Bahai Briefe/Heft 19/Text

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BAHÁ'I-

BRIEFE


BLÄTTER FÜR

WELTRELIGION UND

WELTBEWUSSTSEIN



AUS DEM INHALT:


Bahá’u’lláh und die Christen

Religion und Fortschritt

Die ewige Wahrheit des Christentums

Das Kreuz und die Sünde

Vom Geist der Beratung


JANUAR 1965 HEFT 19

D 20 155 F


[Seite 428] [Seite 429]



O ihr Völker und Geschlechter der Erde, die ihr einander bekämpfet! Wendet euer Angesicht der Einheit zu und laßt den Glanz ihres Lichtes auf euch scheinen. Versammelt euch und beschließt um der Sache Gottes willen, all das auszurotten, was die Quelle des Streites unter euch ist. Alsdann wird der Glanz der erhabenen Leuchte die ganze Erde umhüllen, und ihre Bewohner werden die Bürger einer Stadt werden und einen und denselben Sitz einnehmen. Dieser Unterdrückte hat seit den frühen Tagen Seines Lebens keinen anderen Wunsch als diesen gehegt und wird auch künftig keinen anderen Wunsch als diesen nähren. Die Völker der Welt, welcher Rasse oder Religion sie auch angehören mögen, leiten ihre Erkenntnis unzweifelhaft aus einer himmlischen Quelle her, und alle sind die Geschöpfe eines Gottes. Die Verschiedenheit ihrer Lebensordnungen muß den wechselnden Anforderungen und Bedürfnissen des Zeitalters zugeschrieben werden, in denen sie geoffenbart wurden. Alle, außer wenigen, die das Ergebnis menschlicher Verderbtheit sind, traten auf Gottes Geheiß in Erscheinung, und sie sind ein Abglanz Seines Willens und Seiner Absicht.


Erhebt euch, ausgestattet mit der Kraft des Glaubens, und reißt die Götzen eurer eitlen Einbildungen, die Zwietracht unter euch säten, in Stücke. Haltet euch an das, was euch zusammenführt und einigt. Dies ist das erhabenste Wort, das das Mutterbuch auf euch herabgesandt und euch geoffenbart hat. Dies bezeugt die Zunge der Größe aus ihrer Wohnung der Herrlichkeit.

Bahá’u’lláh
(Ährenlese CXI)


[Seite 430]



William S. Hatcher:

Bahá’u’lláh und die Christen[Bearbeiten]

Auf Einladung des Ökumenischen Studienzentrums des Weltkirchenrats der reformierten und orthodoxen Kirchen hielt der amerikanische Bahá’í in der Schweiz, Dr. William S. Hatcher, am 31. Oktober 1963 im Schloß Bossey bei Genf vor etwa 60 Pfarrern und Theologiestudenten einen Vortrag, den wir nachstehend mit geringen Kürzungen wiedergeben und der bei den gelehrten Zuhörern beträchtliches Aufsehen erregte. Dr. Hatcher hatte selbst Theologie studiert, ehe er sich kurz vor dem Examen als Bahá’í erklärte. Die Dissertation über „Die Logik in der Mathematik“, mit der er in Neuenburg (Schweiz) promovierte, wurde von der französischen Akademie der Wissenschaften veröffentlicht.
D. Red.
*

Wir befinden uns in einem neuen Zeitalter. Wie immer unsere philosophische oder religiöse Überzeugung oder unsere Lebenseinstellung sein mag, es bleibt eine objektive Tatsache, daß seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein neues Zeitalter in der Menschheitsgeschichte hereingebrochen ist.

Das auffallendste Merkmal unseres Zeitalters ist wohl das erstaunliche Wachstum wissenschaftlicher Kenntnisse. Alle Wesensmerkmale unserer Zeit stammen eigentlich von diesem einen zentralen Faktor ab: von der enormen Beschleunigung des wissenschaftlichen Wachstums in den letzten 100 bis 150 Jahren. Nur wenige sind sich darüber klar, wieviel größer das Maß dieser Entwicklung ist als das der gesamten übrigen Geschichte.


Der Fortschritt der Wissenschaft

Sir James Jeans, der britische Astronom, behauptet, daß in den letzten hundert Jahren ein größerer wissenschaftlicher Fortschritt stattgefunden hat als in der gesamten übrigen Geschichte dieses Planeten (einer Periode von insgesamt zweieinhalb Milliarden Jahren). Und tatsächlich wurden neunzig Prozent oder mehr der gesamten Kenntnisse, die wir heute auf dem Gebiet der Mathematik, der Physik usw. besitzen, in dieser kurzen Periode von hundert Jahren erreicht.

Wir wollen keineswegs die Werke großer Genies der Vergangenheit verkennen oder uns in einem falschen Stolz über „unsere“ Errungenschaften brüsten: nur wenige von uns hatten überhaupt etwas damit zu tun! Auch kann man zweifelsohne die ersten Anfänge der modernen Wissenschaft bereits im 16. und 17. Jahrhundert wahrnehmen. Doch die historische Tatsache bleibt bestehen: Die Gesamtsumme aller wissenschaftlichen [Seite 431] Erkenntnisse, die es vor 1800 (oder gar 1850) gab, war minimal im Vergleich mit dem, was seither geschah.

Eine Idee von den Ausmaßen dieser Entwicklung gibt uns die folgende Analogie von J. H. Rush aus seiner Schrift: „Ursprung des Lebens“. Wenn wir die gesamte Geschichte unseres Planeten als ein Jahr betrachten, dann erscheinen die ersten Lebensformen im Februar oder März; die Vegetation der Pflanzen beginnt etwa Ende Oktober, die ersten Menschen treten am 30. und 31. Dezember auf. Das römische Kaiserreich deckt etwa die Spanne vom 31. Dezember, 23 Uhr 59 Minuten und 30 Sekunden bis 23 Uhr 59 Minuten und 40 Sekunden. Die Anfänge moderner Wissenschaft erscheinen am 31. Dezember um 23 Uhr 59 Minuten und 52 Sekunden. Die letzten hundert Jahre wären durch eine Sekunde dargestellt, die letzte Sekunde der letzten Stunde am 31. Dezember. Und doch war der wissenschaftliche Fortschritt in dieser einen Sekunde größer als während der gesamten Planetengeschichte, die ihr vorausging.


Die Wirkung auf die Menschheit

Was war die Wirkung dieses ungeheuren wissenschaftlichen Fortschritts? Wie hat er die menschliche Gesellschaft beeinflußt?

Die menschliche Gesellschaft ist auf zweierlei Art umgestaltet worden: Erstens sehen wir, daß — räumlich betrachtet — die Erde über Nacht zu einer einzigen Nachbarschaft zusammengeschrumpft ist. Durch das, was Toynbee „die Vernichtung der Entfernung“ nennt — ein Ergebnis der Technologie, des sozialen Sprößlings der Wissenschaft —, stoßen die verschiedenartigen Kulturen und Religionen unmittelbar aufeinander.

Vor dem Jahre 1800 war die Welt aus einer Anzahl verschiedener, mehr oder weniger abgesonderter kultureller Einheiten oder Gesellschaften zusammengesetzt, die Seite an Seite bestanden. Mit Ausnahme einiger Weltreisender bestanden kaum Beziehungen zwischen diesen verschiedenen Kulturen. Jede war eine Welt für sich, selbstgenügsam und relativ unberührt von äußerem Einfluß. Der Muslim im Osten konnte sein ganzes Leben so leben, als ob die Christen im Westen gar nicht existierten, ebenso der Hindu in Indien oder der Buddhist in China. Der Europäer nahm an, seine Kultur sei der höchste Gipfel aller Menschheitsgeschichte und das Christentum die einzig annehmbare Religion.

Doch jetzt, 150 Jahre später, wurden diese verschiedenartigen kulturellen Einheiten zusammengeworfen. Sie sind gezwungen, eine gemeinsame Grundlage der Verständigung zu finden, auf der sie gemeinsam in einer Welt zusammenleben können. Der Muslim kann nicht mehr darauf beharren, in einer Welt zu leben, von der die Christen ausgeschlossen sind, noch können die Christen einer Welt entrinnen, in welcher Muslime, Hindus und Buddhisten wesentliche Bestandteile sind. Die ökumenische Bewegung ist für einen Teil der Christenheit die Antwort auf das Problem, eine Versöhnung zu finden zwischen den verschiedenartigen Elementen innerhalb des Christentums.

Das zweite Ergebnis der wissenschaftlichen Entwicklung während des [Seite 432] letzten Jahrhunderts ist, daß sie den Menschen die Möglichkeit verschafft hat, sich selbst zu vernichten. Zu derselben Zeit, da die verschiedenen Kulturen der Welt nachbarschaftlich vereint wurden, hat die Menschheit die furchtbare Gewalt der Atomkraft in den Griff bekommen. Die Menschheit ist nicht nur äußerlich verbunden, sie teilt auch ein gemeinsames Schicksal, entweder Welteinheit oder völlige Vernichtung.

Es ist vor allem diese Tatsache, die unser Zeitalter völlig einzigartig in der Geschichte macht. Wer diese Situation verkleinert mit dem Hinweis, die Geschichte habe bereits früher derartige Krisen gekannt, verkennt völlig einen wesentlichen Punkt: Bis heute umfaßte eine Krise nie die ganze Menschheit, sondern nur einen Teil, eine besondere Rasse oder Nation. Es ist die Tatsache, daß die gesamte Menschheit gemeinsam zugrunde geht oder überlebt, die unser Zeitalter so einzigartig macht.

Es soll keineswegs behauptet werden, der Mensch sei heute schlechter als in früheren Jahrhunderten. Ich habe die Frage einer moralischen Bewertung nicht einmal aufgeworfen, denn sie hätte den Punkt, den ich hervorheben wollte, verdunkelt. Es handelt sich nicht darum, daß die Technologie die Ursache der Verschlechterung des Menschen wäre; sie hat nur dem Menschen unendlich größere Möglichkeiten gegeben, seine eventuell üblen Absichten auszuführen, und deswegen erscheint die Technologie so ungeheuer wichtig. Was sich in den Gehirnen und Herzen der Individuen in Moskau oder Peking zusammenbraut, kann uns hier in Genf hundertmal mehr beeinflussen, als was in Bern oder Lausanne geschieht. In den vergangenen Jahrhunderten mögen die Einwohner von Moskau und Peking denselben Grad von Moralität gehabt haben, aber damals konnte es uns — im Guten wie im Schlechten — wenig berühren.

Viele Gruppen und Denker unserer Zeit haben die Bedeutung der Situation erkannt. Ich möchte einige Beispiele aus dem Christentum erwähnen. Die amerikanische Zeitschrift „Christian Century“ veröffentlichte vor einigen Jahren in einem Leitartikel folgendes: „... Der größte Dienst, den die Kirche heute der Nation leisten kann, ist, die Menschen zum Gebet vor dem allmächtigen Gott aufzurufen, Er möge einen oder einige Führer senden, die unsere Gedanken in eine völlig neue Richtung lenken. Und wir werden Tag und Nacht beten, daß wir, wenn diese Führung erscheint, den Mut haben werden, ihr zu folgen und sie nicht zu kreuzigen!“

In demselben Sinne schrieb Albert Schweitzer: „Wir wissen nicht, was das äußerste Ziel ist, zu dem wir uns hinbewegen, noch was dieses Etwas ist, das neues Leben und richtunggebende Prinzipien den nachfolgenden Jahrhunderten bringen wird. Wir können nur dunkel ahnen, daß es das mächtige Werk eines mächtigen Ur-Genies sein wird, dessen Wirklichkeit schon dadurch bewiesen wird, daß wir, die wir mit unseren schwächlichen Halbmaßnahmen arbeiten, uns ihm mit aller Kraft entgegenstemmen werden, wir, die wir uns einbilden, nichts dringender zu wünschen als einen Genius, der mit Autorität versehen machtvoll genug ist, einen neuen Pfad für die Menschheit zu eröffnen, weil wir erkennen, daß wir sie nicht weiter voranbringen können auf dem Pfade, den wir so mühselig vorbereitet hatten.“ [Seite 433]


Der Bahá’í-Glaube und die Zeit, in der wir leben

Die Bahá’í glauben, daß diese Führerschaft, die die Menschheit erwartet, in der Gestalt von Bahá’u’lláh erschienen ist. Bahá’u’lláh Selbst beanspruchte, ein Offenbarer zu sein, im selben Rang und von derselben Natur wie Christus. Bahá’u’lláh prophezeite, daß ein großer Umsturz die Menschheit heimsuchen würde. 1868 schrieb Er: „Es gibt ein seltsames und wunderbares Mittel in der Erde, aber es ist dem Menschengeist und den Seelen noch verborgen. Es ist ein Mittel, das die Macht besitzt, die Atmosphäre der ganzen Erde zu verändern, und sein Gift verursacht Zerstörung.“ In einem anderen Tablet warnt Bahá’u’lláh, daß diese Kraft, wenn sie vor dem Reifwerden der Menschheit entdeckt werden sollte, schwerwiegende Folgen haben würde. Die großen Welterschütterungen verbindet Bahá’u’lláh mit Seiner eigenen Offenbarung: „Das Gleichgewicht der Welt schwankt infolge der ausstrahlenden Schwingungen dieser größten und neuen Weltordnung. Die Lebensweise der Menschheit ist in Aufruhr geraten durch das Wirken dieses einzigartigen und wundersamen Planes, desgleichen menschliche Augen noch nie geschaut haben.“

Kurzum, die Bahá’í glauben, daß dieses Wachstum der Wissenschaft, das für unser Zeitalter charakteristisch ist, ein indirektes Ergebnis der durch Bahá’u’lláh ausgelösten geistigen Kraft darstellt. Die Bahá’í glauben sogar, daß diese Krise, die die Menschheit heute durchlebt, von Gott herbeigeführt wurde, um die Menschen zu einer größeren Einheit zu zwingen, als sie sonst je hätte erzielt werden können: eine geistige und organische Einheit des gesamten Menschengeschlechts, die Bildung einer Weltgemeinschaft. Bahá’u’lláh lehrte, daß eine solche Vereinigung der Menschheit weit mehr ist als bloß ein politisches Ziel: Es ist die unabwendbare nächste Stufe der menschlichen Entwicklung, das gottgewollte, gottgelenkte Ziel der Menschheitsgeschichte auf diesem Planeten.

Bahá’u’lláhs Offenbarung, die in mehr als 100 Büchern und Sendschreiben niedergelegt ist, enthält nicht nur reichhaltige Lehren für das individuelle geistige Leben, sondern ausführliche Pläne für das wirtschaftliche und soziale Wohlergehen der Menschheit. Bahá’u’lláh betrachtet Seine sozialen Gesetze als „göttlich verordnet“ und als das einzige Heilmittel, die Übel der Gesellschaft zu beheben. „Der allwissende Arzt legt Seinen Finger an den Puls der Menschheit. Er erkennt die Krankheit und verschreibt in Seiner unfehlbaren Weisheit das Heilmittel.“

So enthalten Bahá’u’lláhs Schriften einen umfassenden Plan für eine Weltgemeinschaft. Einige der Prinzipien Bahá’u’lláhs sind: die Schaffung einer Welthilfssprache, die Gründung eines Weltschiedsgerichtshofes, eines Weltparlaments und einer Weltregierung, Gewinnbeteiligung der Arbeitnehmer, die Übereinstimmung zwischen Religion, Wissenschaft und Vernunft und vieles mehr.


Die Bahá’í-Religion und das Christentum

Die Bahá’í glauben, daß Bahá’u’lláh die Wiederkehr Christi ist, die uns im Alten wie im Neuen Testament verheißen wurde. Es ist wichtig zu erkennen, daß dies keineswegs ein Rang ist, den die Bahá’í in ihrem Übereifer [Seite 434] Bahá’u’lláh anzuhängen beliebten, vielmehr ein Anspruch, den Bahá’u’lláh Selbst wiederholt und öffentlich geäußert hat, sowohl mündlich als auch in Seinen Schriften, während einer ununterbrochenen Periode von 40 Jahren. Erlauben Sie mir, einige Stellen aus Bahá’u’lláhs Schriften zu zitieren:

„O Papst! Zerreiße die Schleier! Er, der Herr der Herren, ist gekommen, von Wolken überschattet, und der Ratschluß ist erfüllt worden durch Gott, den Allmächtigen, den Unbeschränkten ... Er, wahrlich, ist wieder herniedergekommen vom Himmel, wie Er von dort zum ersten Male herniedergekommen war! Hüte dich, mit Ihm zu streiten, so wie die Pharisäer mit Ihm (Jesus) stritten ohne klares Zeichen oder Beweis... Rufe dir Ihn ins Gedächtnis, welches der Geist war (Jesus), wie, als Er kam, die Gelehrtesten Seiner Zeit in Seinem eigenen Lande das Urteil gegen Ihn fällten, während einer, der nur ein Fischer war, an Ihn glaubte.“

„Ich bin Der, Den die Zunge Jesajas gepriesen hat, Der, mit Dessen Namen sowohl die Torah wie das Evangelium geschmückt wurden ...“

„Wenn Ihr darauf bedacht seid, Jesus, den Geist Gottes, noch einmal zu kreuzigen, so tötet Mich, denn Er ist euch in Meiner Person wieder geoffenbart worden.“

„Sprich: O Nachfolger von Jesus, ist es Mein Name, der euch daran hindert, Mich zu erkennen? Warum denkt ihr nicht nach? Tag und Nacht habt ihr euren Herrn, den Selbstbestehenden, gerufen, und als Er in Seiner größten Herrlichkeit vom Himmel des Ur-Seins kam, seid ihr Ihm weder entgegengegangen, noch habt ihr euch um Ihn gekümmert ... Wir sind unter euch gekommen und haben die Abscheulichkeiten dieser Erde ertragen um eures Heiles Willen. Wollt ihr fliehen vor Ihm, Der Seine Seele für Euer Leben geopfert hat? Fürchtet Gott, o Christenheit, und folget nicht denen, die mit ihrem Wissen prahlen und doch zu den Verlorenen zählen.“


Fortschreitende Offenbarung

Bahá’u’lláh lehrte, daß die Offenbarung des göttlichen Willens an die Menschheit fortschreitend ist, durch eine Reihe göttlicher Boten, oder, wie Er sie nennt, Manifestationen.

Gott hat von Zeitalter zu Zeitalter und zu verschiedenen Kulturen unmittelbar von Ihm inspirierte Manifestationen gesandt. Sie sind mehr als nur gewöhnliche menschliche Wesen, sind mit besonderen Fähigkeiten begabt, die wir Menschen nicht besitzen. Sie verfügen über ein totales Gottesbewußtsein und eine Kenntnis aller Dinge. Wir Menschen haben wohl auch die Kenntnis und das Bewußtsein der Gegenwart des göttlichen Geistes, aber in weit geringerem Grade als die Manifestationen, und abgeleitet von ihnen. Jede Hochreligion beansprucht, daß ihr Gründer irgendwie einzigartig und daher hoch erhaben über alle anderen Religionsgründer ist. Das ist die theologische Grundlage für den jahrhundertelangen Streit zwischen den Anhängern der verschiedenen Religionen. Bahá’u’lláh lehrt, daß im Grunde genommen die Wesenheit dieser Religionsstifter die gleiche ist. Die Manifestationen, sagt Bahá’u’lláh, „wohnen [Seite 435] im nämlichen Heiligtum, schweben im nämlichen Himmel, sitzen auf dem nämlichen Throne, führen die nämliche Rede und verkünden den nämlichen Glauben“.

Bahá’u’lláh gibt uns viele Beispiele, um die Wesensidentität der Manifestationen zu erklären. In einer dieser Analogien vergleicht Er Gott, den Schöpfer, mit der Sonne, und die Manifestationen mit reinen und vollkommenen Spiegeln, Die der Sonne (Gott) zugewandt sind. Obwohl der individuelle Spiegel von Christus (Seine menschliche Persönlichkeit) verschieden ist von demjenigen Bahá’u’lláhs, ist das Licht, das sich in Ihnen widerspiegelt, dasselbe. Diese Analogie erklärt auch solche scheinbar sich widersprechenden Worte Jesu: „Wenn ihr Mich kenntet, so kenntet ihr auch Meinen Vater“ (Joh. 8, 19) und „Ich tue nichts von Mir Selber, sondern wie Mich Mein Vater gelehrt hat, so rede Ich“ (Joh. 8, 28). Der Spiegel, vollkommen und rein, verdankt sein Licht und seine Wärme dennoch der Sonne — und nicht sich selbst. Wer jedoch in den Spiegel schaut, sieht in ihm die Sonne, und so kann er die Eigenschaften der Sonne erkennen. Dieses selbe Licht wurde in allen Manifestationen widergespiegelt. Dieses Licht ist der Logos, das ewige Wort, das in jeder Manifestation erschienen ist. („Ehe Abraham war, bin Ich!“ Joh. 8, 58).

Aber Bahá’u’lláh lehrt auch, daß Gott (die Sonne in unserer Analogie) niemals herniedersteigt und sich in der Persönlichkeit der Manifestation inkarniert. Es sind vielmehr Seine Attribute oder Eigenschaften (die Strahlen der Sonne), welche uns durch die Manifestation geoffenbart werden. Um Shoghi Effendi zu zitieren: „Der menschliche Tempel, der zum Träger einer so überwältigenden Offenbarung gemacht wurde, muß — wenn wir den Leitsätzen unseres Glaubens treu sind — stets voll gesondert bleiben von dem ‚innersten Geist des Geistes‘ und der ‚ewigen Wesenheit der Wesenheiten‘ — jenem unsichtbaren und doch der Vernunft entsprechenden Gott, Dessen unverkennbare, unzerstörbare und allumfassende Wirklichkeit, wie sehr wir auch immer die Göttlichkeit Seiner Manifestation auf Erden preisen, sich doch in keiner Weise in Gestalt eines sterblichen Geschöpfes, verdichtet und umgrenzt, verkörpern kann.“

Obwohl jede Manifestation allwissend ist, sind ihre Offenbarungen notwendigerweise relativ und fortschreitend gemäß dem Entwicklungsstand der Menschheit, Die Manifestationen sprechen in der Sprache, die ihre Umgebung verstehen kann, denn eine Sprache, die keiner fähig ist zu verstehen, hat für die Menschheit wenig Wert. Diesbezüglich ist eine kleine Geschichte von Bahá’u’lláh ganz interessant: Er vernichtete eines Tages eines Seiner kurz zuvor geschriebenen Manuskripte mit den Worten: „Tausende von Jahren werden vergehen, bevor irgend ein menschliches Wesen fähig sein wird zu fassen, was Ich soeben geschrieben habe.“ So sind denn auch die Offenbarungen Gottes relativ zu dem Zeitalter und der Kultur, in welcher sie erscheinen. Aber diese Relativität ist abhängig von den Menschen, nicht von den Manifestationen; falsch ist die Annahme, daß letztere verschiedene Fähigkeiten besitzen.

In folgenden Worten faßt Bahá’u’lláh deutlich diese Lehre zusammen: „Diese Grundsätze und Gesetze, diese sicher begründeten und mächtigen Systeme sind einer Quelle entsprungen und sind die Strahlen eines [Seite 436] Lichtes. Daß sie voneinander abweichen, ist den wechselnden Erfordernissen der Zeitalter zuzuschreiben, in denen sie verkündet wurden.“

Ein andermal macht Bahá’u’lláh darauf aufmerksam, daß jede Offenbarung einen geistigen und einen praktischen, sozialen Teil hat. Das geistige Gesetz wird von jeder Manifestation wiedererwähnt, aber mit fortschreitender Ausführlichkeit und Tiefe, entsprechend dem fortschreitenden Verständnis der Menschen für die feineren und tieferen Aspekte dieses Gesetzes. Doch bleibt dieses Gesetz wesentlich dasselbe — obwohl unser Verständnis dafür wächst. Die sozialen Gebote sind den besonderen Nöten der Gesellschaft gewidmet, in welcher die Manifestation erscheint, und sie unterliegen vielfach der Aufhebung und Änderung durch die folgende Manifestation. Die jüdischen Speisegesetze sind ein treffendes Beispiel hierfür.

Jede Manifestation bildet die Grundlage einer großen Kultur. Sie sind tatsächlich die Quelle jeglicher Zivilisation, sowohl der materiellen als auch der geistigen. Alle Künste und Wissenschaften sind durch Ihr Erscheinen ausgelöst und durch Ihren Geist erzeugt, und nichts davon würde sonst bestehen.

Die Geschichte unterstützt diese Aussage Bahá’u’lláhs. Die Gesetze Moses schufen eine Kultur, die der Höhepunkt Seines Zeitalters war. Ähnlich waren die Lehren Zoroasters die Ursache des Ruhmes des alten Persien. Westliche Historiker haben oft die Tatsache außer acht gelassen, daß die arabische Zivilisation, die streng auf Muhammads Offenbarung gründet, die höchste Kultur war, die die Menschheit je gesehen hatte bis zum Beginn des modernen Europas. Tatsächlich war es größtenteils durch den Islam, daß Europa von dem „dunklen Mittelalter“ erlöst wurde (vgl. G. Ducoudray: Historie de la Civilisation, Paris, 1886, S. 1104).


Der Niedergang der traditionellen Religionen

Bahá’u’lláh lehrte, daß jede der traditionellen Hochreligionen zwar rein in ihrem Beginn war, jedoch im Laufe der Jahrhunderte durch Traditionalismus, Klerikalismus usw. verdorben wurde. Die gegenwärtigen Formen dieser Religionen repräsentieren keineswegs die von den Gründern erklärten Lehren. Als Beispiel für das Christentum braucht man nur an die Kreuzzüge zu denken, an die christliche Verfolgung der „heidnischen“ römischen Religionen und der „ketzerischen“ christlichen Arianer, an die spanische Inquisition, an Calvins Befehl, Calvert zu verbrennen, usw. All diese Geschehnisse wurden im Namen Christi durchgeführt, aber sie stehen alle im Gegensatz zu Seinen ausdrücklichen Lehren. In ähnlicher Weise war der heilige Krieg der Muhammadaner eine Verdrehung von Muhammads Lehren über die Verteidigung des Glaubens, obwohl wir im Westen diese Tatsache meist übersehen.

Außerdem verloren die traditionellen Religionen im Laufe ihrer Abweichung von ihrer wahren Grundlage nicht nur den Sinn der ursprünglichen Lehre ihres Gründers, sondern was wichtiger ist: den Geist der frühen Nachfolger, ähnlich wie Wasser aus einem zerbrochenen Gefäß [Seite 437] sickert. Es ist dieser Geist allein, der das soziale und sittliche Leben der Menschen neu zu gestalten vermag, und ohne diesen Geist ist der Einfluß der Religion auf die menschliche Gesellschaft geschwächt. Und einmal geschwächt, kann nur eine neue Offenbarung Gottes das geistige Leben der Menschheit wieder erneuern — genau wie Jesus sagte, daß Sein neuer Wein nicht in alte Schläuche getan werden könnte.

Es ist wichtig, diesen Verfallsprozeß im Auge zu behalten, wenn man die Religionen studiert, vor allem, wenn man die Beziehungen zwischen den Religionen zu verstehen versucht.


Die Wiederkehr Christi

Es ist eine historische Tatsache, welche Sie selber nachprüfen können, daß die Heiligen Schriften aller Religionen vom „jüngsten Tag“ der menschlichen Geschichte (und zwar meist in symbolischer Sprache) künden. Dieser jüngste Tag oder „die Zeit des Endes“ stellen das „letzte Gericht“ dar, „das Ende der Welt“, die Erfüllung der menschlichen Geschichte. Und jede Religion lehrt, daß an diesem Tag des Gerichtes ein großer Welterlöser erscheinen wird. Die Buddhisten erwarten den fünften Buddha, die Hindus die Wiederkehr Krishnas, die Muhammadaner die des „Qaim“ und die Zoroastrier das Kommen des Schah Bahram. Die Juden erwarten noch heute ihren Messias, „den Herrn der Heerscharen“, und Sie alle sind sich klar (ungeachtet der Auslegung, die Sie diesen Stellen geben mögen), daß etwa ein Drittel des Neuen Testaments sich um das eschatalogische Thema dreht!

Die Nachfolger aller Religionen deuten die eschatologischen Begebenheiten so aus, daß sie die Überlegenheit ihrer eigenen Religion gegen alle anderen rechtfertigen. Da in ihren Augen ihre eigene Religion die absolute Wahrheit enthält, wird die versprochene Wiederkehr die Erlösten (sie selber) rechtfertigen gegen die Unerlösten (alle anderen). Bahá’u’lláh verkündet, daß Er kein anderer ist als der große Welterlöser, Der in jeder dieser Heiligen Schriften erwähnt wird, und daß Seine Mission es ist, zu vereinen und nicht zu trennen. Es gibt nur eine Wahrheit, und im Grunde gibt es nur einen Glauben: den Glauben an Gott. Und in diesem Zeitalter der Einheit ist es Gottes Absicht, daß sich die Völker auf Erden in einem gemeinsamen Glauben einigen. Bahá’u’lláh sagt: „Was der Herr als höchstes Mittel und mächtigstes Werkzeug für die Heilung der ganzen Welt bestimmt hat, ist die Vereinigung aller ihrer Völker in einer allumfassenden Sache, einem gemeinsamen Glauben. Das kann nicht anders erreicht werden, als durch die Kraft eines erfahrenen, allgewaltigen und erleuchteten Arztes. Wahrlich, das ist die Wahrheit und alles andere nichts als Irrtum.“

Demnach ist klar, daß die Wiederkehr Christi keineswegs das bedeutet, was die Fundamentalisten darzustellen belieben. Es handelt sich nicht um die physische Wiederkehr desselben Körpers von Jesus, und es bedeutet auch nicht wortwörtlich das Ende der menschlichen Geschichte, noch einen bestimmten „Tag“ des Gerichts, usw. Es bedeutet vielmehr eine völlige Veränderung der menschlichen Gesellschaft, hervorgerufen [Seite 438] durch das Kommen eines großen Gottesboten, Dessen Wesen dasselbe ist wie Jesus‘, Dessen Offenbarung sogar noch vollständiger ist, in Anbetracht der größeren Nöte unserer Zeit. Es ist das Wiedererscheinen des Logos in der Geschichte, und Bahá’u’lláh ist dessen Träger.

Demnach geben die Bahá’í den apokalyptischen Stellen in der Bibel eine symbolische Bedeutung. Tatsächlich ist nach Bahá’u’lláh die buchstäbliche Deutung der symbolischen Stellen in den Heiligen Schriften eine der Hauptursachen des religiösen Zwistes. Jede Manifestation Gottes ist hart verfolgt worden, meist wegen den engherzigen Auslegungen der Priester der vorangegangenen Religionen. So hat der jüdische Fundamentalismus entscheidend zur Kreuzigung Christi beigetragen.

Der Tag des Gerichtes, sagt Bahá’u’lláh, bedeutet den Tag der neuen Manifestation. Diejenigen, die demütig die Wahrheit suchen, frei von Stolz und Vorurteilen, werden die neue Manifestation erkennen. Andere werden sie zurückweisen und sogar verfolgen und verunglimpfen. In dieser Weise stellt Sein Kommen das „Gericht“ der Menschheit dar, denn das menschliche Wesen wird nach seinem Verhalten der neuen Botschaft gegenüber „gerichtet“.

Diejenigen, welche die „Wiederkehr“ Christi mit den Pfingstereignissen auszulegen versuchen, versäumen völlig zu erklären, weshalb die spezifischen Zeichen, die Christus mit Seinem Kommen verbindet, gar nicht erfüllt wurden. Vor allem beschreibt die Offenbarung Johannes, wie die jüngsten Tage zu einer in der Menschheitsgeschichte noch nie dagewesenen Zeit des Friedens und der Erfüllung überleiten. Ähnlich gibt Jesaja eine Vision des Weltfriedens und der Einigkeit wieder: „Sie werden ihre Schwerter in Pflugscharen schmieden ... Der Wolf wird mit dem Lamm wohnen, und der Leopard sich niederlegen mit dem Zicklein ... Sie werden keinen Schaden tun noch verderben auf meinem ganzen heiligen Berg; denn die Erde wird voll der Kenntnis des Herrn sein, wie das Wasser die Meere bedeckt.“ Doch Jesus sagte: „Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ Und in der Tat, das Kommen von Jesus hat nicht den Weltfrieden gebracht. Das Kommen des Trösters jedoch, den Jesus versprach (Joh. 14, 16; 15, 26), sollte die Menschen „in alle Wahrheit“ führen (Joh. 16, 12-13). Wenn aber dieser „Geist der Wahrheit“ als die Wiederkehr des Heiligen Geistes an Pfingsten oder im Herzen des einzigen Gläubigen gedeutet wird, wo können wir heute die Beweise der „ganzen Wahrheit“ erkennen, das heißt die Erfüllung des sozialen und geistigen Lebens des Menschen? Wir sehen im Gegenteil anhaltenden Streit über viele wesentliche Probleme der Moral.

Als Theologiestudent und eifriger Christ hatte ich den Vorzug, an dem ökumenischen Weltkongreß in Evanston, Illinois, im Jahre 1954 teilzunehmen. Sie werden sich erinnern, daß gerade bei diesem Treffen die christlichen Kirchen sich über der Frage der Wiederkehr Christi uneinig waren. Die europäischen Theologen deuteten die Wiederkehr als ein historisches Ereignis, während die Amerikaner es als die Wiederkehr des Heiligen Geistes zu Pfingsten oder im Herzen des individuellen Gläubigen auslegten. Wie Sie wissen, wurde dieser Gegensatz nie überbrückt. Die [Seite 439] amerikanischen Theologen, mit denen ich durch persönlichen Kontakt und meine Studien bekannt war, haben zweifellos ihren Standpunkt in Opposition zum Fundamentalismus gewisser amerikanischer Sekten ausgebaut, einem Fundamentalismus, wie er nur selten in solch hohem Grade in Europa vorzufinden ist. Und so haben die amerikanischen Liberalen versäumt zu erkennen, daß man die Bibel prophetisch verstehen kann, ohne die prophetischen Stellen fundamentalistisch auszulegen.

Es war gewiß dieses Problem, das einen jungen Theologiestudenten veranlaßte, mir nach einem Vortrag an der liberalen Divinity-Schule die folgende Frage zu stellen: „Gründen die Bahá’í ihren Glauben auf eine besondere Auslegung der Bibel?“ Die Antwort ist klar und entschieden: Nein. Dem jungen Menschen gab ich folgende Analogie: „Nehmen Sie an, daß ich einem ungebildeten Menschen den genauen Augenblick des Sonnenaufgangs angebe. Wenn er am nächsten Morgen meine Prophezeiung bestätigt findet, rennt er auf die Straße und ruft: ‚Mein Freund ist ein Prophet, denn er hat den Sonnenaufgang vorausgesagt. Sehet, o meine Freunde, die Sonne ist aufgegangen!‘ Seine Freunde antworteten: ‚Vielleicht ist dein Freund wirklich ein Prophet. Wer weiß? Aber auf alle Fälle, wir brauchen seine Prophezeiung nicht, weil wir ja die Sonne mit unseren eigenen Augen sehen können.‘ “

Ähnlich sehen die Bahá’í die Sonne Bahá’u’lláhs mit eigenen Augen. Seine Person, Seine Offenbarung, Seine Lehren sind unsere Beweise. („An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“). Wir glauben sogar, daß Sein Kommen in der Bibel prophezeit wurde, doch gründen wir unseren Glauben nicht darauf.


Der Bahá’í-Glaube ist kein Synkretismus

Menschen, die die Schriften Bahá’u’lláhs und die Lehren der Bahá’í-Religion nicht gründlich studiert haben, aber hörten, daß „Bahá’í“ etwas mit der Einheit der Religionen zu tun habe, ziehen gerne daraus den Schluß, daß der Bahá’í-Glaube eine synkretistische und eklektische Bewegung sei. Nichts könnte der Wahrheit ferner sein. Die Bahá’í-Religion hat ihren Begründer in Bahá’u’lláh. Die Grundlage des Bahá’í-Glaubens ist Bahá’u’lláh, und nicht eine „Entlehnung“ von anderen Religionen. Ebensowenig bilden die Lehren Bahá’u’lláhs über die Einheit der Menschheit einen Synkretismus. Bahá’u’lláh lehrt, daß die Weltreligionen tatsächlich eine einzige geistige Grundlage haben. Dagegen sucht der Synkretismus einen Kompromiß zwischen tatsächlich verschiedenen Gruppen zu finden. Diese beiden Standpunkte sind völlig verschieden. Schließlich [Seite 440] hat die Bahá’í-Religion ihre eigenen charakteristischen Institutionen, die von Bahá’u’lláh Selbst begründet wurden; sie ist eine unabhängige Offenbarungsreligion.


Keine Sekte des Islam

Eine weitere oberflächliche Bemerkung besagt, der Bahá’í-Glaube sei eine Reformbewegung des Islam, ein „universalisierter Islam“ oder einfach eine Sekte des Islam. Zunächst ist festzustellen, daß der Islam keineswegs den Bahá’í-Glauben als solche betrachtet. Am 10. Mai 1925 hat ein religiöser muhammadanischer Gerichtshof in Ägypten die Ehen von drei Bahá’í annulliert und sie als Ketzer gebrandmarkt. Das Urteil enthielt die Worte: „Der Bahá’í-Glaube ist eine neue, völlig unabhängige Religion mit eigenen Glaubenslehren, Grundsätzen und Gesetzen, die von den Glaubenslehren, Grundsätzen und Gesetzen des Islám abweichen und zu ihnen in schroffem Gegensatz stehen. Kein Bahá’í kann daher als Muslim gelten oder umgekehrt, so wenig wie ein Buddhist, Brahmane oder Christ als Muslim gelten kann oder umgekehrt.“

Auch die anhaltenden Verfolgungen der Bahá’í durch die islamische Geistlichkeit waren eine Bestätigung hierfür. Mehr als 20 000 Bahá’í starben den Märtyrertod.

Selbstverständlich stammten die frühen Bahá’í aus muhammadanischen Kreisen, weil Bahá’u’lláh in einem muhammadanischen Land erschien. Aber dasselbe Verhältnis gilt auch zwischen Christentum und Judentum, Buddhismus und Hinduismus. Jede historische Religion hat in einer bestimmten Gesellschaft und zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte begonnen.

Toynbee hat die Bahá’í-Religion als die „toleranteste der judäischen Religionen“ und als eine „Vorwarnung für die Zukunft“ bezeichnet. Und Bahá’u’lláh Selbst wandte Sich an die Herrscher der Welt und erklärte Sich als unabhängigen Boten Gottes.


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Der Verfasser stützte sich bei seinen Ausführungen auf folgende Quellen:

Bahá’u’lláh, „Worte des Paradieses“; „Ährenlese“ LXX, CVI, XLVII XXII, CXXXII, XXXVI, CXX; Sendschreiben an Papst Pius IX, zitiert in Shoghi Efendi, „Der verheißene Tag ist gekommen“, Sonne der Wahrheit, 18. Jg. 1948, S. 186 f; Shoghi Effendi, „Die Sendung Bahá’u’lláhs“, S. 24; Shoghi Effendi, „Gott geht vorüber“, S. 414; Arnold J. Toynbee, „Christianity among the Religions of the World“, S. 104; Albert Schweitzer, „The Quest of the historical Jesus“, A. & C. Black, London.



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Sieben Lichtstrahlen der Einheit
Der erste Lichtstrahl ist die Einheit im politischen Bereich; der allererste Schimmer davon läßt sich nunmehr erkennen. Der zweite Lichtstrahl ist die Einheit des Denkens in weltweiten Unternehmungen, die bald vollzogen werden wird. Der dritte Lichtstrahl ist die Einheit in der Freiheit, die sicherlich eintreten wird. Der vierte Lichtstrahl ist die Einheit in der Religion, der Eckstein, auf dem die Grundlage ruht; auch sie wird durch die Macht Gottes in ihrer ganzen Strahlenfülle offenbar werden. Der fünfte Lichtstrahl ist die Einheit der Nationen — eine Einheit, die in diesem Jahrhundert fest begründet werden wird, so daß sich alle Völker der Welt als Bürger eines gemeinsamen Vaterlandes betrachten. Der sechste Lichtstrahl ist die Einheit der Rassen... Der siebte Lichtstrahl ist die Einheit der Sprache.
’Abdu’l-Bahá
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Zukunft und Offenbarungsgeschehen[Bearbeiten]

Seit die ersten Atombomben 1945 auf Hiroshima und Nagasaki gefallen sind, rückte die Frage der existentiellen Zukunft der Menschheit als Ganzes blitzhaft und drohend in unser Blickfeld. Alle Dämme menschlicher und nationaler Sicherheit unterliegen seit jenem vernichtenden Ereignis einer wachsenden Gefährdung, deren Ausmaß, so scheint uns, noch viel zu wenig in das Bewußtsein der Völker und Rassen eingedrungen ist. Gemeinsame atomare Abrüstungsbemühungen der heutigen Weltmächte zerschlagen sich seit Kriegsende letztlich aus dem Grunde, weil über die künftige Weltordnung zwischen den mißtrauisch gewordenen Staatengruppen tiefgreifende und weittragende Auffassungsunterschiede bestehen.

Durch Jahrtausende waren Priester großer Religionen „Bewahrer und Mehrer des weltlichen Wissens und der Kunde von der Vergangenheit“ (Hans Joachim Störig). Die Welt von heute kann sich nicht mehr, wie die alten Griechen, an ein delphisches zukunftsweisendes Orakel wenden, um die Götter über ihre Bestimmung zu befragen. Weder gelang es bis jetzt, die tragische Vergangenheit zu bewältigen, noch eine überzeugende Konzeption von der anstehenden Lösung der heutigen Menschheitsfragen zu erlangen. Es wird um letzte „Orientierungssysteme“ allenthalben gerungen. Sakrale und profane eschatalogische Zukunftsbilder stehen sich mit gleichem Geltungsanspruch gegenüber. Der Glaube an eine bloße Restauration, eine Wiederherstellung der zerschlagenen Gesellschaftsordnung ist mit Recht zerronnen.

Das stete Abheben auf die Wissenschaft und die Rationalisierung, die der „industriellen Gesellschaft“ im Zeichen von Automation und Elektronik ihr Gepräge verleihen, bewirken eine wachsende Verweltlichung unseres ganzen Lebens, in dem religiöse Verhaltensweise immer weniger gefragt, ja sehr oft sogar unerwünscht ist. Man glaubte lange Zeit, die Religion in ihrem Wahrheits- und Führungsanspruch ganz auf den persönlichen Lebenskreis einschränken zu müssen. Dabei liegt es kultur- und völkergeschichtlich dank der Geschichts- und der Religionswissenschaft offen zutage, daß die großen Kulturen ihre entscheidenden geistigen Impulse immer aus religiösen Quellen empfingen. Das Schwinden der Lebenskraft der überkommenen Religionen hatte, wie die Geschichte beweist, kulturelle Krisen und Zerfallserscheinungen zur Folge. Verhärtende, traditionsgebundene und dogmatisch-verabsolutierende Grenzsetzungen für den religiösen Wahrheits- und Führungsanspruch vermögen dem dynamisch-schöpferischen und fortschreitenden Charakter der Hochreligionen nicht gerecht zu werden. Das Offenbarungsgeschehen im Manifestwerden des Willens Gottes durch Seine [Seite 442] heilbringenden Boten ist seinem tiefsten Wesen nach fortschreitend und gerichtsbestimmend. Der ganzen Schöpfung liegt in ihrer Polarität und Zyklenfolge die Dynamik fortschreitender Entwicklung zugrunde. Naturwissenschaftlich ist dieses Gesetz längst erkannt. Seltsamerweise verschließen sich die führenden Vertreter der geschichtlichen Religionen und ihrer Institutionen, insbesondere jene des christlichen und mohammedanischen Glaubens, den naheliegenden Konsequenzen dieses göttlichen Gesetzes noch immer.

Wer die innerste Überzeugung — nicht nur geschichtlich, sondern gläubig untermauert — gewonnen hat, daß der Weltfrieden nur durch die gemeinschafts- und ordnungsbildende Kraft eines unteilbaren, alle Menschen verbindenden Glaubens an den einzigen Gott und Seinen von neuem geoffenbarten Willen fest begründet werden kann, erkennt den inneren, esoterischen, geschichtlich verschieden geprägten Zusammenhang aller Offenbarungsreligionen, deren jüngste die Bahá’í-Religion ist.

’Abdu’l-Bahá, Den Bahá’u’lláh testamentarisch als authentischen Ausleger Seiner Botschaft eingesetzt hat, sprach 1912 in den Vereinigten Staaten von Nordamerika über Wesen und Wirklichkeit der Religion im Hinblick auf die heutige geistige Situation der Welt, vornehmlich im Blick auf das „Gesetz“ fortschreitender Offenbarung. Wir veröffentlichen nachfolgend diese grundlegenden Ausführungen ’Abdu’l-Bahás unter dem Titel „Religion und Fortschritt“. Eine der fundamentalen Lehren der Bahá’í-Religion ist die Erkenntnis, daß „religiöse Wahrheit nicht absolut, sondern relativ, göttliche Offenbarung wohlgeordnet, dauernd und fortschreitend und nicht starr oder endlich ist. Die entschiedene Zurückweisung des Anspruches auf Letztlichkeit, den irgend eines der durch die Propheten der Vergangenheit ins Leben gerufenen Systeme erheben mag, ist bei den Anhängern des Glaubens Bahá’u’lláhs genau so klar und nachdrücklich wie ihre eigene Weigerung, diese nämliche Letztlichkeit für die Offenbarung zu beanspruchen, mit der sie ein gemeinsamer Begriff sind. ‚Zu glauben, daß alle Offenbarung abgeschlossen, daß die Tore der göttlichen Gnade versperrt sind, daß an den Aufgangsorten ewiger Heiligkeit in Zukunft sich keine Sonne mehr erheben werde, daß das Weltmeer ewigwährender Freigebigkeit für immer still liegt und die Boten Gottes aufgehört haben, sich aus dem Zelt urewiger Herrlichkeit zu offenbaren,‘ das muß in den Augen eines jeden Anhängers des Glaubens ein schweres, unverantwortliches Abgehen von einem seiner betonten und grundlegenden Prinzipien bilden.“ 1) So spricht Bahá’u’lláh (im Jahr 1863): „Gott hat Seine Boten in die Welt gesandt, damit sie auf Moses und Jesus folgten, und Er wird fortfahren, so zu tun bis an das ‚Ende, das kein Ende hat‘, auf daß Seine Gnade aus dem Himmel göttlicher Freigebigkeit fortwährend auf die Menschheit komme.“ 2)

In dieser Erkenntnis liegt die göttlich bestimmte Einheit und unteilbare Wahrheit des in den heiligen Schriften der Hoch- oder Buchreligionen geoffenbarten Wortes Gottes beschlossen, von dem [Seite 443] „die Erziehung der Menschen im Reich der Gedanken abhängig ist. Es ist der Geist der Wirklichkeit und das Wasser des Lebens. Ihm verdanken alle Dinge ihr Dasein.“ 3) So betrachtet die Bahá’í-Offenbarung die voraufgegangenen Religionen „in keinem anderen Lichte, denn als verschiedene Stufen in der ewigen Geschichte und andauernden Entwicklung einer göttlichen und unteilbaren Religion, von der sie selber nur ein abzulösender Teil ist... Ihre Lehren weichen nicht um Haaresbreite von den Wahrheiten ab, die jene enthalten, noch nimmt das Gewicht ihrer Sendung auch nur ein Jota oder Pünktchen von dem durch jene ausgeübten Einfluß, oder von der durch sie eingeflößten Treue.“ 4)

Die gemeinsame geistige Grundlage der Religionen wurzelt in ihrer transzendenten Einheit. Sarvapalli Radhakrishnan spricht davon, daß es in allen religiösen Erfahrungen ein gemeinsames Element gebe, „eine gemeinsame Grundlage, die auf Glauben und Gebet ruht... Alle Religionen sind in der heiligen Partnerschaft für die Sache des Friedens, der Gerechtigkeit und der Freiheit aneinander gebunden. Die Liebe zu unseren Glaubenbrüdern muß in die Liebe zu unseren Nächsten eingehen.“ 5)

Friedrich Heiler, unseren Lesern als vergleichender Religionswissenschaftler wohl bekannt, schrieb in seinem bedeutsamen Werk „Erscheinungsformen und Wesen der Religion“: „Über den Individualismus des Heilssuchens erhebt sich der Glaube, daß das Endziel der Menschheit und des Kosmos das Gottesreich ist, ‚das Reich der Wahrheit und des Lebens, das Reich der Heiligkeit und der Gnade, das Reich der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens‘ “(Präfation der römischen Liturgie am Christkönigsfest).6)

Aus der von Bahá’u’lláh verkündeten Botschaft spricht der Anbruch des apokalyptischen Zeitalters, in welchem die prophetischen Verheißungen von Adam bis Muhammad nach dem Willen Gottes, durch Seine Liebe und Gnade ihre Erfüllung finden sollen, die Errichtung des Reiches Seiner Herrlichkeit, des Königreiches Gottes, schließlich des „Größten Friedens“, von dem auch in der Johannes- Apokalypse des Neuen Testaments gesprochen wird. Friedrich Heiler gibt dieser sakralen Zukunftsschau mit den Worten Ausdruck: „Das Gottesreich ist die Vollendung der Religion, nicht einer, auch nicht nur der christlichen, sondern aller; denn in ihm wird nach dem triumphalen Apostelwort ‚Gott sein alles in allen‘ (1. Kor. 15, 28).“

Im Sinne des Rufes von Bahá’u’lláh feiern alle überkommenen Religionen, d.h. „die Bücher der vorausgegangenen Gesandten... das große Jubelfest, das diesen größten der Tage Gottes grüßen muß.“ So leuchtet am Himmel der Religionen ein neuer [Seite 444] Horizont auf, dessen Sonnenaufgang einen neuen „Tag Gottes“ heraufführt, dem Bahá’u’lláh prophetisch die lichtvollen Worte widmet: „Groß ist deine Glückseligkeit, o Erde, denn du bist zum Schemel deines Gottes gemacht und zum Wohnsitz Seines mächtigen Thrones erwählt worden!“7)

Hierin gipfelt die göttliche Botschaft und zukunftweisende Führung dieses Glaubens, der sich im Licht einer Heilsordnung an das ganze Menschengeschlecht wendet.

Dr. Eugen Schmidt
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1) „Die Sendung Bahá’u’lláhs“ von Shoghi Effendi, George Ronald, Oxford, 1948, S. 28
2) ebenda, S. 30
3) „Verborgene Worte“, Stuttgart, S. 57
4) wie unter 1), S. 26
5) „Erneuerung des Glaubens aus dem Geist“, Ullstein-Buch Nr. 238, S.154 und 164
6) S. 565, W. Kohlhammer Verlag, 1961
7) „Die Entfaltung der neuen Weltzivilisation“ v. Shoghi Effendi, S. 56, Stuttgart 1936



Religion und Fortschritt[Bearbeiten]

Ansprache von ‘Abdu’l-Bahá am 24. Mai 1912 vor der Freien Religiösen Vereinigung in Boston, USA

Die Schöpfung ist Ausdruck der Bewegung. Bewegung ist Leben. Was sich bewegt, das lebt, während das Bewegungslose, Träge wie tot ist. Alle erschaffenen Formen schreiten auf ihren Daseinsebenen, in ihren Reichen des Seins fort, angetrieben von der Lebenskraft, dem Lebensgeist. Die alles umfassende Wirkkraft ist dynamisch. Nichts ist feststehend in der stofflichen Welt der äußeren Erscheinung oder in der inneren Welt des Intellekts und des Bewußtseins.

Religion ist der weltliche Ausdruck der göttlichen Wirklichkeit. Deshalb muß sie lebendig, kraftvoll, beweglich und fortschrittlich sein. Bewegungslos und fortschrittsfeindlich ist sie ohne das göttliche Leben; sie ist tot. Die göttlichen Gesetze sind beständig wirksam und in der Entwicklung begriffen; deshalb muß ihre Offenbarung fortschreitend und unablässig sein. Alles ist der Neugestaltung unterworfen.

Wir stehen in einem Jahrhundert des Lebens und der Erneuerung. Wissenschaften und Künste, Gewerbefleiß und Erfindungsgeist sind neugestaltet worden. Recht und Ethik sind neugefaßt, neu geordnet worden. Die Welt der Gedanken wurde erneuert. Die Wissenschaften früherer Zeiten und die Philosophien der Vergangenheit bringen heute keinen Nutzen mehr. Die Probleme der Gegenwart verlangen zu ihrer Lösung nach neuen Mitteln und Wegen; die Weltfragen sind ohne geschichtlichen Vorgang. Alte Ideen und Denkgewohnheiten veralten immer schneller. Ehrwürdige Gesetze und archaische Moralsysteme erfüllen nicht die Anforderungen der modernen Verhältnisse; denn heute stehen wir ohne jeden Zweifel in einem Jahrhundert neuen Lebens, im Jahrhundert der Offenbarung der Wirklichkeit und darum im größten aller Zeitalter. Überlegt euch, wie die wissenschaftliche Entwicklung von fünfzig Jahren die Erkenntnisse und Errungenschaften aller vorhergegangenen Zeiten zusammengenommen übertroffen und in den Schatten gestellt hat. Könnte man mit den Überlieferungen und Theorien der alten Astronomen unser gegenwärtiges Wissen um die Sonnenwelten und Planetensysteme erklären? Könnte man mit der Maske von dunklem Unverstand, die die Jahrhunderte des Mittelalters umwölkte, der Forderung nach Verständnis und [Seite 445] klarer Schau begegnen, welche die Welt von heute kennzeichnet? Kann man mit der Gewaltherrschaft früherer Regierungsformen dem Ruf nach Freiheit antworten, der in diesem Zyklus der Erleuchtung aus dem Herzen der Menschheit dringt?

Es ist augenscheinlich, daß die Gebräuche, Einrichtungen und Standpunkte der Vergangenheit heute keine lebensfähigen Ergebnisse zeitigen. Wenn dem so ist, sollen dann weiterhin blinde Nachahmungen urväterlicher Formen und theologische Auslegungen das religiöse Leben und die geistige Entwicklung der heutigen Menschheit lenken und beherrschen? Soll der Mensch, mit der Kraft seines Verstandes begabt, gedankenlos Dogmen, Glaubenssätzen und Überlieferungen folgen, die vernünftiger Prüfung in diesem Jahrhundert strahlender Wirklichkeit nicht mehr standhalten? Unzweifelhaft wird dies wissenschaftlich denkende Menschen nicht befriedigen; denn wenn sie feststellen, daß ein gedanklicher Ansatz oder eine Schlußfolgerung den Beweismaßstäben der Gegenwart widersprechen und ohne wirkliche Grundlage sind, dann weisen sie zurück, was früher als Maß und Richtschnur angenommen wurde, und schreiten von neuen Grundlagen aus voran.

Die göttlichen Propheten haben die Religion geoffenbart und begründet. Sie haben gewisse Gesetze und himmlische Grundsätze für die Führung der Menschheit niedergelegt. Sie haben die Erkenntnis Gottes gelehrt und verbreitet, rühmenswerte sittliche Ideale aufgerichtet und der Menschenwelt die höchsten Maßstäbe der Tugend eingeprägt. Nach und nach sind diese himmlischen Lehren, diese Grundlagen der Wirklichkeit von menschlichen Auslegungen und dogmatischen Nachahmungen vorväterlicher Glaubensformen verdunkelt worden. Die wesenhaften Wirklichkeiten, die die Propheten mit unendlicher Mühe in den Herzen und Hirnen der Menschen aufzurichten suchten, während sie sich schlimmster Pein unterwarfen und Marterqualen der Verfolgung litten, sind heute fast verschwunden. Einige dieser himmlischen Boten wurden getötet, andere in den Kerker geworfen; alle wurden sie verschmäht und verworfen, wenn sie die Wirklichkeit des Göttlichen verkündeten. Bald nach ihrem Heimgang aus dieser Welt verlor man die wesentliche Wahrheit ihrer Lehren aus den Augen und wandte sich dogmatischen Nachahmungen zu.

Weil menschliche Auslegungen und blinde Nachahmungen weit voneinander abweichen, haben sich religiöse Streitigkeiten und Mißverständnisse in der Menschheit erhoben; das Licht wahrer Religion wurde ausgelöscht und die Einheit der Menschenwelt zerstört. Die Propheten Gottes gaben dem Geist der Einheit und des Einverständnisses Ausdruck. Sie waren die Begründer der göttlichen Wirklichkeit. Wenn deshalb die Völker der Welt ihre Nachahmungen aufgeben und die Wirklichkeit erforschen, die dem offenbarten Wort Gottes zugrundeliegt, werden sie übereinstimmen und sich miteinander aussöhnen. Denn es gibt nur eine Wirklichkeit und keine Vielheit davon.

Die Völker und Religionen sind versunken in blinden, bigotten Nachahmungen. Jemand ist ein Jude, weil sein Vater ein Jude war. Der Muslim folgt, was Glaubenssätze und Glaubensvorschriften angeht, blindlings in [Seite 446] den Fußstapfen seiner Vorväter. Der Buddhist ist seinem buddhistischen Erbe treu. Das will heißen, sie alle bekennen religiösen Glauben blindlings und ohne eigenes Forschen und machen auf diese Weise Einheit und Einverständnis unmöglich. Deshalb ist es offensichtlich, daß dieser Zustand nicht anders behoben werden kann als durch eine Neu-Gestaltung in der Welt der Religion. Mit anderen Worten: Die grundlegende Wirklichkeit der göttlichen Religionen muß für die Menschheit neu gefaßt, neu gestaltet, neu verkündet werden.

Aus der Saat der Wirklichkeit ist die Religion emporgewachsen zu einem Baum, der Blätter und Zweige, Blüten und Früchte hervorbrachte. Nach einer gewissen Zeit ist dieser Baum in einen Zustand des Verfalls geraten. Die Blätter und Blüten sind verwelkt und abgefallen; der Baum ist krank und unfruchtbar geworden. Es wäre unvernünftig, wollte sich der Mensch an diesen alten Baum klammern und behaupten, seine Lebenskräfte seien unvermindert, seine Früchte unübertroffen, sein Dasein ewig. Die Saat der Wirklichkeit muß erneut in die Herzen der Menschen gelegt werden, damit ein neuer Baum daraus erwachse und neue göttliche Früchte die Welt laben. Auf diese Weise werden die Nationen und Völker, die sich jetzt in der Religion widerstreiten, zur Einheit geführt; Nachahmungen werden aufgegeben, und eine weltumspannende Bruderschaft wird auf die Wirklichkeit selbst gegründet werden. Krieg und Streit werden aus der Menschheit verschwinden; alle werden als Diener Gottes miteinander ausgesöhnt werden. Denn alle finden Schutz unter dem Baum Seiner Vorsehung und Barmherzigkeit. Gott ist gütig zu allen; allen schenkt Er Seine Gnadengaben in gleicher Weise, wie Seine Heiligkeit Jesus Christus sagte: Gott „läßt regnen auf Gerechte und Ungerechte“, das will sagen: Die Barmherzigkeit Gottes ist allumfassend. Die ganze Menschheit steht unter dem Schutz Seiner Liebe und Gunst, und allen hat Er den Weg der Führung und des Fortschritts gewiesen.

Fortschritt ist von zweierlei Art, materiell und geistig. Materieller Fortschritt wird erreicht durch die Beobachtung der den Menschen umgebenden Daseinswelt; er ist die Grundlage der Zivilisation. Geistiger Fortschritt geschieht durch den Odem des Heiligen Geistes und ist das Erwachen der vernünftigen menschlichen Seele für die Wahrnehmung der göttlichen Wirklichkeit. Materieller Fortschritt sichert das Glück der Menschenwelt. Geistiger Fortschritt verbürgt die Glückseligkeit und ewige Fortdauer der Seele.

Die Propheten Gottes haben die Gesetze göttlicher Kultur niedergelegt. Sie waren die Wurzel und der Urquell aller Erkenntnis. Sie haben die Grundsätze menschlicher Bruderschaft oder Brüderlichkeit aufgestellt, die von mehrerlei Art ist: die Brüderlichkeit der Familie, der Rasse, der Nation und die Brüderlichkeit aus ethischen Beweggründen. Diese Formen der Brüderlichkeit, diese Bande der Bruderschaft bringen nur vorübergehende, vergängliche Bindungen zustande. Sie verbürgen keine Eintracht und führen gewöhnlich zu Meinungsverschiedenheiten. Krieg und Streit [Seite 447] verhindern sie nicht, im Gegenteil: Sie sind selbstisch, beschränkt und Ursachen der Feindschaft und des Hasses in der Menschenwelt. Die geistige Bruderschaft jedoch, die durch den Odem des Heiligen Geistes entzündet wird, vereint die Völker und beseitigt die Ursachen von Krieg und Streit. Sie wandelt die Menschheit zu einer großen Familie und schafft die Grundlagen für ihre Einheit. Sie verbreitet den Geist des internationalen Einvernehmens und sichert den Weltfrieden. Deshalb müssen wir die ursprüngliche Wirklichkeit dieser himmlischen Brüderlichkeit erforschen. Wir müssen alle Nachahmungen aufgeben und die Wirklichkeit der göttlichen Lehren verkünden. Nach diesen Grundsätzen und Einflüssen und mit der Hilfe des Heiligen Geistes wird sowohl materielles wie auch geistiges Glück verwirklicht. Ehe nicht alle Nationen und Völker durch die Bande des Heiligen Geistes in dieser wirklichen Bruderschaft vereinigt werden, ehe nicht nationale und internationale Vorurteile in der Wirklichkeit dieser geistigen Brüderlichkeit ausgetilgt sind, können die Menschen keinen wahren Fortschritt, keinen Wohlstand und kein bleibendes Glück erlangen.

Heute stehen wir im Jahrhundert einer neuen, weltumspannenden Zusammengehörigkeit. Die Wissenschaften haben sich entwickelt, die Industriewirtschaft ist fortgeschritten, die Politik wurde neugestaltet, die Freiheit verkündet; die Gerechtigkeit erwacht. Es ist das Jahrhundert der Bewegung, des göttlichen Ansporns, der Erfüllung, das Jahrhundert menschlicher Verbundenheit und selbstlosen Dienens, das Jahrhundert des Weltfriedens und der Wirklichkeit des Reiches Gottes.


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Aus „The Promulgation of Universal Peace, Discourses by ‘Abdu’l-Bahá during His Visit to the United States in 1912“, Vol. I, Chicago 1922/1943, Seite 138 ff.



Die ewige Wahrheit des Christentums[Bearbeiten]

Was die Stellung des Christentums anbetrifft, so sei ohne Zögern oder Doppelsinn festgestellt, daß sein göttlicher Ursprung bedingungslos bejaht, daß die Sohnschaft und Göttlichkeit von Jesus Christus furchtlos behauptet, daß die göttliche Eingebung des Evangeliums völlig anerkannt, daß die Wirklichkeit des Mysteriums der Unbeflecktheit der Jungfrau Maria bezeugt und der Vorrang Petri, des Fürsten der Apostel, hochgehalten und verteidigt werden.

Der Begründer des christlichen Glaubens wird von Bahá’u’lláh als der „Geist Gottes“ bezeichnet, wird als Der, Welcher „aus dem Odem des Heiligen Geistes“ erschien, verkündet, und wird sogar als „das Wesen des Geistes“ gepriesen. Seine Mutter wird als „das verhüllte und unsterbliche, das allerschönste Antlitz“ beschrieben und die Stufe ihres Sohnes als „eine Stufe, die erhöht wurde über die Vorstellungen aller, welche da auf Erden wohnen“, gepriesen, während Petrus als einer anerkannt wird, dem Gott „die Geheimnisse der Weisheit und der Verkündung aus dem Munde strömen“ ließ.

„Wisse“, hat Bahá’u’lláh überdies bezeugt, „daß, als der Menschensohn Seinen Geist zu Gott aufgab, die ganze Schöpfung in großer Trauer weinte. Durch Seine Selbstopferung wurde jedoch allen erschaffenen Dingen eine neue Fähigkeit eingeflößt. Deren Beweise, wie sie bei allen Völkern der [Seite 448] Erde bezeugt werden, sind jetzt offensichtlich vor dir. Die tiefste Weisheit, welche die Weisen ausgesprochen haben, das tiefste Wissen, das irgend ein Geist entfaltet hat, die Künste, welche die fähigsten Hände ausgeführt haben, der Einfluß, der von den mächtigsten der Herrscher ausgeübt wurde, sind nur Offenbarungen der belebenden, durch Seinen überragenden, Seinen alles durchdringenden und widerstrahlenden Geist ausgelösten Kraft.

Wir bezeugen, daß Er, als Er in die Welt kam, den Glanz Seiner Herrlichkeit auf alle erschaffenen Dinge ergoß. Durch Ihn genas der Aussätzige vom Aussatz der Verderbtheit und Unwissenheit. Durch Ihn wurde der Unreine und Eigensinnige geheilt. Durch Seine Macht, aus dem allmächtigen Gott geboren, wurden die Augen der Blinden geöffnet und die Seele des Sünders geheiligt.... Er ist es, der die Welt reinigte. Gesegnet ist der Mensch, der sich mit lichtstrahlendem Antlitz Ihm zugewandt hat.“

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Wie die organische Entwicklung der Menschheit langsam und stufenweise vor sich ging und nacheinander die Einigung der Familie, des Stammes, des Stadtstaates und der Nation in sich schloß, so ist das durch die Gottesoffenbarung gewährte Licht in den verschiedenen Entwicklungsstufen der Religion, das in den aufeinanderfolgenden Sendungen der Vergangenheit sich widerspiegelt, langsam und fortschreitend gewesen. Tatsächlich ist das Maß göttlicher Offenbarung in jedem Zeitalter dem Grade sozialen Fortschritts angepaßt worden und ihm angemessen gewesen, wie er in jedem Zeitalter durch eine stetig sich entwickelnde Menschheit jeweils erreicht war ...

Die mit dem Glauben Jesu Christi verbundene Offenbarung richtete ihren Brennpunkt in erster Linie auf die Erlösung des einzelnen Menschen und auf die Formung seines Betragens und betonte als ihren Hauptgegenstand die Notwendigkeit, dem Menschen, als der Grundeinheit der menschlichen Gesellschaft, einen hohen Maßstab der Sittlichkeit und Zucht einzuschärfen. Nirgends in den Evangelien finden wir einen Hinweis auf die Einheit der Nationen oder die Vereinigung der Menschheit insgesamt. Wenn Jesus zu denen um Ihn sprach, so redete Er sie in erster Hinsicht als Einzelmenschen an, weniger als Bestandteile einer umfassenden, unteilbaren Einheit. Die ganze Erdoberfläche war fast noch unerforscht, und die Organisation aller ihrer Völker und Nationen zu einer Einheit konnte demzufolge noch nicht ins Auge gefaßt, wieviel weniger verkündet oder errichtet werden.

Welche andere Auslegung kann diesen Worten gegeben werden, in denen Bahá’u’lláh im besonderen die Anhänger des Evangeliums anredet, worin die grundsätzliche Unterscheidung zwischen der in erster Linie den Einzelmenschen betreffenden Sendung Jesu Christi und Seiner eigenen, besonders an die Menschheit im ganzen gerichteten Botschaft endgültig festgesetzt wird: „Wahrlich, Er (Jesus) sagte: ‚Folget Mir nach, so will Ich euch zu Menschenfischern machen.‘ Am heutigen Tage jedoch sagen Wir: ‚Folget Mir nach, auf daß Wir euch zu Erweckern der Menschheit machen.‘“

Shoghi Effendi


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Aus „Der verheißene Tag ist gekommen“, vgl. Sonne der Wahrheit, XX, Jg. S. 27 f, XXI. Jg. S. 62 f.


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„Ein Plan für die Vereinigung aller Völker”[Bearbeiten]

Die deutsche Presse berichtete ausführlich über das Haus der Andacht in Langenhain

Die feierliche Einweihung des ersten Bahá’í Hauses der Andacht in Europa am 4. Juli letzten Jahres hat in der deutschen Presse ein weites und meist sehr positives Echo gefunden. In Stadt und Land berichteten die Zeitungen, in vielen Fällen mit Bildern, über dieses Ereignis. Teilweise hatten die Journalisten an den Einweihungsfeierlichkeiten in Langenhain teilgenommen, teilweise nur die vom Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í in Deutschland am 3. Juli veranstaltete Pressekonferenz besucht und sich dabei die notwendigen Informationen geholt.

„Bahá’í-Tempel im Taunus eingeweiht“ ... „Bahá’í-Tempel steht allen offen“ ... „Spenden aus aller Welt für Bahá’í-Tempel“ ... „Ein, Plan für die Vereinigung aller Völker“ ... „Weltreligion der Zukunft“ ... „Eine neue Weltreligion“ ... so und ähnlich lauteten die Überschriften. „Faszinierend in seiner eigenartigen Kuppelkonstruktion hebt sich ein 28 m hoher Rundbau am Fuße des Taunus, auf einem Hügel vor der Gemeinde Langenhain gelegen, gegen den Himmel ab“, heißt es in der Bildunterschrift, die eine Presseagentur nebst Foto verbreitete. Nicht unerwähnt blieben in vielen Berichten die langjährigen Schwierigkeiten, die dem Nationalen Geistigen Rat bei der Verwirklichung dieses Planes in den Weg gelegt worden waren.

Auch in kirchlichen Kreisen wurde die Einweihung des Hauses der Andacht aufmerksam verfolgt und kommentiert. Zahlreiche Zeitungen veröffentlichten z. B. eine Stellungnahme des katholischen Weihbischofs Kampe aus dem Bistum Limburg. Der Bischof schrieb u. a.: „An der Geschichte der Bahá’í kann man den erregenden Vorgang des Entstehens einer neuen Religion ablesen. Am Anfang der Bewegung stehen mystisch begabte Persönlichkeiten. Durch den Eindruck, der von ihnen ausgeht, sammeln sie bald viele Anhänger um sich, die für ihren neuen Glauben in Tod und Kerker zu gehen bereit sind...“


[Seite 450]



Das Kreuz und die Sünde[Bearbeiten]

Zu dem Buch von Kurt Hutten: „Seher, Grübler, Enthusiasten” *

Es ist verdienstvoll und begrüßenswert, daß sich ein kompetenter evangelischer Publizist und Theologe darum bemüht, die „Galerie der Welt- und Geschichtsdeutungen“ (S. 722) abzuschreiten, der sich heute der suchende abendländische Mensch gegenübersieht. Die Tatsache, daß das Werk bereits in achter Auflage (33. bis 37. Tausend) erscheinen konnte, ist nicht nur ein Beweis für das allgemeine Bedürfnis nach einer derartigen Analyse, sondern auch dafür, daß es dem Verfasser gelungen ist, bei aller Unverrückbarkeit seines eigenen Standpunkts eine von Ausgabe zu Ausgabe immer tiefere Darstellung der in Mitteleuropa tätigen religiösen Gemeinschaften außerhalb der großen christlichen Kirchen zu finden.

Die Bahá’í-Religion wird im zweiten Teil des Buches — der erste ist den adventistischen Bewegungen im weitesten Sinn gewidmet — zusammen mit der Christlichen Wissenschaft und der Mazdaznan-Bewegung unter dem etwas willkürlich anmutenden Leitmotiv „Der Ruf nach Heilung des Lebens“ auf 34 Seiten ausführlich und im großen ganzen objektiv geschildert. Druckfehler — richtig: Mirza Abu’l-Fazl (S. 253), Shoghi Effendi, Leroy Ioas (S. 274) — werden sich bei der nächsten Auflage berichtigen lassen. Kleinere sachliche Fehler sind die folgenden: Wenn der Verfasser einleitend vom „Selbstverständnis“ der Bahá’í ausgeht, sollte nicht von „den drei Propheten“ die Rede sein. ‘Abdu’l-Bahá hat nie die Stufe der Prophetenschaft für Sich in Anspruch genommen; Er ist der Mittelpunkt des Bündnisses Bahá’u’lláhs und der bevollmächtigte Interpret Seiner Lehren, wie es auf Seite 262 richtig heißt. Bei der Schilderung der islamischen Vorgeschichte liegt die Aussage etwas schief, insgesamt zwölf Imame seien verheißen als die Fleischwerdungen der zwölf vollkommensten Eigenschaften Gottes. Die zwölf Imame der Shí’a sind historische Persönlichkeiten aus der Zeit bis zum Jahr 260 nach der Hijra und verkörpern als von Muhammad durch Erbfolge bevollmächtigte und inspirierte Ausleger und geistige Führer eine religiöse Institution sui generis, die gleichwohl dem protestantischen Glaubensbewußtsein annähernd so fremd sein dürfte wie das Papsttum. Erwartet wird von der sogenannten Zwölfer-Shí’a, der persischen Staatsreligion, die Wiederkehr des zwölften Imams in der Herrlichkeit des verheißenen Qá’im. — Bahá’u’lláh unternahm von ‘Akká aus keine Reisen mehr, wie auf Seite 258 behauptet wird; Er besuchte lediglich die Nachbarstadt Haifa und den Berg Karmel. Das Buch Aqdas verbietet die Ehescheidung nicht; es macht sie nur von einer einjährigen Trennungszeit und anderen Voraussetzungen abhängig. Schließlich dürfte sich die Behauptung auf Seite 274, die Bahá’í hätten [Seite 451] dem VAR-Staatspräsidenten Nasser den baldigen Tod prophezeit, schwerlich belegen lassen. Überhaupt ist zu sagen, daß Wunder und Prophezeiungen — von den großen weltgeschichtlichen Strömungen abgesehen — bei den Bahá’í eine ganz untergeordnete Rolle spielen.

Ob der Inhalt der Bahá’í-Religion „aus dem durch Filterung gewonnenen und gleichsam veredelten Konzentrat aller in den bisherigen Offenbarungen und Religionen zutage getretenen Wahrheiten“ besteht und ob „ihre Lehraussagen merkwürdig blaß und unprofiliert sind“ (S. 264), ist eine Sache der subjektiven Beurteilung. Definitionsgemäß gibt es nur eine Wahrheit; die Aussagen über die letzten Dinge, vor allem die jenseitigen, müssen demnach in ihrem Wesenskern bei allen Religionen übereinstimmen und schlicht und einfach sein, zumal dogmatische Ausschmückungen leicht vom Wesentlichen ablenken und zu unnützen Spekulationen verleiten. Das aber ist nicht das Wesen der Religion, die sich nicht im Blick auf das Jenseits erschöpfen darf, sondern Maßstäbe für die beste Lebensordnung, des einzelnen wie der Gemeinschaft, bieten muß. Auch die Lehren Christi bringen wenig Neues, wenn man die Buchstaben des Evangeliums mit denen des Alten Testaments vergleicht. Wer aber „Ohren hat, zu hören“, dem offenbart sich hinter diesen Buchstaben das Neue in seiner ganzen Fülle: die Allmacht der Liebe Gottes, die durch den Offenbarer, Seinen „Sohn“, auf die Menschheit und die ganze Schöpfung flutet; die erlösende Gnade, die durch das Opfer des „Sohnes“ dem irrenden Sucher zuteil wird, der sein ganzes Sein in dieses Kraftfeld einfügt; die Verheißung, daß das menschliche Treiben in der „Zeit des Endes“ auch auf dieser Erde sein Gericht findet, daß das Gute belohnt und das Böse bestraft werden wird. Welch eine Weiterentwicklung des judaischen Gesetzesdenkens! Und wer vorurteilslos die heiligen Schriften des Islam und der Bahá’í-Religion durchforscht, dem wird die Fortentwicklung der Religion Gottes nicht verborgen bleiben.

In dürren Worten umrissen, ist es im Islam die Betonung der Einheit Gottes, die Formung der Nation und der Gemeinschaft der Gläubigen, die Konzentration auf das Wesentliche als Vorbereitung auf den Tag des Gerichts. In der Bahá’í-Religion steht an erster Stelle der Anspruch Bahá’u’lláhs, die Verheißungen aller früheren Religionen zu erfüllen, Er breitet eine neue, die ganze Menschheit umfassende Weltordnung vor uns aus, der aus einem — durchaus nicht immer optimistischen — Entwicklungsbewußtsein eine begeisternde Dynamik zufließt; Er offenbart die Mysterien des Göttlichen und des Reiches der Offenbarung in den leuchtendsten Farben (in europäische Sprachen kaum übersetzbar); Er faßt die Minimalvorschriften für das menschliche Verhalten neu und erläßt so viele gemeinschaftsfördernde Maximen und administrative Ratschläge, wie es nur möglich ist, ohne die von Gott gewährte Entscheidungsfreiheit des Menschen anzutasten; Er enthüllt ein Welt- und Geschichtsbild von unermeßlicher Größe — aber nein! Seine „Lehraussagen sind blaß und unprofiliert“!

Nach einer ausführlichen Schilderung der Bahá’í-Verwaltungsordnung gibt Hutten zwei Befürchtungen Ausdruck (S. 273/4): Die Bahá’í wollten ihre Gesetze an die Stelle der Staatsgesetze treten lassen, was zur Folge [Seite 452] hatte, daß sich „inmitten der allgemeinen Staatsordnung Bahá’í-Inseln bilden“, und das Ziel des „Weltkreuzzuges“ (Zehnjahresplan 1954 — 1963) sei es gewesen, die Bahá’í-Religion so zu verbreiten, „daß 1963 die Kader der Verwaltungsordnung stehen und fähig sind, die ihnen zugedachten größeren Aufgaben im Rahmen einer Weltregierung zu übernehmen“. Dazu ist zu sagen, daß es sich bei den Gesetzen Bahá’u’lláhs fast ausschließlich um sittliche Normen oder abdingbares bürgerliches (z.B. Erb- und Familien-) Recht handelt, daß sie also bestehenden Rechtsordnungen so wenig Abbruch tun wie in abendländischen Staaten etwa das kanonische Recht oder sonstige gottesdienstliche und administrative Kirchenregeln, die friedlich neben der staatlichen Rechtsordnung bestehen. Zum andern ist auf die strikten Gebote Bahá’u’lláhs hinzuweisen, nach denen die Bahá’í

— der Staatsgewalt gegenüber unverbrüchliche Loyalität üben und gehorsam sind, es sei denn, sie werden gezwungen, ihrem Glauben abzuschwören,
— sich nicht in tagespolitische Fragen einmischen und
— das Prinzip der Gewaltlosigkeit, insbesondere bei der Verbreitung religiöser Lehren, vertreten.

Tausende von Bahá’í haben diese Gebote mit ihrem Blute besiegelt.

Es ist müßig, sich heute den Kopf darüber zu zerbrechen, ob und wie in ferner Zukunft einmal hoheitliche Funktionen von Bahá’í-Körperschaften übernommen werden könnten. Abgesehen davon, daß die Bahá’í sich nur freuen, wenn ihre administrativen Grundsätze — wie das Beratungsprinzip, das Opfer der individuellen Meinung zugunsten des Beratungsergebnisses, die Verantwortlichkeit vor Gott, die Idee der Wahl als gottesdienstlicher Handlung usw. — bei anderen öffentlichen und privaten Organisationen Eingang fänden, obwohl sie wahrscheinlich nur in ihrer organischen Gesamtheit und in ihrer Rückverbindung zu Bahá’u’lláh und Seinen Lehren erfolgversprechend angewandt werden können, steht das eine fest: Bahá’í-Institutionen werden öffentliche Aufgaben, wenn überhaupt, nur dann übernehmen, wenn sie ihnen auf verfassungs- und gesetzmäßigem Wege zugewiesen werden. Wer bezweifelt, ob die Prinzipien der Loyalität usw. auch dann noch eingehalten werden, wenn die Bahá’í einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung ausmachen, der unterschätzt nicht nur ihre Glaubensgewißheit, die es ihnen absurd erscheinen läßt, zu anderen, weniger qualifizierten Mitteln Zuflucht zu nehmen, sondern vor allem die Kraft des Bündnisses Bahá’u’lláhs, von dem noch die Rede sein wird.

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Den kritischen Teil seiner Betrachtungen stellt Hutten unter die Frage „Christus — ein Vorläufer Bahá’u’lláhs?“ Er wiederholt die bekannten theologischen Thesen über die einzigartige Stufe Christi, Der Sich nach Seinem eigenen Zeugnis „eben nicht als einen Propheten unter Propheten, sondern als den Sohn, das ‚fleischgewordene Wort‘, die letzte und endgültige Offenbarung Gottes“ verstanden habe (S. 277). Der „tiefe Unterschied“ zwischen Christus und Bahá’u’lláh wird am Beispiel der Auseinandersetzung mit den Geistlichen von Baghdád verdeutlicht, denen [Seite 453] Bahá’u’lláh in Aussicht stellte, jedes verlangte Wunder zu vollbringen, wenn sie sich schriftlich darüber einigten und sich verpflichteten, die Echtheit Seiner Sendung anzuerkennen; so etwas habe Christus weit von sich gewiesen. Es sei der „Kontrast zwischen Niedrigkeit und Glorie, ‚Knechtsgestalt‘ und ‚Herrlichkeit‘ “. Die Sendung Jesu stünde unter einem anderen Thema: Er setzt ein, „wo alle Reformer in einem ratlosen Schweigen enden ... Heil, Frieden, Seligkeit, Befreiung von der Gewalt des Bösen — Christus wollte dies nicht nur dem einzelnen Gläubigen bringen; Er wollte die Welt erlösen. Nicht durch beschwörende Appelle: Seid gut und Gott gehorsam! — sondern dadurch, daß er die Sünde ans Kreuz hinauftrug ...“ Bahá’u’lláh „bricht ab, wo Jesus erst anfängt ... Jesus fängt damit an, daß Er die Sünde als die Grundwurzel alles Unheils ernst nimmt. Die Bahá’í-Lehre weicht aus, indem sie die Sünde verharmlost“ (S. 281). „Das Kreuz hat er (Bahá’u’lláh) nicht in seine Lehre hineingenommen.“ Die „Klarheit“ der Bahá’í-Religion „ist nicht aus Abgründen erwachsen. Ihr optimistisches Menschenbild ist eine Illusion“. Sie sei „nicht eine gewachsene neue Religion“, sondern etwas halb Künstliches, halb Natürliches wie das Esperanto.

Bahá’u’lláh hat Streitgespräche über religiöse Fragen mit Entschiedenheit verboten; die nachstehenden Bemerkungen sollen auch nur dem Leser des Buches helfen, die angeschnittenen Fragen durch geeignetes vorurteilsloses Quellenstudium richtig in den Griff zu bekommen.

George Townshend, der anglikanischer Geistlicher von einigen Graden war, ehe er Bahá’í wurde, hat ein ganzes Buch mit Nachweisen darüber gefüllt, daß der Entwicklungsgedanke, der göttliche Heilsplan für die Menschheit, wie ein roter Faden durch das Alte und das Neue Testament läuft. Wie fern Christus jeder Einmaligkeitsanspruch ist, wird besonders in einem Kapitel beschrieben, das in dieser Zeitschrift wiedergegeben wurde1), Ein großer Teil des „Buches der Gewißheit“ von Bahá’u’lláh — das Hutten nur in seiner Literaturübersicht aufführt — ist den Worten Christi über Seine Stufe und Seine Wiederkehr gewidmet. Nach den Worten Bahá’u’lláhs gehört es zu den schwersten Verfehlungen, irgendwelche Unterschiede zwischen den einzelnen Offenbarern Gottes zu machen. Das mag manchem als ein kluger Schachzug erscheinen, mit dem Bahá’u’lláh Seinen eigenen Anspruch unangreifbar machen möchte; aber unbestritten ist doch die Stufe der Offenbarer so hoch über die menschliche Fassungskraft erhaben, daß menschliche Werturteile darüber so absurd wären wie die Vorstellung, Kinder könnten über die Qualifikationen eines Gelehrten zu Gericht sitzen. Warum sollten wir uns nicht darüber freuen und daraus lernen, daß das Wort Gottes im Laufe der Zeiten auf so verschiedene Weise Fleisch geworden ist? Nicht nur in „Knechtsgestalt“ (Christus oder Buddha), sondern auch in „Patriarchen“ (Abraham), „Volksführern“ und „Staatsmännern“ (Moses, Muhammad), „königlichen Beratern“ (Zarathustra) usw.

Zur Sünde: Es ist eine Verheißung von alters her, daß sie überwunden werden soll am „Ende der Zeiten“, das ja nach den Bahá’í-Lehren durch die Offenbarungen des Báb und Bahá’u’lláhs gekommen ist. Wie könnte anders das „Reich Gottes auf Erden“ errichtet werden? Das soll nicht [Seite 454] heißen, daß alle Versuchungen aus der Welt verschwinden; sonst gäbe es ja keine weitere Entwicklung mehr. Aber damit, daß diese Versuchungen sich bis zu weltumfassenden Vernichtungsmöglichkeiten gesteigert haben, ist ihre Bezähmung zur Existenzfrage für die ganze Menschheit geworden, was übrigens eine ausgeprägte Endzeiterscheinung ist. Die Bahá’í-Lehren sind durchaus nicht so optimistisch, wie sie vielfach dargestellt werden. Bahá’u’lláh spricht immer wieder von den schweren Strafen, die der Menschheit drohen, wenn sie sich nicht „bis zur festgesetzten Stunde“ auf den Willen Gottes einstellt und wenigstens den „Geringeren Frieden“, die Überwindung des Krieges durch ein internationales Vertragssystem, verwirklicht: Strafen, die die Vernichtung großer Teile der Erdbevölkerung bedeuten können. Hier käme die „Ursünde“ zu ihrem letzten, größten Ausbruch. Bahá’u’lláh weist den Weg durch dieses Gottesgericht hindurch; zugleich warnt Er und zeigt, wie es vermieden werden könnte. Welchen wichtigeren Beitrag zum Thema Sünde könnte es geben? — Die Sünde ist eine Frage des Willens, des Gehorsams und der Überwindung durch Wandlung. Die Versuchungen sind unendlich gewachsen, seitdem Kain seinen Bruder Abel erschlug. Man überwindet sie nicht, indem man immer weiter in der alten Wunde bohrt oder versucht, in den bodenlosen Abgrund der menschlichen Seele hineinzuleuchten, sondern indem man im Vertrauen auf Gott, auf Seine Gnade und Liebe, in der Erkenntnis Seiner Offenbarung und ihrer Gesetze seinen Willen und seine Schaffenskraft auf die höchsten gottgewollten Ziele richtet. Und der Appell Bahá’u’lláhs lautet, richtig verstanden, nicht: „Seid gut und Gott gehorsam!“, sondern „Wachset in der Erkenntnis des Göttlichen und dienet Gott, indem ihr der Menschheit dient!“

Ob man Bahá’u’lláhs umfassendes Bild vom Menschen, von der Welt und ihrer Geschichte als etwas Künstliches empfindet, ist wiederum eine Frage der subjektiven Beurteilung, die jedem einzelnen überlassen bleiben muß. Wer sich vorurteilslos um die Wahrheiten nicht nur des christlichen Glaubens, sondern auch anderer Hochreligionen, philosophischer Systeme und gesellschaftswissenschaftlicher Lehrgebäude müht, wird immer wieder überwältigt sein von der majestätischen Kraft, mit der Bahá’u’lláh das Wesentliche nicht synkretistisch zusammengesucht, sondern in neuer, dem heutigen Verständnis des Menschen gemäßer Form aus derselben einen Wahrheitsquelle geschöpft hat.

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Im letzten Abschnitt seiner Ausführungen spricht Hutten von dem „Protest gegen die Konfessionalisierung der Bahá’í-Religion“, der von Mirza Ahmad Sohrab und anderen gegen Shoghi Effendi als Hüter des Bahá’í-Glaubens vorgetragen wurde. Dabei bleibt, was die Frage des Hütertums angeht, außer acht, daß Bahá’u’lláh in Seinem letzten Willen, dem „Buch des Bundes“, ‘Abdu’l-Bahá alle Vollmachten für die administrative Gestaltung der Bahá’í-Gemeinschaft übertragen hat, daß eine religionsgeschichtlich ähnliche Einrichtung für das Hütertum im Imamat des schiitischen Islams gesehen werden kann, daß Bahá’u’lláh die parlamentarische Monarchie als die beste der bestehenden Staatsformen bezeichnet hat und daß ‘Abdu’l-Bahá zu Seinen Lebzeiten der ständigen Verfolgungen wegen nicht offen über Seine Nachfolge sprechen konnte. [Seite 455]

Jede Offenbarungsreligion bedarf für ihre Entfaltung einer äußeren Form, einer administrativen Organisation. Während sich im Evangelium nur das Wort Christi findet, daß Er auf Petrus Seine Gemeinde bauen wolle, enthalten die Schriften Bahá’u’lláhs zahllose Hinweise auf die künftige Ordnung Seiner Gemeinschaft, insbesondere auf die „Häuser der Gerechtigkeit“ und die demokratisch-gottbezogene Verfassung, die ihrer Wahl und ihrer Funktion zugrundeliegt, und auf den „Mittelpunkt des Bündnisses“, dem die letzte Entscheidung in Fragen der Lehre von allgemeinem Belang zufallen sollte. Shoghi Effendi hat als Hüter des Bahá’í-Glaubens diese Ordnung auf den von Bahá’u’lláh und ‘Abdu’l-Bahá geschaffenen Grundlagen ausgebaut und so tragfähig gestaltet, daß 1963 das Universale Haus der Gerechtigkeit als höchste administrative Körperschaft der Bahá’í in aller Welt gewählt werden konnte. Daß dies nicht ohne die Überwindung gewisser engstirniger Widerstände und egozentrischer Fehlinterpretationen vor sich gehen konnte, liegt in der Natur der Sache.

Über den Gedanken des Bündnisses Gottes, der die Seele der Bahá’í-Verwaltungsordnung bildet, kann in diesem frühen Stadium der Bildung einer Bahá’í-Weltgemeinschaft noch nicht mit letzter Exaktheit gesprochen werden. Aber so wenig eine christliche Kirche ohne eine Leib-Christi-Idee denkbar wäre, so wenig kann eine Gemeinschaft von Bahá’í als „Weltverbrüderungsverein“ oder als „Korrespondenzklub“ aufgefaßt werden. Das übermenschliche und heilbringende Opfer, das die Offenbarer Gottes für die Verkündung und Verankerung ihrer bahnbrechenden, menschheitserlösenden Lehren gegen eine Welt von Irrtum und Feindschaft dargebracht haben, erzeugt bei ihren gläubigen Anhängern eine Solidarität, die alle menschlichen Bindungen überwölbt und die sich heute auf ganz natürliche Weise in der Aufbauarbeit an einer Ordnung äußert, welche nicht nur unmittelbar aus dieser göttlichen Quelle gespeist ist, sondern darüber hinaus die fortschrittlichsten, vernünftigsten Prinzipien der Gemeinschaftsbildung umfaßt. Das ist der Geist, der der Bahá’í-Weltgemeinschaft innewohnt.

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Wer das übrige Buch mit seiner umfassenden Darstellung von nahezu 200 Gemeinschaften durcharbeitet, stutzt bisweilen bei Formulierungen wie dieser: „Dem biblischen Denken ist der Begriff der Entwicklung fremd“ (Seite 398 bei der Kritik der Anthroposophie). Bemerkenswert ist, daß kaum eine Bewegung im ganzen so positiv wegkommt wie die Bahá’í-Religion. Die Schlußbetrachtung steht unter dem Titel „Christi Wahrheit und menschliche Rechthaberei“. Sie betont die klärende Absicht des Buches und „die Aufgabe jedes suchenden Menschen, dem sich verschiedene Antworten als ‚Wahrheit‘ empfehlen, diese Antworten zu prüfen und ein eigenes Urteil zu gewinnen“ (S. 722).

Peter Mühlschlegel


*) Kurt Hutten, „Seher, Grübler, Enthusiasten — Sekten und religiöse Sondergemeinschaften der Gegenwart“, 8. überarbeitete Auflage 1962, Quell-Verlag der Evangelischen Gesellschaft, Stuttgart, 752 Seiten, 16 Bildtafeln, Leinen DM 29,80
1) s. Bahai Briefe, Heft 16, S. 385 ff. (1964) (Ergänzung LW)

Es sei noch erwähnt, daß der Verfasser des besprochenen Werkes in einem Gespräch mit zwei Vertretern des Nationalen Geistigen Rates der Bahá’í in Deutschland (1962) zusagte, vor Erscheinen der nächsten Auflage sich mit der zuständigen Stelle der Bahá’í ins Benehmen zu setzen, um die sachlich notwendigen Korrekturen vorzunehmen.


[Seite 456]



'Abdu'l-Bahá:

Vom Geist der Beratung[Bearbeiten]

Höchst wichtig in dieser Sendung ist die Beratung; aber damit ist ein geistiger Austausch, nicht die bloße Äußerung persönlicher Ansichten beabsichtigt. In Frankreich wohnte Ich einer Sitzung des Senats bei, aber dieses Erlebnis war keineswegs eindrucksvoll. Das parlamentarische Verfahren sollte zum Ziel haben, daß das Licht der Wahrheit über den eingebrachten Fragen erstrahle; es sollte nicht als Schlachtfeld für Widerstreit und Eigensinn dienen. Widerstreit und Widerspruch sind etwas Unglückseliges und immer der Wahrheit abträglich. In der Parlamentssitzung, von der Ich sprach, herrschten Wortwechsel und nutzlose Haarspaltereien vor. Das Ergebnis waren meistens Verwirrung und Tumult, einmal griffen sich zwei Mitglieder sogar tätlich an. Es war keine Beratung, sondern eine Komödie.

Was ich an diesem Beispiel zeigen will, ist, daß Beratung das Erforschen der Wahrheit zum Ziel haben muß. Wer eine Ansicht äußert, der sollte sie nicht als wahr und richtig hinstellen, sondern als einen Beitrag zu der übereinstimmenden Meinung aller Beteiligten darbringen; denn das Licht der Wirklichkeit tritt in Erscheinung, wenn zwei Meinungen übereinstimmen. Ein Funke entsteht, wenn Feuerstein und Stahl zusammentreffen. Der Mensch sollte Meinungen voll Gelassenheit, Fassung und Gemütsruhe abwägen. Bevor er seine eigene Ansicht äußert, sollte er die bereits von anderen dargelegten Meinungen sorgfältig in Betracht ziehen. Findet er, daß eine der vorgebrachten Ansichten wertvoller und der Wahrheit näher ist, sollte er sie sofort annehmen und nicht halsstarrig bei seiner eigenen Ansicht bleiben. Auf diese hervorragende Weise ist er bemüht, zur Einheit und zur Wahrheit zu gelangen. Opposition und Spaltung sind beklagenswert. Da ist es schon besser, sich die Meinung eines weisen, scharfsinnigen Mannes zu eigen zu machen; sonst machen es der Widerstreit und die Gegensätzlichkeit, mit denen verschiedenartige und


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O ihr Religionsführer! Wäget nicht das Buch Gottes nach den Maßstäben und Wissenschaften, die bei euch im Schwange sind; denn das Buch selbst ist die untrügliche Waage, die unter den Menschen aufgestellt wurde. Auf dieser vollkommenen Waage muß alles gewogen werden, was den Völkern und Geschlechtern eigen ist, während die Skala ihres Gewichtes nach ihrem eigenen Richtmaß geprüft werden muß — wenn ihr es nur wüßtet. Bitter weint das Auge Meiner Güte über euch, weil ihr versäumt habt, Ihn zu erkennen, nach Dem ihr Tag und Nacht, am Morgen wie am Abend, gerufen habt.
Bahá’u’lláh
(Kitáb-i-Aqdas, zit. in „Epistle to the Son of the Wolf“, p. 128)
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[Seite 457] auseinandergehende Ansichten geäußert werden, notwendig, daß ein Gericht die Entscheidung über die Frage fällt. Auch die Meinung der Mehrheit oder eine allseitig übereinstimmende Ansicht kann falsch sein. Tausend Menschen können derselben Ansicht huldigen, und diese kann trotzdem falsch sein, während ein einziger Scharfsinniger recht haben kann. Deshalb ist wahre Beratung geistiger Austausch in der Haltung und Stimmung liebender Zuneigung. Die Teilnehmer müssen einander im Geist der Kameradschaft lieben, damit ihre Beratung zu guten Ergebnissen führt. Liebe und Kameradschaft sind die Grundlage.

Das beherzigenswerteste Beispiel geistiger Beratung war die Versammlung der Jünger Christi auf dem Berge nach Seiner Himmelfahrt. Sie sagten: „Seine Heiligkeit Jesus Christus ist gekreuzigt worden; wir haben nicht länger Umgang und Verbindung mit Ihm in Seiner Körperlichkeit. Deshalb müssen wir Ihm treu und ergeben sein; wir müssen Ihm danken und Ihn verehren, denn Er hat uns von den Toten auferweckt, Er hat uns weise gemacht, Er hat uns ewiges Leben gegeben. Was sollen wir tun, um Ihm Treue zu erweisen?“ Und so hielten sie Rat miteinander. Einer sagte: „Wir müssen uns lösen von den Ketten und Fesseln der Welt; anders können wir nicht gläubig sein.“ Die anderen antworteten: „So ist es.“ Ein zweiter sagte: „Entweder sind wir verheiratet und müssen dann unseren Frauen und Kindern treu sein, oder wir dienen unserem Herrn frei von diesen Bindungen. Wir können uns nicht mit der Fürsorge für eine Familie befassen und zugleich das Reich Gottes in der Wildnis verkündigen. Deshalb lasset die, welche unverheiratet sind, unverheiratet bleiben, und die bereits verheiratet sind, mögen für den Unterhalt und die Bequemlichkeit ihrer Familien Sorge tragen und sodann ausziehen, die Frohen Botschaften zu verkünden.“ Es gab keine abweichenden Meinungen; alle stimmten zu und sagten: „Das ist richtig.“ Ein dritter Jünger sagte: „Damit wir uns um das Reich Gottes verdient machen, müssen wir des weiteren aufopferungsvoll sein. Von nun an sollten wir aller Bequemlichkeit und körperlichen Behaglichkeit entsagen, alle Schwierigkeiten auf uns nehmen, unser Ich vergessen und die Sache Gottes lehren.“ Dies fand bei allen anderen Zustimmung und Beifall. Schließlich sagte ein vierter Jünger: „Es gibt noch einen weiteren Gesichtspunkt unseres Glaubens und unserer Einheit. Um Jesu willen werden wir geschlagen, eingekerkert und verbannt werden. Man könnte uns sogar töten. Laßt uns jetzt schon die Lehre daraus ziehen! Wir wollen sie uns bewußt machen und uns entschließen, daß wir, auch wenn wir geschlagen, verbannt, verflucht, bespien und zum Tode geführt werden, dennoch all dies freudig hinnehmen und jene lieben, die uns hassen und verletzen.“ Alle Jünger erwiderten: „Das wollen wir sicherlich tun; wir sind einverstanden: Das ist richtig.“ Dann stiegen sie vom Gipfel des Berges nieder, und jeder ging in eine andere Richtung seiner göttlichen Sendung nach.

Dies war eine wahre Beratung. Dies war eine geistige Beratung und nicht bloß die Äußerung persönlicher Ansichten in Gegenrede und parlamentarischem Wortstreit.


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Ansprache ‘Abdu’l-Bahás im Hotel Plaza, Chicago/Ill., am 2. Mai 1912, nach Aufzeichnungen von Joseph H. Hannen, Aus „Promulgation o£ Universal Peace“, Band I Seite 68 ff.


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Aus der Bahá’í-Geschichte

Vahíd (Schluß)[Bearbeiten]

Der Kampf um Fort Khájih

Der Gouverneur erschrak, als er hörte, welche Lawine von Erfolgen Vahíd in so erstaunlich kurzer Zeit hatte: Die vornehmsten Bürger aus allen Kreisen nahmen den Glauben des Báb an, darunter sein eigener Neffe. Der Gouverneur meinte, er müsse den Einfluß Vahíds zerstören, bevor sein Ansehen beim König und beim Ministerpräsidenten unterminiert sei. Deshalb zog er tausend Kavalleristen und Infanteristen zusammen und befahl, sie sollten Vahíd überraschend angreifen. „Faßt ihn und bringt ihn als Gefangenen hierher!“

Vahid erfuhr davon. Er und seine Gefährten verfolgten denselben Plan wie ihre Glaubensgenossen in Tabarsí: Sie verschanzten sich in einer Burg vor der Stadt, im Fort Khájih. Auch der Gouverneur der Nachbarprovinz Shíráz, ein königlicher Prinz, entsandte Truppen und gab ihnen denselben Befehl, der schon zuvor in Tabarsí gegeben worden war: „Vernichtet sie alle!“ Unter den Belagerten herrschte, wie in Tabarsí, Mangel an Wasser und Nahrungsmitteln. Schließlich wurden sie durch den gleichen Verrat wie in Tabarsí veranlaßt, ihre Festung zu verlassen. Der Gouverneur von Nayríz ließ Vahíd einen Qur’án schicken mit dem feierlichen Versprechen: „Dieser Qur’án ist Zeuge der Lauterkeit unserer Absicht. Laßt dieses heilige Buch entscheiden, ob der Anspruch, den ihr für euren Glauben erhebt, wahr oder falsch ist. Kommt aus eurer Burg heraus und trefft uns hier im Lager. Wenn ihr in der Lage seid, die Wahrheit eures Glaubens zu beweisen, werden auch wir diesen annehmen. Der Fluch Gottes sei auf uns, falls wir versuchen sollten, euch zu betrügen.“

Vahíd nahm das Buch mit Ehrerbietung entgegen. Zu seinen Freunden sagte er: „Unsere Stunde hat geschlagen. Obwohl ich mir im klaren bin, was sie vorhaben, halte ich es für meine Pflicht, ihrem Ruf zu folgen und noch einmal die Gelegenheit wahrzunehmen, über unseren geliebten Glauben zu ihnen zu sprechen.“ Mit fünf Begleitern ging er in das Lager des Gouverneurs; drei Tage sprach er mit ihm und seinem Stab über den Báb und seine Lehren. Diese aber, obwohl sie nach außen hin zuzuhören schienen, machten insgeheim Pläne, wie sie seine restlichen Freunde aus der Burg herausbekämen, um sie dann alle umzubringen. Schließlich ließen sich die Belagerten überreden, zu Vahíd in das Heerlager zu kommen; aber kaum hatten sie die Burg verlassen, wurden sie festgenommen oder niedergemacht.

Als die Erfolgsmeldung beim Gouverneur eintraf, zerbrach man sich den Kopf, wie man sich auch an Vahíd rächen könnte, ohne den Eid auf den [Seite 459] Qur’án zu verletzen. Da erbot sich ein Raufbold, der für seine Grausamkeit berüchtigt war, er würde Vahíd ohne Gewissensbisse umbringen, denn er selbst hätte den Eid ja nicht geschworen. Er rief die Verwandten der bei dem wochenlangen Kampf um die Burg Gefallenen zusammen und ließ sie ein Todesurteil über Vahíd sprechen, um damit, wie er meinte, den Gouverneur und sich selbst von jeder Verantwortung für das Folgende zu befreien. Drei Männer sollten das Vorrecht und das Vergnügen haben, Vahíd die ersten Streiche beizubringen, ehe er dem Mob übergeben würde. Man wußte, es waren drei Männer ohne Barmherzigkeit.

Zimbeln und Pauken ertönten, als Vahíd vor das Volk von Nayríz geführt wurde. Mullá Ridá, der erste von den drei Männern, riß Vahíd den Turban vom Kopf, rollte ihn auf, wand ihn dem Opfer um den Hals und zog ihn zu Boden. Dann band man Vahíd an einen Pferdesattel, gab dem Pferd die Peitsche und schleifte ihn durch die Straßen. Die beiden anderen Mordgesellen, Safar und ‘Aqá Khán, schlugen Vahíd nach Herzenslust und mit solchem Ingrimm, daß die Zuschauer Angst bekamen, für sie bleibe nichts mehr übrig.

Mitten im Todeskampf rief Vahíd: „Du weißt, o mein Geliebter, ich habe die Welt aufgegeben um Deinetwillen und mein Vertrauen nur auf Dich gesetzt. Voll Ungeduld eile ich zu Dir.“

Der Mob schäumte vor Wut über Vahíds strahlende Ergebenheit in sein Schicksal, hielt man es doch für sicher, daß er Furcht zeigen und um Gnade bitten würde. In immer neuen Wogen fielen sie über ihn her und schlugen ihn mit Fäusten und Waffen bewußtlos. Berittene verjagten die Menge, um selber dranzukommen. Weiber tanzten um den Leichnam zu den gesteigerten Schlägen der Trommeln und Zimbeln. A. L. M. Nicolas berichtet, wie der Pöbel, „von der Szene erregt, den unglücklichen Mann zu Tode steinigte und schlug. Dann hieb man ihm das Haupt ab, zog die Haut herunter, stopfte es mit Stroh aus und sandte diese Trophäe nach Shíráz“ 9).

Ebenso verfuhr der fanatisierte Mob mit den Köpfen der Gefährten Vahíds, die man gleichfalls als Geschenk an den Prinzen in Shíráz sandte. Der war gerade bei einem Festgelage, als die furchtbare Karawane eintraf. „Die Bazare waren fahnengeschmückt, überall herrschte große Freude. Plötzlich trat Totenstille ein. Man sah zweiunddreißig Kamele kommen: Jedes trug einen Gefangenen, eine Frau oder ein Kind, gefesselt und kreuzweise wie ein Bündel über den Sattel geworfen. Rings herum marschierten Soldaten mit langen Lanzen; auf jeder Lanze war der Kopf eines in Nayríz erschlagenen Bábí aufgespießt... Die festlichen Einwohner von Shíráz waren tief beeindruckt und kehrten traurig in ihre Behausungen zurück. Die Schreckenskarawane zog durch die Bazare und dann zum Gouverneurspalast. Der Gouverneur befand sich in seinem Park, wo er die... reichen und tonangebenden Bürger von Shíráz um sich geschart hatte. Die Musik verhallte, der Tanz brach ab“ 10).

Mihr ‘Alí Khán marschierte mit seinen Trophäen auf den Prinzen zu, berichtete über seine Ruhmestaten im Kampf gegen Vahíd und seine [Seite 460] Gefährten und zählte die Namen der Gefangenen auf, die er mitgebracht hatte. Der Prinz beglückwünschte ihn zu seinem großen Sieg und beschenkte ihn samt seinen Offizieren reichlich für die abgeschlagenen Köpfe.

Mit diesen Ereignissen erfüllte sich eine alte Prophezeiung über das Kommen des Verheißenen buchstäblich: „Er wird die Vollkommenheit Mose, den Glanz Jesu und die Geduld Hiobs offenbaren. Seine Auserwählten werden an Seinem Tage erniedrigt werden. Ihre Häupter werden als Geschenke dargeboten werden ... Sie werden erschlagen und verbrannt... Die Erde wird mit ihrem Blut gerötet werden. Ihre Frauen werden jammern und wehklagen. Wahrlich, dies sind meine Freunde“ 11).

Professor Browne berichtet, daß „von denen, welche für diese Grausamkeiten die Hauptverantwortung trugen, jeder ein schlimmes Ende fand und vom Elend überhäuft starb“ 12).

Wieder war ein großer Führer unter den Anhängern des Báb gefallen, ein Mann, den Bahá’u’lláh „die einzige und unerreichte Gestalt seiner Zeit“ 13) nannte. Der berühmte Vahíd, den sein König und dessen Ministerpräsident als „den weisesten Perser“ beschrieben, hatte alles aufgegeben, was dem Menschen teuer sein kann, für das Vorrecht, sein Leben auf dem Pfade Gottes niederzulegen. Mit seinem Märtyrertod am 29. Juni 1850 ging Vahíd seinem Geliebten, dem Báb, nur zehn Tage voraus.

P.M.


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9) A. L. M, Nicolas, „Siyyid ’Alí-Muhammad dit le Báb“, S. 406.
10) dto. S. 407.
11) aus dem „Káfi“ einer Überlieferung des Jábír; vgl. Bahá’u’lláh, „Das Buch der Gewißheit (Kitäb-i-Iqán)“, Frankfurt 1958, S. 148.
12) E. G. Browne, „A Traveller’s Narrative“, Fußnote H, S. 259-260.
13) Bahá’u’lláh, a.a.O., S. 136.




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