←Heft 21 | Bahai Briefe Oktober 1965 |
Heft 23→ |
![]() |
BAHÁ'I-
BRIEFE
BLÄTTER FÜR
WELTRELIGION UND
WELTBEWUSSTSEIN
AUS DEM INHALT:
Die neue Gottesoffenbarung
Weltsprache — Weg zur Verständigung
Zamenhof — Schöpfer des Esperanto
Europäische Sommerschulen
OKTOBER 1965 HEFT 22
D 20 155 F
Wenn die Sprache nicht stimmt,
- so ist das, was gesagt wird, nicht das, was gemeint ist;
ist das, was gesagt wird, nicht das, was gemeint ist,
- so kommen die Werke nicht zustande;
kommen die Werke nicht zustande,
- so gedeihen Moral und Kunst nicht;
gedeihen Moral und Kunst nicht,
- so trifft das Recht nicht;
trifft das Recht nicht,
- so weiß das Volk nicht, wohin Hand und Fuß setzen.
Also dulde man keine Willkür in der Sprache.
Das ist es, worauf alles ankommt.
- KONFUTSE
„Gottes neuer Ruf”[Bearbeiten]
Bahá’í-Sommerschulen in Hustedt und Gauting*)
- Der Nationale Geistige Rat der Bahá’í in Deutschland hatte in diesem Jahr wieder zu zwei Sommerschulen eingeladen. Vom 9. bis 17. Juli trafen sich in der Heimvolkshochschule Jägerei Hustedt (bei Celle) an die 100 Freunde aus nah und fern, um bei Referaten und in Arbeitskreisen sich zu vertiefen, vom 22. bis 29. August kamen im UNESCO-Institut in Gauting rund 40 Freunde zusammen. Beide Sommerschulen standen unter dem gleichen Leitwort: „Gottes neuer Ruf“.
- Ein Teilnehmer aus Gauting übersandte uns den nachfolgenden Bericht, der, von der Thematik und dem Ablauf der Woche her, auch für die Veranstaltung in Hustedt stehen darf:
- *) (Siehe Bilder Seiten 550/551)
„Von Beginn an beglückte uns die Themenstellung. Die familäre Atmosphäre
regte zu fruchtbaren Gesprächen an. Die geistige Arbeit der Woche
war geprägt von der Bedeutung und Neugestaltung unserer Lehrarbeit,
und alle Freunde waren vor die Frage gestellt:
- ‚Was kann ich neu zur Verbreitung und Vertiefung unseres Glaubens beitragen?‘
Dr. Schmidt gab in seinen Ausführungen über „Gottes neuer Ruf“ eine wertvolle Grundlage für die Behandlung der weiteren Themen der Woche: Christus in den nachbiblischen Religionen, der Neun-Jahresplan, die grundlegenden Prinzipien der Bahá’í-Gemeinschaftsordnung, Liebe ist der Geist des Lebens — um nur einige zu nennen.
In sinnvoller Ergänzung standen die Nachmittags- und Abendprogramme zu den morgendlichen Referaten. Das allgemeine Interesse an weiteren Gesprächen und einem Erfahrungsaustausch in religiösen Lebensfragen war so groß, daß die meisten Nachmittage und Abende ausgefüllt waren.
Eine große Bereicherung war die Gestaltung zweier ‚Einigkeitsfeste‘
durch Kölner Freunde. Hier zeigten sie, wie man durch sorgfältige
Vorbereitung aufgeschlossene Menschen mit den Gedanken und Idealen des
Bahá’í-Glaubens vertraut machen kann, indem man ihnen z.B. die
‚Einheit‘ oder ‚Liebe‘ im allgemeinen Gedankengut vor Augen führt.
Beeindruckend waren die Berichte von Anneliese Haug, welche schon sechs
Jahre auf den Hebriden lebt, und von Arnold Zonneveld, der dreieinhalb
Jahre in Spitzbergen ausharrte. Eindrucksvoll wurde deutlich, daß die
große Hilfe in der Einsamkeit eigene und Gebete anderer sind. Dies wurde
[Seite 539]
anschaulich unterstrichen durch den Lichtbilder-Vortrag über die
Bahá’í-Arbeit in Südamerika.
So war die Sommerschule getragen von einem gegenseitigen Geben und Nehmen, von Harmonie und Liebe und vor allem einem neuen Bewußtwerden unserer gemeinsamen Verantwortung für die Zukunft der Menschheit und ihre Einigung.
- Th. W.
Ergänzend zu diesem Bericht sei noch hinzugefügt, daß in der Sommerschule
Hustedt u. a. ein Kollogium über das vielbeachtete Buch von G. Szczesny:
„Antwort der Religionen“ gehalten wurde. Außerdem fand an einem Abend
in der Stadt Celle ein öffentlicher Vortrag mit einer anschließenden
angeregten Aussprache statt. Viel Interesse brachten in Hustedt vor
allem die anwesenden Eltern einem Kurs über Erziehungsfragen
entgegen, den Erik Blumenthal hielt.
Europas Bahá’í-Jugend in Berlin[Bearbeiten]
Berlin war vom 31. Juli bis 10. August 1965 Ort der Begegnung 150 junger Menschen aus 19 europäischen und außereuropäischen Ländern. Mit der Wahl des Jugendgästehauses als Tagungsstätte war ein günstiger Rahmen für diese bedeutsame internationale Sommerschule geschaffen worden. Am Eröffnungsabend, der durch den geistigen Teil eines „19-Tage-Festes“ eingeleitet wurde, konnte Hellmut Schmidt als Leiter der Sommerschule im Namen der deutschen Bahá’í-Jugend die Teilnehmer begrüßen.
Das Programm des zweiten Tages begann mit dem Referat von Dr. Sobhani: „Erziehung zum freien Menschen“. Dr. Sobhani behandelte darin u.a. die drei Stufen der Freiheit des Menschen: Freiheit aus Freiwilligkeit, als Wahlmöglichkeit und Freiheit als Gebundenheit; verschiedene Aspekte, die sich gegenseitig bedingen und voneinander abhängig sind.
Die Referate wurden abwechslungsweise in deutscher, englischer oder französischer Sprache gehalten. An jeden Vortrag schlossen sich Arbeitskreise an, in denen man sich mit den Themen der Referate und dem Buch „Die Sendung Bahá’u’lláhs“ von Shoghi Effendi befaßte.
Dr. Mühlschlegel sprach über das Thema: „Hundert Jahre Zeitgeschehen“, in dem er sich mit den beiden Phänomenen unserer Zeit — dem Prozeß der Zersetzung und der Entstehung einer göttlichen, weltumfassenden Zivilisation — auseinandersetzte. Die mächtigste Kraft und der Wegweiser dieser Zeit sei die Botschaft Bahá’u’lláhs, die nur langsam in unserem chaotischen Heute anerkannt würde.
Derek Cockshut brachte einen Auszug aus der Bahá’í-Geschichte,
Michael Randel sprach über „Die Wandlungskraft des Wortes Gottes“.
Darin wurde als Ziel der Erneuerung die Einheit der Menschheit und der
Weltfrieden hervorgehoben.
[Seite 540]
In einem öffentlichen Vortrag im großen Saal des Jugendgästehauses sprach Dr. Sobhani über das Thema „Einheit der Menschheit durch Einheit der Religionen“, U.a. führte er aus, die Erkenntnis um die Notwendigkeit einer umfassenden Ordnung und Einheit der Menschheit liege heute in der Erkenntnis Gottes.
Foad Sabéran nahm den „Materialismus als Weltanschauung“ zum Thema seines Referates. Seine Ausführungen befaßten sich vor allem mit der interessanten Gegenüberstellung des Materialismus und der Religion. „Zum Lebensstil der Jugend“ brachte Irene Jones einen ansprechenden Beitrag. Sie gliederte das Thema in zwei Teile: „Was ist der Lebensstil der Jugend?“ und: „Wie ist der Lebensstil der Bahá’í-Jugend?“ Sie betonte dabei besonders den Mut, der in einer materialistischen Gesellschaft mit wankenden moralischen Grundsätzen erforderlich ist.
Zum Thema: „Kein Weltfriede ohne göttliche Gerechtigkeit“ sprach Hellmut Schmidt. Beim Einsatz der modernen Vernichtungswaffen gäbe es heute weder Sieger noch Besiegte. Der Friede werde von allen Völkern ersehnt. Die Bahá’í seien davon überzeugt, daß ein dauerhafter Weltfriede durch eine göttlich geoffenbarte Weltordnung erreicht und
- —————
- Jede begrenzte und umschränkte Bewegung, jede Ansammlung von rein persönlichen Interessen ist menschlich in ihrer Natur. Jede allumfassende Bewegung, unbegrenzt im Umfang und in den Zielen, ist göttlich. Die Sache Gottes schreitet fort, wann immer und wo immer eine umfassende Begegnung unter den Menschen herbeigeführt wird.
- Deshalb bemühet euch, daß eure Lebenshaltung und eure Absichten weltumspannend und uneigennützig seien. Weihet euch der Besserung der ganzen menschlichen Rasse und widmet euch ihrem Dienste! Laßt es nicht zu, daß Schranken des Unwillens oder des persönlichen Vorurteils diese Seelen trennen; denn wenn eure Beweggründe allumfassend und eure Vorsätze himmlischer Natur sind, wenn euer Trachten auf das Reich Gottes gerichtet ist, dann werdet ihr ohne jeden Zweifel die Segnungen und das Wohlgefallen Gottes erlangen.
- ‘Abdu’l-Bahá
- (“The Promulgation of Universal Peace“ II, S. 443)
- —————
[Seite 541]
gesichert werden könne. Die atomare Gefahr sei Anlaß genug für eine neue Weltordnung.
Dr. Kamran behandelte in dem Referat: „Bahá’í-Weltreligion und die soziale Frage“ die sozialen Erscheinungen, die Gesellschaftsgruppen und -strukturen. Der Beitrag verlangte vertiefte Diskussion. Zu dem heute einzuschlagenden Weg zur Völkerverständigung auf der Grundlage des Kulturaustausches machte Farhan Mavaddat interessante Ausführungen.
Das Rahmenprogramm brachte u.a. eine Stadtrundfahrt. Ein Nachmittag war dem Besuch des kunsthistorisch sehr interessanten Dahlemer Museums gewidmet. Als eines der tiefstgreifenden Erlebnisse gestaltete sich für viele der Besuch Ostberlins, der den Wunsch nach Einheit der Menschheit so stark empfinden ließ. An den Abenden fand man sich gesellig und im Erfahrungsaustausch zusammen.
Ein wichtiges Ereignis stellte der Empfang beim Berliner Senat im Schöneberger Rathaus dar. Oberregierungsrat Peter Haensch sagte u.a., die Voraussetzung für eine Gemeinsamkeit von Ost und West sei Toleranz, die nicht aus Gleichgültigkeit bestehe, sondern aus Respekt gegenüber dem Denken und Tun anderer Menschen. Nächstenliebe sei notwendig, wenn dieser Welt der Friede erhalten bleiben solle. Er wisse, daß ein wesentlicher Bestandteil des Bahá’í-Glaubens Toleranz sei, und daß die Bahá’í das Gemeinsame in den Religionen unserer Welt betonen und erkennen. Wichtig sei, daß die wesentlichen Grundsätze dieses Glaubens ihren Niederschlag im Leben der Menschen fänden, und daß nicht zuletzt mit Hilfe der Bahá’í der Weltfriede erhalten bleibe. Hellmut Schmidt dankte im Namen aller Teilnehmer der Sommerschule für den freundlichen Empfang und zeigte knapp die Ziele der Bahá’í-Religion auf. Dr. Sobhani ging in einigen Worten nochmals auf die Notwendigkeit wahrer Toleranz ein.
Die 5. europäische Bahá’í-Jugendsommerschule in Berlin war ein weiteres — und man darf sagen — erfolgreiches Unternehmen, durch lehrreiche Referate, klärende Gespräche und Meinungsaustausch und nicht zuletzt durch das Gemeinschaftserlebnis zur internationalen Verständigung beizutragen. Das Leitthema: „Vom Dunkel ins Licht — wir glauben an eine bessere Zukunft“ entsprang dem geistigen Bedürfnis, unter dem Schutze Gottes in dieser schönen, so schmerzlich geteilten Stadt für die Einheit und Versöhnung der Menschen zu wirken.
- mr/he
- —————
- Wir müssen uns vom Gesetz der Liebe entweder voll und ganz leiten lassen oder überhaupt nicht. Der Krieg wird erst dann überwunden sein, wenn das Gewissen der Menschheit so weit entwickelt ist, daß es die unbestrittene Vorherrschaft des Gesetzes der Liebe in allen Lebensbereichen anerkennt. Manche sagen, daß es niemals so weit kommen wird. Ich aber werde bis zum Ende meines Erdendaseins den Glauben behalten, daß es so weit kommen wird.
- Gandhi
- —————
Lernen und Lachen am Bodensee[Bearbeiten]
Kinder-Sommerwoche 1965 wurde in Immenstaad veranstaltet
Vom 1. bis 8. August 1965 fand im Hause von Familie Erik Blumenthal
in Immenstaad am Bodensee die 3. Bahá’í-Kinder-Sommerwoche statt. Viele
Zelte waren auf einer Wiese aufgestellt worden, denn 34 Kinder aus
Deutschland und Österreich waren gekommen, um eine Woche lang in
froher Gemeinschaft die Bahá’í-Religion in Lehre und Praxis kennenzulernen.
13 erwachsene Freunde sorgten für das geistige und leibliche Wohl
der Kinder.
Waren es bei der ersten Sommerwoche etwa 15, bei der zweiten Sommerwoche bereits 34, in diesem Jahre waren es knapp 50 Teilnehmer — ein Zeichen wachsender Beliebtheit dieser Veranstaltung.
In acht Lehreinheiten unter dem Gesamtthema „Einheit der Menschheit“ wurden die Kinder in zwei Altersgruppen durch mehrere Lehrkräfte in die Grundsätze der Bahá’í-Religion eingeführt.
Die Unterstufe (bis 11 Jahre) befaßte sich unter dem Leitthema „Der kleine Weltbürger“ mit folgenden Einzelproblemen:
- 1. Wege zu anderen Menschen
- (Verkehrsmittel, Rundfunk, Fernsehen... verbinden die Menschen)
- 2. Unser täglich Brot
- (Weltwirtschaft verbindet die Menschen)
- 3. Von der Ritterfehde zum Weltfrieden
- (Weg zu Weltfrieden und Welteinheit)
- 4. Der kleine Weltbürger
- (Kinder begegnen der Menschheit)
Die Oberstufe (ab 11 Jahre) behandelte ihre Fragen unter dem Leitthema „Die Menschheit auf dem Wege zur Einheit“:
- 1. Die Technik und Wissenschaft verbinden die Menschheit
- 2. Weltwirtschaft verbindet die Menschheit
- 3. Der Weg zum Weltfrieden
- 4. Weltreligion und Welteinheit
Selbst-Handeln und das selbständige Forschen nach Wahrheit wurden besonders gefördert. Erfreulich war die Bereitwilligkeit der Kinder, sich mit den aufgeworfenen Problemen eingehend auseinanderzusetzen.
Die Freizeit kannte keinen Leerlauf. Bei strahlendem Sonnenschein, der die frohe Schar nur für wenige Stunden im Stiche ließ, lockte der Bodensee zum Baden und Bootfahren. Im schönen Garten konnte man sich bei frohem Spielen, Musizieren und Singen erholen. Ein Höhepunkt war die gemeinsame Dampferfahrt nach Bregenz. Besonders fröhlich ging es bei einem Filmabend zu, den Erik Blumenthal veranstaltete.
- U.P.R.
Die neue Gottesoffenbarung[Bearbeiten]
Ansprache von ‘Abdu’l-Bahá am 15. November 1912 in New York
Ich habe in den verschiedensten christlichen Kirchen und in den Synagogen gesprochen, und in keiner Versammlung wurde eine abweichende Stimme laut. Alle haben zugehört, und alle haben eingeräumt, daß die Lehren Bahá’u’lláhs vortrefflich in ihrer Art sind; es wurde anerkannt, daß sie den Wesenskern, den Geist dieses neuen Zeitalters bilden und daß es keinen besseren Weg zur Erfüllung seiner Ideale gibt. Keine einzige Stimme erhob Einwände, allenfalls gab es einige, die sich weigerten, die Sendung Bahá’u’lláhs anzuerkennen, obwohl auch sie einräumten, Er sei ein großer Lehrer, ein machtvoller Geist, ein überragender Mann gewesen. Manche, die keine andere Ausflucht fanden, sagten: „Diese Lehren sind nicht neu; sie sind altbekannt, und wir haben sie schon früher gehört.“ Deshalb will Ich zu euch über die unterscheidenden Merkmale der Offenbarung Bahá’u’lláhs sprechen und beweisen, daß sich Seine Sache nach allen Gesichtspunkten von jeder anderen Bewegung unterscheidet. Sie unterscheidet sich durch ihre lehrhafte Art und die Methoden der Darstellung, durch ihre praktischen Auswirkungen und die Anwendung auf die gegenwärtigen Verhältnisse in der Welt, ganz besonders aber vom Standpunkt ihrer Ausbreitung und ihres Fortschritts aus.
Als Seine Heiligkeit Bahá’u’lláh in Persien erschien, erhoben sich alle
zeitgenössischen religiösen Sekten und Systeme gegen Ihn. Seine Feinde
waren Könige. Die Feinde Jesu Christi waren Juden und Pharisäer, aber
die Feinde Seiner Heiligkeit Bahá’u’lláhs waren Herrscher, die über
Armeen geboten und Hunderttausende von Soldaten auf den Plan rufen
konnten. Diese Könige repräsentierten etwa 50 Millionen Menschen, die
sich unter ihrem Einfluß und ihrer Herrschaft alle Bahá’u’lláh
widersetzten. Somit widerstand Bahá’u’lláh im Grunde genommen einsam und
allein 50 Millionen Feinden. Aber weit entfernt davon, Ihn zu überwinden,
konnten sich diese großen Massen Seiner wunderbaren Persönlichkeit und
der Macht und dem Einfluß Seiner himmlischen Sache nicht entziehen.
Obwohl sie entschlossen waren, das Licht dieser strahlenden Leuchte
auszulöschen, wurden sie doch schließlich besiegt und überwunden, und
heller erstrahlte Seine Herrlichkeit von Tag zu Tag. Sie machten jede
Anstrengung, Seine Bedeutung zu schmälern, aber Sein Ruhm und Sein
Ansehen wuchsen in gleichem Maße, wie sie Ihn erniedrigen wollten.
Umgeben von Feinden, die Ihm nach dem Leben trachteten, suchte Er
Sich nie zu verbergen und tat nichts, um Sich in Sicherheit zu bringen;
im Gegenteil, Er stand in Seiner geistigen Macht und Kraft allezeit
sichtbar vor den Augen der Menschen, jedermann zugänglich; gelassen
widerstand Er den Scharen, die Ihn bekämpften. Am Ende wurde Sein Banner
aufgerichtet.
[Seite 544]
Wenn wir die Annalen der Geschichte studieren und Seite für Seite die heiligen Bücher durchgehen, finden wir, daß keiner unter den Propheten der Vergangenheit von einem Gefängnis aus Seine Lehren verbreitete oder Seine Sache verkündete. Aber Seine Heiligkeit Bahá’u’lláh hielt das Banner der Sache Gottes hoch, während Er im Kerker lag; aus Seiner Gefängniszelle sandte Er Briefe an die Könige der Erde, klagte sie der Unterdrückung ihrer Untertanen und des Mißbrauchs ihrer Macht an. Den Brief, den Er unter solchen Umständen an den Sháh von Persien sandte, kann heute jedermann lesen. Seine Sendschreiben an den Sultán der Türkei, an Napoleon III, den Kaiser von Frankreich, und an andere Herrscher der Welt einschließlich des Präsidenten der Vereinigten Staaten sind gleichermaßen im Umlauf und erhältlich. Das Buch mit diesen „Sendschreiben an die Könige“ wurde in Indien vor etwa 30 Jahren veröffentlicht und ist als Súratu’l-Haykal oder „Abhandlung über den Tempel“ bekannt. Was in diesen Sendschreiben verzeichnet war, ist eingetroffen. Manche darin enthaltene Prophezeiungen erfüllten sich nach zwei Jahren, andere nach fünf, zehn oder zwanzig Jahren. Höchst bedeutsame Prophezeiungen über Ereignisse auf dem Balkan gehen gegenwärtig in Erfüllung, obgleich sie schon vor langer Zeit niedergeschrieben wurden. Zum Beispiel sagte Bahá’u’lláh in Seinem Brief an den Sultán der Türkei den Krieg und die Begebenheiten voraus, die sich heute ereignen. Diese Geschehnisse wurden auch in dem Sendschreiben, das Er an die Stadt Konstantinopel richtete, bis in die Einzelheiten von Vorkommnissen, deren diese Stadt heute Zeuge wird, angekündigt.
Als Er Sich an diese machtvollen Könige und Herrscher wandte, lag Er gefangen in einem türkischen Kerker. Überlegt euch, wie wundersam es war, daß ein Gefangener unter den Augen und der scharfen Überwachung der Türken den Herrscher selbst, der für Seine Einkerkerung verantwortlich war, derart kühn und unnachsichtig anklagte. Welche Macht, welche Größe spricht daraus! Nirgends in der Geschichte läßt sich ein Bericht von solchen Ereignissen finden. Trotz der stahlharten Gewalt und der absoluten Herrschaft dieser Könige war es Seine Aufgabe, ihnen zu widerstehen; Er war so fest und standhaft, daß Er es bewirkte, daß ihre Flaggen niedergezogen und Sein eigenes Banner aufgerichtet wurde. Denn heute liegen die Fahnen des persischen und des ottomanischen Reiches im Staub, während das Banner Bahá’u’lláhs auf der ganzen Welt, im Osten wie im Westen, hoch emporgehalten wird. Überlegt euch, was für eine Macht und Kraft dies ist, was für ein schlüssiger Beweis! Obwohl gefangen in einer Festung, nahm Er Sich nicht in acht vor diesen Königen, kümmerte Sich nicht um ihre Macht über Leben und Tod, sondern wandte Sich im Gegenteil in offenen, furchtlosen Worten an sie, um ihnen in aller Deutlichkeit vorauszusagen, die Zeit würde kommen, da ihre Herrschaft zerbräche und Seine eigene Oberhoheit fest begründet würde.
Er sagte im wesentlichen: „Binnen kurzem werdet ihr euch offensichtlich
unter den Verlierern finden. Eure Herrschaft wird verwüstet, eure Reiche
werden eine Wildnis und ein Trümmerhaufen werden; fremde Heere
werden in eure Länder einfallen und sie unterwerfen; Jammer und
[Seite 545]
Wehklage werden sich in euren Häusern erheben. Kein Thron, keine Krone,
kein Palast, keine Armeen werden euch bleiben. Nein, all dieses wird
euch entwunden, aber das Banner der Sache Gottes wird hoch aufgerichtet
werden. Dann werdet ihr sehen, wie die Menschen in Scharen der
Sache Gottes beitreten und wie diese mächtige Offenbarung in der ganzen
Welt verbreitet wird.“ Leset die Prophzeiungen der Súratu’l-Haykal
und denket sorgsam darüber nach.
Dies ist einer der Wesenszüge der Botschaft und der Lehren Bahá’u’lláhs. Könnt ihr Begebenheiten und Ereignisse dieser Art in irgendeiner anderen prophetischen Sendung feststellen? Wenn ja, in welchem Zyklus haben sich ähnliche Dinge ereignet? Findet ihr ins einzelne gehende Prophezeiungen und so klare Hinweise auf die Zukunft in den heiligen Büchern der Vergangenheit?
- *
Wir wollen jetzt die Lehren Bahá’u’lláhs mit den heiligen Worten vergleichen, die in früheren Zyklen herniedergekommen sind.
An erster Stelle unter den erhabenen Grundsätzen, die Er offenbarte, steht der Grundsatz des selbständigen Erforschens der Wahrheit. Dies bedeutet, daß jedem einzelnen Mitglied der menschlichen Familie der Rat und der Befehl gegeben ist, abergläubische Anschauungen, Überlieferungen und blinde Nachahmungen vorväterlicher religiöser Formen abzulegen und die Wahrheit selbst zu erforschen. Da die grundlegende Wahrheit eine ist, werden alle Religionen und Nationen der Welt eins werden, indem sie die Wahrheit erforschen. Die Verkündigung dieses Grundsatzes ist in keinem der heiligen Bücher der Vergangenheit zu finden.
Ein zweiter charakteristischer Grundsatz der Lehren Bahá’u’lláhs ist
jener, der die Anerkennung der Einheit der Menschenwelt befiehlt. An
die ganze Menschheit gewandt, sagt Er: „Ihr seid alle die Blätter
eines Baumes“; es gibt keine Unterscheidung oder Abstufung
nach Rassen unter euch in den Augen Gottes. Vielmehr sind alle die Diener
Gottes, und alle sind eingetaucht in das Weltmeer Seiner Einheit. Nicht eine
Seele ist dessen beraubt. Im Gegenteil, alle sind die Empfänger der
Gnadengaben Gottes. Jedes menschliche Geschöpf hat Teil an Seinen
Segnungen und an den Strahlen Seiner Wirklichkeit. Gott ist gütig zu allen.
Alle Menschen sind Seine Schafe und Er ist ihr wahrer Hirte. — Keine
andere heilige Schrift enthält diese Feststellung in solcher Breite und
Universalität; keine andere Lehre verkündet diesen unzweideutigen
Grundsatz der Solidarität der Menschheit. Was irgendwelche möglichen
Unterscheidungen angeht, so ist das äußerste, was Bahá’u’lláh sagt, daß
die Verhältnisse unter den Menschen verschieden sind; daß manche zum
Beispiel unvollkommen sind. Deshalb müssen solche Seelen erzogen werden,
damit sie zur Stufe der Vollkommenheit geführt werden. Manche
sind krank und leidend; sie müssen behandelt und umsorgt werden, bis
sie geheilt sind. Manche schlafen; sie müssen geweckt werden. Manche
sind unreif wie Kinder; ihnen muß geholfen werden, daß sie die Reife
erlangen. Aber alle müssen geliebt und wertgeschätzt werden. Einem
Kind darf man nicht abgeneigt sein, bloß weil es ein Kind ist; es muß
[Seite 546]
vielmehr geduldig erzogen werden. Einen Kranken darf man nicht meiden
und mißachten, nur weil er krank ist; man muß ihn voll Mitgefühl und
Zuneigung ansehen und ihn behandeln, bis er geheilt ist. Auf eine
schlafende Seele darf man nicht mit Geringschätzung herabschauen; man
muß sie wecken und ins Licht führen.
Bahá’u’lláh lehrt, daß die Religion mit der Wissenschaft und der Vernunft übereinstimmen muß. Wenn Glaube und Lehre der Analyse der Vernunft und den Grundsätzen der Wissenschaft entgegenstehen, sind sie nicht der Annahme wert. Dieser Grundsatz wurde noch in keinem der früheren Bücher göttlicher Lehren geoffenbart.
Eine weitere grundlegende Verkündigung Bahá’u’lláhs ist, daß die Religion die Quelle der Einheit und Kameradschaft in der Welt sein muß. Wenn sie zu Feindschaft, Haß und Bigotterie führt, wäre es besser, ohne sie zu Sein. Dies ist ein neuer Grundsatz der Offenbarung, wie er nur in den Äußerungen Bahá’u’lláhs zu finden ist.
Weiter erklärt Bahá’u’lláh, daß alle Arten von Vorurteil in der Menschheit aufgegeben werden müssen und daß die Menschenwelt Frieden, Wohlstand und Ruhe nicht finden wird und nicht finden kann, ehe die bestehenden Vorurteile völlig beseitigt sind. Dieser Grundsatz ist in keinem anderen heiligen Buch als in den Lehren Bahá’u’lláhs zu finden.
Eine weitere Lehre besagt, daß völlige Gleichheit zwischen Männern und Frauen bestehen soll. Warum sollte der Mensch eine Unterscheidung schaffen, die Gott nicht anerkennt? Auch in den Reichen der Schöpfung, die unter dem Menschen stehen, gibt es Geschlechter, aber der Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Wesen ist weder hemmend noch beschränkend. Die Stute zum Beispiel ist ebenso stark und oft schneller als der Hengst. Im ganzen Tier- und Pflanzenreich herrscht vollkommene Gleichheit zwischen den Geschlechtern. Im Reich des Menschen muß diese Gleichheit genauso bestehen, und der, dessen Herz am reinsten ist, dessen Leben und Charakter am höchsten stehen und dem göttlichen Maßstab am nächsten kommen, ist der Wertvollste und Erhabenste in den Augen Gottes. Dies ist die einzige wahre und wirkliche Unterscheidung, ob es sich nun um einen Mann oder um eine Frau handelt.
Bahá’u’lláh hat die Notwendigkeit einer allumfassenden Sprache verkündet, die als Mittel der internationalen Verständigung dienen und auf diese Weise Mißverständnisse und Schwierigkeiten aus dem Wege räumen wird. Diese Lehre ist im Kitáb-i-Aqdas, dem „Heiligsten Buch“, vor fünfzig Jahren veröffentlicht worden.
Auch hat Er den Grundsatz verkündet, daß die ganze Menschheit Erziehung genießen und kein Analphabetentum übrig bleiben soll. Dieses praktische Heilmittel für die Nöte der Welt läßt sich nicht im Text anderer heiliger Bücher finden.
Er lehrt, es sei Pflicht aller Menschen, sich für irgendein nutzbringendes
Gewerbe, ein Handwerk oder einen freien Beruf auszubilden, wodurch
ihr Unterhalt sichergestellt wird; und diese Arbeitsleistung sei als Akt
des Gottesdienstes zu betrachten.
[Seite 547]
Die Lehren Bahá’u’lláhs sind grenzenlos, ohne Ende in ihrem weitreichenden, wohltätigen Nutzen für die Menschheit. Der springende Punkt und das Ziel unserer heutigen Darstellung ist, daß sie neu und in keinem der religiösen Bücher der Vergangenheit zu finden sind. Hier ist die Antwort auf die Frage: „Was hat Bahá’u’lláh gebracht, das wir nicht schon früher gehört haben?“ Aus alledem folgt schlüssig und deutlich, daß Sich die Manifestation Gottes an diesem Tag von allen früheren Erscheinungen und Offenbarungen durch Ihre Majestät, Ihre Macht, durch die Wirkkraft und die praktische Anwendung Ihres Wortes unterscheidet.
Alle Propheten Gottes wurden geschmäht und verfolgt. Denket an Seine Heiligkeit Moses. Das Volk nannte Ihn einen Mörder. Sie sagten: „Du hast einen Mann erschlagen und bist vor der Strafe und Vergeltung geflohen. Ist es nach Deinen früheren Taten möglich, daß Du ein Prophet geworden sein könntest?“
Viele ähnliche Erfahrungen der heiligen Boten Gottes sind verzeichnet. Wie bitter und hart war die Verfolgung, der Sie unterworfen waren! Denkt daran, wie die Menschen Seine Heiligkeit Christus herabzusetzen und zu vernichten suchten. Sie setzten Ihm eine Dornenkrone aufs Haupt, trieben ihr Gespött mit Ihm und führten Ihn im Triumph durch die Straßen und Bazare, wobei sie riefen: „Friede sei mit Dir, Du König der Juden!“ Manche wandten Ihm ihre Kehrseite zu und riefen voll Hohn in der Stimme: „O Du König der Juden!“ oder „Herr der Herren, Friede sei mit Dir!“ Wieder andere spien Ihm in Sein gesegnetes Antlitz. Kurz, die Verfolgungen, die Seine Heiligkeit Christus zur Zeit Seiner Manifestation duldete, sind in den Büchern des alten Zyklus erwähnt, in jüdischen, lateinischen und griechischen. Kein Lobpreis wurde Ihm gezollt. Die einzige Anerkennung und Annahme, die Ihm zuteil wurde, kam von Seinen Gläubigen und Anhängern. Petrus zum Beispiel war einer, der Ihn pries, und die anderen Jünger Seiner Heiligkeit Christi sprachen in Seinem Namen. Zahllose Bücher wurden gegen Ihn geschrieben. In der Kirchengeschichte werdet Ihr Aufzeichnungen von dem Haß und dem Widerstreit finden, den römische, griechische und ägyptische Philosophen zum Ausdruck bringen, wenn sie Ihn mit Verleumdungen überhäufen und Ihm Fehler und Schwächen andichten.
Aber während der Manifestation Seiner Heiligkeit Bahá’u’lláhs, vom
ersten Tag Seines Auftretens bis zur Zeit Seines Hinscheidens,
anerkannten Menschen aller Nationen Seine Größe, und sogar Seine
erbittertsten Feinde sagten von Ihm: „Dies war wirklich ein großer
Mann; Sein Einfluß war mächtig und wunderbar. Er war eine ruhmreiche
Persönlichkeit von ungeheurer Kraft und höchster Beredsamkeit, aber leider
war Er ein Volksverführer.“ Solcher Art war im wesentlichen ihr Lobpreis
über Ihn und ihre Absage an Ihn. Offensichtlich waren diejenigen, welche
solche Ansichten von sich gaben, von der Größe und Erhabenheit Seiner
Heiligkeit Bahá’u’lláhs tief beeindruckt, obwohl sie Seine Feinde waren.
Manche haben sogar Gedichte über Ihn geschrieben, die als Satire und
sarkastische Anspielung gedacht, aber in Wirklichkeit Loblieder waren.
Zum Beispiel schrieb ein Dichter, der sich Seiner Sache widersetzte:
„Hütet euch, hütet euch, diesem Mann zu nahen; denn Er besitzt solche
[Seite 548]
Macht und eine so beredte Zunge, daß Er ein Zauberer ist. Er betört die
Menschen, Er berauscht sie, Er hypnotisiert sie. Hütet euch, hütet euch,
Sein Buch zu lesen, Seinem Beispiel zu folgen und euch mit Seinen Gefährten
einzulassen, denn sie besitzen ungeheure Macht und sind Verführer.“ Das
will sagen, dieser Dichter verwendete derartige Charakterisierungen,
weil er sie für Verrufungen und Herabsetzungen hielt und
nicht bemerkte, daß sie in Wirklichkeit Lobpreis bedeuteten; denn ein
Mann von Verstand, der diese Warnung liest, sagt sich: „Die Macht dieses
Mannes muß zweifellos sehr groß sein, wenn sogar Seine Feinde sie
anerkennen. Sicherlich ist solche Macht himmlischer Natur.“ Dies war einer
der Gründe, warum sich so viele bewegt fühlten, die Sache Bahá’u’lláhs
genauer zu prüfen.
Je mehr Seine Feinde gegen Ihn schrieben, desto größer war Seine Anziehungskraft auf das Volk und die Zahl derer, die herbeikamen, um nach der Wahrheit zu fragen. Die Menschen sagten sich: „Das ist bemerkenswert. Er ist ein großer Mann, und wir müssen mehr über Ihn in Erfahrung bringen. Wir müssen Seine Sache erforschen und herausfinden, was all das bedeutet; wir müssen die Ziele Seiner Sache kennenlernen, ihre Beweise prüfen und für uns selbst herausfinden, was es mit ihr auf sich hat.“ Auf diese Weise veranlaßten die finsteren, bösgemeinten Erklärungen der Feinde Bahá’u’lláhs die Menschen, aufgeschlossen zu werden und der Sache näherzutreten. Die Mullahs in Persien gingen so weit, daß sie öffentlich von den Kanzeln herab gegen die Sache Bahá’u’lláhs auftraten, ihre Turbane zu Boden warfen — ein Zeichen großer Aufregung — und laut riefen: „O Volk! Dieser Bahá’u’lláh ist ein Zauberer, der euch zu betören sucht; Er entfremdet euch eurer hergebrachten Religion und macht euch zu Seinen Anhängern. Hütet euch, Sein Buch zu lesen! Hütet euch, mit Seinen Freunden zu verkehren!
Wenn Seine Heiligkeit Bahá’u’lláh über jene sprach, die Ihn angriffen und verriefen, sagte Er: „Dies sind Meine Sendboten; sie sind es, die Meine Botschaft verkünden und Mein Wort verbreiten. Betet darum, daß sie sich vervielfachen, betet darum, daß sie an Zahl zunehmen und daß sie noch lauter rufen. Je mehr sie Mich mit Worten schmähen, je mehr sie sich aufregen, desto kraftvoller und mächtiger wird die Wirksamkeit der Sache Gottes, desto heller leuchtet das Wort Gottes, desto strahlender ist der Glanz der göttlichen Sonne. Und am Ende wird die düstere Finsternis der Außenwelt verschwinden und das Licht der Wahrheit scheinen, bis die ganze Erde in ihrer Herrlichkeit erstrahlt.“
- *) Ansprache ‘Abdu’l-Bahás vor den Bahá’i von New York kurz vor Seiner Heimreise; nach Aufzeichnungen von Hooper Harris, entnommen und ins Deutsche übertragen aus “The Promulgation of Universal Peace“, Wilmette/Ill. 1922/1943, Band II‚ S. 426 ff.
- —————
- In Konstantinopel besuchte eines Tages Kamál Páshá Mich Unterdrückten. Unsere Unterredung drehte sich um die Frage, was dem Menschen nützlich wäre. Er sagte, er habe mehrere Sprachen gelernt. Wir erwiderten: „Du hast dein Leben vergeudet. Es geziemt dir und den anderen Regierungsbeamten, eine Versammlung einzuberufen und eine unter den verschiedenen Sprachen sowie eine der bestehenden Schriftarten auszuwählen oder aber eine neue Sprache und eine neue Schrift zu schaffen, die in den Schulen der ganzen Welt den Kindern gelehrt werden. Auf diese Weise würden sie nur zwei Sprachen lernen, ihre Muttersprache und diejenige, in der sich alle Völker der Welt verständigten. Wenn die Menschen dies fest im Auge behielten, würde die ganze Erde schließlich als ein Land betrachtet werden, und das Volk wäre entlastet und befreit von der Notwendigkeit, verschiedene Sprachen zu lehren und zu lernen.“
- Solange Kamál Páshá in Unserer Gegenwart weilte, stimmte er zu; er bekundete sogar große Freude und volle Zufriedenheit. Wir sagten ihm, er solle diese Angelegenheit den Beamten und Ministern der Regierung vorlegen, damit sie in allen Ländern bewerkstelligt würde. Aber so oft er Uns später noch besuchte, kam er doch nie mehr auf diesen Gegenstand zu sprechen, obgleich das, was Wir vorschlugen, doch zur Einigkeit und Einheit der Völker dieser Welt beiträgt.
- Wir hoffen, daß die persische Regierung diesen Gedanken aufnimmt und ausführt. Vor kurzem sind eine neue Sprache und eine neue Schrift erfunden worden. Wenn du es wünschest, werden Wir sie dir mitteilen.
- Unsere Absicht ist, daß sich alle Menschen an das halten, was unnötige Mühe und Anstrengung vermindert, damit sie ihre Tage in geziemender Weise verbringen und zu Ende führen. Gott ist wahrlich der Helfer, der erfahrene Verordner, der Allwissende.
- Bahá’u’lláh
- (Um 1890: „Brief an den Sohn des Wolfes“, S. 137 ff.)
- —————
Europäische Sommerschulen - im Bild[Bearbeiten]
- Im vorderen Teil dieses Heftes berichten wir über verschiedene Sommerschulen, die im Laufe der vergangenen Monate veranstaltet worden waren. Unser Bildbericht auf diesen beiden Seiten vermittelt einen kleinen Ausschnitt davon. Oben links ein Blick in den Konferenzsaal der Heimvolkshochschule Hustedt. Am Rednerpult erkennt man Dr. Eugen Schmidt. — Daneben, rechts, haben sich die Teilnehmer an der europäischen Jugend-Sommerschule in Berlin für die Fotografen gruppiert. — Unten links eine Szene aus der Kinder-Sommerschule in Immenstaad am Bodensee, wo Gerhard Bender eben mit den Kleinen über die Bahá’i-Religion spricht. — Das Bild unten rechts entstand bei der Sommerschule in Harlech, Wales, und zeigt die Teilnehmer vor einer typischen alt-englischen Kulisse.
Weltsprache - Weg zur Verständigung[Bearbeiten]
Alle Weltprobleme sind Probleme der Verständigung. Damit sich die Menschen verstehen, bedarf es nicht nur der gemeinsamen Orientierung an gemeinsamen Idealen, die auf desto höhere Wahrheiten als Bezugsgrößen ausgerichtet sein müssen, je weiter die bisherigen Anschauungen und Interessen auseinanderliegen. Es bedarf des guten Willens, denn nur wo ein Wille ist, ist ein Weg. Und es bedarf schließlich der Werkzeuge für die Verständigung, zuerst und vornehmlich einer gemeinsamen Sprache.
Um ihren Hochmut zu bestrafen, verwirrte der Herr der Geschichte nach dem Bericht des Alten Testaments die Zungen der Mesopotamier, die zu Babel einen himmelragenden Turm bauen wollten und zuvor, wie „alle Welt, einerlei Zunge und Sprache“ hatten (1. Mose 11,1). So sehr die Menschheit in den viertausend Jahren seither vorangeschritten ist — an ihrem Hochmut und an ihrer Sprachverwirrung hat sich nicht viel geändert. Jeder Aufrichtige sollte sich fragen, ob beides nicht ursächlich zusammenhängt. Das gilt zumindest insoweit, als sich die wenigsten der Tragweite des Problems auch nur im entferntesten bewußt werden: Man kommt zwar hierzulande jede Woche mehrere Male an Baustellen vorbei, auf denen sich irgendein Polier mithilfe von Armen, Beinen und Grimassen einem Gastarbeiter begreiflich zu machen sucht; man gehört vielleicht selbst zu den Leidtragenden solcher Verständigungsschwierigkeiten. Man setzt sich darüber hinweg, daß in jedem Land der Erde täglich Tausende von Schriftstücken von einer Sprache in die andere übersetzt werden müssen: Bald wird man Elektronengehirne haben, die das leidlich gut bewerkstelligen, wenn man nur aufs Knöpfchen drückt. Man hat sich damit abgefunden, auf internationalen Konferenzen, nachdem man sich hinsichtlich der zuzulassenden Verhandlungssprachen zusammengerauft hat, mittels eines Kopfhörers den mehr oder minder exakten Texten eines Übersetzers zu lauschen: Wer selbst schon simultan gedolmetscht hat, weiß, daß dies die bestbezahlte Sklavenarbeit ist. Man nimmt es hin, als bildungs- und verständigungsbeflissener Mensch zwei oder drei der international gebräuchlich gewordenen Nationalsprachen lernen zu müssen, um sich mit den gleichfalls bildungs- und verständigungsbeflissenen Menschen anderer Weltteile halbwegs austauschen zu können. Und doch ist diese Verständigungsmöglichkeit begrifflich begrenzt und auf einen engen Kreis von Gebildeten beschränkt, der — global gesehen — wenige Prozente der Menschheit umfaßt.
Der Widersinn und die — ideelle wie materielle — Verschwendung, die in
alledem liegt, lassen sich nicht drastischer darstellen,
als es Bahá’u’lláh in Seinem Gespräch mit Kamál Páshá, einem
türkischen Minister, tut. Wir alle
[Seite 553]
sind mangels besserer eigener und obrigkeitlicher Einsicht dazu
verurteilt, wertvolle Zeit unseres Lebens „zu vergeuden“, die wir,
allen Protesten von Philologen zum Trotze, besser auf die Lösung
von Sachfragen verwenden würden.
Gewiß sind Sprachschwierigkeiten weder das einzige noch das schlimmste, was Menschen trennt. Es gibt Nationen, die zwei, drei oder noch mehr verschiedene Amtssprachen gleichberechtigt nebeneinander dulden können und in denen die einzelnen Gruppen dennoch friedlich miteinander auskommen, zumal wenn sie durch hohe Bergketten räumlich genügend voneinander getrennt sind. Aber die Gegenbeispiele überwiegen; man denke nur an Belgien, den Schweizer Jura oder Malaysia.
Es ist bedauerlich, wie wenig sich Menschen und Organisationen, die ihre Aufgabe in der Festigung des Weltfriedens und in der Völkerverständigung sehen, die Bedeutung der Sprachfrage vor Augen führen. Sicher haben die Vereinten Nationen weit drängendere Probleme vor sich; aber es ist doch symptomatisch, daß man sich in der Weltorganisation damit abgefunden zu haben scheint, nebeneinander fünf offizielle Sprachen (Englisch, Französisch, Spanisch, Russisch und Chinesisch) zu verwenden. Kaum ein Mensch wird je von sich sagen können, daß er alle diese fünf Sprachen beherrsche. Selbst wenn man so verbreitete andere Verkehrssprachen wie Schwedisch, Deutsch, Portugiesisch, Italienisch, Suaheli, Türkisch, Arabisch, Persisch, Urdu, Hindu und Malaiisch außer Betracht ließe und sich vorstellte, die UNESCO als Welterziehungsorganisation käme zu dem Beschluß, in jeder Mittel- und Oberschule der Welt müßten eine oder zwei der offiziellen Sprachen gelehrt werden, wäre man der Lösung des Problems nicht viel näher. Wer kann sich mit einem Mongolen unterhalten, der nur Russisch und Chinesisch spricht, wenn er selbst Englisch, Französisch und Spanisch beherrscht? Und der die Mehrheit der Bevölkerung umfassende Kreis der Volksschüler bliebe so unberührt wie die Analphabeten.
Unter den Auspizien des Völkerbundes war um 1920 in New York eine Welthilfssprach-Vereinigung (International Auxiliary Language Association) gegründet worden, der namhafte Philologen angehörten und die sich im Auftrag der damaligen Weltorganisation um eine diskussionsreife Grundlage für die Entscheidung der Sprachfrage mühte, Um 1950 war sie immerhin so weit gekommen, daß sie empfehlen konnte, eine künstliche Sprache auf der Grundlage der romanischen Sprachwurzel zu schaffen. Heute ist sie nicht einmal mehr der New Yorker Post bekannt.
Es gibt derzeit über 200 Vorschläge für eine künstliche Weltsprache;
sie reichen von privaten Spielereien bis zu weltweit verbreiteten
Verkehrssprachen wie das Esperanto, dessen Anhänger
mitunter — so gut wie gewisse Angelsachsen oder Franzosen — in
den Verdacht geraten, da ein fait accompli schaffen zu wollen,
wo nur eine autorisierte übernationale Behörde Ordnung und Einheit
bewirken kann. Wenn man sich zu dem Glauben durchgerungen hat, die
Sache würde eines Tages auf Weltebene zur
[Seite 554]
Entscheidung geführt, möchte man ungeduldig werden, wenn man
sieht, wie wenig eine solche Entscheidung von kompetenter Seite
vorbereitet wird.
Der in den Schriften Bahá’u’lláhs niedergelegte göttliche Befehl, durch internationale Übereinkunft „eine unter den verschiedenen Sprachen sowie eine der bestehenden Schriftarten auszuwählen oder aber eine neue Sprache und eine neue Schrift zu schaffen“, hätte kaum ein edleres und erhebenderes Echo finden können als in dem Leben und Wirken des polnisch-jüdischen Arztes Dr. Ludwig Zamenhof. Der geistige und völkische Hintergrund seiner Heimat, der zündende Gedanke, der seiner sprachlichen Begabung die Aufgabe setzte, ein internationales Verständigungsmittel zu schaffen, die Genialität, mit der er dabei vorging und die schwierigsten Probleme meisterte, die Selbstlosigkeit und Bescheidenheit, mit der er sein Lebenswerk der ganzen Menschheit schenkte, und die „interna ideo“ einer allumfassenden Brüderlichkeit, die ihn dabei unablässig bewegte — das alles ist so ermutigend und beispielhaft, daß es eigentlich schon längst zum festen Lesestoff unserer Schulen gehören sollte. Und das tragische Schicksal, das seiner Familie widerfahren ist, sollte gerade uns Deutschen zu denken geben.
- Peter Mühlschlegel
Zamenhof - der Schöpfer des Esperanto[Bearbeiten]
Sein Leben und sein Lebenswerk
- „Noch ist es Tag,
- da rühre sich der Mann:
- bald wird es Nacht,
- da niemand wirken kann.“
- Goethe
Eine Welt, in der Menschen verschiedensprachiger Volksstämme und verschiedener Religionen eng beieinander leben mußten, sich gegenseitig nicht verstanden, einander mißachteten, angriffen, beleidigten, verleumdeten und sogar vor blutigen Angriffen nicht zurückschreckten — so sah es in der Mitte des vorigen Jahrhunderts in vielen Städtchen Polens aus, die von der zaristischen Regierung den Juden als Wohnort angewiesen waren. Hier siedelten sich auch diejenigen Juden an, die aus verschiedenen Ländern abgeschoben wurden und auch ihre Dialekte beibehielten. Man konnte unzweideutig feststellen, ob sie aus Zentralrußland oder aus Württemberg kamen.
In der kleinen Stadt Bjalostok, Gouvernement Grodno, im Grenzgebiet
zwischen Polen, Litauen und Weißrußland, wohnten Russen (bedingt durch
die Russifizierung der Bevölkerung nach der Aufteilung Polens), Polen,
Litauer, Deutsche und Juden. Abgesehen von der Zugehörigkeit zu vier
verschiedenen Religionen, sprach jeder Volksstamm seine eigene Sprache
[Seite 555]
und vermied jeden Kontakt zu den anderen. Hinzu kamen noch
der Standesdünkel, das Verbot von polnischen und litauischen
Schulen, zuweilen sogar das Verbot des Gebrauchs der polnischen
und litauischen Sprache. Alle diese Tatsachen verbitterten das Leben
und führten zu Zwistigkeiten. Ludwig Lazarus Zamenhof wurde am
15. 12. 1859 in Bjalostok geboren. Sein Vater, Markus Zamenhof, sowie
sein Großvater, Fabian, waren Sprachlehrer. Markus, geboren am
27. 1. 1837, gründete mit 20 Jahren eine Privatschule in Bjalostok
und heiratete nach weiteren zwei Jahren die schöne Kaufmannstochter
Rosalie Sofer, geboren 1839. Die Eltern Zamenhofs waren
von Grund auf verschiedene Charaktere: er — reiner Intellekt, nüchterner
Vernunftsmensch, rechtschaffen und arbeitsam, sie — die verkörperte
Liebe, barmherzig, mild und mitfühlend, nachsichtig und ausgleichend.
Während Rosalia ihre innere Kraft aus dem Glauben ihrer Väter schöpfte,
war Markus Freidenker und sah die Grundlage seines Glaubens in der
gewissenhaften Erfüllung seiner Pflichten. Trotz dieser Verschiedenheit
führte das Ehepaar ein harmonisches, ja glückliches Leben.
- Zamenhof: Leben für die Sprache
Nach der Geburt Ludwigs kamen in kurzen Abständen drei Töchter
zur Welt: Sara 1860, Fanja 1862, Augusta 1864. Dann folgten 1868 Felix,
1871 Heinrich, 1875 Leo, 1877 Alexander und 1879 Ida. Zu Hause herrschte
die strenge Hand des Vaters. Wer etwas ausgefressen hatte, wurde im
Arbeitszimmer des Vaters bestraft. Wenn ein Kind danach aus diesem
Zimmer herauskam, empfing es die Mutter, deren wortloser Kuß mehr
wirkte als die Züchtigung des Vaters. Dem von der Mittagsmahlzeit
ausgeschlossenen Kind wurde heimlich durch eine Bedienstete das Essen
ins Nebenzimmer gebracht mit der Warnung: „Aber zum letzten Mal...“
Ludwig als Ältester sollte stets mit gutem Beispiel vorangehen, und bald fühlte er sich dazu verpflichtet. So unterblieb bei ihm jegliche Strafe, jedoch achtete der Vater streng auf Einhaltung seiner Autorität.
Schon mit fünf Jahren konnte Ludwig lesen und schreiben, mit zehn
Jahren wurde er ins Realgymnasium aufgenommen. Bald danach erkrankte er,
durfte drei Monate nicht zur Schule gehen und schrieb in
dieser Zeit eine Komödie in fünf Akten. Zamenhof galt stets als Bester
in seiner Klasse, aber Strebertum lag ihm fern. Er war ideenreich,
hilfsbereit und freundlich. Trotz seiner Beliebtheit blieb ihm
nicht verborgen,
[Seite 556]
wie die jüdischen Kinder verspottet und oft beleidigt wurden. Er war
auch Zeuge von Greueltaten, denen Polen und Juden auf der Straße seitens
der russischen Polizei ausgesetzt waren. Dies alles beeindruckte das
Gemüt des Knaben stark, und schon damals wuchs in ihm der Gedanke,
Wege zur Versöhnung der Bevölkerung zu finden. „Wenn ich erst groß
bin ...“, dachte er.
Die Freude der Eltern Zamenhof an ihren Kindern war von der Sorge um den Unterhalt der Familie überschattet. Als Lehrer für Geographie und moderne Sprachen am Realgymnasium in Bjalostok war sich der Vater bewußt, daß ein Jude im damaligen Rußland nur dann eine relative Bewegungsfreiheit erlangen konnte, wenn er Medizin oder Jura studiert hatte, Deshalb zog er 1873 mit der Familie nach Warschau, wo er Lehrer der deutschen Sprache an einer Realschule und am Veterinär-Institut wurde und später eine zusätzliche Arbeit als staatlicher Zensor übernahm. Nur so war es ihm möglich, den Kindern die beste Ausbildung zu geben. Vier Söhne wurden Fachärzte, der fünfte Apotheker. Die älteste Tochter starb im Alter von zehn Jahren, die drei anderen heirateten. Die Sorge um die Familie verzehrte frühzeitig die Kräfte der Mutter; sie wurde nur 52 Jahre alt und starb 1892.
Die ersten Versuche
In Warschau besuchte Ludwig das Gymnasium, wo er außer Russisch, Deutsch und Französisch zusätzlich noch Englisch, Latein und Griechisch lernte. Im Familienkreis sprach man Polnisch. Hebräisch lernte er vom Vater. Ein ausgesprochenes Sprachtalent ermöglichte es dem Knaben, Kenntnisse zu erwerben, die ihm später von großem Nutzen sein sollten.
Haß und Unverträglichkeit schienen Ludwig mehr auf Mißverständnissen denn auf angeborenen Neigungen zu beruhen, und so reifte in ihm der Gedanke, eine allen Menschen verständliche Sprache zu erfinden. Zuerst versuchte er es mit einem vereinfachten Latein und Griechisch, doch die einfachere Struktur der englischen Deklination und Konjugation zeigte ihm einen neuen Weg. Störend wirkte die Verschiedenheit der Aussprache und Schreibweise sowie die Vieldeutigkeit einzelner Wörter. Er begriff sehr schnell, daß keine der Nationalsprachen allen Völkern gerecht würde. Das könnte nur eine neutrale Sprache, die logisch, eindeutig und leicht erlernbar wäre. Eine weitere wichtige Forderung kam hinzu: Die neue Sprache mußte entwicklungsfähig sein, denn nur dann konnte sie den Anspruch erheben „zu leben“. Als Schriftzeichen kam nur die lateinische Schrift in Frage, wobei die Wörter lautgetreu zu schreiben waren. Die Wortstämme entnahm Zamenhof dem europäischen Wortschatz und stellte fest, daß man mit Hilfe von eindeutigen Vor- und Nachsilben eine Vielzahl neuer Wörter bilden kann.
In der 8. Klasse, sechs Monate vor dem Abitur, war der erste Versuch
seiner neuen Sprache soweit gediehen, daß er sie mit einigen Kameraden
im Hause seiner Eltern am 17.12.1878 feiern konnte. Im Juni 1879 verließ
der 19jährige Ludwig das Gymnasium mit Auszeichnung (Silberne Medaille),
um in Moskau sein Medizinstudium zu beginnen. Beeinflußt von
Bekannten, die den Abiturienten wegen seiner neu erfundenen Sprache
[Seite 557]
für wahnsinnig erklärten, nahm Vater Markus dem Sohn das Versprechen
ab, die weitere Beschäftigung mit dieser Sprache aufzugeben. Die
Manuskripte verschloß er bei sich.
Im August 1879 reiste Ludwig nach Moskau, mietete ein billiges Zimmer und begann sein Studium. Seine Geldmittel (monatlich 19 Rubel = 40 Mark) waren zu gering für die Kolleggelder und den Unterhalt. Damals lebten in Moskau 8000 Juden, die eine eigene Zeitung, „Der Russische Jude“, herausgaben. Zamenhof gelang es, einige Artikel hier unterzubringen. Nach Hause schrieb er fröhliche Briefe, um die Eltern nicht zu beunruhigen, auch wenn er oft hungern mußte. Es war eine Zeit, in der russische Studenten oft gegen die bestehende (Un-) Ordnung an der Universität revoltierten. Unterbrechungen im Studium waren die Folge. Zwei Jahre verbrachte Zamenhof in Moskau. Dann konnten die Eltern nichts mehr schicken; Ludwig studierte in Warschau weiter.
Heimgekehrt, fragte er seine Mutter nach dem Verbleib seiner Esperanto-Manuskripte. Weinend strich sie wortlos über sein Haar: Der Vater hatte die Manuskripte verbrannt. Ein harter Schlag, eine arge Enttäuschung für Ludwig. Er überwand sie mit seinem starken Willen. Alles, was er zwei Jahre zuvor niederschrieb, hatte er im Gedächtnis behalten; er rekonstruierte es und begann von neuem, neben seinem Studium an der Verwirklichung seiner Sprache zu arbeiten, diesmal allerdings in voller Verschwiegenheit. Vieles mußte geändert, Neues hinzugefügt werden, ehe er seine Anforderungen an eine annehmbare Weltsprache als erfüllt betrachten konnte.
Noch andere Probleme traten während der Studentenjahre an Zamenhof heran. Es war eine Zeit, in der fortschrittliche humanistische Ideen auch nach Rußland drangen und von der Studentenschaft lebhaft aufgegriffen wurden. In meist heimlichen Versammlungen wurde über verschiedenste Themen diskutiert. Dieses führte zu Mißtrauen im Innenministerium und hatte Repressalien zur Folge. Besonders hatte man es auf die Juden abgesehen, und 1882 erschienen die berüchtigten „Mai-Gesetze“ (Ignatjev), die die Rechte der Juden stark einschränkten. Es kam soweit, daß jüdische Studenten den Plan faßten, nach den Vereinigten Staaten auszuwandern, um dort das „verheißene Land“ zu gründen. Zamenhof, mit seiner Idee des friedlichen Aufbaues der menschlichen Gesellschaft, war einer der Pioniere dieser Bewegung und Mitbegründer des „Chibat Cion“ im Juni 1882 in Warschau 1).
Immer, wenn es galt, Menschen in Not zu helfen, war Zamenhof dabei.
Heute mag es einem unglaublich erscheinen, daß sich ein Student neben
seinem Medizinstudium aktiv an der Lösung sozialer Probleme beteiligen
und danebenher noch eine Weltsprache erfinden konnte. Als Kind seines
Jahrhunderts, aufgewachsen in einem Land der Willkür und der
Unterdrückung, war Zamenhof ein Positivist und Optimist — zum Segen der
Menschheit, denn heute könnte wohl kein Mensch mehr ein solches Werk
schaffen. Dazu bedarf es einer gewissen kulturellen Konstellation, die
schwerlich mehr anzutreffen sein dürfte.
[Seite 558]
Im Januar 1885 beendete Zamenhof sein Medizinstudium und begann eine Praxis in dem einsamen Städtchen Veiseijaj, 160 km nördlich von Bjalostok, wo seine Schwester Fanja mit ihrem Mann lebte. Sein einziger Rivale war ein derber Kurpfuscher, der alle Mittel einsetzte, um die Bewohner vor dem Arzt zu warnen. Ein ernster Fall, bei dem Dr. Zamenhof einem kleinen Mädchen das Leben rettete, machte ihn berühmt in der ganzen Umgebung. Veiseijaj mit seinen Seen und reichen Wäldern war zugleich eine Erholung für den von Kräften gekommenen jungen Arzt. Die schlimmsten Leiden seiner Patienten gingen ihm aber so zu Herzen, daß er sich entschloß, Augenarzt zu werden.
Im Mai 1885 kehrte Dr. Zamenhof nach Warschau zurück und studierte Ophtalmologie am jüdischen Hospital unter Sygmunt Kramsztyk, einem berühmten Augenarzt. Diese Studien setzte er in Wien fort. Seine neue Tätigkeit begann er in Warschau; nebenher arbeitete er aber immer wieder an seiner neuen Sprache, der er seine Nachtstunden opferte.
Bereits 1884 erfuhr Zamenhof vom Bestehen der Sprache Volapük, die von dem katholischen Pfarrer Martin Schleier in Litzelstetten bei Konstanz erfunden wurde. Zamenhof war bereit, sein eigenes Projekt aufzugeben, stellte jedoch fest, daß der Vorschlag Schleiers, der übrigens Kenntnisse in 50 Sprachen hatte, wegen seiner komplizierten Sprachlehre große Schwierigkeiten bereite. Um so eifriger setzte er seine begonnene Arbeit fort, und Anfang 1887 lag sein Manuskript fertig vor.
Am Anfang stand ein Deckname
Bei einer Zusammenkunft der „Chibat Cion“ lernte Zamenhof die 23jährige Klara Silbernik kennen. Sie stammte aus Kowno und war zum Besuch bei ihrer Schwester in Warschau. Intelligent, geistreich und anmutig, begeisterte sie sich gern für neue Ideale und lauschte den Plänen Zamenhofs voll Anteilnahme. Sie gewannen einander lieb, und als Klaras Vater ihre Absicht zu heiraten erfuhr, sagte er: „Dein Ludwig ist ein Genie, und du übernimmst eine heilige Pflicht“.
Alexander Silbernik hatte eine kleine Seifenfabrik, in der er selber arbeitete. Sein Reichtum bestand aus 9 Kindern und einem kleinen Vermögen. Als er hörte, daß Zamenhof für die Herausgabe seines 40 Seiten starken Büchleins „Lingvo Internacia“ Geld benötigte, stellte er es noch vor der Hochzeit seiner Tochter zur Verfügung. „Geld hat nur dann einen Wert, wenn es dem Wohl der Menschheit dient“, sagte er.
Nach der Verlobung 1887 begann Zamenhof nach einem Verleger zu suchen. Die Erlaubnis zum Druck und zum Versand hatte er nach strenger Zensur erhalten. Groß war die Freude, als die Druckerei die ersten Exemplare lieferte. Das Büchlein erschien in russischer Sprache, es enthielt ein Vorwort, die vollständige Sprachlehre mit Satzbildung und ein Wörterverzeichnis. Für sein Büchlein wählte Zamenhof den Decknamen „Dr. Esperanto“ (der Hoffende). Seine Anhänger übernahmen dann dieses Wort für die Sprache selbst.
Am 9.8.1887 heiratete Zamenhof, und das junge Paar begann sogleich
mit dem Versand der Büchlein. Das Jahr darauf erschienen die erste
[Seite 559]
- Ganz bei der Sache ist diese Esperanto-Klasse in Onstmettingen.
Übersetzung in Deutsch von Zamenhof selbst und weitere Übersetzungen in
Englisch und Französisch. Bezeichnend für Zamenhof ist sein Brief an
Leopold Einstein, Nürnberg, der bis dahin einen Volapük-Sprachenzirkel
leitete, sich aber nun auf Esperanto umstellte. Auf Einsteins Anfrage, wer
er sei, antwortete er, in diesem Fall stehe die Sprache im Vordergrund
und nicht seine Person. In seiner Bescheidenheit hatte er nie ein
Geltungsbedürfnis und nannte sich selbst nur den Initiator der Sprache,
deren Weiterentwicklung er seinen Anhängern überließ, ohne sie
bevormunden zu wollen.
Am 11.6.1888 wurde sein Sohn Adam geboren, der später gleichfalls
Augenarzt wurde. Zamenhof begann nun mit der Aufstellung von Adressen
der Esperantisten, deren Zahl auf 1000 anwuchs, die meisten in Rußland.
Der Herbst 1888 sollte für Zamenhof besonders schwer werden. Sein
Vater Markus wurde beschuldigt, als Zensor die Veröffentlichung eines
den Zaren beleidigenden Zeitungsberichts erlaubt zu haben. Dies hatte die
sofortige Entlassung aus dem Staatsdienst, also auch als Lehrer, zur
Folge. Auch drohten ihm eine hohe Geldstrafe und die Verschickung nach
Sibirien. Die angebliche Beleidigung des Zaren bestand aus einer
wissenschaftlichen Abhandlung über Gesundheitsschäden beim Mißbrauch von
Alkohol. Urheber dieser Anschuldigung war der oberste Zensor in
St. Petersburg, Susman, ein Säufer und Feind von Markus Zamenhof. Den
Oberzensor konnte man nur mit einer größeren Geldsumme beschwichtigen,
die Ludwig Zamenhof seinem Vater zur Verfügung stellte, Markus
konnte seine Lehrerstelle behalten, aber die Hälfte der von Klara
mitgebrachten Mitgift war dahin, Die Armenpraxis Ludwigs brachte wenig
[Seite 560]
ein, die Familie mußte bescheiden leben. Zamenhof arbeitete an
Übersetzungen und führte umfangreichen Briefwechsel. Er erachtete es an der
Zeit, auch eine Zeitschrift ins Leben zu rufen. Diese konnte aber wegen
der Zensur nicht in Rußland gedruckt werden, und Zamenhof mußte sich
damit begnügen, daß der Vertrieb einer Esperanto-Zeitschrift in Rußland
überhaupt erlaubt wurde. Glücklicherweise erbot sich Chr. Schmidt, der
Vorsitzende des Esperantoklubs in Nürnberg, die Zeitschrift unter der
Redaktion von Zamenhof herauszugeben. Am 1.9.1889 erschien „La Esperantisto“
in Deutsch, Französisch und Esperanto.
So groß auch die Freude der 1000 Esperantisten war, so wenig ahnten sie von den finanziellen Sorgen Dr. Zamenhofs und von der enormen Arbeit, die er für die Verbreitung des Esperanto leistete. Im November 1888 fuhr er nach Cherson am Schwarzen Meer, wo er bessere Verdienstmöglichkeiten erhoffte, während Klara mit ihrem Söhnchen Adam zu ihren Eltern nach Kowno reiste und dort die erste Tochter Sofia zur Welt brachte. Die Hoffnung auf eine angemessene Praxis in Cherson schlug fehl, da dort bereits ein anderer Augenarzt lebte. Zamenhof führte ein Hungerleben, ohne daß er seiner Frau und seinen Schwiegereltern zunächst etwas verlauten ließ. Nach einiger Zeit mußte er ihnen jedoch die Wahrheit sagen, worauf sein Schwiegervater ihm den Rat gab, nach Warschau zurückzukehren.
Von 1891 bis 1892 lebte Zamenhof in Warschau. Am Tage kamen Patienten, bis spät in die Nacht saß er an seinem Schreibtisch und widmete sich Esperanto. Ein harter Schlag war für ihn der Tod seiner Mutter 1892. Im Oktober 1893 zog Zamenhof mit seiner Familie nach Grodno, wo er fünf Jahre lebte. Während der ersten Zeit genügte sein Einkommen, um die Familie zu ernähren und alle Nebenkosten zu decken. Die Lage verschlimmerte sich wieder, als sich ein zweiter Augenarzt in Grodno niederließ.
Inzwischen brachte Zamenhof das erste Deutsch-Esperanto-Wörterbuch
heraus, 33 Lehrbücher erschienen in 12 Sprachen. Nach zweijährigem
Bestehen der Zeitschrift „La Esperantisto“ wäre sie nicht mehr erschienen,
hätte sich nicht W.H. Trompeter, Vermessungsbeamter in Schalke, Westfalen,
bereit erklärt, die fehlenden Mittel aufzubringen; er tat es bis 1894.
Im Mai 1895 erschien die letzte auf 16 Seiten angewachsene Nummer dieser
Zeitschrift, die von der russischen Zensur wegen eines Artikels von Leo
Tolstoi „Vernunft oder Glaube“ verboten wurde. Glücklicherweise kam
der Esperantoklub Upsala, Schweden, zu Hilfe, schloß die Lücke und
gründete noch im selben Jahr die Zeitschrift „Lingvo Internacia“. Sie
erschien bis 1900 in Schweden, dann bis 1902 in Ungarn und weiter bis 1914
in Paris. Die Esperanto-Zeitschriften wurden zu einem festen Bindeglied
zwischen den Esperantisten, die sich hier über Sprachenprobleme
auseinandersetzen konnten und Informationen von Zamenhof und anderen
Sprachwissenschaftlern erhielten. Zamenhof war keineswegs ein Diktator;
er ließ jeden zu Wort kommen und äußerte nur seine Meinung, die durch
sein enormes Wissen und sein Einfühlungsvermögen in die Sprache oft den
rechten Weg wies. Schon 1893, anläßlich der Gründung der „Esperanto-Liga“,
erklärte Zamenhof, seine Mission als Begründer der Sprache sei zu Ende;
er wolle in Zukunft nur als Berater angesehen werden und überlasse
[Seite 561]
alle Entscheidungen einem gewählten Gremium von Sachverständigen.
Zu Anfang des 20. Jahrhunderts begannen die Esperantisten in allen
europäischen und überseeischen Ländern, ihre Klubs zu bilden. In dieser
Zeit hatte sich auch die materielle Lage Zamenhofs gebessert. Er konnte
sich nun mehr der literarischen Tätigkeit widmen. Er übersetzte Werke
der Weltliteratur, „Hamlet“, „Die Räuber“, „Iphigenie“ und anderes.
„Das Alte Testament“ war sein letztes Werk. Prosa und Poesie (Original
und Übersetzung) sind in zwei umfangreichen Bänden zusammengefaßt.
Das Jahr 1904 begann für Zamenhof mit einer großen Freude: am 29.1. wurde Lydja, seine zweite und wohl liebste Tochter geboren. In England und Frankreich entwickelten Esperantisten mit fachlichem Können eine lebhafte Tätigkeit, doch gleichzeitig gab es bei den temperamentvollen Franzosen viel Disharmonie, die auch die zahlreichen Beschwichtigungsbriefe Zamenhofs kaum zu glätten vermochten. Trotzdem gelang es, am 7. August 1904 eine internationale Esperanto-Versammlung in Calais mit 180 Teilnehmern zu veranstalten. Franzosen, Briten und je ein Vertreter aus Belgien, Deutschland und der Tschechei machten den ersten Versuch, sich in Esperanto zu verständigen. Daraufhin lud Alfred Michaux, Rechtsanwalt, den ersten Esperanto-Weltkongreß für das nächste Jahr ein. Unterstützt von General Sebert und den Professoren Theophile Cart und Charles Bourlet fand der Kongreß am 5. August 1905 in Boulogne-sur-mer statt. Vor 688 Anwesenden aus 20 Ländern hielt Dr. L. Zamenhof seine erste Kongreßrede, die aus tiefster, innerster Seelenbewegung jeden Anwesenden und die ganze Menschheit überzeugend ansprach. Es waren Worte, die bis dahin noch nie in einem parlamentarischen oder geistlichen Gremium zu hören waren und uneingeschränkte Zustimmung abverlangten. Mit seinem in Gedichtform verfaßten Gebet „La Prego“ schloß Zamenhof die Ansprache. Paris ehrte ihn mit dem Orden „Pour le mérite“.
Der Weg für Esperanto in die Zukunft war nun frei. Dieser Kongreß wie auch die vielen Ehrenbezeugungen, die dem Schöpfer des Esperanto in Frankreich zuteil wurden, bestätigten Zamenhof, daß er nicht vergeblich sein Leben für die Erschaffung dieser Sprache eingesetzt hatte. Für Zamenhof war Esperanto nicht nur eine Verkehrssprache, er hatte sie belebt mit einer ethischen „Inneren Idee“, die aus Not und Elend geboren war und ihren Ursprung in ihm selbst fand.
An dem ersten Weltkongreß beteiligte sich auch ein 16jähriger Gymnasiast
aus Genf, Edmond Privat, der durch seine fließende, perfekte Rede
allgemeines Aufsehen erregte. Er trat an General Sebert heran und bat
ihn und Dr. Zamenhof um die Erlaubnis, den zweiten Kongreß im nächsten
Jahr in Genf zu veranstalten. Mit einem Lächeln der beiden erhielt
Edmond die Zustimmung, ohne zu ahnen, daß er einst, nach dem Tode
Zamenhofs, dessen Nachfolger werden sollte. Er war es auch, der im
reiferen Alter Dr. Zamenhof am nächsten stand, ihn kurz vor seinem Tode
in Warschau besuchte und dann das in mehreren Sprachen erschienene
Buch „Vivo de Zamenhof“ schrieb.
[Seite 562]
So unglaublich es klingen mag, es gelang Edmond Privat und seinem Schulkameraden Hektor Hodler, den zweiten Kongreß in Genf zu arrangieren. In Anwesenheit von 1200 Personen präzisierte Zamenhof am 28.8.1906 den Begriff der „Inneren Idee“, die auf gegenseitiger Hilfsbereitschaft, Gerechtigkeit und Toleranz beruhe, ungeachtet der Zugehörigkeit zu einer Nation, Rasse oder Religion.
Es ist unmöglich, im Rahmen dieser Abhandlung auf Einzelheiten, die sich bei den alljährlichen Weltkongressen abspielten, einzugehen, und so sollen nur die markantesten Ereignisse erwähnt werden. Der Kongreß in Cambridge 1907 mit 1300 Teilnehmern gehörte zu den grundlegendsten, weil auf ihm die Richtlinien für die weitere Arbeit festgelegt wurden. Als eifrigster Redner und Propagandist hatte Marquis Louis de Beaufront das Vertrauen Zamenhofs gewonnen und war von ihm beauftragt worden, ihn in einer internationalen Konferenz für die Wahl der geeignetsten internationalen Sprachen zu vertreten. Beaufront schlug jedoch sein eigenes Sprachenprojekt vor, ein verkrüppeltes Esperanto unter dem Namen „Ido“. Groß war die Enttäuschung für Zamenhof, groß die Verwirrung bei den Esperantisten, die aber bald die egoistischen Ziele Beaufronts, der übrigens die „Innere Idee“ ablehnte, erkannten und zum größten Teil Zamenhof treu blieben. Ido lebte noch einige Jahre fort und geriet dann in Vergessenheit.
Briefwechsel mit ’Abdu’l-Bahá
Um die Esperantisten fester zusammenzuschließen und den ethischen Wert des Esperanto hervorzuheben, wurde dank der Initiative Hektor Hodlers am 1. Mai 1908 der Esperanto-Weltbund, die Universala Esperanto-Asocio (UEA), gegründet. Ein weitverzweigtes Netz von ehrenamtlichen Konsulen (Delegierten) stand allen Esperantisten hilfsbereit zur Seite. Am 17. August folgte der 4. Weltkongreß in Dresden mit 1500 Teilnehmern.
Die pausenlose anstrengende Arbeit als Arzt und für Esperanto, verbunden mit der letzten Enttäuschung, zehrten an der Gesundheit Zamenhofs und führten zu einem schweren Herzleiden. In Begleitung seiner Frau versuchte er in verschiedenen Bädern, seine Gesundheit wiederherzustellen. Die Teilnahme an den Kongressen hielt er für seine Pflicht. Am 10.9.1909 wurde Zamenhof während des Kongresses in Barcelona vom König geehrt und mit dem Orden der Isabella ausgezeichnet. In Washington fand am 15.8.1910 der 6. Weltkongreß mit 357 Personen statt.
Seit langem hatte Zamenhof den zionistischen Gedanken aufgegeben.
Nicht nur die Sprachen, sondern auch die Konfessionen trennen die
Menschen von einander. Das Sprachenproblem war gelöst. Eine Religion ohne
trennende Dogmen und Vorurteile, aufgebaut auf ethischen Grundsätzen
schien ihm die einzige zu sein, die den Menschen eine friedvolle Zukunft
bringen könnte. In dem erwähnten Gebet „La Prego“ brachte Zamenhof
diesen Gedanken bereits zum Ausdruck und sprach davon auch während
der Kongresse. Seine Gedanken schrieb er in einer Broschüre
[Seite 563]
„Homaranismo“ nieder. Eine Bestätigung seiner inneren Einstellung
fand er im Briefwechsel mit ‘Abdu’l-Bahá.
Die Lieblingstochter Zamenhofs, Lydia, neigte zum Glauben ihres Vaters, wurde später, vermutlich in den USA, mit den Lehren Bahá’u’lláhs bekannt und übersetzte mehrere Bahá’í-Schriften und -Bücher in Esperanto.
Ende Juli 1914 fuhren Ludwig und Klara Zamenhof zum Weltkongreß nach Paris, wurden aber an der deutsch-französischen Grenze aufgehalten, weil die Kriegserklärung schon ausgesprochen war. Unter Verlust ihres Gepäcks konnten sie über Skandinavien zurückreisen. Während des Krieges war Zamenhof vom Ausland abgeschnitten. Umso mehr freute er sich, als ihn im Frühling 1915 Dr. Edmond Privat besuchte und von seinen Freunden berichtete; Privat reiste damals durch Rußland im Auftrag der Zeitung „Le Temps“. Ein Jahr später, im Dezember nach der Besetzung Warschaus durch die Deutschen, war Privat wieder dort und besuchte Zamenhof, der wegen seines schweren Herzleidens Tag und Nacht nur noch im Lehnstuhl sitzen durfte. Trotz seines körperlichen Verfalls war sein Geist rege. Er gab Privat wertvolle Hinweise für die weitere Tätigkeit der Esperantisten. Am 14. April 1917 entschlief Dr. L. L. Zamenhof, dessen Leben und ganzes Sehnen nur dem Wohl der Menschheit gegolten hatte.
Ein tragisches Schicksal war den Kindern Dr. Zamenhofs beschieden. Sie wurden das Opfer der dunklen Kräfte während der deutschen Besatzung Warschaus. Adam wurde nach kurzer Gefangenschaft am 29. 1.1940 erschossen, während Sofia und Lydia den Tod im Vernichtungslager Treblinka im August 1943 fanden. Der einzige Überlebende des bedeutenden Mannes, dessen Name in die Liste der „Wohltäter der Menschen“ aufgenommen wurde, ist sein in Warschau lebender Enkel Ludwig.
- W. von der Ley
- 1) Hierüber berichtet ausführlich M. Boulton, „Zamenhof — autoro
de Esperanto”, Verlag J. Regulo, La Laguna.
In Memoriam:[Bearbeiten]
Leroy loas
Vor wenigen Wochen ist Leroy Ioas abberufen worden aus dieser sichtbaren Welt, noch vor Vollendung des siebten Jahrzehntes eines Lebens, das ganz dem Dienste für Bahá’u’lláh und Seine Sendung geweiht war. Schon seine Eltern — die Mutter war als junges Mädchen aus Bayern nach den Vereinigten Staaten ausgewandert — sind dem Bahá’í-Glauben gewonnen worden. Viele Kinder wurden ihnen geschenkt; ein schöner Geist war in dieser Familie lebendig. 1912 hatte sie öfter das Vorrecht, ‘Abdu’l-Bahá auf Seiner Reise durch die Vereinigten Staaten begegnen zu dürfen. Später zogen Kinder und dann auch Enkel in die Ferne und wirkten für diese große, weltumspannende Sache in vielen Ländern.
Leroy Ioas hatte in Amerika schon ein Menschenalter lang für die
Verbreitung der Botschaft Bahá’u’lláhs und für den Aufbau der
administrativen Ordnung Unvergeßliches getan, als Shoghi Effendi, der
Hüter des Glaubens, ihn ins Heilige Land berief und ihn zum Generalsekretär
des neugegründeten Internationalen Bahá’í-Rates ernannte. Als solcher hat er
[Seite 564]
- Leroy Joas (Mitte) beim Gespräch im Haus der Andacht in Langenhain.
sich große Verdienste erworben bei der Errichtung des Grabmales des
Báb — eines der Tore des Oktagons trägt den Namen „Báb-i-Ioas“ — und
des Archivgebäudes, durch Verhandlungen mit den israelischen Behörden,
und durch die Belebung der Beziehungen der Gläubigen in allen
Kontinenten mit ihrem Weltzentrum in Haifa.
1951 ernannte ihn der Hüter zu einer der Hände der Sache Gottes. Und dann in jenen tragischen Zeiten, als nach dem plötzlichen Hinscheiden des Hüters 1957 die siebenundzwanzig von ihm ernannten Hände die Verantwortung für die Durchführung des Zehnjahresplanes der Bahá’í-Weltgemeinde übernahmen, hat in den fast alljährlichen Versammlungen der Hände im Weltzentrum Leroy Ioas’ klarer, erfahrener Blick und praktischer Sinn manchen glücklichen Beschluß angeregt und zustandegebracht.
Schwer nur können wir uns daran gewöhnen, daß er nicht mehr hienieden mit uns leben und dienen soll. Doch weit über den Tod hinaus wissen wir uns ihm verbunden in getreuer Freundschaft und Verehrung.
- A.M.
- —————
Die „BAHA’I-BRIEFE“ werden vierteljährlich herausgegeben vom Nationalen Geistigen
Rat der Bahá’í in Deutschland e. V., 6 Frankfurt, Westendstraße 24. Alle
namentlich gezeichneten Beiträge stellen nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers
oder der Redaktion dar.
Redaktion: Dipl.-Volksw. Peter A. Mühlschlegel, 6104 Jugenheim, Goethestraße 14, Telefon (0 6257) 863, und Dieter Schubert, 7022 Leinfelden, Fliederweg 3, Telefon (07 11) 79 35 35.
Vertrieb: Georg Schloz, Bahá’í-Haus, 7 Stuttgart-Zuffenhausen, Friesenstraße 26, Telefon (0711) 879058 oder (07 11) 87 32 48.
Druck: Buchdruckerei Karl Scharr, 7 Stuttgart-Vaihingen, Scharrstraße 13.
Preis: DM —.80 je Heft, einschließlich Versandkosten, im Abonnement DM 3.20 jährlich. Zahlungen erbeten an Bahá’í-Verlag GmbH., 6 Frankfurt, Westendstr. 24, Postscheckkonto Stuttgart 35 768, mit dem Vermerk „BAHA’I-BRIEFE“.
An der Zeitschrift bestehen keine wirtschaftlichen oder finanziellen Beteiligungen im Sinne des Hessischen Pressegesetzes, § 5 Abs. 2.