←Heft 22 | Bahai Briefe Januar 1966 |
Heft 24→ |
![]() |
BAHÁ'I-
BRIEFE
BLÄTTER FÜR
WELTRELIGION UND
WELTBEWUSSTSEIN
AUS DEM INHALT:
Dialog über das Wohl der Welt
Die Bahá’í-Religion und die Friedensenzyklika Papst Johannes’ XXIII
Die Stimme der Macht
JANUAR 1966 HEFT 23
D 20 155 F
- Das Wort,
- das der Sohn verbarg, ist offenbar geworden.
- Es ist herabgesandt worden in Gestalt
- des Menschentempels am heutigen Tage.
- Gesegnet sei der Herr, welcher der Vater ist!
- Er, wahrlich, ist gekommen zu den Völkern
- in Seiner größten Majestät.
- Wendet Euer Angesicht Ihm zu,
- o Schar der Rechtschaffenen! . . .
- Dies ist der Tag, da der Fels (Petrus) ausruft
- und jauchzt und den Lobpreis seines Herrn,
- des Allbesitzenden, des Höchsten,
- verherrlicht mit den Worten: „Sehet,
- der Vater ist gekommen, und was euch verheißen
- ward in Seinem Reich, das ist erfüllt!“
- Bahá’u’lláh
- (Sendschreiben an Papst Pius IX., zitiert in Shoghi Effendi, „Der verheißene Tag ist gekommen“, Sonne der Wahrheit, 18. Jahrgang 1947, S. 187)
Dialog über das Heil der Welt?[Bearbeiten]
Zwanzig Jahre nach Explosion der ersten Atombombe über Hiroshima schreibt der bekannte Nobelpreisträger und Physiker Max Born: „Es kommt darauf an, daß diese unsere Generation es fertigbringt, umzudenken. Wenn sie es nicht kann, so sind die Tage der zivilisierten Menschheit gezählt.“1) Daß dieses Umdenken nicht im Sinne einer intellektualistisch-passiven, nur theoretisch bestimmten Zeitanalyse verstanden werden soll und darf, macht der Autor des Werkes u.a. klar mit den Worten: „Es kommt darauf an, ihn (den „prekären Friedenszustand“) zu stabilisieren durch Besinnung auf die sittlichen Grundsätze, die das Zusammenleben der Menschen ermöglichen. Christus hat gelehrt, wie Mensch zu Mensch sich verhalten soll. Die Völker haben bisher gehandelt und, leider, die Kirchen haben nicht widersprochen, als gälten diese Gebote nur innerhalb ihrer Gebiete, aber nicht für ihre gegenseitigen Beziehungen. Das ist die Wurzel des Übels.“
Die christlichen Kirchen — in zunehmendem Maße auch die Institutionen der anderen Weltreligionen, insbesondere der Islam und der Buddhismus — sehen sich heute gezwungen, sich der Welt zu stellen und ihre überlieferten Denkformen und Verhaltensweisen ernsthaft zu überprüfen. Immer offenkundiger tritt zutage, daß zwischen den weltbedrohenden politischen Vertrauenskrisen und dem Vertrauensschwund einer großen Zahl der aufgesplitterten Anhänger der großen Religionen gegenüber ihren hierarchischen Einrichtungen und Ansprüchen Zusammenhänge bestehen.
Die kaum zu überschätzende Verantwortung der Träger und Führer der überkommenen Religionen für die Erhaltung und dauerhafte Sicherung des Weltfriedens kann nicht mehr bestritten werden. Im Rahmen dieser Betrachtung, die um die geschichtliche Notwendigkeit und Möglichkeit einer aufgeschlossenen Begegnung der Weltreligionen kreisen soll, ist es nicht möglich, die Verflechtung von Religion und Politik geschichtlich aufzuzeigen. Uns kommt es darauf an, klar zu machen, daß die Errichtung einer gerechten und organisch-wachsenden Weltordnung nur auf dem Boden einer weltoffenen brüderlichen Einigung der Anhänger aller Religionen Wirklichkeit werden kann.
Die gläubige und positive Verfolgung dieses Zieles zum Segen
der ganzen Menschheit hat Gott dieser Generation und kommenden
Geschlechtern geschichtlich nachweisbar vor hundert Jahren
übertragen. Bahá’u’lláh ist der nach göttlichem Befehl bestimmte
Begründer dieser kommenden föderativen Weltgemeinschaft aller
Völker und Rassen. Dr. Ugo R. Giachery nimmt die
Friedensenzyklika von Papst Johannes XXIII zum
aktuellen Anlaß, vor dem geschichtlichen Hintergrund
der Christenheit und „einer
[Seite 567]
Zivilisation ohne Gott“ eindringlich aufzuzeigen, wie der Stifter der
Bahá’í-Weltreligion Seine heilbringende Sendung, den göttlichen
Erlösungsplan für die Menschheit als Ganzes, trotz aller
Unterdrückung, Verfolgung und Verbannung verwirklichte.
Nach Seinen Worten ist das Wesen der Religion, „das anzuerkennen, was der Herr offenbarte und zu befolgen, was Er in Seinem mächtigen Buch verordnete.“2) Das „mächtige Buch“ ist das Wort Gottes, wie es aus der Liebe und Gnade unseres Schöpfers fortschreitend zur Führung, Wandlung und Heiligung des Menschengeschlechts geoffenbart wird, geschichtlich manifest in den Heiligen Schriften der Hoch- und Buchreligionen. „Die Sonne der Wahrheit ist das Wort Gottes, von dem die Erziehung der Menschen im Reiche der Gedanken abhängig ist. Es ist der Geist der Wirklichkeit und das Wasser des Lebens. Ihm verdanken alle Dinge ihr Dasein... Der Mensch ist bezüglich seiner geistigen Existenz von der Sonne des Wortes Gottes abhängig.“ 3)
Wir verstehen Offenbarung im höchsten Sinne als metaphysische Enthüllung des Willens Gottes. Sie strahlt die schöpferische Kraft der ewig wirkenden Wahrheit aus, des LOGOS, der geschichtlich sich in einem vollkommenen Menschen widerspiegelt, dem eine göttliche Sendung zum Heil der Welt aufgegeben ist. „Der Logos erleuchtet jeden Menschen“, wie im Prolog des Johannes-Evangeliums zu lesen ist. Im Offenbarungsgeschehen überschreitet im Sinne von Paul Tillich das Unendliche von sich aus seine Grenze zum Endlichen, wenn Gott spricht und ruft. „Dieses Überschreiten zeugt Religion, zeugen die, von denen wir sagten, daß sie den Völkern Gesetz und Berufung vermitteln.“ 4)
„Dies ist der Tag, an dem Gottes erhabenste Segnungen den Menschen zugeströmt sind, der Tag, an dem sich Seine größte Gnade über alles Erschaffene ergossen hat. Allen Völkern der Welt obliegt es, ihre Gegensätze auszugleichen und in vollkommener Einigkeit und im Frieden unter dem Schatten des Baumes Seiner Hut und Güte zu verweilen.“ 5)
Im Lichte dieser epochalen Gottesoffenbarung durch Bahá’u’lláh ist es unverkennbar, daß die von Ihm angekündigte „Unruhe“ um die Mitte des 19. Jahrhunderts über die ganze Welt kam. Der allumfassende Impuls des Heiligen Geistes durch Bahá’u’lláh hat längst die dogmatischen und partikularistischen Glaubensformen der großen Religionen erschüttert, weil sie in ihren geschichtlich eingeengten Bekenntnissen und Geltungsansprüchen den grundlegenden Erfordernissen religiöser Wirklichkeit, göttlich bestimmte Liebe und Gerechtigkeit über menschengeschaffene Grenzen hinweg allen Menschen, Völkern, Rassen, Ständen und Glaubenshaltungen dienstbar zu machen, nicht gerecht wurden.
Ugo Giachery hat diese Entwicklung im Blick auf das christliche
Abendland deutlich aufgezeigt. „Die Kraft des menschlichen
Gottesglaubens ist in allen Ländern im Schwinden begriffen. Nur
noch Seine heilsame Arznei vermag sie wiederherzustellen. Das
ätzende Gift der Gottlosigkeit zerfrißt das Mark der menschlichen
Gesellschaft.“ 6)
[Seite 568]
Mit dem Kommen und Wirken eines jeden Offenbarers Gottes wird die Menschheit vor Seinen gerichtlichen Thron gerufen. Das apokalyptische Zeitalter ist mit der Begründung der Bahd’í-Weltreligion angebrochen, die Wiederkunft Christi, das Wiedererscheinen des LOGOS, des göttlichen oder heiligen Geistes, ist geschichtliches Ereignis geworden, der Verheißene aller Religionen ist in diese Welt getreten. Der einzelne wie die ganze Menschheit sind vor eine weittragende, unser aller Schicksal mitbestimmende Entscheidung gestellt. In größtem Maße gilt dies für die „Religionsführer“, an die sich Bahá’u’lláh u.a. mit folgenden schwerwiegenden Worten wendet:
- „Meßt das Buch Gottes nicht mit solchen Maßen und Wissenschaften, die euch geläufig sind, denn das Buch selbst ist die untrügliche Waage, die unter den Menschen aufgestellt worden ist! Auf dieser vollkommenen Waage soll alles gewogen werden, was die Völker und Geschlechter der Erde besitzen, während das Maß ihres Gewichtes nach ihrer Maßeinheit geprüft werden sollte — würdet ihr es doch erkennen!... Wo ist einer unter euch, der sich an Sehkraft und Einsicht mit Mir messen könnte? Wo ist einer zu finden, der behaupten dürfte, Mir an Sprache oder Weisheit zu gleichen? Nein, bei Meinem Herrn, dem Allbarmherzigen!“ 7)
So liegt ein Vergleich der päpstlichen Enzykliken mit den geoffenbarten Lehren Bahá’u’lláhs für eine göttlich bestimmte Weltordnung sehr nahe. Wenn Ugo Giachery von einem „Echo“ auf die Erklärungen Bahá’u’lláhs spricht, so kann gesagt werden, daß die Friedensenzyklika Papst Johannes’ XXIII wie auch „Die Sozialenzyklika“ (Mater et magistra) von dem Geist der Bahá’í-Religion beeinflußt sind. Verschiedene Gedankengänge beider Enzykliken wurzeln, wenn auch nicht von ihrem Autor ausgesprochen, inspirativ im Boden der neuen Offenbarung Gottes unserer Zeit!
Diese Feststellung trifft noch weit offenkundiger bei der Beurteilung
des Verlaufs und Ergebnisses des vierjährigen, am 8. Dezember 1965
auf der Freitreppe des Petersdoms in Rom unter
Papst Paul VI. zu Ende gegangenen II. Vatikanischen Konzils der
Katholischen Kirche zu, insbesondere bei näherem Studium der
„Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen
Religionen“. Es würde hier zu weit führen, im einzelnen die
naheliegenden Vergleiche zwischen den normativen und pragmatischen
Aussagen in der authentischen Niederlegung der Weltordnung
Bahá’u’lláhs einerseits und den in der besagten Erklärung
aus Rom verkündeten Gedanken und Grundsätzen andererseits
anzustellen. Stichwortartig seien einige Schlüsselgedanken aus dem
Wortlaut der Konzilerklärung hervorgehoben:
[Seite 569]
- Engerer Zusammenschluß des Menschengeschlechts notwendig. Gemäß der „Aufgabe“ der Kirche, „Einheit und Liebe“ unter den Menschen und Völkern zu fördern, all das ins Auge zu fassen, „was allen Menschen gemeinsam ist und zur Herstellung der Gemeinschaft untereinander führt. Alle Völker sind ja eine einzige Gemeinschaft, sie haben einen einzigen Ursprung, da Gott das ganze Menschengeschlecht auf dem gesamten Erdenkreis wohnen ließ.“ Anerkennung der Wahrheitswerte der verschiedenen nichtchristlichen Religionen, wobei allerdings die Bahá’í-Weltreligion nicht genannt ist. „Nichts von alledem, was in diesen Religionen wahr und heilig ist, wird von der Katholischen Kirche verworfen.“ (!) Aufruf an die Katholiken, „mit Klugheit und Liebe durch Gespräch und Zusammenarbeit mit den Anhängern anderer Religionen sowie durch ihr Zeugnis des Glaubens und des christlichen Lebens jene geistlichen und sittlichen Güter...“ anzuerkennen, „die sich bei ihnen finden.“ Im Zeichen „universaler Brüderlichkeit“ Verwerfung jeder „Diskriminierung eines Menschen, jeden Gewaltaktes gegen ihn um seiner Rasse oder Farbe, seines Standes oder seiner Religion willen, weil das dem Geist Christi widerspricht.“
Diese ökumenische Weltöffnung der Katholischen Kirche, ihre Absicht, mit der ganzen „Menschheitsfamilie“ ins Gespräch zu kommen, ohne Verhehlung ihrer historischen und tragischen Fehlleistungen, ihre Achtung vor der Gewissensfreiheit, vor den Werten der anderen Religionen, ihre demonstrative und „brüderliche“ Zuwendung zum Dienst am Menschen und an der ganzen Menschheit, die Mittelpunktstellung des Wortes Gottes u.a.m. scheinen tatsächlich in der fast 2000-jährigen Geschichte der größten christlichen Kirche eine „kopernikanische Wende“ für diese anzubahnen, wie Josef Schmitz van Vorst in einem Artikel schrieb.8) Der Erklärung und den am 8. Dezember 1965 zur Schlußsitzung des Konzils abgegebenen Botschaften seitens einiger Kardinäle muß nun die Tat folgen, denn nach Bahá’u’lláh offenbaren Taten die Stufe des Menschen; wie viel mehr gilt dies für eine Institution der christlichen Religion, die Weltgeltung beansprucht!
Das entscheidende Kriterium jeder geschichtlichen Hochreligion ist ihre universale, gemeinschaftsbildende, Frieden und Liebe stiftende Kraft, ihre Grenzen überwindende Gemeinsamkeit mit den Brüdern der anderen Religionen und Bekenntnisse aus der gegenüber dem einzigen Gott, dem Schöpfer aller Dinge, verpflichtenden Verantwortung für die Errichtung Seines Reiches auf Erden zum Heil aller Menschen, für welche die Erde eine Heimat sein soll.
Das Heil der Welt ist allein in der Erfüllung des Willens Gottes
zu finden, in der Annahme der Einheit und Unteilbarkeit der
göttlichen Wahrheit, aus welcher die Kraft für die aussöhnende
Einigung und Vereinigung des Menschengeschlechts zu einer
Völkerfamilie in einem Glauben und im Gehorsam gegenüber
ihrem himmlischen Vater strömt.
[Seite 570]
So spricht Bahá’u’lláh von der Grundabsicht, die den Gottesglauben
und Seine Religion beseelt, „das Wohl des Menschengeschlechts zu
schützen und seine Einheit zu fördern... Das Wohlergehen der Menschheit, ihr
Friede und ihre Sicherheit sind unerreichbar, wofern nicht und
ehe nicht ihre Einheit fest begründet ist... Dieses Ziel überragt
jedes andere Ziel, und dieses Streben ist der Fürst
alles Strebens“.9)
Um gemeinsam dem Heil der bedrohten und gespaltenen Menschheit zu dienen, ist die Stunde der aufgeschlossenen und vorurteilsfreien Begegnung der Religionen und ihrer verantwortlichen Führer gekommen. Die Zeit muß vorbei sein, in welcher man als Christ glaubt, noch von „Fremdreligionen“ oder gar „kombattanten Religionen“ sprechen zu dürfen. Es geht nicht um den „Unbedingtheitsanspruch“ irgendeiner geschichtlichen Religion, auch nicht um synkretistische Bestrebungen oder Kompromisse, sondern um die tatbereite Entschlossenheit, aus der Einsicht in die Einheit der Religionsstifter und ihrer Offenbarungswahrheit in Liebe und Demut gemeinsam zueinander Brücken zu schlagen, „die Trennung der Brüder“ nach dem heute geoffenbarten Willen Gottes zu überwinden und durch ein neues Denken und Tun an der geistigen Wandlung und Verschmelzung der Menschheit als eine Familie Gottes mitzuwirken. Dazu bedarf es vor allem eines weltoffenen Dialogs in der Welt der entfremdeten Religionen, bei welchem die Gesprächspartner paritätisch geachtet, ja im Sinne der Bergpredigt Christi geliebt und bejaht werden. Von diesem Anliegen ist der Beitrag von Dr. Ugo Giachery beseelt.
- Dr. Eugen Schmidt
- —————
- 1) „Nah am Abgrund“, „Stuttgarter Zeitung“ Nr. 180 vom 6. 8. 1965
- 2) „Worte der Weisheit — Verborgene Worte“ Frankfurt/M, 1965, S. 13
- 3) „Grenzen“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. 9. 1962
- 4) Bahá’u’lláh wie (2)
- 5) Bahá’u’lláh „Ährenlese“
- 6) Ährenlese“, 1956, S. 131 (XCIX)
- 7) ebenda, S. 130 (XCVIII)
- 8) „Der Weg der Konzilskirche“, FAZ Nr. 286 vom 9. 12. 1965
- 9) „Entfaltung der neuen Weltzivilisation“, von Shoghi Effendi, 1936, S. 52
Dr. Ugo Giachery:
Ein Gott - eine Welt[Bearbeiten]
Gedanken über die Friedensenzyklika Johannes’ XXIII
Wenn wir die Kulturgeschichte der Menschheit betrachten, sehen wir
auf den ersten Blick, daß sich alle religiösen Institutionen seit
unvordenklichen Zeiten mit der Frage der individuellen Erlösung beschäftigt
haben. Aber die Bedürfnisse der Menschen in ihrem täglichen Leben und in
ihrer Beziehung zur Gesellschaft — ihre Freiheit und ihr allgemeines
Wohlergehen — interessierten allzu häufig nur dann, wenn die Sicherheit
und der Fortbestand der religiösen Einrichtungen gefährdet erschienen.
Die Geistlichkeit befaßte sich einerseits mit den Glückseligkeiten und
mystischen Erwartungen des Lebens nach dem Tode, andererseits mit
Ritual und Verwaltung. Der Sehnsucht der breiten Massen gegenüber,
vor allem auf dem Gebiet wissenschaftlichen Lernens und Denkens, blieb
sie gleichgültig.
Die Annalen aller bestehenden Offenbarungsreligionen zeigen deutlich,
daß zu Beginn einer jeden dem gesellschaftlichen Fortschritt ebensogroße
[Seite 571]
Bedeutung zugemessen wurde wie der geistigen Erlösung. Beide Ziele
waren miteinander verbunden als zwei Aspekte derselben Wahrheit. Jeder
Begründer einer Hochreligion verkündete Seine Absicht, das Gesetz
Gottes zu offenbaren, um dadurch „Glückseligkeit im kommenden Leben,
eine hochentwickelte Kultur und edle Charaktereigenschaften auf dieser
Welt zu schaffen“1). So lange die grundlegenden Lehren und Gesetze
des Religionsstifters in Ehren gehalten und befolgt wurden, so lange die
Kultur auf Sittlichkeit und auf geistiger wie praktischer Bildung beruhte,
waren die Lebensumstände jeder menschlichen Gemeinschaft, die wir aus
der Geschichte kennen, fortschrittlich; die Menschen erlangten Erlösung
durch den Glauben an Gott und durch einen guten Charakter. Wahre
Religion war „die eigentliche Grundlage und der Ausgangspunkt der
Kultur und der Zivilisation“, die Quelle des „sozialen Fortschritts,
des Wohlstands und des Friedens“ 2).
In dem Maße, wie der Geist des Glaubens dahinschwand und die Geistlichkeit das Ziel des allgemeinen Wohls aus den Augen verlor, hörte der Fortschritt auf, und der Niedergang begann. Die Geschichte berichtet in deutlichen Worten von diesem Auf und Ab; sie zeigt den Zerfall und die Erniedrigung, die Auflösungserscheinungen, die Unwissenheit und Unterdrückung, die diesem Abtrünnigwerden von den geistigen Grundlagen auf dem Fuße folgen.
Die Schwäche der Christenheit
Wir wollen diese Entwicklung im Christentum näher betrachten. Nach den ersten drei oder vier Jahrhunderten beständigen Fortschritts bei der Umgestaltung des menschlichen Lebens in einem großen Teil der Welt setzte ein Wandel in Kirche und Gesellschaft ein. Es kam eine Zeit, da die Lehren des Christentums nur noch unter einer dicken Schale theologischer Theorien und ritueller Bräuche fortlebten, während die Menschen zwischen Verzweiflung und Hoffnung, Freude und Elend hin und her gezerrt wurden. Blutige Kriege fanden zwischen Armeen desselben Glaubens statt; wissenschaftliche Tatsachen wurden verleugnet oder übergangen; die Inquisition und die Verfolgung von Juden, Lutheranern und Calvinisten versetzten den Prinzipien des Glaubens und der Hoffnung körperlich fühlbare Schläge. Während des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts erhob sich in der christlichen Welt der Schrei nach gewissen Formen „politischer Rechte“, so zum Beispiel in der Französischen Revolution und im Kampf der amerikanischen Kolonien mit der britischen Krone.
Aber nicht nur die Christenheit irrte vom Pfade geistiger Wiedergeburt
ab; im Islam geschah dasselbe. Nachdem er Europa einen neuen geistigen
Impuls vermittelt und die Völker des Westens vom „finsteren Mittelalter“
befreit hatte, versank der Islam in eine kriegerische Haltung der Eroberung
und Unterjochung. Das Ergebnis dieses geistigen Verfalls in beiden
Kulturbereichen war ein Kampf um Einfluß und Vorherrschaft, der sich
bis in unser Jahrhundert erstreckt, der aber hätte vermieden werden
können, hätten alle religiösen Institutionen der Welt den Menschen auf
eine innerliche Gläubigkeit und auf eine Überzeugung vorbereitet, die
sich den Problemen des Lebens vom Geistigen her nähert.
[Seite 572]
In der Zeit nach Christus wurde die menschliche Gesellschaft weitgehend nach einer andersartigen Ordnung regiert. Sie war auf das — heute veraltete — System von Herren und Sklaven, Aristokraten und Plebejern, Kasten, einseitigen wirtschaftlichen Dienstbarkeiten und dergleichen gegründet. Die wissenschaftliche Forschung wurde mehrere Jahrhunderte lang von der christlichen Kirche verhindert; sie war sogar zeitweise verboten, und ihre Vorkämpfer wurden verfolgt. Die Führer vor allem der christlichen Institutionen waren noch schlafbefangen, als die ersten Lichtstrahlen über dem Horizont wissenschaftlicher Entdeckungen erschienen, die Welt revolutionierten und eine völlig neue Ordnung der Dinge mit sich brachten. Obwohl im fünfzehnten Jahrhundert, nach einem Jahrtausend völliger Dunkelheit, die Renaissance die drohende Explosion ankündigte und vor dem weitgreifenden Umbruch, der sich anbahnte, warnte, ließen doch die Führer des Buddhismus, des Islam und des Christentums die ihnen gebotene Gelegenheit ungenutzt verstreichen. Vornehmstes Anliegen war ihnen die Erweiterung und Verwaltung ihrer ausgedehnten Herrschaftsbereiche, die Ausübung ihrer weltlichen Machtbefugnisse; so sahen sie nicht, was vor ihnen lag. Sie versäumten die Gelegenheit, den katastrophalen Auswirkungen vorzubeugen, die in der Folge über fünfhundert Jahre lang die Welt heimsuchten.
Eine Zivilisation ohne Gott
Hie und da kämpften die Menschen in den vergangenen Jahrhunderten um ihre Freiheit, aber sie stießen dabei kaum auf Sympathie oder Ermutigung von seiten der religiösen Einrichtungen, die die Macht ausübten. Die Geschichte lehrt uns, wie jeder Versuch zur Erreichung von Rechten auf der Grundlage von Gerechtigkeit, Freiheit, Wahrheit und Gemeinwohl zu Tode geschwiegen, bekämpft oder im Blut erstickt wurde.
Man kann getrost behaupten, daß der Hauptgrund für diesen langen, heißen Kampf die auf trügerischem Untergrund entwickelte, irrtümliche Anschauung ist, die Religion sei notwendigerweise nur für das Heil der Seele da und alles, was mit menschlichen Problemen zu tun habe — Fragen der Rasse, der Politik, der Freiheit, der sozialen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten, der Erziehung usw. — gehöre nicht in den Bereich geistiger Betrachtung. Deshalb liege die Lösung dieser menschlichen Probleme, so glaubte man, außerhalb des Interessenbereichs religiöser Institutionen.
Auf der anderen Seite hatten die Regierungen damals kein Verständnis für die geistigen Aspekte einer wohlgeordneten, gesetzestreuen, friedliebenden und harmonischen Gesellschaft. Sie waren dem Prinzip absoluter Monarchie verschworen; Leben, Besitz und Glück der Untertanen lagen in der Hand despotischer Herrscher.
Als im achtzehnten Jahrhundert ein Geist neuer Freiheit neue Staaten
und neue Bewegungen schuf, war dies die Fortsetzung von Ideen der
Renaissance, und Kirche und Staat waren durch eine tiefe Kluft getrennt.
Selbst in der Gegenwart, in der ein „neuer geistiger Sauerteig“ wirkt,
versucht man eher eine „Stadt des Menschen“ als die „Stadt Gottes“ zu
bauen, so lange die Quelle des Heils unerkannt bleibt.
[Seite 573]Der göttliche Plan
Vor hundert Jahren unterbreitete Bahá’u’lláh der ganzen Welt ein System von Leitsätzen und Gesetzen, das heute die ersehnte, aber noch immer nicht verwirklichte Grundlage für das Glück der modernen Menschheit darstellt. Vertrieben aus Seiner persischen Heimat, ein Gefangener des türkischen Sultans, war Bahá’u’lláh in der Fülle der Zeit durch den Hauch des Heiligen Geistes dazu ausersehen, den technischen Umbruch der Folgezeit vorauszuschauen und einen umfassenden Plan für die weltweite Wiedergeburt der Menschheit und die harmonische Entwicklung der menschlichen Gesellschaft zu offenbaren.
In dem Sendschreiben, das Er um 1868 aus Seinem Gefängnis an Násiri’d-Dín, den Sháh von Persien, richtete, verkündete Bahá’u’lláh:
- „O König! Ich war nur ein Mensch wie andere und lag schlafend auf Meinem Lager — siehe, da wehten die Winde des Allherrlichen über Mich und lehrten Mich die Kenntnis all dessen, was gewesen ist. Das geschah nicht von Mir, sondern von Dem, Welcher allmächtig und allwissend ist. Und Er gebot Mir, Meine Stimme zu erheben zwischen Erde und Himmel, und um dessentwillen befiel Mich, was die Tränen eines jeden Menschen von Einsicht fließen ließ... Fürwahr, Ich war wie ein Toter, als Sein Befehl erscholl. Die Hand des Willens deines Herrn, des Mitleidigen, des Barmherzigen, verwandelte Mich“ 3).
In Seiner großen, umfassenden Liebe für alles Leben schuf Bahá’u’lláh die breite, unerschütterliche Grundlage für die Errichtung eines dauerhaften Friedens und eines wirklichen „Reiches Gottes“ auf Erden. Der unwiderstehliche Anstoß Seiner Offenbarung hat die Welt seit der Mitte des letzten Jahrhunderts in einer Weise betroffen und verändert, die ohne Beispiel in der Geschichte ist. Mögen die Menschen die Ursache auch nicht erkennen, so verleiht sie doch „den Menschenherzen einen frischen Antrieb“ und setzt ihnen „eine neue Richtung“ 4). Die Welteinheit ist das Ziel, zu dem Seine Offenbarung die ganze Menschheit steuert.
Ein Teil dieses unermeßlich großen Prozesses, der in der Welt von heute abläuft, ist, daß sich erneut eine Verschmelzung von göttlichem Gesetz und menschlicher Zivilisation anbahnt, diesesmal in einem umfassenden, globalen Rahmen. Ausgeprägt ist die Erkenntnis, daß der Religion die Aufgabe zukommt, auf die Massen der Menschheit gemeinschaftsbildend einzuwirken — in einem Ausmaße, wie es früheren Zeitaltern niemals bewußt wurde. Bahá’u’lláhs Worte wurden nicht nur an den einzelnen Menschen gerichtet, der Geist Gottes offenbarte sich nicht nur um der Wiedergeburt des einzelnen willen, sondern zugleich für die Menschheit als Ganzes; wir alle sind „Bestandteile einer umfassenden, unteilbaren Einheit“5). Nur aus diesem gemeinschaftlichen geistigen Erwachen wird eine neue Ordnung erstehen.
Abgesehen von einer Handvoll Anhänger Bahá’u’lláhs hat die Welt bis
heute nicht nur die Anwendung, sondern auch die Anerkennung dieser
mächtigen Offenbarung von sich gewiesen. Man versucht, einige Seiner
grundlegenden Lehren durch umständliche, mühselige Maßnahmen in die
[Seite 574]
Tat umzusetzen; andere Prinzipien übergeht man. Die erste offene (jedoch
amtlich nicht eingestandene) Anerkennung kam mit der allgemeinen Erklärung
der Menschenrechte, die am 10. Dezember 1948 in Paris beschlossen wurde.
(Der Verfasser war als Beobachter der Bahá’í-Weltgemeinschaft bei den
Vereinten Nationen in dieser historischen Versammlung zugegen. Er wirkte
mit anderen Vertretern zahlreicher Nicht-Regierungs-Organisationen bei der
NRO-Konferenz im Mai 1948 am Entwurf jenes Dokuments mit.)
In den letzten Jahren mußte das Oberhaupt der mächtigsten christlichen Kirche — nach weniger wirksamen Versuchen, die einer oder zwei seiner Vorgänger unternommen hatten — offen die Notwendigkeit eingestehen, die ganze Angelegenheit der „Menschenrechte“ aus dem politisch-wirtschaftlich-sozialen Bereich menschlicher Tätigkeit auf das wirkungsvollere, vornehmere, erhabenere Feld eines geistigen Kreuzzuges zu tragen. Auf diese Weise hat er nicht nur anerkannt, sondern fast wortwörtlich bestätigt, was Bahá’u’lláh ein Jahrhundert früher dargelegt und verkündet hatte und wofür Er fast vierzig Jahre lang unsägliche Leiden, Verfolgungen und Kerkerhaft auf Sich genommen hatte.
Es war am 11. April 1963 — zu einer Zeit, als die Bahá’í der Welt die Wahl ihrer ersten übernationalen Körperschaft, des Universalen Hauses der Gerechtigkeit im Bahá’í-Weltzentrum in Haifa, vorbereiteten — daß Papst Johannes XXIII. seinen letzten Hirtenbrief an die Welt, die Enzyklika „Pacem in terris“ (Frieden auf Erden)6) herausgab. Dieser Brief fand weltweite Zustimmung. (Es ist bedeutsam, daß die Enzyklika zum erstenmal in der Geschichte an „alle Menschen guten Willens“ sowie an die Würdenträger und Gläubigen der Kirche gerichtet war.)
Im Lichte der Lehren Bahá’u’lláhs ist es aufschlußreich, aus der offiziellen Übersetzung dieses Dokuments Stellen anzuführen. Die Überschriften sind vom Verfasser eingesetzt; sie deuten die entsprechenden Grundsätze Bahá’u’lláhs über die Welteinheit an:
Die Gemeinschaft der Völker
(1) Weltgemeinschaft: „Durch ... Gesetze werden die Menschen deutlich belehrt, ... in welcher Weise die einzelnen Menschen und Staaten und andererseits die Gemeinschaft aller Völker sich gegeneinander zu verhalten haben. Daß diese Gemeinschaft endlich gegründet werde, ist heute ein dringendes Erfordernis des allgemeinen Wohls.“ (Nr. 7)
„Da aber heute das allgemeine Wohl der Völker Fragen aufwirft, die
alle Nationen der Welt betreffen, und da diese Fragen nur durch eine
politische Gewalt geklärt werden können, deren Macht und Organisation
und deren Mittel einen dementsprechenden Umfang haben müssen, deren
Wirksamkeit sich somit über den ganzen Erdkreis erstrecken muß, so
folgt um der sittlichen Ordnung willen zwingend, daß eine universale
politische Gewalt eingesetzt werden muß.“ (Nr. 137) — „Sie muß
sich ... um die Schaffung solcher Daseinsbedingungen auf der ganzen Welt
bemühen, in denen nicht nur die Staatsgewalt jeder einzelnen Nation,
sondern auch die einzelnen Menschen und die sozialen Gruppen in größerer
[Seite 575]
Sicherheit ihre Angelegenheiten erledigen, ihre Pflichten erfüllen und ihre
Rechte ausüben können.“ (Nr. 141)
(2) Suche nach Wahrheit: „Von Natur aus hat der Mensch ... das Recht, daß er ... frei nach der Wahrheit suchen ... darf; daß er... der Wahrheit entsprechend über die öffentlichen Ereignisse in Kenntnis gesetzt wird.“ (Nr. 12). — „Das Recht, frei nach der Wahrheit zu forschen, (hängt) mit der Pflicht (zusammen), immer tiefer und weiter nach der Wahrheit zu suchen.“ (Nr. 29)
(3) Allgemeine Erziehung: „Zugleich steht es dem Menschen kraft des Naturrechts zu, an der geistigen Bildung teilzuhaben, das heißt also auch das Recht, sowohl eine Allgemeinbildung als auch eine Fach- und Berufsausbildung zu empfangen ...“ (Nr. 13)
(4) Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau: „Mann und Frau (haben in der Ehe) gleiche Rechte und Pflichten ...“ (Nr. 15) — „Bezüglich der Frauen gilt, daß ihnen solche Arbeitsbedingungen zugestanden werden, die den Bedürfnissen und Pflichten der Ehefrauen und Mütter entsprechen.“ (Nr. 19) — „Die Frau, die sich ihrer Menschenwürde heutzutage immer mehr bewußt wird, ist weit davon entfernt, sich als seelenlose Sache oder als bloßes Werkzeug einschätzen zu lassen ...“ (Nr. 41)
(5) Einheit der Menschheit: „Das Zusammenleben der Menschen ist... als ein vordringlich geistiges Geschehen aufzufassen.“ (Nr. 36) — „Die Ordnung, ... die im menschlichen Zusammenleben waltet, ... verlangt, durch gegenseitige Liebe beseelt und zur Vollendung geführt zu werden.“ (Nr. 37) — „... Deshalb wird, wenigstens theoretisch, eine Diskriminierung der Rassen in keiner Weise mehr anerkannt.“ (Nr. 44)
Religion und Wissenschaft
(6) Die Einheit Gottes: „... kommen die Menschen dazu, den wahren Gott als die Menschennatur überragendes persönliches Wesen besser zu erkennen. So halten sie schließlich die Beziehungen zu Gott für das Fundament ihres Lebens, das sie sowohl in ihrem Inneren leben als auch gemeinsam mit den übrigen Menschen gestalten.“ (Nr. 45) — „Der Fortschritt der Wissenschaften und die Erfindungen der Technik offenbaren vor allem die unendliche Größe Gottes, der die Gesamtheit der Dinge und den Menschen selbst erschuf.“ (Nr. 3) — Welcher Wandel seit den Tagen Galileis!
(7) Religion und Wissenschaft: „Es genügt nicht, vom
Glauben erleuchtet zu sein ...“ (Nr. 147) — „Da die gegenwärtige profane
Kultur am stärksten durch wissenschaftlichen und technischen Fortschritt
geprägt ist, kann natürlich niemand in den öffentlichen Einrichtungen
Einfluß gewinnen, wenn er nicht über reiches Wissen, technisches Können
und berufliche Erfahrung verfügt.“ (Nr. 148) — „Ja, auch das verlangt die
rechte Ordnung, daß die Menschen in gewissenhafter Befolgung der unser
Heil beabsichtigenden Weisungen und Gebote Gottes ihre wissenschaftliche,
technische und berufliche Betätigung in eine Einheit mit den höheren
inneren Werten bringen.“ (Nr. 150)
[Seite 576]
(8) Abrüstung: „... sehen Wir nicht ohne großen Schmerz, daß in den wirtschaftlich gut entwickelten Staaten ungeheure Kriegsrüstungen geschaffen werden und daß dafür die größten geistigen und materiellen Güter aufgewendet werden.“ (Nr. 109) — „Deshalb fordern Gerechtigkeit, gesunde Vernunft und Rücksicht auf die Menschenwürde dringend, daß... alle auf Grund von Vereinbarungen zu einer entsprechenden Abrüstung mit wirksamer gegenseitiger Kontrolle gelangen.“ (Nr. 112)
(9) Atomenergie: „Wenn auch die ungeheuere militärische Rüstung heute die Menschen davon abschrecken dürfte, einen Krieg zu beginnen, so besteht dennoch Grund zur Befürchtung, daß die schon für Kriegszwecke unternommenen Kernwaffenexperimente, wenn sie nicht aufhören, die verschiedenen Arten des Lebens auf Erden in schwere Gefahr bringen können.“ (Nr. 111)
(10) Geistige Lösung der Wirtschaftsprobleme: „Aus der Würde der menschlichen Person entspringt auch das Recht, im Bewußtsein eigener Verantwortung wirtschaftliche Unternehmungen zu betreiben. Hier muß auch erwähnt werden, daß der Arbeiter Anspruch auf gerechten Lohn hat.“ (Nr. 20) — „... so ergibt sich für den Menschen auf Grund des Naturrechtes nicht nur, daß ihm Arbeitsmöglichkeit gegeben werden muß, sondern auch, daß er seine Arbeit frei übernimmt.“ (Nr. 18) — „... die Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit zum Zwecke eines leichteren Austausches der Güter, der Kapitalien und der Menschen.“ (Nr. 101)
„... die einzelnen Staaten (sind), wenn sie von den übrigen getrennt sind, keineswegs in der Lage, ihre Interessen wahrzunehmen und sich entsprechend zu entwickeln, da der Wohlstand des einen Staates den Wohlstand und den Fortschritt der anderen teils zur Ursache hat, teils verursacht.“ (Nr. 131)
Das Gemeinwohl
(11) Gehorsam gegenüber den Regierungen: „Indem sie (die Bürger) den Regierungen gehorchen, gehorchen sie ihnen keineswegs als bloße Menschen, sondern sie ehren tatsächlich Gott, den sorgenden Schöpfer aller Dinge ...“ (Nr. 50)
(12) Das Gemeinwohl: „Da die Menschen aus Leib und unsterblicher Seele bestehen, können sie in diesem sterblichen Leben weder ihr Dasein voll ausschöpfen noch ein vollkommenes Glück erreichen. Darum muß das Gemeinwohl auf eine Weise verwirklicht werden, die dem ewigen Heil der Menschen nicht nur nicht entgegensteht, sondern ihm vielmehr dient.“ (Nr. 59)
Diese Gedanken geben ein Echo auf die Erklärungen, die Bahá’u’lláh
vor hundert Jahren offenbarte und für die Er mehr als ein Menschenalter
lang verbannt und eingekerkert wurde. Die Tragweite Seiner Offenbarung
wird noch deutlicher, wenn wir Seine Äußerungen mit den Worten
des Papstes vergleichen.
[Seite 577]
Die Lehren Bahá’u’lláhs
(1) „Mein Ziel ist kein anderes als die Besserung der Welt und die Ruhe ihrer Völker. Das Wohlergehen der Menschheit, ihr Friede und ihre Sicherheit sind unerreichbar, wenn ihre Einheit nicht sicher begründet ist. Diese Einheit kann so lange nicht zustandekommen, als die Ratschläge, welche die Feder des Höchsten offenbarte, unbeachtet beiseite gelassen werden.“ 7)
„So mächtig ist das Licht der Einheit, daß es die ganze Erde erleuchten kann. Der eine wahre Gott, Der alles kennt, bezeugt die Wahrheit dieser Worte ... Dieses Ziel überragt jedes andere Ziel, und dieses Streben ist der Fürst allen Strebens.“ 8)
„Selig und glücklich ist, wer sich erhebt, um dem Wohl der Völker und Geschlechter der Erde zu dienen ... Es rühme sich nicht der, der sein Vaterland liebt, sondern der, der die ganze Welt liebt. Die Erde ist nur eine Heimat, und die Menschheit ihre Bürger.“ 9)
„Alle Nationen und Geschlechter werden unter dem Schatten dieses göttlichen Banners ... versammelt sein und eine einzige Nation werden. Religiöser und sektiererischer Gegensatz, Rassen- und Völkerfeindschaft und Streitigkeiten unter den Nationen werden ausgemerzt werden. Alle Menschen werden einer Religion angehören, werden zu einer Rasse vermischt und ein einziges Volk werden. Alle werden in einem gemeinsamen Vaterland wohnen, welches der Planet selbst ist.
„Was immer im Innersten dieses heiligen Zyklus verborgen ist, soll allmählich erscheinen und offenbar gemacht werden, denn jetzt ist erst der Anfang seines Wachstums und der Tagesanbruch der Offenbarung seiner Zeichen.“ 10)
(2) „... O mein Bruder, wenn ein wahrer Sucher sich entschließt, mit forschendem Schritt den Pfad zu betreten, der zur Erkenntnis des Altehrwürdigen der Tage führt, so muß er vor allem sein Herz, den Sitz der Offenbarung der inneren Geheimnisse Gottes, von allem trübenden Staub erworbenen Wissens und von den Einflüsterungen der Verkörperungen satanischer Wahngebilde reinigen und läutern. Er muß sein Herz, das Heiligtum der immerwährenden Liebe des Geliebten, von jeder Besudelung säubern und seine Seele heiligen von allem, was dem Wasser und dem Lehm zugehört, von allen schattenhaften, flüchtigen Verhaftungen. Er muß sein Herz so läutern, daß kein Überrest von Liebe oder Haß darin verharrt, auf daß nicht Liebe ihn zu blindem Irrtum leite, noch Haß ihn von der Wahrheit scheuche. Gerade am heutigen Tage kannst du bezeugen, wie die meisten Menschen, durch solche Liebe oder solchen Haß des unsterblichen Antlitzes beraubt, weit abgeirrt sind von den Verkörperungen der göttlichen Geheimnisse und hirtenlos durch die Wildnis des Irrens und Vergessens streifen.“ 11)
„Nur wenn die Lampe des Suchens, des ernsten Strebens, des sehnsüchtigen
Verlangens, der leidenschaftlichen Ergebenheit, der glühenden Liebe,
der Begeisterung und der Verzückung in des Suchers Herz entzündet ist
und der Hauch Seiner liebevollen Güte über seine Seele weht, wird die
Finsternis des Irrtums vertrieben und werden die Nebel der Zweifel und
[Seite 578]
Ängste zerstreut; nur dann werden die Lichter der Erkenntnis und Gewißheit
sein Wesen einhüllen.“ 12)
Erziehung als Voraussetzung
(3) „Es wird verordnet, daß jeder Vater seine Söhne und Töchter in Gelehrsamkeit und Schrifttum erzieht sowie in dem, was in dem Tablet verordnet ist. Wird dies von jemandem vernachlässigt, so ist es Pflicht der Mitglieder des Hauses der Gerechtigkeit, den für die Erziehung der Kinder erforderlichen Betrag von den Eltern, sofern diese bemittelt sind, einzuziehen; sind aber die Eltern unbemittelt, dann soll die Angelegenheit dem Haus der Gerechtigkeit übertragen werden. Wahrlich, Wir machten das Haus der Gerechtigkeit zu einem Zufluchtsort für die Armen und Bedürftigen!“ 13)
„Widmet euren Geist und Willen der Erziehung der Völker und Geschlechter der Welt, damit die Zwietracht, die diese Erde spaltet, durch die Macht des Größten Namens von ihrem Angesicht getilgt und die ganze Menschheit zum Erhalter einer Ordnung und zu Bewohnern einer Stadt werde.“ 14)
„Der Mensch ist der höchste Talisman. Der Mangel an geeigneter Erziehung hat ihn jedoch dessen beraubt, was er von Natur aus besitzt. Durch ein Wort, das aus dem Munde Gottes hervorging, wurde er ins Dasein gerufen. Durch ein weiteres Wort ward er dazu geführt, den Urquell seiner Erziehung zu erkennen. Durch wieder ein anderes Wort wurden seine Stufe und seine Bestimmung sichergestellt. Das Ewige Wesen sagt: Sieh den Menschen als eine an Edelsteinen von unschätzbarem Werte reiche Fundgrube an. Nur die Erziehung kann es erreichen, daß sie ihre Schätze enthüllt; nur sie allein kann die Menschheit befähigen, Nutzen daraus zu ziehen.“ 15)
(4) „Bahá’u’lláh betont und begründet die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Geschlechter sind keine Besonderheit der Menschenwelt; sie bestehen auch im ganzen Tierreich, ohne daß sie jedoch Wesensunterschiede oder Vorrechte mit sich brächten ... Ziemt es sich für den Menschen, daß er, das edelste aller Geschöpfe, solche Unterschiede macht und darauf beharrt? Wenn die Frau weniger weit fortgeschritten und weniger tüchtig ist, ist das darauf zurückzuführen, daß sie der gleichen Erziehung und der gleichen Chancen ermangelt. Wäre ihr diese Gleichberechtigung schon früher zugestanden worden, wäre sie zweifellos das genaue Gegenstück des Mannes, was Tüchtigkeit und Fähigkeit angeht. Das Glück der Menschheit wird verwirklicht werden, wenn Frauen und Männer einander gleichgestellt sind und in gleicher Weise Fortschritte machen; denn jedes Geschlecht ist die Ergänzung und der Gehilfe des anderen.“ 16)
Die Einheit der Menschheit
(5) „Ihr seid die Früchte eines Baumes und die Blätter eines Zweiges. Verkehrt miteinander in äußerster Liebe und Eintracht .. .“ 17)
„Adam, (symbolisch) der Vater der Menschheit, kann dem Stammbaum
verglichen werden, an dem ihr alle die Blätter und Blüten seid. Wenn
[Seite 579]
also euer Ursprung ein und derselbe ist, müßt ihr jetzt vereint und versöhnt
werden; ihr müßt miteinander in Freude und Liebe verkehren ... Der Mensch
muß die Einheit der Menschheit erkennen, denn dem Ursprung nach gehören
alle zur selben Familie und sind Diener des selben Gottes,“ 18)
„Wir haben zuvor erklärt — und Unser Wort ist die Wahrheit: ‚Verkehret mit den Anhängern aller Religionen im Geiste des Wohlwollens und der Kameradschaft.‘ Was die Menschenkinder einander meiden hieß und Zwietracht und Spaltung unter ihnen erregte, ist nun durch die Offenbarung dieser Worte ungültig gemacht und aufgehoben worden ... Niemals sollten die Ermahnungen und Botschaften, die Wir gaben, nur ein Land oder ein Volk erreichen und begünstigen. Die Menschheit als Ganzes muß entschlossen dem folgen, was ihr geoffenbart und gewährt wurde. Dann, und nur dann wird sie zu wahrer Freiheit gelangen ... Sieh, wie die ganze Menschheit mit der Fähigkeit ausgestattet wurde, Gottes erhabenstem Worte zu lauschen — dem Worte, von dem das Zusammenfinden und die geistige Auferstehung aller Menschen abhängen muß ...“ 19)
„Nur die himmlische Macht des Wortes Gottes, die die Wirklichkeit aller Dinge beherrscht und überragt, kann die auseinanderstrebenden Gedanken, Empfindungen, Ideen und Überzeugungen der Menschenkinder in Einklang bringen.“ 20)
„O ihr Menschenkinder! Die grundlegende Absicht, die den Glauben Gottes und Seine Religion beseelt, ist, die Belange der menschlichen Rasse zu schützen, ihre Einheit zu fördern und den Geist der Liebe und Kameradschaft unter den Menschen zu pflegen ... Dies ist der rechte Pfad, die festgelegte und unverrückbare Grundlage. Was sich auf dieser Grundlage erhebt, kann durch die Wechselfälle der Welt niemals in seiner Kraft geschwächt werden, noch können die Umwälzungen zahlloser Jahrhunderte seinen Bau untergraben.“ 21)
Der eine wahre Gott
(6) „Laß dich nicht dazu verführen, deinem Gott Genossen beizugesellen! Er ist und war von Ewigkeit her einzig und allein, ohne Gefährten oder Seinesgleichen, ewig in der Vergangenheit, ewig in der Zukunft, gesondert von allen Dingen, immerwährend, unveränderlich und in Sich Selbst bestehend ... Bestätige in deinem innersten Herzen dieses Zeugnis, das Gott für Sich Selbst verkündet hat, daß kein Gott ist außer Ihm und daß alle außer Ihm auf Sein Geheiß erschaffen, mit Seiner Erlaubnis geformt wurden, Seinem Gesetz unterliegen, den herrlichen Beweisen Seiner Einzigkeit gegenüber einer vergessenen Sache gleichen und wie ein Nichts sind, wenn sie den mächtigen Offenbarungen Seiner Einheit von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen!“ 22)
„Betrachte den einen wahren Gott als den Einzigen, Der anders als alles
Erschaffene und unermeßlich darüber erhaben ist! Das ganze Weltall
strahlt Seine Herrlichkeit wider, während Er Selbst von Seinen Geschöpfen
unabhängig ist und sie weit überragt. Das ist der wahre Sinn
der göttlichen Einzigkeit. Er, die ewige Wahrheit, ist die eine Kraft, die
die Welt des Seins unbestritten beherrscht und deren Bild von der
[Seite 580]
gesamten Schöpfung widergespiegelt wird. Alles Dasein hängt von Ihm ab, und
von Ihm wird die Lebensquelle aller Dinge gespeist. So ist die göttliche
Einzigkeit zu verstehen; dies ist ihr grundlegender Gedanke.“ 23)
(7) „Wissen ist gleichsam ein Flügelpaar des Seins, eine Leiter des Aufstiegs. Sich Wissen anzueignen, ist allen zur Pflicht gemacht. Es sollen dies aber solche Wissenschaften sein, die dem Volk der Erde nützen, nicht solche, die nur mit Worten beginnen und mit Worten endigen.“ 24)
„Es ist gestattet, Wissenschaften und Künste aller Art zu studieren; doch sollten es nur solche Wissenschaften sein, die nutzbringend sind und zur Erhöhung der Menschheit beitragen.“ 25)
„Der vierte Lehrsatz Bahá’u’lláhs ist die Übereinstimmung von Religion und Wissenschaft. Gott hat den Menschen mit Verstand und Vernunft begabt; dadurch wird von ihm verlangt, daß er dem Wahrheitsgehalt von Fragen und Vorschlägen auf den Grund gehe. Wenn es sich herausstellt, daß religiöse Glaubenssätze und Anschauungen den Maßstäben der Wissenschaft entgegengesetzt sind, dann handelt es sich um bloße Einbildungen, um reinen Aberglauben; denn das Gegenteil von Wissen ist Unwissenheit, und der Abkömmling der Unwissenheit ist der Aberglaube. Zweifellos muß zwischen wahrer Religion und Wissenschaft Übereinstimmung bestehen ...“ 26)
Abrüstung
(8) „O Könige der Erde! Wir sehen euch jedes Jahr eure Ausgaben vermehren und deren Lasten auf eure Untertanen legen. Wahrlich, das ist völlig ungerecht, handgreiflich ungerecht ...“
„O Herrscher der Erde! Versöhnt euch untereinander, damit ihr keine Kriegsrüstungen mehr benötigt, außer in dem Maße, um eure Gebiete und Herrschaftsbereiche zu schützen. Hütet euch, den Rat des Allwissenden, des Getreuen, zu mißachten.“ 27)
„Beendet eure Streitigkeiten und setzt eure Kriegsrüstungen herab, damit die Last eurer Ausgaben erleichtert und eure Gemüter und Herzen beruhigt werden. Heilt die Zwietracht, die euch spaltet; dann werdet ihr keinerlei Kriegsrüstungen mehr nötig haben, es sei denn für den Schutz eurer Städte und Gebiete. Fürchtet Gott und hütet euch, die Grenzen der Mäßigung zu überschreiten und zu den Maßlosen zu zählen...“ 28)
„Die Zeit muß kommen, da die gebieterische Notwendigkeit zur
Abhaltung einer ausgedehnten und allumfassenden Versammlung der
Menschen universal erkannt wird. Die Herrscher und Könige der Erde müssen
ihr unbedingt beiwohnen und, an ihren Beratungen teilnehmend, solche
Wege und Mittel erwägen, die den Grund zum Größten Weltfrieden unter
den Menschen legen. Ein solcher Friede erfordert, um der Ruhe der Völker
der Erde willen, daß die Großmächte sich zu völliger Versöhnung
untereinander entschließen. Sollte ein König die Waffen gegen einen anderen
ergreifen, so müssen sich alle vereint erheben und ihn daran hindern.
Wenn dies geschieht, benötigen die Nationen der Welt nicht länger irgendeine
Bewaffnung, es sei denn zur Wahrung der Sicherheit ihrer Reiche
und der inneren Ordnung in ihren Gebieten. Das wird den Frieden und
die Ruhe jedes Volkes, jeder Regierung und Nation verbürgen ...“ 29)
[Seite 581]
„Es gibt ein seltsames und wunderbares Mittel in der Erde, aber es ist dem Menschengeist und den Seelen noch verborgen. Es ist ein Mittel, das die Macht hat, die Atmosphäre der ganzen Erde zu verändern, und sein Gift verursacht Zerstörung.“ 30)
Arbeit und Gottesdienst
(10) „Wer aber Reichtümer besitzt, muß den Armen die größte Aufmerksamkeit schenken, denn Gott hat große Ehre für die Armen bestimmt, die standhaft in der Geduld sind ... Gebe Gott, daß die Armen sich bemühen und danach streben, sich die Mittel zum Lebensunterhalt zu verdienen. Diese Pflicht wurde in dieser größten Offenbarung jedem vorgeschrieben und gilt vor Gott als gutes Werk.“ 31)
„Jedem einzelnen von euch ist es zur Pflicht gemacht, sich in irgend einem Beruf — wie Künste, Gewerbe usw. — zu betätigen. Wir veranlaßten, daß die gewissenhafte Erfüllung eurer Berufspflichten dem Dienste Gottes, des Wahrhaftigen, gleich geachtet wird ... Vergeudet eure Zeit nicht mit Müßiggang und Trägheit, sondern beschäftigt euch mit dem, was euch und anderen Nutzen bringt. Dies wurde vom Horizont, von dem die Sonne der Weisheit und göttlichen Äußerung strahlt, in diesem Tablet verordnet. Der, der nur dasitzt und bettelt, wird von Gott am meisten verabscheut ...“ 32)
(11) „Ein König, den der Stolz auf seine Macht und Unabhängigkeit nicht davon abhält, gerecht zu sein, und den Vorteil, Reichtum, Ruhm, Kriegsheere und Soldaten nicht des Glanzes der Sonne der Unparteilichkeit zu berauben vermögen, wird eine hohe Stellung und einen erhabenen Rang bei den höchsten Heerscharen einnehmen. Alle müssen einem so gesegneten König beistehen und ihn lieben ...“ 33)
„In welchem Land oder unter welcher Regierung die Angehörigen dieser Gemeinschaft auch leben mögen, der betreffenden Regierung gegenüber müssen sie sich stets ehrlich, vertrauensvoll und wahrhaftig verhalten.“ 34)
Das Gemeinwohl
(12) „O Volk Gottes! Beschäftige dich nicht mit deinen eigenen Angelegenheiten. Lenke deine Gedanken vielmehr auf das, was das Glück der Menschheit wiederherstellt und die Herzen und Seelen der Menschen heiligt ... Es geziemt an diesem Tage jedem Menschen, sich an das zu halten, was das Wohl aller Nationen und gerechten Regierungen fördert und ihre Stufe erhöht ...“ 35)
„Alle Menschen wurden erschaffen, eine ständig fortschreitende Kultur voranzutragen ... Wie die Tiere auf dem Felde zu handeln, ist für den Menschen unwürdig.“ 36)
„Wendet euch der Förderung des Wohlergehens und der Ruhe der Menschenkinder
zu. Widmet euren Geist und Willen der Erziehung der Völker
und Geschlechter der Erde, damit die Zwietracht, die sie spaltet, durch die
Macht des Größten Namens von ihrem Angesicht getilgt und die ganze
Menschheit zu Erhaltern einer Ordnung und zu Bewohnern
einer Stadt werde ... Ihr wohnet in einer Welt
und seid durch das Wirken
[Seite 582]
eines Willens erschaffen worden. Selig ist, wer sich
mit allen Menschen im Geiste äußerster Freundlichkeit und Liebe
verbindet.“ 37)
„Das Wohlergehen der Menschheit, ihr Friede und ihre Sicherheit sind unerreichbar, wenn ihre Einheit nicht sicher begründet ist.“ 38)
„O ihr erwählten Volksvertreter aller Länder! Beratet miteinander und laßt euch nur das angelegen sein, was der Menschheit nützt und ihre Lage bessert ... Betrachtet die Welt wie einen menschlichen Körper. Obwohl er bei seiner Erschaffung gesund und vollkommen war, ist er aus verschiedenen Ursachen von schweren Störungen und Krankheiten befallen worden ... Was der Herr als höchstes Mittel und mächtigstes Werkzeug für die Heilung der ganzen Welt bestimmt hat, ist die Vereinigung aller ihrer Völker in einer allumfassenden Sache, einem gemeinsamen Glauben.“ 39)
- —————
Titel des amerikanischen Originals: „One God, One Truth, One People“, Bahá’í Publishing Trust, Wilmette/Ill. 1965
- 1) ‘Abdu’l-Bahá, „Das Geheimnis göttlicher Kultur“, in „BAHA’I-BRIEFE“, Heft 5, Seite 110
- 2) dgl., Heft 6, Seite 133
- 3) zitiert bei Shoghi Effendi, „Der verheißene Tag ist gekommen“, in „Sonne der Wahrheit“, 18. Jahrgang, S. 195
- 4) dgl., 22. Jahrgang, Seite 22
- 5) dgl., 21. Jahrgang, Seite 63
- 6) „Die Friedensenzykika Papst Johannes’ XXIII. Pacem in terris“, Herder-Bücherei Nr. 157
- 7) „Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs“, Frankfurt 1961, CXXXI
- 8) Bahá’u’lláh, zitiert bei Shoghi Effendi, „Die Entfaltung der neuen Weltzivilisaton", in „19-Tage-Brief“ Nr. 14/114, S. 29
- 9) „Ährenlese* CXVII
- 10) 'Abdu'l-Bahá, zitiert in „Die Entfaltung...“, S. 30
- 11) Bahá’u’lláh, „Das Buch der Gewißheit (Kitáb-i-Iqán), Frankfurt 1958, S. 118 f.
- 12) dgl., S. 120
- 13) Bahá’u’lláh, „Tablet Ishráqát“, 7. Ishráq, „BAHA’I-BRIEFE“, Heft 11, S. 263
- 14) „Ahrenlese“ CLVI
- 15) „Ährenlese“ CXXII
- 16) „‘Abdu’l-Bahá, zitiert in „Bahá’í World Faith“, Wilmette/Ill. 1956, S. 241
- 17) „Ährenlese“ CXXXII
- 18) „‘Abdu’l-Bahá in „Bahá’í World Faith“, S. 233
- 19) „Ährenlese“ XLIII
- 20) ‘Abdu’l-Bahá, zitiert bei Shoghi Effendi, „The Goal of a New World Order“ (Brief vom 28. 11. 1931) in „The World Order of Bahá’u’lláh“, Wilmette/Ill. 1955, S. 42
- 21) „Ährenlese“ CX
- 22) „Ährenlese“ XCIV
- 23) „Ährenlese“ XXXIV
- 24) Bahá’u’lláh, „Tablet Tajallíyát“, 3. Tajallí in „BAHA’I-BRIEFE“ Heft 13, S. 329
- 25) Bahá’u’lláh, „Frohe Botschaften“, 11. Frohe Botschaft, in „BAHA’I-BRIEFE“ Heft 8, S. 181
- 26) ‘Abdu’l-Bahá in „Bahá’í World Faith“, S. 240
- 27) „Ährenlese“ CXIX
- 28) „Ährenlese“ CXVIII
- 29) „Ährenlese“ CXVII
- 30) Bahá’u’lláh, „Worte des Paradieses“, 9. Blatt, in „BAHA’I-BRIEFE“, Heft 10, S. 230
- 31) „Ährenlese“ C
- 32) Bahá’u’lláh, „Frohe Botschaften“, 12. Frohe Botschaft, S. 181
- 33) Bahá’u’lláh, „Worte des Paradieses“, 4. Blatt, S. 228
- 34) Bahá’u’lláh, „Frohe Botschaften“, 5. Frohe Botschaft, S. 179
- 35) „Ährenlese“ XLIII
- 36) „Ährenlese“ CIX
- 37) „Ährenlese“ CLVI
- 38) „Ährenlese“ CXXXI
- 39) „Ährenlese“ CXX
„Die Stimme der Macht”[Bearbeiten]
Das Wort Gottes in alter und neuer Zeit / Von Eunice Braun
Worte sind die dauerhaftesten aller menschlichen Werke. Der Tempel Salomos ist zu Staub zerfallen, die Melodien, mit denen David die Psalmen begleitete, sind längst verklungen, aber die Worte leben: „Ein Tag sagt’s dem andern, und eine Nacht tut’s kund der andern.“ 1) Die zehn Gebote Moses und die Gleichnisse Jesu sind noch immer Richtschnur für das Leben der Menschen, obgleich von beider Leben keine sichtbare Spur auf Erden geblieben ist. Denn Worte werden nicht nur auf Ton und Stein, auf Papyrus und Pergament weitergegeben, sondern in den Herzen und Gemütern und mit lebendiger Sprache; und die Worte des Offenbarers sind nicht wie andere Worte, denn sie werden tief in die Seele eingegraben.
„Auf die Tafel des Geistes schreibe alles, was Wir dir verkündet haben, mit der Tinte des Lichtes“, befiehlt Bahá’u’lláh 2). Dies ist die Tinte, die Jahrtausende überdauert und in der Sendung eines jeden Offenbarers erneuert wird. An diesem König der Tage, dem Tag der Sendung Bahá’u’lláhs, gibt Er uns die „Verborgenen Worte“, ein Büchlein, schmal und sparsam mit Worten wie ein kleiner Band Gedichte, aber so mächtig, daß es uns das Wesen all dessen enthüllt, was „durch die Sprache der Kraft und Stärke den göttlichen Botschaftern schon in früheren Zeiten geoffenbart wurde“ 3).
Den Weg von den ersten Worten, die der Mensch sprach, um sich zu verständigen, bis zu dem Tag, als die Sprache zu einer auf Steinplatten eingegrabenen Schrift wurde, so daß der Mensch die Gesetze seines Herrn für spätere Generationen aufzeichnen konnte, vermag uns die Geschichte nicht im einzelnen aufzuzeigen. Die Bilderschriften und Hieroglyphen des alten Ägyptens sind die frühesten bekannten Schriftzeichen; und es scheint sehr bezeichnend für das sich durch die Zeiten entfaltende Drama der Offenbarung, daß das phonetische Alphabet einem semitischen Volk zugeschrieben wird und auf der Sinai-Halbinsel entstanden ist.
Zweifellos war es eine Manifestation Gottes, die den Impuls dazu gab, daß die Sprache des Menschen zu einem Instrument der Macht und der Inspiration wurde. „Der Gott der Barmherzigkeit hat den Qur’án gelehrt; Er hat den Menschen geschaffen und ihn die verständige Sprache gelehrt“ 4). Der Weg der Kultur wird durch Worte bezeichnet — von den ersten, einfachen Lauten, mit denen der Mensch seine Nöte und Wünsche mitteilte, bis zu einer religiösen Literatur, die für planetarisch denkende Menschen in einem Zeitalter weltweiten Friedens geoffenbart ist.
Literatur wird definiert als „die Gesamtheit der Schriften einer Zeit
oder eines Landes, die wegen der Schönheit des Stils oder der Gedanken
lebendig geblieben sind“. Mit dieser Definition kann jedoch das geoffenbarte
Wort Gottes nicht erfaßt werden. Obgleich es seinen Ursprung in
[Seite 584]
dem Lande des Offenbarers hat und in dessen Sprache verkündet wurde,
hat es eine Macht, die alle Schranken der Sprache und Kultur sowie alle
materiellen Begrenzungen überwindet. Die Menschen mögen versuchen,
es zu unterdrücken; aber wie ein unterirdischer Strom wird es über seine
anfänglichen Grenzen hinausgetragen. Es gehört keinem bestimmten Volk,
keiner Kultur an, sondern allen Menschen, die danach verlangen. Tropfen
auf Tropfen, aus verborgenen Quellen oder in brausenden Katarakten,
bringt es die erfrischenden Wasser des Lebens.
So wurden die Gleichnisse Jesu, die in einem fast vergessenen aramäischen Dialekt im alten Palästina gesprochen worden waren, in der gesamten griechisch-römischen Welt weitergereicht, um später die Heilige Schrift ganz Europas, der Alten und der Neuen Welt zu werden. Die Schrift umfaßte auch die heiligen Bücher der Juden, und die Worte, die am Berg Sinai auf Tontafeln aufgezeichnet worden waren, bilden ein ethisches Grundgesetz für die westliche Welt.
Der Wissenschaftler, der auswählt, vergleicht und bewertet, muß einen anderen Maßstab anwenden, wenn er dem geoffenbarten Wort Gottes gegenübertritt. Er wie jeder andere — der Künstler, der Handwerker, Jurist oder Arbeiter — muß es mit einem „reinen Herzen“ betrachten, das jeden Wahrheitssuchenden befähigt, mit seinen „eigenen Augen und nicht mit den Augen der anderen“5) zu sehen,
Die größte Gabe
Die größte aller göttlichen Gaben an den Menschen ist — abgesehen von dem Geschenk des Lebens und des Bewußtseins — das schöpferische Wort Gottes. Durch dieses offenbart Gott Seine Gnade und Seine Gerechtigkeit. Das Wort, das der von Ihm erwählte Offenbarer verkündet, ändert das Leben des Menschen und lenkt die Kraftströme der Kultur in neue Bahnen. Dies ist das Wort, das nach der Bibel „niemals zunichte wird“. Es erfüllt seinen Sinn, denn es ist schöpferisch. Aller persönliche Glaube ist mit dem Wort Gottes verwoben; aber als erstes muß der Mensch mit allen Seelenkräften, mit seiner geistigen Einsicht, auf das Wort des Offenbarers antworten und sich in das größere Konzept des göttlichen Willens einbeziehen lassen.
„Sei, und es ist!“ erklärt der Offenbarer. Heute mag dies für uns wohl nicht sichtbar sein, aber morgen oder nach einem Jahr oder im nächsten Jahrhundert wird alles erfüllt sein.
Geheimnisvoll und ehrfurchtgebietend sind für uns die Berichte über
die Berufung der Offenbarer. Zu Moses sprach die Stimme aus einem
brennenden Busch, den die Flammen nicht verzehrten. Vom Himmel herab
sprach eine Stimme zu Jesus, als Er aus dem Wasser des Jordan stieg;
und Muhammad wurde Sich Seiner Sendung als Offenbarer Gottes auf
dem Berg Hira bei Mekka bewußt, als die Stimme sprach: „Rufe im
Namen Deines Herrn.“ In dieser neuen Sendung, in der die gesamte
Menschheit sich zu einem Boten Gottes wenden wird, sind wir dieser
Erscheinung des Göttlichen noch näher gebracht worden; denn wir leben
an dem Tag der Tage, an dem das Wort von der eigenen Hand des Offenbarers
unterzeichnet, mit einem Siegel versehen und oft sogar gänzlich
niedergeschrieben worden ist.
[Seite 585]
Unter welchen Umständen empfing Bahá’u’lláh die ersten Andeutungen Seiner erhabenen Sendung, Er, Der der Schöpfer einer neuen Weltordnung werden sollte, der Herr der Heerscharen, der Geist der Wahrheit? Shoghi Effendi, der Urenkel Bahá’u’lláhs und der verstorbene Hüter des Bahá’í-Glaubens, hat dies herrliche Ereignis in seinem historischen Werk „Gott geht vorüber“ geschildert.
Bahá’u’lláh, Nachkomme von Abraham, Zarathustra und Jesse, Angehöriger einer persischen Adelsfamilie, erwachte zu Seiner Sendung nicht auf einem Berg oder an den Ufern eines Flusses. Es geschah in dem unterirdischen Verlies des Siyáh-Chál, eines Gefängnisses in Tihrán, wohin man Ihn gebracht hatte, weil er Sich zur Sache des Báb bekannte, des jugendlichen Propheten, Der drei Jahre zuvor den Märtyrertod erlitten hatte. In Ketten hörte Bahá’u’lláh zum ersten Mal die Stimme, die die Worte sprach: „Wahrlich, Wir werden Dich siegreich machen durch Dich Selbst und durch Deine Feder“ 6).
Die kurze, meteorhafte Sendung des Báb, des Herolds und Vorläufers Bahá’u’lláhs, mündete „im Jahr neun“ 7), wie Er in Seinem Buch, dem persischen Bayán, verkündet hatte, in die Sendung, „Dessen, Den Gott offenbaren wird“ 8). Der Bayán sei das Samenkorn, so schrieb der Báb aus der Gefängnisfestung Máh-Kú, das die Möglichkeiten der verheißenen Offenbarung in sich berge. Das Buch sei zu dem alleinigen Zweck enthüllt worden, die Wahrheit Seiner (Bahá’u’lláhs) Sache zu begründen.
Obgleich der persische Bayán Gesetze und Vorschriften enthält, welche die Gesetze des Qur’án ändern und einen neuen Zyklus einleiten, weist Shoghi Effendi darauf hin, daß diese Verordnungen mehr einen Lobpreis auf den Verheißenen als eine dauernde Führung für die Zukunft darstellen sollten. Über diese Verordnungen schrieb Bahá’u’lláh später: „... alle Gebote wurden von Unserer Bestätigung abhängig gemacht.“ Er hat daher „einige dieser Gebote bestätigt und sie mit etwas veränderten Worten im Buch Aqdas wiedergegeben, während Wir andere nicht annahmen“ 9).
Viele der umfangreichen Schriften des Báb wurden vernichtet oder von Seinen Feinden verfälscht. Von Seinen Werken war, so stellt Bahá’u’lláh im „Buch der Gewißheit“ fest, „das erste, das größte und machtvollste von allen“ das „Qayyúmu’l-Asmá“, der Kommentar zur Súrih von Joseph. Das erste Kapitel hiervon war an jenem denkwürdigen Abend des 23. Mai 1844 in Gegenwart von Mullá Husayn im Hause des Báb geoffenbart worden. Einige Seiten dieses Werkes wurden später Bahá’u’lláh überbracht, Der Sich daraufhin sofort zur Sache des Báb bekannte. Der Hauptzweck des Werkes war, die Menschen auf das Kommen des „wahren Joseph“ (Bahá’u’lláhs) vorzubereiten und die Leiden vorherzusagen, die Er durch die Hand Seines eigenen Bruders erleiden würde. Das gesamte in arabisch geoffenbarte Buch wurde von der bekannten Dichterin Táhirih, der einzigen Frau unter den ersten Jüngern des Báb, ins Persische übersetzt.
Die Stimme, die zu Bahá’u’lláh in dem verpesteten Kerker des Síyáh-Chál
sprach, bezeichnete den Beginn Seiner Offenbarung. Sie verstummte
fortan nicht mehr: In der ersten Zeit Seiner Verbannung nach Baghdád
offenbarte Er das Tablet von Kullu’t-Ta’ám und bewies damit Seine
[Seite 586]
überragende Stufe im Vergleich zu der Oberflächlichkeit Seines Halbbruders
Mirzá Yahyá, der sich bereits anschickte, seine vom Báb vorausgesagte
verhängnisvolle Rolle zu spielen. Die Stimme begleitete Bahá’u’lláh in die
Berge Kurdistáns und nach Sulaymáníyyih, wohin Er Sich für einige Zeit
im Gewand eines Derwisches zurückzog. Hier setzte Er, als Seine Anwesenheit
bekannt wurde, Geistliche, Gelehrte und Menschen jeden Standes in Erstaunen;
denn obgleich diese Menschen Bahá’u’lláhs wahre Stufe
nicht erkannten, wurden sie von der Schönheit und Macht einer von Ihm
in arabisch verfaßten Ode, des „Qasídiy-i-Varqá’íyyih“, derart
beeindruckt, daß sie erklärten, diese übertreffe bei weitem das Werk ihres
berühmtesten Dichters Ibn-i-Fárid. Diese Zeit selbstgewählter Zurückgezogenheit
sollten Seine letzten verhältnismäßig ruhigen Tage sein. Bald kehrte Er — im
Bewußtsein dessen, was Ihn erwartete — nach Baghdád zurück.
Ein bewegendes Bild kommt uns vor Augen, wenn wir daran denken, Wie Er am Ufer des Tigris auf und ab schreitet und die „Verborgenen Worte“ offenbart, teils in persischer, teils in arabischer Sprache. Es war das Jahr 1858. Bahá’u’lláh war 41 Jahre alt und näherte Sich dem Höhepunkt Seiner schöpferischen Kraft. Während dieser zweiten Baghdáder Periode wurde auch das „Kitáb-i-Iqán“ (Das Buch der Gewißheit) geoffenbart. Shoghi Effendi bezeichnet diese beiden Werke als „zwei hervorragende Beiträge zur religiösen Weltliteratur“. Das „Kitáb-i-Iqán“ stehe, so sagt er weiter, unter den unermeßlichen Schätzen Seiner Offenbarung an erster Stelle und nehme, mit Ausnahme des „Kitáb-i-Aqdas“, des Buches der Gesetze, in der Bahá’í-Literatur einen unerreichten Platz ein 10).
„Die sieben Täler“ und „Die vier Täler“ wurden zu dieser Zeit geschrieben, zusammen mit einer Flut von Briefen, Oden, Sendschreiben, Kommentaren und Gebeten. Dies waren die Vorzeichen künftiger Ereignisse, als Er in den sieben Jahren von Seiner Rückkehr aus Sulaymáníyyih bis zur Erklärung Seiner Sendung im Garten Ridván im April 1863, die Zügel prophetischer Autorität ergriff.
In dem „Tablet des heiligen Seefahrers“, das Er vor Seiner Verbannung nach Konstantinopel am ersten Tage des Ridván-Festes 1863 schrieb, sagte Er die bevorstehenden schrecklichen Prüfungen voraus; Er bekräftigte dies kurz darauf im „Lawh-i-Hawdaj“, als sich die Schar der Verbannten dem Hafen Sámsún näherte.
Jetzt begann ein neuer Abschnitt der Sendung Bahá’u’lláhs, was sich in Seinen Schriften widerspiegelt. Während der 4 Monate in Konstantinopel begann die Verkündung an die religiösen Führer und die Könige: zuerst ein Sendschreiben an den stolzen, hochmütigen Sultan der Türkei, ‘Abdu’l-‘Aziz, sodann ein Tablet an ‘Alí Páshá, den Großwesir, das nach dessen Worten klang, als ob „der König der Könige seinem niedrigsten Vasallen seinen Befehl übermittelte.“ 11)
In den folgenden fünf Jahren in Adrianopel nahmen die unbarmherzigen
Prüfungen, die in den früheren Tablets vorausgesagt waren, ihren
Anfang. Hier erduldete Bahá’u’lláh einige der leidvollsten Augenblicke
Seines Lebens. Hier verkündete Er gleichzeitig den Führern der Welt
[Seite 587]
machtvoll und unerbittlich Seine Sendung. Die Fastengebete wurden
geoffenbart. Die Sendschreiben an Napoleon III., den Sháh von Persien, die
Herrscher der Christenheit wurden verfaßt, ebenso das Sendschreiben an
die Könige, die „Súrih-i-Múlúk“.
Shoghi Effendis kurzes, aber gewichtiges, an die Bahá’í des Westens gerichtetes Werk „Der verheißene Tag ist gekommen“12) gibt von vielen dieser berühmten Tablets eine Zusammenfassung und beschreibt die Wirkung, die sie auf ihre Empfänger und auf die gesamte Welt haben sollten. Sie waren kaum geschrieben, als sich die innere Schwäche religiöser und politischer Dynastien zu enthüllen begann. Das „Schwert der Weisheit ..., heißer als die Glut des Sommers und schärfer als Klingen aus Stahl“ 13), hatte zugeschlagen.
Kurz bevor Bahá’u’lláh 1868 nach Seinem letzten Verbannungsort ‘Akká in Palästina aufbrach, offenbarte Er das Sendschreiben an den Ra’ís. Von diesem Augenblick an, erklärte Er, sei das Gleichgewicht der Welt und der Völker erschüttert, und dieser Zustand würde andauern, bis die Lehren des wahren Arztes angewandt würden.
In „Die Weltordnung Bahá’u’lláhs“, einer Reihe von Briefen, die Shoghi Effendi unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg geschrieben hat, erhalten wir Kenntnis von dem Prozeß der Vergeltung und der Läuterung, der die Auflösung der alten Ordnung und den Anbruch einer neuen, göttlich inspirierten Kultur mit sich bringt. In diesem Werk sind die Stufen dargestellt, auf denen die Menschheit von dem heute bestehenden Kern jener neuen Ordnung zu deren Reifezeit in einem weltumspannenden, „goldenen Zeitalter“ gelangen wird, einem Zeitalter, in dem die ganze Erde „ihre edelsten Früchte hervorgebracht haben wird“.
Sein bedeutendstes Werk
Die schöpferische Kraft der Feder Bahá’u’lláhs erreichte ihren Höhepunkt während Seiner Einkerkerung in ‘Akká vom 31. August 1868 bis zu Seinem Hinscheiden am 29. Mai 1892. An die Könige insgesamt, an Papst Pius IX. und an Königin Victoria von England wurden weitere Sendschreiben gerichtet, wobei Königin Victoria gerühmt wurde, weil sie „die Zügel der Beratung in die Hände der Vertreter des Volkes gegeben habe“.
Die Offenbarung des Kitáb-i-Aqdas, Seines Buchs der Gesetze,
war — wie Shoghi Effendi feststellt — „die hervorragendste Tat“ Seiner
Sendung. Der Leitgedanke aller Sendschreiben und des Aqdas selbst ist
[Seite 588]
Gerechtigkeit für die gesamte Menschheit. Obgleich dieses „Heiligste Buch“
noch nicht angemessen und vollständig in westliche Sprachen übersetzt
ist, sind doch umfangreiche Teile in größeren Bahá’í-Werken wie „Ährenlese
aus den Schriften Bahá’u’lláhs“ und „Brief an den Sohn des Wolfes“
enthalten und werden von Shoghi Effendi in seinen Werken zitiert, so in:
„Gott geht vorüber“, „Die Weltordnung Bahá’u’lláhs“, „Der verheißene
Tag ist gekommen“ und „Das Kommen göttlicher Gerechtigkeit“. Der Gedanke
der Gerechtigkeit für die gesamte Menschheit findet seinen Ausdruck auch
in der stufenweisen Fortbildung der Gläubigen durch ‘Abdu’l-Bahá auf
einem völlig neuen Gebiet geistigen Verständnisses und gesellschaftlicher
Verantwortung. Das Aqdas ergänzte Bahá’u’lláh durch zusätzliche Verordnungen,
die in den Tablets Ishráqát, Tajallíyát, Tarázát, Bishárát,
dem „Sendschreiben über die Welt“ und anderen Werken
enthalten sind.
Bahá’u’lláhs letztes größeres Werk war der „Brief an den Sohn des Wolfes“. Es wurde an einen erbitterten Gegner geschrieben, einen Menschen voll Haß auf Bahá’u’lláh und das Licht, das Er brachte. Sein erhebendes Thema ist die überströmende Gnade Gottes, eine göttliche Gabe, die auch der größte Sünder zu empfangen vermag, wenn er es nur will. In diesem Werk spricht Er von Seinem Buch des Bundes, dem „Kitáb-i-’Ahd“, als dem „roten Buch“, Seinem „größten Tablet“. Dieses hatte Er vollständig mit eigener Hand geschrieben und kurz vor Seinem Hinscheiden ‘Abdu’l-Bahá zur Aufbewahrung übergeben. Damit, daß Er darin ‘Abdu’l-Bahá, Seinen ältesten Sohn, zum Mittelpunkt Seines Glaubens und zum „Planer von dessen künftigen Institutionen“ ernannte, wurde die Kette geschmiedet, die die Einheit und Autorität des Glaubens zu erhalten bestimmt ist.
Nur die umfangreicheren Schriften Bahá’u’lláhs, Früchte von neununddreißig Jahren ununterbrochener Offenbarung, sind hier genannt worden. „Wohl dem, der seinen Blick auf die Ordnung Bahá’u’lláhs richtet“, hatte der Báb im Bayán erklärt. Bahá’u’lláh konnte nun, als Sein irdisches Leben sich dem Ende zuneigte, sagen: „Wir haben wahrlich Unsere Pflicht nicht versäumt, die Menschen zu ermahnen und das zu vollbringen, was Gott Uns geheißen hat...“
- (Wird fortgesetzt)
- —————
Aus Bahá’í News (USA), Nov. 1964
- 1) Psalm 19,3
- 2) „Verborgene Worte“, Frankfurt 1948, I Nr. 71
- 3) ebenda, Vorspruch
- 4) Zitiert in Bahá’u’lláh, „Epistle to the Son of the Wolf“, Seite 1
- 5) „Verborgene Worte“, I 2
- 6) Shoghi Effendi, „Gott geht vorüber“, Oxford 1954, S. 113
- 7) ebenda, S. 32/33
- 8) ebenda, S. 34
- 9) „Tablet Ishráqát“, vgl. „BAHA’I-BRIEFE“, Januar 1963, S. 265
- 10) „Gott geht vorüber“, S. 157/158
- 11) „Gott geht vorüber“, S. 182
- 12) vgl. „Sonne der Wahrheit“, Jahrgang 18—22
- 13) Bahá’u’lláh: „Epistle to the Son of the Wolf“, S. 55
- —————
Die „BAHA’I-BRIEFE“ werden vierteljährlich herausgegeben vom Nationalen Geistigen
Rat der Bahá’í in Deutschland e. V., 6 Frankfurt, Westendstraße 24. Alle
namentlich gezeichneten Beiträge stellen nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers
oder der Redaktion dar.
Redaktion: Dipl.-Volksw. Peter A. Mühlschlegel, 6104 Jugenheim, Goethestraße 14, Telefon (0 6257) 21 33, und Dieter Schubert, 7022 Leinfelden, Fliederweg 3, Telefon (07 11) 79 35 35.
Vertrieb: Georg Schloz, Bahá’í-Haus, 7 Stuttgart-Zuffenhausen, Friesenstraße 26, Telefon (0711) 87 90 58 oder (07 11) 87 32 48.
Druck: Buchdruckerei Karl Scharr, 7 Stuttgart-Vaihingen, Scharrstraße 13.
Preis: DM —.80 je Heft einschließlich Versandkosten, im Abonnement DM 3.20 jährlich. Zahlungen erbeten an Bahá’í-Verlag GmbH., 6 Frankfurt, Westendstr. 24, Postscheckkonto Stuttgart 35 768, mit dem Vermerk „BAHA’I-BRIEFE“.
An der Zeitschrift bestehen keine wirtschaftlichen oder finanziellen Beteiligungen im Sinne des Hessischen Pressegesetzes, § 5 Abs. 2.