt hatte, „damit die Dinge in einer vernünftigen Weise geordnet seien“. Shoghi Effendi bekräftigte diese Handlung dadurch, daß er seine eigenen Werke wie „Gott geht vorüber“ sowie seine Übersetzungen von Schriften Bahá’u’lláhs und „Nabíls Erzählungen“ an den amerikanischen Überprüfungsausschuß sandte, „damit er der erste sei, der sich an diese Vorschrift halte“.

All dies stellt die Bahá’í-Verlagsarbeit auf ein hohes Niveau und schließt ständige Wachsamkeit und persönlichen Gehorsam ein. Obgleich somit Unverfälschtheit der Schriften und Genauigkeit in jeder Darstellung [Seite 606] des Glaubens zwingende Gebote sind, ist doch der einzelne in der Wahl seines Lesestoffes völlig frei. Bahá’u’lláh behindert niemanden bei seinem Forschen nach Wahrheit, mag er auch eine Zeitlang im Staub suchen.

In einer Übergangsepoche, bedrängt von dem moralischen Verfall einer alten Ordnung, ist es schwer, das Verhältnis zwischen Unabhängigkeit und Gesetz richtig zu beurteilen oder das heikle Gleichgewicht zwischen Freiheit und Ordnung zu erkennen. In einer derartigen Epoche der Geschichte überwiegen die Extreme. Der moderne Mensch blickt zurück auf Jahrhunderte voller Ungerechtigkeit und sieht in jeder Beschränkung eine Behinderung der Freiheit. Er beginnt mit einem hochherzigen Protest gegen die Tyrannei und endet in einem selbstgeschaffenen Gefängnis, durch Mangel an Glauben und Demut von seinen eigenen geistigen Möglichkeiten abgesperrt. Auf der anderen Seite befürchtet er, daß die Freiheit entarten könnte, und unterdrückt alles, was nicht in den überlieferten Rahmen paßt, so sehr auch dessen Anwendung auf heutige Bedürfnisse überholt ist.

Nur die Manifestation Gottes hat den Schlüssel zu diesem Dilemma. Bahá’u’lláh erweitert die Grenzen der Freiheit des Menschen, indem Er ihn aus den Niederungen seiner Natur zu einer höheren Stufe führt, wo er seine wahren geistigen Fähigkeiten üben und entwickeln kann. Die Lehren Bahá’u’lláhs werden, je mehr Seine Anhänger sie verstehen und in die Tat umsetzen, ein neues goldenes Zeitalter in der Literatur wie in allen anderen Fertigkeiten des Menschen einleiten. In unserem gestaltenden Zeitalter, in dem es die „neue Menschheit“ noch nicht gibt, kann sich diese Blüte noch nicht entfalten. Dies ist die Zeit, in der das Wort Gottes in die Herzen der Menschen gepflanzt und dort gehegt werden muß. Die schöpferischste Tat des Menschen ist an diesem Tage die Wiederbelebung der Seelen, damit die gesamte Welt eines Tages ihre herrlichste Frucht hervorbringen kann: das Reich Gottes, eine göttlich begründete Kultur.

„Löst eure Zunge und verkündet unaufhörlich Seine Sache. Das wird für euch besser sein als alle Schätze der Vergangenheit und der Zukunft..." 19).


Aus Bahá’í News (USA), Dezember: 1964 und Januar 1965.

14) vgl. „Bahá’í-Briefe“, Heft 4—7, S. 92—163.
15) Shoghi Effendi: „Gott geht vorüber“, Oxford 1954, S. 33
16) Oxford 1948, S. 3
17) Bahá’í News, Mai 1939
18) Bahá’í News, Mai 1932
19) Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs, Frankfurt 1961, CLIV



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Einen Unterschied zu machen und wahrzunehmen, wo Gott bei der Erschaffung der Welt keinen beabsichtigt hat, ist Unwissenheit und Aberglaube.
‘Abdu’l-Bahá
(“Promulgation of Universal Peace“, S. 73)
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[Seite 607]



In einem Langhaus auf Borneo[Bearbeiten]

Dieser Tage erreichte uns Post aus Borneo. Frau Grete Fozdar, früher Darmstadt-Jugenheim, berichtet darin über ihre Fahrten zu den Eingeborenen und über die Art, wie die Bahá’í in diesem Teil der Welt lehren. Nachfolgend veröffentlichen wir einen Ausschnitt aus diesem Brief.






Grete Fozdar (Bildmitte) mit ihren jungen und alten Freunden auf Borneo.



„Von Brunei ging’s per Omnibus zurück nach Sarawak. Zwei Iban-Bahá’í kamen mit mir. Einer spricht sehr gut Englisch, der andere Malayisch; auf diese Weise konnte ich mich leicht mit ihnen unterhalten, und in den Langhäusern übersetzte Jonathan für mich in Iban. Bis zur Mündung des großen Baram-Flusses konnten wir per Omnibus fahren, und von dort ging es weiter in einem kleinen gemieteten Boot zu den Langhäusern. Nach 4½ Stunden im offenen Boot mit gerade genug Platz zum Sitzen, waren wir alle gehörig steif und ich rot wie ein Krebs. Wir machten halt im ersten Langhaus am Bakong. Der Bakong ist ein Nebenfluß des Baram, mit sehr schwarzem und zugleich klarem Wasser, in dem sich alles spiegelt. Es sieht recht hübsch aus. Manche Bäume sind übergossen mit den orangenen Blüten eines Schlinggewächses. Bäume hängen in grotesken Formen über dem Wasser und drohen jeden Augenblick in den Fluß zu stürzen. Wenn Hochwasser ist, kommt das oft genug vor. [Seite 608]

Die ganze Gegend ist sehr flach; die Flüsse stehen, bis tief ins Hinterland, unter dem Einfluß von Ebbe und Flut. Die Eingeborenen sind verhältnismäßig wohlhabend, weil sie hier ihren Reis im Flachland anbauen können, wo es genügend Feuchtigkeit gibt. In Kapit, wo alles am Berghang wächst, sind die Ernten wesentlich spärlicher.

Viele Vögel sahen wir. Die schönsten waren die „Kingfisher“, die uns täglich begegneten, leuchtend blaue Rücken und Flügelfedern, der Schnabel groß und orangefarben. Die „Hornbill“-Vögel sind die Wahrzeichen Sarawaks. Wir entdeckten viele, allerdings nur aus der Ferne, wenn sie hoch über dem Fluß flogen. Mehrere Alligatoren tauchten hie und da im Fluß auf und machten sich schnell davon, wenn sie uns sahen.

Wenn man erst einmal in einem Langhaus sitzt, beginnt ein faules Leben. Man sitzt und sitzt, nicht besonders bequem, immer auf Matten, die auf dem Fußboden ausgebreitet sind. Dann ißt man und sitzt für Stunden danach weiter zusammen. Man hat viel freie Zeit. Da man die Leute nur am Abend zusammenbekommt, lohnt es sich nicht, mehr als ein Langhaus am Tag zu besuchen.

Braungebrannt fuhren wir acht Tage später nach Brunei zurück. Eine Inderin sagte mir: „You have lost your colour!“, womit sie besagen wollte, daß ich nicht mehr so weiß war wie zuvor. In ihren Augen ist eine dunkle Hautfarbe das schlimmste aller Übel...“






Lehrtagung im neuen Versammlungssaal in Langenhain

Das Verwaltungsgebäude beim Haus der Andacht in Langenhain/Taunus hat jetzt seinen letzten Schliff erhalten. Es beherbergt neben einer Wohnung auch einen kleineren Versammlungssaal, in dem sich kürzlich erstmals Vertreter verschiedener deutscher Bahá’í-Gemeinden trafen, um über den Fortgang der Bahá’í-Lehrarbeit in der Bundesrepublik zu beraten. Wie stets wurden dabei reiche Erfahrungen ausgetauscht und wertvolle Anregungen gegeben. Unser Bild wurde bei dieser Tagung aufgenommen und zeigt einen Teil der in Langenhain versammelten Bahá’í.

[Seite 609]



Der Segen der Meditation[Bearbeiten]

Ansprache von 'Abdu’l-Bahá am 12. Januar 1913 in London

Vor etwa tausend Jahren wurde in Persien eine Gemeinschaft gegründet, welche sich „Gesellschaft der Freunde“ nannte. Die „Freunde“ trafen sich zu stiller Begegnung mit dem Allmächtigen.

Sie gliederten die göttliche Philosophie in zwei Arten: Wissen der ersten Art kann durch Unterricht und Studium an Schulen und Universitäten erworben werden. Die zweite Art der Philosophie war die der Illuminaten oder Anhänger des inneren Lichtes. Die Lehrstunden für diese Philosophie wurden in aller Stille abgehalten. Man meditierte und wandte das Angesicht der Quelle des Lichtes zu; so strahlten von diesem Mittelpunkt des Lichtes her die Geheimnisse des Reiches Gottes in den Herzen dieser Menschen wider.

Die „Gesellschaft der Freunde“ wuchs stark in Persien, und bis zum heutigen Tage bestehen ihre Versammlungen. Ihre Anführer schrieben viele Bücher und Episteln. Wenn sie sich in ihrem Versammlungshaus treffen, sitzen sie still in sich versunken da. Der Leiter beginnt mit einem bestimmten Vorschlag und sagt zu den Versammelten: „Denkt über diese Frage nach!“ Nachdem sie ihren Geist von allem anderen losgelöst haben, sitzen sie da, denken nach — und nach kurzer Zeit liegt die Antwort klar vor ihnen. Viele verworrene religiöse Fragen sind durch diese Erleuchtung gelöst worden.

Hier einige der großen Fragen, welche sich von den Sonnenstrahlen der Wahrheit auf das menschliche Gemüt ergießen: die Frage nach der Wirklichkeit der menschlichen Seele, nach dem Ursprung der Seele und ihrer Geburt aus dieser Welt in die Welt Gottes, die Frage nach dem Eigenleben der Seele und ihrem Schicksal nach ihrer Trennung vom Körper.

Ebenso denken sie über wissenschaftliche Tagesfragen nach und lösen diese auf gleiche Weise.

Diese Menschen, welche sich „Anhänger des inneren Lichtes“ nennen, erreichen ein Höchstmaß an Macht und befreien sich völlig von blinden Dogmen und Nachahmungen. Ihre Mitmenschen verlassen sich auf die Erklärungen dieser Geistesfürsten: Durch sich selbst und in sich ergründen sie alle Geheimnisse.

Wenn sie mit Hilfe des inneren Lichtes eine Lösung finden, nehmen sie diese an, und erst dann äußern sie sich über ihre Lösung; anderenfalls wäre sie ihrer Meinung nach eine Sache blinder Nachahmung. Sie gehen so weit, über die Natur und das Wesen des Göttlichen, der göttlichen Offenbarung, des Offenbarwerdens der Gottheit in dieser Welt nachzudenken. Alle religiösen und wissenschaftlichen Fragen werden von ihnen durch die Macht des Geistes gelöst.

Bahá’u’lláh sagt, daß in jedem Phänomen ein Zeichen (von Gott) zu finden ist: Das Zeichen des Verstandes ist Beschaulichkeit, und das Zeichen der Beschaulichkeit ist Stille; denn kein Mensch ist imstande, zwei Dinge gleichzeitig zu tun. Er kann nicht zugleich sprechen und meditieren. [Seite 610]

Es ist eine Grundtatsache, daß man während des Meditierens mit der eigenen Seele spricht. In diesem Gemütszustand kann man an seine Seele bestimmte Fragen richten, und die Seele gibt Antwort: Das Licht bricht hervor, und die Wirklichkeit enthüllt sich.

Man kann die Bezeichnung „Mensch“ keinem Wesen geben, welches diese Fähigkeit der Meditation nicht besitzt. Ohne sie wäre der Mensch ein rein animalisches Wesen, niederer als die wilden Tiere.

Durch die Fähigkeit zu meditieren erlangt der Mensch das ewige Leben. Durch sie empfängt er den Odem des Heiligen Geistes, dessen Gnadengaben sich in Überlegung und Betrachtung kundtun. Während der Meditation wird die Seele des Menschen unterrichtet und gestärkt, durch Meditation entfalten sich vor seinem Auge Dinge, von denen er zuvor nichts wußte. Durch Meditation empfängt er göttliche Eingebung, durch sie empfängt er himmlische Nahrung.

Meditation ist der Schlüssel zu den Toren der Geheimnisse. In diesem Zustand abstrahiert sich der Mensch: Er zieht sich von allen außenstehenden Objekten zurück; in dieser subjektiven Haltung versinkt er im Ozean geistigen Lebens und kann die Geheimnisse der Dinge an sich enthüllen. Um dies zu erläutern, muß man sich den Menschen als ein Wesen vorstellen, das mit zweierlei Sehvermögen begabt ist. Wenn die Kraft des inneren Auges gebraucht wird, kann das äußere nicht sehen.

Die Fähigkeit zu meditieren, befreit den Menschen von der animalischen Natur, geht der Wirklichkeit der Dinge auf den Grund und verbindet den Menschen mit Gott.

Künste und Wissenschaften bringt diese Fähigkeit aus dem Bereich des Unsichtbaren hervor. Erfindungen werden durch sie ermöglicht, gewaltige Unternehmungen ins Leben gerufen. Durch sie können Regierungen reibungslos ihre Aufgaben vollenden. Durch diese Fähigkeit findet der Mensch Zugang zum Reiche Gottes.

Es gibt Gedanken, die für den Menschen nutzlos sind: Sie gleichen Meereswogen, welche branden, ohne daß etwas geschieht. Aber wenn die Fähigkeit des Meditierens vom inneren Lichte durchdrungen und mit göttlichen Attributen gekennzeichnet ist, werden die Ergebnisse Bestätigung finden.

Meditation gleicht einem Spiegel; stellt man ihn vor irdische Gegenstände, wird er diese widerspiegeln. Denkt daher der menschliche Geist über irdische Dinge nach, so erhält er von diesen Kenntnis.

Aber wenn ihr die Spiegel eurer Seelen gen Himmel wendet, werden himmlische Bildnisse und die Strahlen der Sonne der Wirklichkeit aus euren Herzen wiedergegeben und zurückgestrahlt, und ihr erlangt die Tugenden des Königreiches.

Deshalb wollen wir diese Fähigkeit auf die richtige Bahn lenken: zur himmlischen Sonne, nicht zu irdischen Dingen, — auf daß wir die Geheimnisse des Reiches Gottes entdecken und die biblischen Gleichnisse, die Mysterien des Geistes begreifen.

Mögen wir zu Spiegeln werden, welche die himmlische Wirklichkeit ausstrahlen, so rein, daß die Sterne des Himmels aus uns leuchten.

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„Paris Talks“, 9th Edition, London 1951, Seite 173 ff.


[Seite 611]



Die Quelle alles Guten ...[Bearbeiten]

Die Quelle alles Guten ist Vertrauen in Gott, Unterwerfung unter Seine Gebote und Zufriedenheit mit Seinem heiligen Willen und Wohlgefallen.
Das Wesen der Weisheit ist die Ehrfurcht vor Gott, die Furcht vor Seiner Züchtigung und Bestrafung, die Erkenntnis Seiner Gerechtigkeit und die Anerkennung Seiner Verordnungen.
Das Wesen der Religion ist, das anzuerkennen, was der Herr offenbarte, und das zu befolgen, was Er in Seinem mächtigen Buch verordnete.
Das Wesen der Liebe ist für den Menschen, sein Herz dem Geliebten zuzuwenden, sich von allem außer Gott zu lösen und nichts anderes als sein Herr zu wünschen.
Wahre Hilfe ist für den Diener, seinem Beruf und Geschäft in dieser Welt nachzugehen, sich fest an den Herrn zu halten und nur Seine Gnade zu suchen, denn in Seinen Händen liegt das Schicksal aller Seiner Diener.
Die Quelle des Mutes und der Macht ist die Verbreitung des Wortes Gottes und Standhaftigkeit in Seiner Liebe.
Das Wesen des Reichtums ist die Liebe zu Mir. Wer Mich liebt, besitzt alle Dinge, und wer Mich nicht liebt, gehört fürwahr zu den Armen und Bedürftigen. Dies offenbarte der Finger des Ruhmes und der Herrlichkeit.
Das Wesen des Glaubens ist es, wenig Worte zu machen und eine Fülle von Taten aufzuweisen. Wisse wahrlich, daß für den, der mehr redet als er tut, der Tod besser wäre als sein Leben.
Die Quelle aller Gelehrsamkeit ist die Erkenntnis Gottes, erhaben sei Sein Ruhm! Diese Erkenntnis kann auf keine andere Weise erlangt werden als durch die Erkenntnis Seiner göttlichen Offenbarung.
Bahá’u’lláh


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Die „Worte der Weisheit“, die wir hier in Auszügen wiedergeben, sind der neuen Auflage der „Verborgenen Worte“ vorangestellt. In poetischer und zugleich eindringlicher Sprache fassen die Sinnsprüche dieser beiden frühen Werke Bahá’u’lláhs die Quintessenz Seiner Lebensregeln für den wahrheitssuchenden Menschen zusammen.

Die Redaktion
Bahá’u’lláh, „Worte der Weisheit — Verborgene Worte“, Bahá’í-Verlag GmbH, 6 Frankfurt, 1965, 90 Seiten, Ganzleinen, DM 4.50.


[Seite 612]



NEU AUF UNSEREM Büchertisch[Bearbeiten]

Alessandro Bausani, La fede Bahá’í“ in „Le grandi Religioni illustrate“, Fascicolo n. 87, 23. 10. 65, Rizzoli Editore, Mailand, Via Civitavecchia 102; Lit. 300

In Italien erscheint seit 1963 ein reichbebildertes Werk im Illustriertenformat über „Die großen Religionen“, das auf 120 Lieferungen und sechs Bände angelegt ist. Der fünfte Band ist dem Islam und den indischen Religionen gewidmet und enthält in einem der letzten Faszikel, die einzeln käuflich sind, einen zwölfseitigen Aufsatz von Prof. Dr. Alessandro Bausani über den Bahá’í-Glauben mit 17, meist farbigen Lichtbildern.

Ausgehend von dem Besuch des englischen Orientalisten Prof. Edward G. Browne bei Bahá’u’lláh im Jahr 1890, schildert der Verfasser die politische und soziale Struktur des Landes, in dem der Báb 1844 mit Seinem Anspruch, ein Offenbarer Gottes zu sein, auftrat. Ein kurzer Überblick über die Lehren des Báb und die Verfolgung Seiner Anhänger leitet über zu Bahá’u’lláh, der Geschichte Seiner Verbannung und der Entwicklung der Bahá’í-Weltgemeinschaft. Ein ganzes Kapitel ist den Lehren des Glaubens gewidmet; die Bahá’í-Prinzipien sind in einer Übersichtstafel aufgeführt. Unter dem Titel „Die Ordnung der Gemeinschaft“ werden die Grundsätze der Bahá’í-Verwaltungsordnung geschildert, wobei auf die Bedeutung des Neunzehntagefests, der Wahl, der Geistigen Räte und der Häuser der Andacht näher eingegangen wird. Mit einem Gebet ‘Abdu’l-Bahás um die Einheit des Menschengeschlechts beschließt Professor Bausani seine Ausführungen.

Die Veröffentlichung kann als repräsentative Dokumentation über den Kreis derer, die des Italienischen kundig sind, hinaus empfohlen werden.

P.M.


Alessandro Bausani, „Die Perser. Von den Anfängen bis zur Gegenwart“, Urban-Bücher Nr. 87. W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1965, 191 Seiten, DM 4.80.

Auf knapp 200 Seiten die dreitausendjährige Geschichte eines Kulturvolks zusammenzufassen, sich nicht in politisch-militärische Details zu verlieren, sondern in der Flucht der Erscheinungen die sozialen, kulturellen und religiösen Strömungen wenigstens umrißhaft anzudeuten — das ist eine Leistung, die Anerkennung verlangt, zumal wenn es sich um eine Weltgegend handelt, über die es zwar viel Fachliteratur, aber kaum einen allgemeinverständlichen Gesamtüberblick gibt. Dieses Land am Kreuzweg der großen Strömungen in der Menschheitsgeschichte hat eine reiche, mit westeuropäischen Maßstäben kaum zu ergründende Vergangenheit, die in groben Zügen kennenzulernen ein ernstes Anliegen für jeden sein müßte, der die Bahá’í-Religion von ihrem kulturellen Mutterboden her noch tiefer begreifen möchte. Kurze Literaturhinweise regen zu weiteren Studien an.

P.M.


Die „BAHA’I-BRIEFE“ werden vierteljährlich herausgegeben vom Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í in Deutschland e. V., 6 Frankfurt, Westendstraße 24. Alle namentlich gezeichneten Beiträge stellen nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers oder der Redaktion dar.

Redaktion: Dipl.-Volksw. Peter A. Mühlschlegel, 6104 Jugenheim, Goethestraße 14, Telefon (0 6257) 21 33, und Dieter Schubert, 7022 Leinfelden, Fliederweg 3, Telefon (07 11) 79 35 35.

Vertrieb: Georg Schloz, Bahá’í-Haus, 7 Stuttgart-Zuffenhausen, Friesenstraße 26, Telefon (0711) 87 90 58 oder (07 11) 87 32 48.

Druck: Buchdruckerei Karl Scharr, 7 Stuttgart-Vaihingen, Scharrstraße 13.

Preis: DM —.80 je Heft einschließlich Versandkosten, im Abonnement DM 3.20 jährlich. Zahlungen erbeten an Bahá’í-Verlag GmbH., 6 Frankfurt, Westendstr. 24, Postscheckkonto Stuttgart 35 768, mit dem Vermerk „BAHA’I-BRIEFE“.

An der Zeitschrift bestehen keine wirtschaftlichen oder finanziellen Beteiligungen im Sinne des Hessischen Pressegesetzes, § 5 Abs. 2.