Bahai Briefe/Heft 21/Text

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BAHÁ'I-

BRIEFE


BLÄTTER FÜR

WELTRELIGION UND

WELTBEWUSSTSEIN



AUS DEM INHALT:

Der Befehl Gottes

Sendschreiben über die Welt

Der Ruf des Höchsten

Als Bahá’í-Pilger in Haifa

Wir erhalten Post


JULI 1965 HEFT 2I

D 20 155 F


[Seite 508] [Seite 509] BAHAI-BRIEFE






Haifa: Schrein des Báb. — Siehe Bericht im Innern dieses Heftes.


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Bahá’u’lláh

Sendschreiben über die Welt[Bearbeiten]

In Meinem Namen, der Verkünder im Reiche des Bayán!1)

Lob und Ruhm gebührt dem offenbaren König, Der das Größte Gefängnis mit der Gegenwart ‘Alí-Qablí-Akbars und Amins2) geschmückt und mit den Leuchten der Gewißheit, Standhaftigkeit und Sicherheit geziert hat. Die Herrlichkeit Gottes und alle Herrlichkeit im Himmel und auf Erden ruhe auf ihnen!

Licht und Herrlichkeit, Gruß und Preis sei mit den Händen Seiner Sache, durch die das Licht der Langmut leuchtete und die Erklärung der Allmacht von Gott, dem Kraftvollen, dem Mächtigen, dem Unabhängigen, bewiesen wurde, durch die das Meer der Gaben wogte und der Hauch der Gnade Gottes, des Herrn der Menschheit, wehte. Wir flehen zu Ihm — erhaben ist Er —, sie durch Seine Heerscharen zu beschützen, durch Seine Herrschaft zu behüten und ihnen beizustehen mit Seiner Macht, die alle Dinge überwindet. Alle Herrschaft ist bei Gott, dem Schöpfer des Himmels und dem König im Reiche der Namen!

Die erhabene Botschaft gebietet:

O Volk des Irán! Du bist der Tagesanbruch der Barmherzigkeit und die Morgendämmerung der Fürsorge und der Liebe. Die Horizonte des Seins sind erleuchtet und geziert mit dem Lichte deiner Erkenntnis und deiner Weisheit. Wie kommt es, daß du dich erhoben hast, dich selbst und deine Freunde mit eigenen Händen zu vernichten?

O Afnán3), o du, der du Meinem urewigen Stamm entsprossen bist! Meine Herrlichkeit und Meine Güte ruhen auf dir. Wie mächtig ist das Heiligtum der Sache Gottes! Es hat alle Menschen und Geschlechter der Erde überschattet und wird bald die ganze Menschheit unter seinem Schutz versammeln. Dein Tag des Dienstes ist nun gekommen. Zahllose Tablets legen Zeugnis ab von den Gaben, die dir gewährt wurden. Erhebe dich zum Triumph Meiner Sache, und besiege die Herzen der Menschen durch die Macht deiner Äußerung. Du mußt das verkünden, was den Frieden und das Wohlergehen der Unglücklichen und Niedergebeugten sichert. Gürte deine Lenden mit deinem Bemühen, damit du den Gefangenen von seinen Ketten befreien und ihn dazu führen kannst, wahre Freiheit zu erlangen.

Die Gerechtigkeit beklagt an diesem Tage die Schwere ihrer Lage, und die Billigkeit stöhnt unter dem Joch der Unterdrückung. Die dichten Wolken der Gewalt haben das Antlitz der Erde verdunkelt und ihre Völker umhüllt. Durch die Bewegung Unserer Feder der Herrlichkeit haben Wir [Seite 511] auf Befehl des allmächtigen Verordners neues Leben in jede menschliche Hülle gehaucht und in jedes Wort frische Kraft geflößt. Alles Erschaffene verkündet die Beweise dieser weltweiten Erneuerung. Dies ist die größte und froheste Botschaft, die der Menschheit durch die Feder dieses Unterdrückten übermittelt wurde. Warum fürchtet ihr euch daher, o Meine Geliebten? Wer könnte euch erschrecken? Ein Hauch von Feuchtigkeit genügt, um den verhärteten Lehm zu lösen, aus dem dieses verderbte Geschlecht gebildet ist. Die bloße Tat eures Beisammenseins genügt, um die Kräfte dieses eitlen und wertlosen Volkes zu zerstreuen. Streit und Hader kennzeichnen die wilden Tiere auf Erden. Mit Gottes Hilfe hat die Bábí-Gemeinde die scharfen Schwerter wieder in die Scheide gesteckt und durch gute Worte und wohlgefällige Taten ersetzt. Durch gute Worte haben die Rechtschaffenen zu allen Zeiten von den Schönheiten des Daseins Besitz genommen.

Sprich: O Freunde! Lasset nicht ab von der Weisheit! Höret auf die Ermahnungen der erhabensten Feder mit verständigen Ohren! Niemand unter allen Völkern der Welt soll von eurer Hand oder eurer Zunge Leid erfahren.

Was das Land Tá4) betrifft, so haben Wir im Buche Aqdas5) enthüllt, was allen in der Welt zur Warnung dienen möge. Die Ungerechten auf Erden haben die Rechte der Nationen an sich gerissen und verfolgen mit ihrer ganzen Macht und allen ihren Hilfskräften einzig ihre lüsternen Begierden. Der Tyrann des Landes Yá6)) tat, was die himmlischen Heerscharen blutige Tränen vergießen ließ.

O du, der du den erlesenen Wein Meiner Worte trinkst und zum Horizonte Meiner Offenbarung aufblickst! Wie kommt es, daß sich das Volk des Irán, ungeachtet seiner einstigen Überlegenheit in Künsten und Wissenschaften, nun als das niedrigste aller Völker der Welt erweist? O Volk! Beraube dich nicht der Gnadenfülle des Gnadenreichen an diesem herrlichen, gesegneten Tage. Die Schauer der Weisheit und des Wortes regnen aus den Wolken der Barmherzigkeit des Allbarmherzigen. Selig ist, wer in dieser Hinsicht Gerechtigkeit walten läßt, und wehe denen, die Unrecht tun!

Bereitwillig wird an diesem Tag jeder einsichtige Mensch zugeben, daß der Plan, den die Feder dieses Unterdrückten geoffenbart hat, die höchste belebende Kraft für den Fortschritt der Welt und die Erhöhung ihrer Völker darstellt. Erhebet euch, o Menschen, und entschließt euch durch die Macht der göttlichen Kraft, den Sieg über euer Selbst zu erringen, damit die ganze Menschheit aus ihrer Hörigkeit gegenüber den Götzen ihrer eitlen Einbildung erlöst werde — Götzen, die ihren erbärmlichen Anbetern großen Schaden zugefügt haben und für ihr Elend verantwortlich sind. Diese Trugbilder sind das Hindernis, das den Menschen in seinem Bemühen hemmt, auf dem Pfade der Vervollkommnung vorwärtszuschreiten. Wir hoffen, daß die Hand göttlicher Macht der Menschheit ihre Hilfe leihen und sie aus ihrem Zustand schmerzlicher Erniedrigung befreien möge. [Seite 512]

In einem der Tablets sind diese Worte geoffenbart worden: „O Volk Gottes! Beschäftige dich nicht mit deinen eigenen Angelegenheiten. Lenke deine Gedanken vielmehr auf das, was das Glück der Menschheit wiederherstellt und die Herzen und Seelen der Menschen heiligt.“ Das kann am besten durch reine und heilige Taten, durch ein Leben der Tugend und durch gutes Betragen vollbracht werden. Mutiges Handeln wird den Sieg dieser Sache sichern und eine fromme Wesenshaltung ihre Kraft verstärken. Folge der Rechtlichkeit, o Volk Bahás! Dies ist das Gebot, das euch dieser Unterdrückte gegeben hat, und die erlesene Wahl Seines unumschränkten Willens für jeden von euch.

O Freunde! Es geziemt euch, eure Seelen zu erfrischen und zu beleben durch die gnädigen Gunstbeweise, die in dieser göttlichen und herzbewegenden Frühlingszeit über euch ausgegossen werden. Die Sonne Seiner hohen Herrlichkeit hat ihren Glanz über euch ergossen, und die Wolken Seiner grenzenlosen Gnade haben euch überschattet. Wie groß ist der Lohn dessen, der sich nicht einer so großen Wohltat beraubt noch versäumt hat, die Schönheit seines Meistgeliebten in diesem, Seinem neuen Gewande, zu erkennen. Wacht über euch, denn der Böse7) liegt auf der Lauer, bereit, euch zu überlisten. Rüstet euch gegen seine verruchten Anschläge und, geführt vom Lichte des Namens des allsehenden Gottes, entflieht der Dunkelheit, die euch umgibt. Laßt euren Blick weltumfassend sein, anstatt ihn auf euer Selbst zu beschränken. Der Böse ist es, der den Aufstieg hemmt und den geistigen Fortschritt der Menschenkinder aufhält.

Es geziemt an diesem Tage jedem Menschen, sich an das zu halten, was das Wohl aller Nationen und gerechten Regierungen fördert und ihre Stufe erhöht. Durch jeden Vers, den die Feder des Höchsten offenbarte, sind die Tore der Liebe und Einigkeit geöffnet und weit vor dem Antlitz der Menschen aufgetan worden. Wir haben zuvor erklärt — und Unser Wort ist die Wahrheit: „Verkehrt mit den Anhängern aller Religionen im Geiste des Wohlwollens und der Kameradschaft.“ Was die Menschenkinder einander meiden hieß und Zwietracht und Spaltung unter ihnen erregte, ist nun durch die Offenbarung dieser Worte ungültig gemacht und aufgehoben worden. Aus dem Himmel des göttlichen Willens und in der Absicht, die Welt des Seins zu veredeln und Sinn und Seelen der Menschen zu erheben, wurde das herabgesandt, was das wirksamste Mittel zur Erziehung der ganzen menschlichen Rasse ist. Der tiefste Sinn und der vollkommenste Ausdruck dessen, was die Völker jemals gesagt und geschrieben haben, wurde durch diese mächtigste Offenbarung aus dem Himmel des Willens des Allbesitzenden, des immerwährenden Gottes, herniedergesandt.

Einst wurde geoffenbart: „Die Liebe zum Vaterland ist ein Grundbestandteil des Glaubens Gottes.“ Die Zunge der Größe hat indessen am Tage ihrer Offenbarung verkündet: „Es rühme sich nicht der, welcher sein Vaterland liebt, sondern der, welcher die Menschheit liebt.“ Durch die Kraft, die durch diese erhabenen Worte frei wurde, hat Er den Vögeln der Menschenherzen frischen Schwung und neue Richtung verliehen und [Seite 513] jede Spur von Beschränkung und Begrenzung aus Gottes Heiligem Buche getilgt. Ich Unterdrückter habe dem Volke Gottes verboten, sich in Streit und Hader einzulassen. Ich habe es zu guten Taten und geistigen, wohlgefälligen Sitten ermahnt. An diesem Tage sind die Heerscharen, welche der Sache Gottes helfen, gute Taten und edle Sitten. Selig sind, die sich daran halten, und wehe denen, die dies verwerfen!

O Volk Gottes! Ich ermahne dich zur Höflichkeit. Höflichkeit ist auf der ersten Stufe der Fürst aller Tugenden. Selig ist, wer vom Licht der Höflichkeit erleuchtet und mit dem Mantel der Aufrichtigkeit geschmückt ist. Wer mit Höflichkeit ausgestattet ist, nimmt eine hohe Stufe ein. Ich hoffe, daß dieser Unterdrückte und alle Menschen sie erlangen mögen, ihr folgen, sich an sie halten und sie beachten. Dies ist der unumstößliche Befehl, der aus der Feder des Größten Namens floß und von ihr geoffenbart wurde.

Dies ist der Tag, an dem die Edelsteine der Standhaftigkeit aus dem Schatzberg des Menschen ans Licht kommen müssen. O Volk der Gerechtigkeit! Sei so strahlend wie das Licht und so leuchtend wie das Feuer, das im brennenden Busche loderte. Der Glanz des Feuers eurer Liebe wird zweifellos die sich bekämpfenden Völker und Geschlechter der Erde vereinen und verschmelzen, während die Wildheit der Flamme der Feindschaft und des Hasses nur Streit und Untergang zur Folge haben. Wir fliehen zu Gott, daß Er Seine Geschöpfe vor den üblen Absichten Seiner Feinde behüten möge. Wahrlich, Er hat Macht über alle Dinge.

Aller Ruhm sei dem einen, wahren Gott — erhaben sei Seine Herrlichkeit —, da Er durch die Feder des Höchsten die Türen der Menschenherzen geöffnet hat. Jeder Vers, den diese Feder offenbarte, ist ein strahlendes und glänzendes Tor, das die Herrlichkeiten eines heiligen und gottesfürchtigen Lebens und reiner und fleckenloser Taten enthüllt. Niemals sollten die Ermahnungen und Botschaften, die Wir gaben, nur ein Land oder ein Volk erreichen und begünstigen. Die Menschheit als Ganzes muß entschlossen dem folgen, was ihr geoffenbart und gewährt wurde. Dann, und nur dann wird sie zu wahrer Freiheit gelangen. Die ganze Erde ist durch die strahlende Herrlichkeit der Offenbarung Gottes erleuchtet. Im Jahre sechzig8) erhob Sich Der, Der das Licht göttlicher Führung verkündete — möge die ganze Schöpfung ein Opfer für Ihn sein —, um eine neue Offenbarung des göttlichen Geistes anzukünden, und Ihm folgte zwanzig Jahre 9) später Der, durch Dessen Kommen die Welt zur Empfängerin dieser verheißenen Herrlichkeit, dieser ungeheuren Gunst wurde. Sehet, wie die ganze Menschheit mit der Fähigkeit ausgestattet wurde, Gottes erhabenstem Wort zu lauschen — dem Worte, von dem das Zusammenfinden und die geistige Auferstehung aller Menschen abhängen muß.

*

Im Gefängnis von ‘Akká haben Wir im Roten Buche5) geoffenbart, was zur Erhöhung der Menschen und zur Veredlung der Länder führt. Unter anderem offenbarte die Feder des Königs allen Seins folgende Worte:

Die sichersten Grundlagen, auf denen die Verwaltung der Diener beruht, sind: [Seite 514]

Erstens: Die Vertrauensleute des Hauses der Gerechtigkeit müssen den Größten Frieden 10) begründen, damit die Welt von drückenden Lasten befreit wird. Dieser Rat ist bindend und unerläßlich; denn Krieg und Streit sind die Quellen von Unruhe und Elend.

Zweitens: Die Sprachen müssen auf eine beschränkt werden, und diese Sprache muß in allen Schulen der Weit gelehrt werden.

Drittens: Alle müssen sich an das halten, was zu Liebe und Einheit führt.

Viertens: Männer und Frauen müssen einen Teil dessen, was sie durch Gewerbe, Landwirtschaft oder andere Berufe verdienen, einem vertrauenswürdigen Mitbürger in Verwahrung geben, damit es für die Erziehung und Belehrung der Kinder verwendet wird. Diese Beträge müssen in der Erziehung der Kinder angelegt werden, und zwar im Einvernehmen mit den Treuhändern des Hauses der Gerechtigkeit.

Fünftens: Volle Beachtung muß der Landwirtschaft geschenkt werden. Obgleich dieser Grundsatz an fünfter Stelle genannt wird, gebührt ihm in Wirklichkeit der erste Rang. In anderen Ländern ist die Landwirtschaft hoch entwickelt, aber im Irán bleibt sie unbeachtet. Es steht zu hoffen, daß sich der Sháh — möge Gott ihm beistehen — selbst mit dieser großen und wichtigen Aufgabe befassen wird.

Zusammengefaßt: Wenn sich die Menschen an das halten, was die erhabenste Feder im Roten Buche offenbarte, werden sie sehen, daß sie von allen Gesetzen der Welt unabhängig sind. Bestimmte Äußerungen sind wiederholt aus der erhabensten Feder ergangen, damit die Morgenröten der Macht und die Dämmerorte göttlicher Gewalt eines Tages imstande seien, sie auszuführen. Wenn es nur Suchende gäbe — es würde ihnen alles, was von dem vollkommenen, alldurchdringenden Willen geoffenbart wurde, in ernster Aufrichtigkeit um Gottes Lohn erklärt werden; aber wo ist der Forschende, wo ist der Fragesteller, wo der Gerechte? Jeden Tag flammt ein neues Feuer der Unterdrückung auf, jeden Tag wird ein Schwert des Blutvergießens aus der Scheide gezogen. Ehre sei Gott! Die Vornehmen und der Hochadel des Irán brüsten sich mit den Eigenschaften von wilden Tieren. „Solche Berichte häufen Erstaunen auf Erstaunen!“

Tag und Nacht danke Ich Unterdrückter dem Herrn der Menschheit und preise Ihn, denn es erweist sich, daß Unsere Ermahnungen und Ratschläge Wirkungen zeitigten und daß die Lebensführung dieser Gemeinde vor Gott Annahme gefunden hat. Ein Ereignis ist vorgefallen, das dazu dient, die Augen aller in der Welt zu erleuchten: Die Freunde haben bei den Fürsten und Herrschern Fürbitte für ihre Feinde eingelegt. Gute Taten zeugen für die Wahrheit der Worte. Wir hoffen, daß die Rechtschaffenen die Welt mit dem Lichte von Taten erleuchten. Ich bitte Gott — erhaben und verherrlicht ist Er —, alle zu befähigen, in Seinen Tagen standhaft in Seiner Liebe und in Seiner Sache zu bleiben. Wahrlich, Er ist der Freund der Aufrichtigen und derer, die ihre Ideale verwirklichen!

O Volk Gottes! Die erhabene Feder ließ Welten erstehen und verlieh den Augen wahre Erleuchtung. Aber die Mehrzahl der Menschen im Irán [Seite 515] ging von jeher nützlicher Rede und segenspendender Wissenschaften und Künste verlustig.

*

Gestern offenbarte die erhabenste Feder folgendes hehre Wort für einen der Freunde, auf daß die Leugner zum Glauben gelangen, in die Feinheiten grundlegender göttlicher Richtsätze eindringen und dadurch ermahnt werden mögen.

Widerstrebende Leugner stoßen sich an vier Äußerungen (im Zusammenleben der Religionen):

erstens: das Vernichten von Menschenleben,
zweitens: das Verbrennen von Büchern,
drittens: das Meiden anderer Völker,
viertens: das Ausrotten anderer Gemeinschaften.

Durch die Gnade und Macht des Wortes Gottes sind nun diese vier großen Hindernisse beseitigt worden. Diese vier offenen Befehle wurden aus dem Buche getilgt, und Gott hat rohe Sitten in geistige Eigenschaften umgewandelt. Herrlich ist Sein Wille! Erhaben ist Seine Macht! Groß ist Seine Herrschaft!

Nun betet zu Gott — erhaben ist Seine Herrlichkeit — wie auch Wir Ihn bitten, die Gemeinschaft der Schiiten rechtzuleiten und sie von unwürdigen Eigenschaften zu befreien. Täglich äußert jeder Angehörige dieser Gemeinschaft zahllose Verwünschungen, und das Wort “mal’ún“ 11) gehört zu ihrem täglichen Sprachgebrauch.

O mein Gott! O mein Gott! Du hörst den Ruf Deines Bahá und Seine Wehklage bei Tag und Nacht. Du weißt, daß Er wahrlich nichts für sich selbst verlangt hat, sondern daß Er nur wünscht, die Seelen Deiner Diener


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Geheiligt sei der Herr des ganzen Menschengeschlechts, dessen Erwähnung alle Atome der Erde in Schwingung versetzt und Der die Zunge der Größe bewegt hat, zu offenbaren, was in Seinem Wissen verhüllt und in den Schatzkammern Seiner Stärke verborgen war. Er ist fürwahr durch die Macht Seines Namens, des Machtvollen, des Allmächtigen, des Höchsten, der Herrscher über alles, das in den Himmeln und auf Erden ist.
Erhebe dich, o Volk, und erwarte die Tage göttlicher Gerechtigkeit, denn die verheißene Stunde ist nun gekommen. Hüte dich, daß du nicht versäumst, ihre Bedeutung zu erkennen, und du nicht zu den Irrenden gezählt wirst!
Bahá’u’lláh


Ährenlese XI, XII
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zu heiligen und sie vom Feuer des Hasses und der Feindseligkeit zu befreien, das sie allezeit umgibt. O mein Herr! Wahrlich, die Hände der Auserwählten sind zum Himmel Deiner Güte erhoben, und die Hände der Aufrichtigen zum Firmament Deiner Gnadengaben. Ich bitte Dich, enttäusche sie nicht in dem, was sie aus dem Meere Deiner Freigebigkeit, vom Himmel Deiner Gnade und von der Sonne Deiner Großmut erhoffen. O mein Herr! Stärke sie in den Tugenden, die ihren Rang unter den Nationen erhöhen. Wahrlich, Du bist der Kraftvolle, der Mächtige, der Gabenreiche!

O Volk Gottes! Höre auf das, was zur Erlösung, Befriedung, Sicherheit, Erhöhung und Erhabenheit aller Menschen in ihrer Gesamtheit führt!

Bestimmte Gesetze und Grundsätze sind unerläßlich notwendig für den Irán, aber es ist angebracht, sie im Einklang mit dem Willen Seiner Majestät des Sháh — möge Gott ihm beistehen — der bedeutenden Gelehrten und der wichtigsten Staatsbehörden auszuführen. Auf ihren Rat hin muß ein Ort bestimmt werden. Sie müssen sich dort versammeln, sich fest an


[Seite 517] das Seil der Beratung halten und sodann beschließen und ausführen, was Sicherheit, Reichtum, Ruhe und Wohlfahrt des Volkes fördert. Denn wenn sie die Angelegenheit anders bewerkstelligen, wird sie in Uneinigkeit und Aufruhr auslaufen. In den grundlegenden Gesetzen und Geboten, die bereits im Buche Aqdas und anderen Sendschreiben geoffenbart wurden, sind alle Belange unter die Obhut gerechter Könige und Oberhäupter sowie der Vertrauensleute des Hauses der Gerechtigkeit gestellt worden, Wenn sie darüber nachdenken, werden unparteiische, scharfsinnige Menschen mit ihrem äußeren und inneren Auge die Strahlen der Sonne der Gerechtigkeit in allem wahrnehmen, was Wir geoffenbart haben. Gegenwärtig erscheint die Regierungsform der britischen Nation gut; denn dieses Land wird sowohl vom Lichte des Königtums als auch dem der Beratung erleuchtet.

In Unseren Gesetzen und Grundsätzen ist ein Kapitel dem Gesetz der Bestrafung gewidmet, das die Gewähr für den Schutz und die Erhaltung der Menschen bietet; aber die Furcht vor diesem Gesetz hält das Volk nur äußerlich davon ab, niedrige und unziemliche Handlungen zu begehen. Was die Menschen innerlich wie äußerlich vor niedrigen Taten bewahrt und behütet, ist die Gottesfurcht.

Die Gottesfurcht ist der wahre Hüter und der vollkommene Beschützer. Die Menschen müssen sich an das halten, was zur Verwirklichung dieser großen Gabe führt. Selig ist, wer auf das hört, was Meine erhabenste Feder niederschrieb, und wer handelt in Übereinstimmung mit dem, was der urewige Gebieter befiehlt.

O Volk Gottes, neige dein Herz den Ratschlägen deines wahren, unvergleichlichen Freundes zu. Das Wort Gottes ist einem jungen Baume vergleichbar, dessen Wurzeln in die Herzen der Menschen gepflanzt sind. Es geziemt euch, sein Wachstum durch die lebendigen Wasser der Weisheit und geweihter und heiliger Worte zu fördern, damit seine Wurzeln festwachsen und seine Zweige sich zur Höhe der Himmel und darüber hinaus erheben.

O ihr, die ihr auf Erden wohnt! Das unterscheidende Merkmal, das den hervorragenden Charakter dieser höchsten Offenbarung kennzeichnet, besteht darin, daß Wir einerseits aus den Seiten von Gottes Heiligem Buch gelöscht haben, was die Ursache von Streit, Bosheit und Unrecht unter den Menschenkindern gewesen ist, und andererseits die wesentlichen Vorbedingungen für die Eintracht, Verständigung und völlige und dauernde Einigkeit niedergelegt haben. Wohl dem, der Meine Gesetze hält!

Wieder und wieder haben Wir Unsere Geliebten ermahnt, alles zu meiden, ja zu fliehen, was auch nur den Geruch eines Unrechtes an sich hat. Die Welt ist in großem Aufruhr, und der Geist ihres Volkes in einem Zustand äußerster Verwirrung. Wir flehen zum Allmächtigen, daß Er es gnädig durch den Glanz Seiner Gerechtigkeit erleuchte und es befähigen möge, das zu finden, was ihm zu allen Zeiten und unter allen Umständen Nutzen bringt. Er ist der Allbesitzende, der Höchste...


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Leicht gekürzte deutsche Fassung aufgrund „Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs“, XLIII (ins Englische übertragen von Shoghi Effendi), Frankfurt/Main 1961, sowie der englischen Übersetzung von ‘Alí Kulí Khán, Chicago 1917, die mit dem persischen Original verglichen wurde; vgl. „Bahá’í World Faith, Selected Writings of Bahá’u’lláh and 'Abdu'l-Bahá“, Wilmette/Ill. 1943/1956, S. 172 ff.

1) Bayán = arab. „Darlegung“, das wichtigste Offenbarungswerk des Báb, des Vorläufers Bahá’u’lláhs, das symbolisch für die Sendung des Báb steht.
2) ‘Alí-Qablí-Akbar (Hájí Mullá ‘Alí Akbar aus Sháh-Mirzad in Persien) und Amín, auf deren Besuch in ‘Akká das Sendschreiben Bezug nimmt, waren zwei verdienstvolle persische Bahá’í. Beide gehörten zu den ersten von Bahá’u’lláh ernannten „Händen der Sache Gottes“, denen verantwortungsvolle Aufgaben im Dienste der Verbreitung und Reinhaltung Seiner Lehren zugewiesen wurden. ‘Alí-Qablí-Akbar war auch der Empfänger des Tablets Tajallíyát (vgl. „BAHA’I-BRIEFE“, Heft 13, S. 326 ff.).
3) Afnán = arab. „Zweig“, Ehrenname der Verwandten und Nachkommen des Báb.
4) Tá = Tihrán, die persische Hauptstadt.
5) Kitáb-i-Aqdas = Bahá’u’lláhs „Buch der Gesetze“, von Ihm auch „das rote Buch“, „das heiligste Buch“ und „das Mutterbuch“ genannt. Es wurde 1873 in ‘Akká geoffenbart (vgl. Shoghi Effendi, „Gott geht vorüber“, S. 242 ff.).
Über Tihrán schreibt Bahá’u’lláh im Buch Aqdas, daß es nach einer Zeitspanne des Aufruhrs „zur Quelle der Freude für die ganze Menschheit" ausersehen sei (Shoghi Effendi, S. 245).
6) Yá = Yazd in Mittelpersien, wo die Bábí und später die Bahá’í immer wieder grausam verfolgt wurden.
7) Ahriman = das Böse in der zarathustrischen Religion (vgl. „BAHA’I-Briefe“, Heft 14, S. 346).
8) Jahr 60 = 1260 n. d. H. oder 1844 n. Chr., das Jahr der Erklärung des Báb.
9) Jahr 80 = 1280 n. d. H. oder 1863 n. Chr., das Jahr der Erklärung Bahá’u’lláhs.
10) Bahá’u’lláh unterscheidet zwischen dem „Geringeren Frieden“, einem weltumspannenden Vertrags- und Verwaltungssystem zur Vermeidung von Kriegen und Verwendung der eingesparten Mittel für Entwicklungsaufgaben, das Er in Seinen zahlreichen Sendschreiben den Herrschern der Welt anbefiehlt, und dem „Größten Frieden“, der auf die weltweite Erkenntnis der Einheit Gottes, Seiner Propheten und der Menschheit gegründet ist und die geistige Reife der Menschheit kennzeichnet.
11) mal'ún = arab. „verflucht“. Bahá’u’lláh schreibt dazu „ausgesprochen mit einem tief aus dem Rachen kommenden ‚ú‘“ und spielt darauf an, daß man sich in den Qur’án-Schulen geradezu darin übte, dieses Wort „schön“ auszusprechen.


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Der Befehl Gottes[Bearbeiten]

Wenn Bahá’u’lláh von Seinem Auftrag und Anliegen an die Menschheit, wenn Er von der Idee spricht, die Seine Gemeinschaft belebt und voranführt, dann verwendet Er das Wort „Amru’lláh“. Das arabische „amr“ wird außerhalb der Bahá’í-Gemeinschaft kaum gebraucht; es kommt praktisch nur in seiner Pluralform „umhúr“ (Sachen, Angelegenheiten, Werke, Eigentum) vor — in einer recht weltlichen Bedeutung also, aber selten in Verbindung mit „Alláh“ (Gott). Als „Cause of God“ läßt sich „Amru’lláh“ einigermaßen zutreffend ins Englische übertragen, aber der deutsche Übersetzer ist verlegen, wenn er keinen besseren Ausdruck als „Sache Gottes“ findet. Steckt doch in Wirklichkeit viel mehr dahinter: Religion ist hier nicht nur „Konsumartikel“, nicht nur der persönliche Weg zur persönlichen Erlösung durch die Gnade einer höheren Macht, sie ist — über diese individuelle Bindung hinaus — der normative, konstitutive „Befehl Gottes“ aus dem Munde Seines Offenbarers.

Wie lautet dieser Befehl, und wie wurde er offenbar? Wir können drei Hauptphasen im Wirken Bahá’u’lláhs unterscheiden: Der erste Abschnitt umfaßt die Zeit von 1852 bis 1863, vom ergreifenden Erlebnis Seiner Berufung im finsteren Kerker von Tihrán über die Zeit der Läuterung in der Wildnis von Kurdistán bis zu jener kurzen, glanzvollen Epoche des Exils in Baghdád. Ihr schriftlicher Niederschlag sind Texte, die die Entwicklung des Gottsuchers beschreiben („Sieben Täler“, „Vier Täler“) und damit zugleich das Gesetz jeglicher Entwicklung aufzeichnen, andere, die die Lebensführung des Menschen in eine neue, mystische und doch gesetzgeberisch klare Gottbeziehung setzen („Verborgene Worte“), und schließlich — neben vielen Sendschreiben und Abhandlungen — das „Buch der Gewißheit“, das in einzigartiger Weise die Einheit Gottes, die Einheit Seiner Offenbarer und Ihre fortschreitende Aufeinanderfolge in der Verwirklichung des göttlichen Geschichts- und Heilsplans für die Menschheit beschreibt.

Die zweite Phase, 1863 bis um 1873, beginnt mit der Erklärung Bahá’u’lláhs im Garten Ridván bei Baghdád, zunächst vor einigen wenigen Freunden, als der von den Anhängern aller früheren Religionen erwartete Verheißene, die „Herrlichkeit Gottes“. Dieser Zeitabschnitt gipfelt in den machtvollen Sendschreiben an die weltlichen und geistlichen Herrscher Seiner Zeit, die Er während Seines weiteren Verbannungsweges mit den Stationen Konstantinopel, Adrianopel und ‘Akká offenbarte und übersandte. Mit aller Deutlichkeit vertritt Er in diesen [Seite 519] Sendschreiben die Autorität Seines Anspruchs, klagt Seine Widersacher an, entwickelt die Grundzüge Seiner Lehren und fordert alle Mächtigen dieser Welt zur Demut vor Gott, zu Versöhnung und Beratung und zur Sicherung des Weltfriedens auf.

Zur dritten Phase der Schriften Bahá’u’lláhs, von der Zeit um 1873 bis zu Seinem Hinscheiden 1892, gehört das „Sendschreiben über die Welt“, Es ist — wir finden die Gesetzmäßigkeit der „Sieben Täler“ auch hier bestätigt — die Zeit der Fülle, der Ernte, der Festigung des „Volks Bahás“, zugleich aber auch der Anwendung des neuen Glaubensbewußtseins auf immer neue Lebensbereiche. Beginn und Höhepunkt dieser Epoche ist das „Buch der Gesetze“ (Kitáb-i-Aqdas), das Grundgesetz Seiner neuen Weltordnung. Ihm folgen zahlreiche Sendschreiben 1), unter denen das vorliegende einen bedeutsamen Platz einnimmt. Den Abschluß des Offenbarungswerks Bahá’u’lláhs bildet der „Brief an den Sohn des Wolfes“, der — abgesehen von dem bewegenden Appell an die Einsicht und den guten Willen eines Seiner schlimmsten Feinde — eine herrliche, von Seiner eigenen Hand ausgewählte Anthologie Seiner wichtigsten Gebote und Beweisführungen darstellt.

Es ist wichtig, ein Werk wie das „Sendschreiben über die Welt“ in diesem Zusammenhang zu sehen; anders könnte dem oberflächlichen Betrachter als eine Sammlung von pointierten Aphorismen erscheinen, was — in modernen Worten ausgedrückt — eine Grundsatzerklärung der Entwicklungspolitik ist. Auch muß man sich vergegenwärtigen, in welcher Lage sich die geknechtete Bahá’í-Gemeinschaft damals, um 1875, befand. Noch wenige Jahre zuvor waren mehrere Verfolgungswellen über sie hinweggegangen. Nun schienen aufgeklärtere Zeiten anzubrechen, nachdem Persien, allen voran der Sháh Násiri’d-Dín selbst, der eifrige Reisen nach Europa unternahm, von fortschrittlichen Vorstellungen berührt wurde. Es war dieselbe Reformwelle, zu der auch ‘Abdu’l-Bahá in Seiner ganz auf islamischen Vorstellungen, auf Textstellen aus dem Qurán und den Überlieferungen aufbauenden Schrift „Das Geheimnis göttlicher Kultur 2) Stellung nahm.

Bahá’u’lláh geht nicht so behutsam vor wie Sein Sohn 'Abdu'l-Bahá, der spätere Mittelpunkt Seines Bündnisses. Er schreibt in der Befehlsform. Die bereits bei Muhammad anklingende, vom Báb ausführlich dargelegte Lehre, daß der Wirklichkeit nach Gott die Welt durch jeden Seiner Offenbarer neu erschafft, klingt an3). Die selbständige Anerkennung der Botschaft Gottes, ihre Verbreitung über die ganze Erde ist die Ausgangsbasis, von der die materielle wie die geistige Entwicklung ausgeht. Alle ins einzelne gehenden Gebote, Ratschläge und Grundsätze sind nur von dieser Ausgangsbasis her in ihrer ganzen Tragweite verständlich.

Es mag zunächst befremdlich sein, wie radikal dieser Standpunkt ist. Aber jeder Einsichtige wird bestätigen, daß es angesichts der wachsenden Wirrnis unserer heutigen Welt der stärksten Seelenkräfte bedarf, um die [Seite 520] Menschenwelt in der ganzen Vielfalt ihrer Persönlichkeiten und Gesellschaftsformen in die konstruktive, aufbauende Richtung zu lenken, zumal wenn nicht nur die weitestmögliche Freiheit der individuellen Entscheidung, sondern auch die Mannigfaltigkeit der Erscheinungsformen menschlicher Betätigung ausdrücklich postuliert wird. Nur eine tiefreligiöse Haltung, die gleichermaßen aus gläubiger Erfahrung und aus vernünftig-wissenschaftlicher Betrachtung der Phänomene dieser Welt, der sie bewegenden Kausalzusammenhänge und des Geschichtsablaufs resultiert und in die Gewißheit einmündet, daß mit dem Kommen Bahá’u’lláhs ein neues Weltzeitalter heraufzieht, das verheißene „Reich Gottes auf Erden“ — nur eine solche Haltung kann die schier übermenschliche Spannung überbrücken, die zwischen Idee und Wirklichkeit liegt, oder besser gesagt: zwischen der Wirklichkeit des Geistes, des göttlichen Heilsplans und der ungeschulten Wahrnehmung unserer Sinne. Nur diese Haltung kann die Fehler vermeiden, in die alle menschlichen Gedankengebäude unweigerlich verwickelt werden: daß sie entweder bis zur Unverbindlichkeit aufgeweicht werden oder zur Gewaltanwendung, die von suggestiver Propaganda bis zum Partisanenkrieg reicht, Zuflucht nehmen müssen.

„Beschäftige dich nicht mit deinen eigenen Angelegenheiten, lenke deine Gedanken vielmehr auf das, was das Glück der Menschheit wiederherstellt und die Herzen und Seelen der Menschen heiligt.“ Und: „Niemand unter allen Völkern der Welt soll von eurer Hand oder eurer Zunge Leid erfahren.“ In diesen beiden Sätzen aus dem „Sendschreiben über die Welt“, die man durch beliebig viele ähnliche Äußerungen Bahá’u’lláhs ergänzen könnte, liegt Sein Programm beschlossen. Die Erziehbarkeit des Menschen ist Ihm selbstverständlich; sie ist gegeben, wo immer auch nur ein Fünkchen guten Willens vorhanden ist. Diesen Funken zu entfachen, den Willen des Menschen am Willen Gottes emporzubilden, ist Sein Hauptanliegen. Unter diesem Gesichtspunkt sieht Er auch den abendländischen Urkomplex des Bösen: „Wacht über euch, denn der Böse liegt auf der Lauer, bereit, euch zu überlisten. Rüstet euch gegen seine verruchten Anschläge und, geführt vom Lichte des Namens des allsehenden Gottes, entflieht der Dunkelheit, die euch umgibt. Laßt euren Blick weltumfassend sein, anstatt ihn auf euer Selbst zu beschränken.“

Bahá’u’lláh will niemanden gegen seinen Willen zu seinem Glück zwingen. Er könnte es konsequenterweise gar nicht, nachdem Er das selbständige Suchen nach Wahrheit zu einem der höchsten Prinzipien der persönlichen Lebensführung erhoben hat. Aber [Seite 521] je länger die Menschheit in ihrem derzeitigen Zustand dahintreibt, desto notwendiger braucht sie die „Ratschläge ihres wahren, unvergleichlichen Freundes“. Ob sie Ihn dem Namen nach kennt und anerkennt, ist dabei zunächst von untergeordneter Bedeutung. Entscheidend ist, daß sich in den Herzen der Menschen die Sehnsucht regt und daß ihr guter Wille — „gut“ nach dem Maßstab der Einheit, der Gewaltlosigkeit und der Loyalität, den Bahá’u’lláh anlegt — entfacht und gefestigt wird.

Peter Mühlschlegel


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1) Die wichtigsten dieser Sendschreiben wurden in den „BAHA’I-BRIEFEN“ wiedergegeben: „Frohe Botschaften“ Heft 8, Seite 179, „Tablet Tarázát“ Heft 9, Seite 201, „Worte des Paradieses“ Heft 10, Seite 226, „Tablett Ishráqát” Heft 11, Seite 250, „Tablet Tajalliyát Heft 13, Seite 326.
2) vgl. „BAHA’I-BRIEFE“, Heft 4-7, Seite 92—163.
3) vgl. „BAHA’I-BRIEFE“, Heft 15, Seite 368.



George Townshend

Der Ruf des Höchsten[Bearbeiten]

Bahá’í-Pflichtgebete und die Meditationen Bahá’u’lláhs

Als eine Hilfe auf dem Weg des Suchens sind den Gläubigen die Pflichtgebete anvertraut. Sie befassen sich nicht mit Dingen, wie sie uns heutzutage geläufig sind: etwa mit der Verbreitung der Sache Gottes, der Verkündigung der Botschaft, der Vereinigung und Befriedung der Völker. Nein, sie sind bestimmt, von den Bahá’í aller Entwicklungsstufen in den kommenden Generationen und Jahrhunderten täglich verwendet zu werden. Sie sind ungefähr das, was Bahá’u’lláh als den Wesenskern und ständigen Mittelpunkt der Bahá’í-Andacht und der Bahá’í-Denkweise erkannt wissen möchte. So umfassend und vielschichtig sie sein mögen — ihr Thema ist einheitlich und einfach. Es ist die Erkenntnis Gottes und die Liebe zu Ihm.

Das kurze Gebet faßt alles in ein einziges Wort: „Du hast mich erschaffen, Dich zu erkennen und Dich anzubeten.“

Das mittlere Gebet geht mehr ins einzelne. Es schildert in zwei Versen die Wirklichkeit der Manifestation. Der erste Vers beschreibt sie im Lichte des Transzendenten; er verkündet, daß der Allbesitzende gekommen ist und Seine Herrschaft ausübt. Der zweite Vers bezeugt Seine Allgegenwart und Einheit, legt das Wesen Seiner Offenbarung dar und gedenkt der Helden des Glaubens.

Das lange Gebet entwickelt das Thema noch breiter und tiefer. Es sucht den Anblick der Schönheit Gottes, das Näherkommen zu Seiner Gegenwart, den ewigen Fortschritt zu Seiner Erkenntnis. Die wichtigsten Phasen des Gedankengangs scheinen Selbsthingabe, Bestätigung, Anbetung und Danksagung, Reue und Vertrauen auf die Vergebung und Erlösung durch die besonderen Gnadengaben dieser Sendung zu sein. Wenngleich das lange Gebet ein klar umgrenztes, erhabenes Thema hat, ist den Gläubigen schon oft zum Erlebnis geworden, daß sie dieses Gebet oder größere Teile davon auf besondere Krisenzustände oder bestimmte Handlungen in ihrem eigenen Leben anwenden können, um auf diese Weise das Gebet besser zu verstehen und ihre Probleme zu vergeistigen. [Seite 522]

Auffällig und bedeutsam ist einerseits die Entsprechung, andererseits der Gegensatz zwischen diesem Gebet des neuen Zeitalters und dem Vaterunser, das die Christen neunzehn Jahrhunderte lang gesprochen haben. Hier spiegelt sich die Kontinuität des Wirkens Christi und Bahá’u’lláhs und die Einheit ihres gemeinsamen Ziels. Hier ist uns aber auch — zu einer Stunde, da viele fürchten, Christus habe Seine Lehre an ein unwürdiges Geschlecht vergeudet — ein Zeugnis für den letztlichen Erfolg Seines glorreichen Dienstes und Opfers gegeben.

Die ersten Bitten des Vaterunsers gelten dem Kommen des Reiches Gottes auf Erden.

Die Pflichtgebete drücken mittelbar und offen aus, daß das Reich Gottes gekommen ist: zum Beispiel „Der Allbesitzende ist gekommen. Erde und Himmel, Ruhm und Herrschaft sind Gottes...“ und „... daß Er, der geoffenbart wurde, das verborgene Geheimnis ist ...., durch Den die Buchstaben des ‚Sei!‘ miteinander verbunden und verknüpft wurden ...“1) (das heißt, das wahre Sein der Menschheit beginnt in diesem neuen Zeitalter).

Das Vaterunser hält eine Verheißung und ein Versprechen wach; es konzentriert die Aufmerksamkeit der Menschen auf eine triumphale Zukunft auf Erden. Die Pflichtgebete enthalten keine Prophezeiung, sie haben die innerliche, geistige Verwirklichung zum Ziel.

Das Vaterunser ist der Form nach gemeinschaftlich. Es ist auf geistige Kinder gemünzt, recht einfach und in erster Linie praktisch orientiert. Mit den Worten „... wie wir vergeben unseren Schuldigern ...“ weist es auf die Tugend persönlicher Barmherzigkeit hin, die Christus besonders hervorhob.

Das Gebet Bahá’u’lláhs ist persönlich und mystisch, seiner Art nach fortgeschritten und einem reiferen Geschlecht angepaßt. Weit führt es den Gedanken der Verbindung mit dem Göttlichen und der Einheit aus, wobei der Betende im langen Gebet die Propheten aller Zeitalter anruft, für die verstorbenen Helden des Glaubens Fürbitte einlegt und sein Zeugnis für dieses Zeitalter und seinen Offenbarer mit dem Zeugnis „der Bewohner des allhöchsten Paradieses und darüber hinaus der Zunge der Größe“ sowie mit demjenigen der ganzen Schöpfung verbindet.

*

Neben diesen und anderen Gebeten hat uns der Hüter in dem Band „Gebete und Meditationen“ 2) eine Vielzahl weiterer Andachtstexte geschenkt — Gebete, die Bahá’u’lláh für Seinen eigenen Gebrauch niederschrieb, Akte der Verbundenheit zwischen dem Offenbarer Selbst und dem Höchsten.

Diese Gebete umgibt ein einzigartiges Geheimnis, wie Bahá’u’lláh Selbst bezeugt, und daß Er sie uns hinterlassen hat, ist eine besondere Gnade. Sie bieten uns einen neuen Zugang zur Erkenntnis Gottes und stellen vielleicht den höchsten Punkt dar, den wir in unserer mystischen Betrachtung über die Sendung des Offenbarers erreichen können. [Seite 523]

Einige dieser Andachten sind Umschreibungen der Macht, Erhabenheit und Großmut Gottes. Andere behandeln Sein schöpferisches und erlösendes Werk. Wieder andere geben dramatische Augenblicke in Bahá’u’lláhs Kampf gegen die Kräfte des Bösen um Ihn her wieder. Die Reichweite der Gedanken und Empfindungen, die wir in diesen Gebeten finden, übersteigt bei weiten das Feld menschlicher Erfahrung. Einerseits schwingen sie sich auf zu unvorstellbaren Höhen der Anbetung, des Triumphs und der Freude. Andererseits stürzen sie ab in die Tiefen solcher Herzensqualen, wie nur die aufrichtigste Liebe sie kennt. Aber was immer der Gegenstand oder Anlaß dieser Gebete gewesen sein mag, alle sind sie ein beständiges, mannigfaltiges Hohelied der Selbsthingabe, des Lobpreises und der Danksagung an Gott. Von jeder Seite — manchmal einzelne Worte, Wendungen oder Absätze, manchmal ein langes Gebet glühender, ununterbrochener Begeisterung — strömen Tribute der Huldigung aus, die die ewige Schönheit Dessen verherrlichen, Der durch Seine Liebe dem Weltall Leben spendet und Der nunmehr mit einem kleinen Tropfen vom unendlichen Meer Seiner Gnade die Menschheit zu Erlösung und Seligkeit führt.

Die Liebe zu Gott durchwirkt jeden Gedanken, jede Tat. „Auf Deinem Pfade, um Dein Wohlgefallen zu erlangen, habe ich Ruhe, Freude, Vergnügen verschmäht ... Wie das Feuer Deiner Liebe ununterbrochen in mir brennt, hat es mich so entflammt, daß ein jeder, der sich mir nähert und sein inneres Ohr mir zuneigt, nichts anderes hören kann als sein Brausen in meinen Adern“ (S. 80, 202). „Nichts, gar nichts kann mich hindern, Deiner zu gedenken, und wollten selbst die Heimsuchungen der ganzen Welt mich von allen Seiten bestürmen. Alle Glieder meines Körpers verkünden ihre Bereitschaft, um Deines Wohlgefallens willen auf Deinem Pfade zerrissen zu werden, und sie sehnen sich, sich mit dem Staube vor Dir zu vermischen. Oh, wenn doch alle Deine Diener kosten könnten, was ich von der Süße Deiner Liebe gekostet habe!“ (S. 116). Emporgetragen von dieser Liebe, wertet Er Mühsal auf dem Pfade Gottes als „himmlisches Ausruhen“, Qual als „Quelle der Freude“ (S. 104).

Er bezeugt die Majestät der Stufe, die Er Selbst einnimmt, die tiefgreifenden, zunächst kaum spürbaren Wandlungen in dieser Welt der Schöpfung, mit denen das neue Zeitalter, der Tag Gottes, angebrochen ist (S. 221), die Oberhoheit und den Triumph der Offenbarung (S. 211), die Verfinsterung aller Gelehrsamkeit des Menschen, den Zusammenbruch seiner Macht und Erkenntnis vor der offenbaren Herrschaft und Herrlichkeit des Allerhöchsten. In beispielloser Weise gibt Er ein unvergleichliches Bild jener vom Geist erleuchteten Welt, die Er aufbaut — die Welt, wie sie Gott von alters her vorausbestimmt hat und wie sie jetzt verwirklicht werden muß, eine Welt, so unvergleichlich anders als unsere heutige, daß unsere höchsten Hoffnungen noch kein Bild von ihrer Einheit, ihrem Glück oder ihren Errungenschaften formen können, auch wenn wir ihre göttliche Beschreibung lesen (Gebete 58, 184 usw.).

Alle diese Gebete haben die Ereignisse Seines Lebens und Wirkens zum Anlaß oder Hintergrund. Es werden keine Daten genannt, auch keine [Seite 524] näheren Umstände geschildert. Aber offensichtlich umfassen die Gebete viele Jahre dynamischen, angespannten und ungeheuer mannigfachen persönlichen Einsatzes — den ganzen Zeitabschnitt, während dessen Er die niedergeschlagenen Bábí wieder sammelte, ihren Glauben neu belebte, breit und tief die Grundlagen des Bahá’í-Glaubens in die Menschenherzen senkte und trotz einer festgefügten Kette wachsender Schwierigkeiten, trotz der Unterdrückung durch Priester und Tyrannen, trotz der Machenschaften von Verrätern und der Stumpfheit der Volksmeinung, trotz Schmerz, Leid und Enttäuschungen ohne Zahl Seine Sendung erklärte, Seine Botschaft den Königen der Welt verkündete und Seine letzte, lange Gefangenschaft in der Kerkerstadt ‘Akká antrat.

Strahlend hebt sich Seine Kraft, Seine Beständigkeit, Seine Geistigkeit gegen das unaufhörliche Dunkel Seines irdischen Schicksals ab. Immer wieder begehrt Sein menschliches Selbst unter der Wucht dieser pausenlosen Heimsuchungen auf: „Mein Blut spricht allezeit zu mir mit den Worten: ‚O Du, Der Du das Abbild des Barmherzigsten bist! Wie lange wird es dauern, bis Du mich aus der Gefangenschaft dieser Welt befreist ...?‘ Darauf erwidere ich: ‚Sei geduldig ... Das, was du dir wünschest, kann nur eine Stunde währen. Aber was mich betrifft, so trinke ich auf Gottes Pfad ohne Unterlaß vom Kelche Seines Ratschlusses, und ich wünsche nicht, daß die Herrschaft Seines Willens zu wirken aufhöre ... Folge du nur meinem Wunsche und entsage dem deinen‘ “ (S. 11).

Seine Erniedrigung ließ Seine Freunde schwach werden und Seine Feinde frohlocken. Dennoch hat Er Selbst dieses Leid für Sich erwählt, und Er wünscht, Sein Leben würde verlängert, damit Er mehr aus Liebe zu Gott leiden könne. Alle Heimsuchungen entflammen Seine Liebe und steigern Seine erlösende Kraft (S. 112). Kein Zeichen des Verdrusses dringt über Seine Lippen, im Gegenteil (S. 229). Aber Er betet um die Rechtfertigung der Gläubigen und die Bestrafung derer, die sich Gott und Seiner Wahrheit widersetzen. „Vielgeliebt ist Deine Barmherzigkeit, die Du den Aufrichtigen unter Deinen Dienern bezeigst, und wohlgeziemend Deine Züchtigung der Ungläubigen ... Demütige Deine Feinde, o mein Gebieter, ergreife sie mit Deiner Macht und Stärke, und schlage sie mit Deinem vernichtenden Zorn“ (S. 108, 93).

In dieser Sammlung von Gebeten und Andachten läßt sich ein Stück geistiger Schöpfungsgeschichte verfolgen: der ideelle Beginn des neuen Zeitalters und seiner Herrlichkeit. Im Herzen des Gottgesandten wird hier der Kampf gefochten und gewonnen, der uns den Sieg Gottes auf Erden bringt. Hier wird der Zorn einer erbosten Gottheit angerufen, der in unseren Tagen die Menschheit mit seinem reinigenden Feuer überschüttet.

Wenn man sich in die furchtbare Tragödie versenkt, die sich auf den Seiten dieses Buches entfaltet, wenn man nachdenkt über diese Offenbarung der leidenschaftlichen Liebe, der Unbill und Leiden Dessen, Der um unserer Erlösung willen die ganze Schändlichkeit der Welt auf Sich nahm, dann erhält der Ruf zu Gott einen neuen, drängenden Klang, und [Seite 525] mit neuem Verständnis und neuer Entschlossenheit hört man das Wort des Allbesiegenden:

„Hört auf Mich, o ihr sterblichen Vögel! Im Rosengarten unveränderlichen Glanzes begann eine Blume zu blühen, mit der verglichen jede andere Blume nur ein Dorn ist und vor deren strahlender Herrlichkeit das innerste Wesen der Schönheit verblassen und vergehen muß. Erhebt euch daher und trachtet mit der ganzen Begeisterung eures Herzens, mit aller Begierde eurer Seele, mit der ganzen Inbrunst eures Wollens und mit dem gesammelten Bemühen eures ganzen Seins danach, das Paradies Seiner Gegenwart zu erreichen. Strebt danach, den Duft der nie welkenden Blume einzuatmen, die süßen Wohlgerüche der Heiligkeit zu atmen und einen Teil dieses Dufthauches himmlischer Herrlichkeit zu empfangen. Wer diesem Rat folgt, wird seine Ketten sprengen, wird die Hingebung beseligter Liebe kosten, wird seines Herzens Sehnsucht erreichen und seine Seele in die Hand seines Geliebten geben. Er wird seinen Käfig zerschmettern und wie der Vogel des Geistes seinen Flug zu seinem heiligen und ewigen Neste erheben.
Die Nacht ist dem Tag gefolgt, und der Tag folgte der Nacht, und die Stunden und Augenblicke eures Lebens sind gekommen und gegangen, und dennoch war keiner von euch bereit, sich auch nur einen Augenblick lang von dem Vergänglichen zu lösen. Eilt Euch, damit die kurzen Augenblicke, die euch noch gehören, sich nicht zerstreuen und verloren gehen. Mit der Schnelligkeit des Blitzes werden eure Tage vergehen und eure Körper auf einem Lager aus Staub zur Ruhe gebettet werden. Was könnt ihr dann noch zustande bringen? Womit euer früheres Versagen sühnen?
Das ewige Licht leuchtet in seiner reinen Herrlichkeit. Sieh, wie es jeden vergänglichen Schleier verbrannt hat. O ihr Liebenden Seines Lichtes, die ihr den Motten gleichet! Begegnet mutig jeder Gefahr und weiht eure Seele ihrer verzehrenden Flamme. O ihr, die ihr nach Ihm dürstet! Streift jede irdische Neigung von euch ab und eilt, euren Geliebten zu umarmen. Beeilt euch mit unvergleichlicher Freude, Ihn zu erreichen. Die Blume, die den Blicken der Menschen bislang verborgen war, ist nun vor euren Augen entfaltet. Im offenen Glanze Seiner Herrlichkeit steht Er vor euch. Seine Stimme ruft alle frommen und geheiligten Wesen zu Sich, damit sie mit Ihm vereinigt werden. Glücklich ist, wer sich Ihm zuwendet. Wohl ist es um den bestellt, der das Licht eines so wunderbaren Angesichts erreichte und schaute“ 3).


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“The Call to God“ aus “The Mission of Bahá’u’lláh and other literary pieces“, Oxford/London 1952, S. 71 ff., mit freundlicher Genehmigung des Verlags George Ronald.

1) „Bahá’í-Gebete“, Oxford/Frankfurt 1948, S. 24.
2) Bahá’u’lláh, „Gebete und Meditationen“, Frankfurt 1963 (nach der englischen Übersetzung von Shoghi Effendi)
3) „Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs“ CLI, Frankfurt 1961


[Seite 526]



Als Bahá’í-Pilger in Haifa[Bearbeiten]

Impressionen aus dem Heiligen Land

Haifa, Israels größte Hafenstadt, ist das Weltzentrum der Bahá’í-Religion. Dort hat seit 1963 das Universale Haus der Gerechtigkeit, die höchste administrative Körperschaft der Bahá’í-Weltgemeinde, ihren Sitz. Es ist zugleich auch geistiger Mittelpunkt des Glaubens: Am Abhang des Berges Karmel haben der Vorläufer des Begründers der Bahá’í-Religion, El Báb, und der Sohn und bevollmächtigte Ausleger des Stifters, Abdu’l-Bahá,in einem imposanten Kuppelbau ihre letzte Ruhestätte gefunden. Sowohl dieser Schrein, als auch das internationale Archivgebäude liegen inmitten herrlich gepflegter Gärten, die sich bis zur Kuppe des Berges Karmel hinziehen und Besitz der Bahá’í-Welt sind. — Unser Redaktionsmitglied Dieter Schubert weilte im April dieses Jahres — zusammen mit seiner Familie — in Haifa. Nachfolgend faßt er seine Eindrücke zusammen.


Die englischen Touristen in der Lobby des Hotels Yarkon in Tel Aviv unterhielten sich angeregt: „Waren diese Gärten nicht wunderbar? — Und die gold-glänzende Kuppel. Herrlich der Ausblick auf die Stadt und das Meer. — No, das ist keine Kirche, sondern ein Grab.“ Wir, die wir am Nebentisch saßen, lächelten uns verständnisvoll zu. Wir wußten: Die Begeisterung der Engländer galt den Bahá’í-Gärten am Berg Karmel in Haifa.

Zwei Wochen zuvor war es uns ähnlich ergangen, als wir zum ersten Mal von der den Berg sich hinaufschlängelnden UNO-Avenue aus durch das reich verzierte, schmiedeeiserne Tor hindurch die Gärten betraten — und uns vom ersten Augenblick an in einer anderen Welt fühlten. Wie schön zu wissen, daß dies nicht nur ein kurzer Besuch sein sollte, sondern daß diese Welt neun Tage lang unser Zuhause sein würde!

*

Unsere Pilgergruppe besteht aus 20 Bahá’í; zehn von ihnen sind aus dem Iran, meist aus Teheran, gekommen, die restlichen aus Europa und den USA. Fast überflüssig zu sagen, daß alle sofort wie eine einzige Familie sind. Denn: Wo immer in der Welt Bahá’í sich begegnen, sie finden sich vereint und geborgen im Schoße der Botschaft von Bahá’u’lláh. Wieviel mehr gilt dies gerade hier, im Zentrum eines geistigen Kraftfeldes, dessen Ausstrahlungen bis in den letzten Winkel der Erde spürbar sind!


(Fortsetzung Seite 528)

[Seite 527]






Weit reicht vom Karmel der Blick über die Bahá’í-Gärten und Haifa.






Mitglieder des Universalen Hauses der Gerechtigkeit und Bahá’í-Pilger.


[Seite 528]

Der erste Gang eines jeden Bahá’í-Pilgers gilt dem Schrein des Báb. Auch wir versammeln uns dort zum Gebet. Der Raum ist ausgelegt mit wertvollen Teppichen. Hinter einem zarten Vorhang die eigentliche Grabstätte: liebevoll geschmückt mit Blumenarrangements und einem neunarmigen Leuchter. Ansonsten wird das Auge durch nichts abgelenkt — eine Stätte der Ruhe, Geborgenheit, ein Ort der Meditation, ein nie versiegender Kraftquell. Welch beglückendes Gefühl! „Hier wird die Religion konkret“, notiere ich abends.

Ähnlich ausgestattet ist die Grabstätte von ‘Abdu’l-Bahá, ebenfalls in dem gewaltigen Kuppelbau. Wenig Zierat, nicht eine Spur von Pomp: aber ein Platz, geschaffen zu stiller Versenkung, zu Besinnung — Begriffe, die uns westlich „Zivilisierten“ so sehr abhanden gekommen sind. Wir wollen und werden diese Tage nutzen.

*

Vormittags fließt ein fast nie abreißender Strom von Besuchern durch die Gärten. Reihenweise parken draußen auf der Straße die Touristen-Omnibusse,






Anziehungspunkt ersten Ranges ist die Schönheit der prächtigen Gärten.


[Seite 529] beim Gang durch die blühenden, in voller Farbenpracht stehenden Gärten kommen die Kameras kaum zur Ruhe. Immer wieder ergeben sich auch die reizvollsten Aspekte — auf den Schrein oder hinunter auf Stadt und Hafen Haifa. Die Pilger aus aller Welt fungieren als „Guide“, als Fremdenführer. Wer immer es wünscht, erhält Auskunft über die Gärten, über die Gebäude, über den Glauben. Und oft entstehen lange, interessante Gespräche. Zum Mitnehmen liegt ein kleines, vierseitiges Faltblatt in englischer Sprache vor, in welchem Interessenten zusammengefaßt alles Wissenswerte finden. Wir verteilen jeden Morgen Hunderte davon.

*

Seit 1963 ist Haifa Sitz des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, der höchsten administrativen Körperschaft der Bahá’í-Weltgemeinde. Das neunköpfige Gremium arbeitet im ehemaligen westlichen Pilgerhaus in Haifa. Am zweiten Tag unseres Aufenthalts werden wir dort empfangen. Es ist ein villenähnlicher Bau, im Erdgeschoß eine große Halle, ringsum liegen die Arbeitsräume.

Wie immer: überall strahlende Gesichter, liebevolle Begrüßung. Ali Nakhjavani, ein Mitglied des Hauses, berichtet über die Arbeit, spricht von der wichtigsten Aufgabe, der sich die Bahá’í in aller Welt gegenüber sehen: die Verkündigung der Botschaft Bahá’u’lláhs, die intensive Lehrtätigkeit. Gute Nachrichten kommen insbesondere aus Indien, Afrika und Südamerika. Die Zahl der Bahá’í-Zentren wächst dort unaufhörlich und rapide — ein Zeichen dafür, daß die Menschen gerade jener Erdteile dankbar und aufnahmebereit sind für das aufs neue geoffenbarte Wort Gottes.






Das Haus von Abúd in ‘Akká. Hierher wurde Bahá’u’lláh nach strenger Kerkerhaft verlegt.






Westseite des internationalen Archivgebäudes der Bahá’í auf dem Karmel.


[Seite 530]






Gefängnis in ‘Akká. In der rechten Zelle oben war Bahá’u’lláh eingekerkert.


Keiner von uns, der nicht freudigen Herzens dies vernimmt. Und wir alle spüren, mit welcher Hingabe und mit welch unerschütterlichem Gottvertrauen das Universale Haus ans Werk geht. Auch hier: ein sicherer Hort!

*

„Der Schrein von Bahá’u’lláh, etwa drei Kilometer nördlich von ‘Akká gelegen, ist für die Bahá’í der heiligste Ort der Welt. Bahá’u’lláh war nahezu 40 Jahre in Gefangenschaft und im Exil; verbannt aufgrund von Erlassen des Shahs von Persien und des Sultans der Türkei, zuletzt nach der Gefängnisstadt ‘Akká. Er starb 1892 in Bahji und wurde in einem Gebäude zur letzten Ruhe gebettet, das an jenes Landhaus grenzt, in dem Er die letzten Jahre Seines Lebens verbrachte.“ So lesen es die Interessenten in dem kleinen Faltblatt.

Die Bahá’í-Pilger halten sich zwei Tage in ‘Akká bzw. Bahji auf. Wir kommen in der Abenddämmerung, nach einer rund 25 km langen Autofahrt, in Bahji an. „Bahji“, das heißt wörtlich übersetzt „Entzücken“, und man könnte sich wirklich keinen geeigneteren Namen für dieses Kleinod inmitten einer teilweise wüstenähnlichen Landschaft vorstellen. Das Landhaus: ein herrschaftlich anmutendes Gebäude, in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts fertiggestellt, später von ‘Abdu’l-Bahá käuflich erworben, um Seinem Vater, Bahá’u’lláh, die letzten Jahre in relativer Ruhe zu ermöglichen.


[Seite 531]






Bahji: links das Landhaus, rechts die letzte Ruhestätte von Bahá’u’lláh.


Rund um das Haus und das Grab Bahá’u’lláhs dehnen sich ebenfalls akkurat angelegte Gärten. In der Luft: betörender Blütenduft. Die Gärten verraten den gleichen „Architekten“ wie in Haifa — sie sind alle nach den Plänen von Shoghi Effendi, dem ersten Hüter des Bahá’í-Glaubens, entstanden. Er selbst hat bis zuletzt — er starb im Jahr 1957 — die Arbeiten überwacht.






Vor dem Grabmahl Bahá’u’lláhs.


Vereint: Orient und Okzident.

[Seite 532]

Fällt es schon schwer, Gefühle und Empfindungen an den Grabstätten des Báb und von ‘Abdu’l-Bahá in Worte zu kleiden — hier, am Schrein von Bahá’u’lláh, erscheint es geradezu unmöglich. Auch dieser Raum ist wohltuend einfach gehalten, ein duftiges Gewebe trennt die eigentliche Stätte von dem Besucher. Der Vorraum jedoch ist hell und licht, exotische Pflanzenwelt verleiht ihm zusätzlich eine besondere, in der Tat einmalige Atmosphäre — ein Meer von Teppichen und Grün, ein Ozean voll geistiger Schwingungen. Niemand, der in diesen Augenblicken nicht göttliche Allmacht in seinem tiefsten Innern zu verspüren vermag — und, vielleicht blitzartig, der unbedingten Wahrheit und Größe der durch Bahá’u’lláh gesprochenen Worte gewahr wird.

*

Der folgende Tag gehört ‘Akká. Morgens führt der erste Gang ins ehemalige Gefängnis, in dem Bahá’u’lláh und Mitglieder Seiner Familie von 1868 bis 1870 eingekerkert waren. Die drei Zellen liegen im ersten Stock der alten Kreuzfahrer-Feste, die u. a. auch von Napoleon (vergeblich) belagert worden ist. Rund 70 der mit Bahá’u’lláh hier in Gefangenschaft gehaltenen Bahá’í waren im Untergeschoß zusammen mit Schwerverbrechern inhaftiert. Heute dient ein Teil des Gefängnisses als nationales Museum; in einem anderen Teil sind nervenkranke Kriminelle untergebracht. Enge Winkel, Staub und ein beklemmendes Gewirr von Dächern und Wänden sind noch immer der vorherrschende Eindruck dieses Teils der Stadt ‘Akká. Wie muß es hier erst vor 100 Jahren ausgesehen haben!

Direkt hinter der zum Meer hin errichteten Stadtmauer, etwa 200 Meter vom Gefängnis entfernt, liegt das Haus von Abúd, in das Bahá’u’lláh, noch immer ein Gefangener, nach Seiner strengen Festungshaft verlegt worden war. In ihm hat Er, im Jahr 1873, das Buch ‘Aqdas, das Buch der Gesetze, geoffenbart, das für die künftige Gesellschaftsordnung der Welt maßgebliche Richtschnur sein wird. Die Pilger verbringen heute mehrere Stunden in diesem Haus, das, wie auch das Landhaus in Bahji, einem kleinen Museum ähnelt und unschätzbare Kostbarkeiten und Erinnerungen birgt.

Ein kurzer Besuch gilt dem kleinen Garten Ridván, etwas außerhalb der Stadt ‘Akká, den Bahá’u’lláh nach vielen Jahren der Gefangenschaft aufzusuchen pflegte, und in dem Er auch wieder ein wenig mit der Natur in Berührung kam. Das Haus in Mazra’ih, nördlich von ‘Akká, lernen die Pilger gleichfalls kennen. Hier verbrachte Bahá’u’lláh zwei Jahre. — Es sind alles Aufenthalte, die sich tief in das Innere der Seele graben, Stunden, in denen man sich mehr denn je und anderswo dem Geist der göttlichen Botschaft nahe fühlt.

*

Unersetzliches Kleinod ist das internationale Archivgebäude im oberen Teil der Gärten am Berge Karmel. Es wurde im Jahre 1956 fertiggestellt. Wie der Schrein des Báb ist auch dieses Gebäude aus italienischem Marmor errichtet. Während die Kuppel des Schreins mit 12 000 vergoldeten [Seite 533]






Blick ins Innere des Landhauses von Bahji. Sämtliche Fotos: Schubert.


Ziegeln gedeckt ist, kontrastieren beim Archiv grüne Ziegel zu den weißen Außenwänden.

Kostbarste Schätze im Archiv sind ohne Zweifel die einzige vorhandene Fotografie von Bahá’u’lláh (vermutlich aus dem Jahr 1868), zwei von einem Künstler aus dem Gedächtnis gemalte und später kolorierte Bildnisse des Báb sowie zahlreiche handschriftliche Originale des Báb, von Bahá’u’lláh und ‘Abdu’l-Bahá. Kein Stück ist zu finden, über dessen Identität nicht einwandfrei von Shoghi Effendi befunden worden ist. Mehrere Stunden halten wir uns in der großen Halle auf, deren Fußboden ebenfalls kostbare Teppiche — Spenden meist persischer Freunde — bedecken.

Doch was sind schon Stunden angesichts dieser Fülle? Monatelang möchte man sich hier vertiefen!

*

Neun Tage Bahá’í-Pilger in Haifa: Wenn je irgendwo die Floskel von der Zeit, die wie im Fluge vergeht, Gültigkeit hat, dann hier. Neun Tage Haifa: Das heißt, sich in einer Welt bewegen, ach so fern von den Sorgen des Tages, so fern von den banalen Kleinigkeiten, die uns das Leben mitunter so beschwerlich erscheinen lassen; es sind Tage, in denen die Seele des aufgeschlossenen Besuchers ihre Hoch-Zeit erlebt, Tage der unermeßlich geistigen Bereicherung, ganz einfach: Tage der Freude und Wonne. Aber es sind auch Tage, die uns unsere Verpflichtung klar vor Augen führen: die unabänderliche Verpflichtung Gott gegenüber, Seinen Offenbarern und unseren Mitmenschen ...


[Seite 534]



NEU AUF UNSEREM Büchertisch[Bearbeiten]

„Selbstzeugnisse des deutschen Judentums 1870—1945“, hgg. v. Achim v. Borries, Bücher des Wissens, Fischer-Bücherei Nr. 439, Frankfurt/Main 1962, 200 S., Paperback DM 2.60

Ein Taschenbuch, das jeder zur Hand haben sollte, der sich um ein neues Weltverständnis müht. Übersichtlich geordnet in die Abschnitte „Deutschtum und Judentum“, „Jüdisches Selbstverständnis („Selbsterfahrung und Sinndeutung“, „Judentum und Christentum“) und „Die Menschheitsfrage“ gibt diese sorgfältige Auswahl analytische und konstruktive Äußerungen von 35 prominenten deutschen Schriftstellern jüdischer Herkunft wieder.

Wer vom christlichen oder humanistisch-idealistischen Denken her die „Menschheitsfrage“ anzupacken sucht, wird erstaunt sein zu sehen, wie der jüdische Geist unablässig um diese Frage kreist, vor allem in der Ausprägung des messianischen Gedankens, der in einem gewissen Gegensatz zum Zionismus, einer nationalistischen Version sui generis, steht. Es offenbart sich viel klare Schau, wenn man von der Einheit Gottes zur Einheit der Menschheit hin ableitet. „Die Geschichte der Völker, als die Geschichte der Menschheit, ist das Problem des prophetischen Messianismus“ (Hermann Cohen, S. 171). Die Auserwähltheit der jüdischen Gemeinschaft steht ganz unter dem Aspekt des gläubigen Wissens um die „harmonische Vollendung“ der Menschheitsgeschichte, den „Geschichtssabbat“ (Moses Hess, S. 170). Auch der Gegensatz zum Christentum beruht keineswegs darauf, daß Jesus nicht als ein wahrer Prophet erkannt würde; er richtet sich vielmehr gegen die dogmatische Romantisierung des Gottesbegriffs, die „Vergötzung Christi“ und dagegen, daß die Kirche „vollkommen die Welt zugeschlossen und, wie die alten messianischen Hoffnungen, so die Apokalypse selber unterschlagen oder vermittelst des Pfingstfestes zu einer bloßen universalen Wiederholungsszene und Tautologie des bereits Geschehenen abgeschwächt“ hat (Ernst Bloch, S. 156).

Der kleine Band gibt reichen Anlaß zu den vielfältigsten Überlegungen. Nach dem Richtmaß eines neuen messianischen Denkens verlagert sich insbesondere auch die historische Schuld des Judentums von dem mittelalterlichen Vorwurf des „Gottesmordes“ auf einen anderen Schwerpunkt: Hätte sich die christliche Dogmatik überhaupt so verabsolutiert und versteinert, wenn die junge christliche Gemeinde nicht in den prägsamsten Epochen ihrer Anfangsentwicklung der hartnäckigen Opposition der Synagoge gegenübergestanden wäre? Ist man andererseits als Jude auf das Kommen des Messias gerüstet, ohne — wie es in manchen Beiträgen (Franz Rosenzweig, Martin Buber u. a.) anklingt — die Liebes- und Erlösungserfahrung des Evangeliums nachzuvollziehen und darüber hinaus zu einem universellen Begriff der Wirksamkeit eines Gottesoffenbarers, jenseits von allem Gesetzesdenken, zu kommen? An der Aufrichtigkeit des Suchens kann, was den jüdischen Religionskreis anbelangt, kein Zweifel aufkommen. Das beweist dieses Buch.

P.M.


[Seite 535]



WIR ERHALTEN Post[Bearbeiten]

Aus Südamerika schreibt uns Frau E. F., die Witwe eines deutschen Arztes:

Da heute alles ein weltweites Echo hat, habe ich hier im fernen Argentinien in „Kristall“ Nr. 23/64 den Artikel über Ihre Bewegung gelesen und kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich ich bin zu wissen, daß es Menschen gibt, die einen neuen Weg der Verständigung suchen. Seit Jahren schreibe ich mir die Finger wund, um den Menschen ein neues religiöses Denken nahezulegen ...

In allen Religionen finden wir — wie Sie alle es sehr richtig erkennen — die Anerkennung einer höheren Macht, ganz gleich, ob wir sie nun Gott oder Allah nennen. Das Ziel ist stets dasselbe, nur die Wege, die Zeremonien sind verschieden. Ich weiß nicht, ob das Jesuswort bekannt ist, welches vor einigen Jahren in den Papyrusrollen am Toten Meer gefunden worden ist. In der Zeitschrift „Quick“ Nr. 16/59 fand ich es aufgezeichnet ... Dieses Jesuswort ist — meiner Meinung nach — die unanfechtbare Grundlage für einen wahren Frieden und wird uns aus dem jetzigen Chaos erlösen. Dort steht geschrieben:

„Wenn die, die euch führen, zu euch sprechen: Siehe, das Königreich ist im Himmel, dann werden die Vögel des Himmels vor euch dort sein; wenn sie sagen, es ist im Meer, dann werden die Fische vor euch dort sein. Ich aber sage euch: Das Königreich ist in euch und um euch!“

Das „Königreich“ aber ist das Höchste, ist der „Gottgeist der Ewigkeit“, der das Weltall beseelt und nach geheimnisvollen Gesetzen ordnet. Nicht einen imaginären Gott außerhalb unseres Seins anbeten, sondern Ihn im eigenen Herzen und in dem unserer Mitmenschen, gleich welcher Rasse, welchem Volk oder welcher Religion sie angehören, suchen und anerkennen! Auf jeden einzelnen kommt es an, daß er diese göttliche Beseelung in sich und um sich wirken läßt. Dazu gehört vor allem, daß er täglich aufs neue bewußt den Kampf gegen die oft alles überwuchernden Triebe des Egoismus aufnimmt, die Quelle alles Bösen und Schlechten.

Der Mensch ist nicht sündig von Geburt an — wie könnte er es sein, wenn er vom Gottgeist beseelt ist, der Inkarnation des Guten, der Harmonie? — sondern er hat als Bewährungsprobe im irdischen Leben den Kampf gegen den Egoismus zu bestehen. Wieviel Leid und Tränen wären den Menschen in all den Jahrhunderten erspart geblieben, hätte das christliche Dogma auf dieser wahren Lehre Jesu aufgebaut ...

Im Gebet der frommen Mönche auf dem Berge Athos ... finden wir denselben Gedanken. Sie beten:

„Er ist nicht gestorben — Er lebt in unseren Herzen!“

Auch die indische Religion lehrt dasselbe: "

„Siehe, Ich Selbst bin Ur-Sein.“

Und am Anfang der Bibel steht das Wort:

„Zum Bilde Gottes schuf Er ihn.“

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Das am Toten Meer aufgefundene Jesuswort ist die Bestätigung dieser religiösen Gedanken. Es wird sich seinen Weg bahnen, wenn auch verblendete Menschen es bisher totgeschwiegen haben. Ist es nicht, als reichte uns Jesus, der Einer der Auserwählten war, wie wir sie immer wieder in allen Völkern finden, noch einmal über die Jahrhunderte hinweg mit seinem Wort die Hand, um uns aus dem Kreis der Disharmonie, in den wir uns immer tiefer verstricken, in die lichte Welt der Harmonie zu führen? Alle irdischen Probleme privater wie völkischer Natur könnten sich lösen, es gäbe keine Verbrechen, keine Verfolgungen, keinen Rassenhaß und vor allem keine kriegerischen Auseinandersetzungen mehr ...

Das Erschütterndste unserer Zeit ist die Einstellung der meisten Jugendlichen zum Sinn des Lebens. Ihr Sehnen und Suchen nach dem Ideal, dem sie nachleben können, überdecken sie mit sinnlosen Vergnügungen, die sie unbefriedigt lassen. Geben wir der Jugend einen verpflichtenden Leitgedanken für ihren Lebensweg, den wir in dem Jesuswort finden, und sie werden sich bemühen, ihre saloppe Haltung zu ändern: das Ideal eines sich seiner selbst bewußten Menschen, der sich zutiefst dem Gottgeist der Ewigkeit verbunden fühlt, dem er in Demut und Stolz zugleich in seinem Denken und Handeln jederzeit dienen will, das Ideal, das nur zu erreichen ist

im ständigen, bewußten Kampf gegen die Triebe des Egoismus,
in treuester Pflichterfüllung im Alltag,
in der konsequenten Ablehnung aller Gemeinheiten, allen Schmutzes,
in der Freude an allem Schönen und Edlen,
in der gütigen Hilfsbereitschaft für alle vom Gottgeist beseelten Geschöpfe, Tiere und Pflanzen inbegriffen,
in der bedingungslosen Bejahung des geschenkten Lebens,
in der Achtung aller Menschen, gleich welcher Rasse und Hautfarbe.

Nur wer im Ewigen sich geborgen fühlt, besitzt die innere Ruhe und Sicherheit, um sich und seinen Mitmenschen ein Leben in Freiheit und Frieden glücklich gestalten zu können; er wird „das Königreich in sich und um sich wirken lassen ...“


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