Bahai Briefe/Heft 17/Text

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BAHÁ'I-

BRIEFE


BLÄTTER FÜR

WELTRELIGION UND

WELTBEWUSSTSEIN



AUS DEM INHALT:


Erstes europäisches Haus der Andacht eingeweiht

Bildbericht aus Langenhain

Die lebendige Kraft der Religion

Die Überwindung von Vorurteilen

Tempel, Kirchen und Moscheen. ..


JULI 1964 HEFT 17

D 20 155 F


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Die Bahá’í-Briefe[Bearbeiten]

dienen der Unterrichtung über Ereignisse und Entwicklungen der Religionsgemeinschaft der Bahá’í in Deutschland, in Europa und in der Welt. Die vorliegende Nummer berichtet von der Bestimmungsübergabe des Hauses der Andacht der Bahá’í zu Langenhain im Taunus. Wer die Geschichte dieses Bauwerkes vom Anfang des Jahres 1953 bis zum 4. Juli 1964 verfolgt hat, weiß, daß diesem Bauvorhaben der europäischen Bahá’í-Gemeinde eine Bedeutung zukommt, die über das Maß eines Bauvorhabens ähnlicher Größenordnung und von vergleichbarer Zweckbestimmung hinausgeht. Noch bevor die Bauherrschaft selbst, d.h. der Nationale Geistige Rat der Bahá’í in Deutschland, einen Entwurf für das Bauwerk ausgewählt hatte, wurde in der Öffentlichkeit bereits dazu Stellung genommen.
In der Vorgeschichte des Bauwerks und in der Wirkung, die seine Vollendung in weiten Kreisen der Bevölkerung hervorrief, wurde die Wahrheit dessen bewiesen, was ‘Abdu’l-Bahá über den Bau des ersten Mashriqu’l-Adhkárs in Europa vorhergesagt hat: „Es gibt materielle Dinge, die große geistige Impulse auslösen. Der Mashriqu’l-Adhkár ist eine materielle Sache, die große Wirkungen auf das geistige Leben der Völker auslösen wird. Er ist ein Ausdruck der Erhöhung des Wortes Gottes. Die Gründung des Tempels wird eine Stufe sein zum Einzug des Reiches Gottes auf Erden.“
In den vergangenen elf Jahren des Ringens um die Errichtung unseres Hauses der Andacht haben wir erlebt, wie sich die Vorhersage ‘Abdu’l-Bahás in ihrem ersten Teil erfüllt hat. Wir haben die Bestimmungsübergabe vollzogen in der Hoffnung, daß sich auch der letzte Satz des zitierten Wortes von ‘Abdu’l-Bahá zum Wohle der Menschheit bald erfüllen möge. Die Bestimmung des Hauses der Andacht ist es, Aufgangsort des Lobpreises Gottes zu sein. Die Hingabe und die Opferbereitschaft der Gläubigen, welche das Bauwerk erstehen ließen, sowie die herrliche Lage und die Klarheit der Architektur lassen die Erwartung berechtigt erscheinen, daß das erste Haus der Andacht in Europa seiner Bestimmung gerecht werden wird.
Der Nationale Geistige Rat
der Bahá’í in Deutschland e.V.


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Erstes europäisches Bahá’í Haus der Andacht eingeweiht[Bearbeiten]

„Liebe hat diesen Tempel gebaut...”


Machtvoll und feierlich ertönte das Wort: „Magnified be Thy Name, O Lord my God... Ruhm sei Dir, o Gott, für die Offenbarung Deiner Liebe zur Menschheit... Gepriesen und verherrlicht seist Du, o Herr...“ An jenem 4. Juli war der Augenblick gekommen, den die Bahá’í in aller Welt seit langem herbeigesehnt hatten: Das erste europäische Haus der Andacht am Rande der kleinen Taunusgemeinde Langenhain, bei Frankfurt am Main, durfte seiner Bestimmung übergeben werden.

Schon frühmorgens waren viele Gläubige mit Autos und Bussen die Anhöhe zum Tempel hinaufgefahren, um bei der ersten der insgesamt fünf Andachten dabei zu sein. In Wind und Regen erblickte man nur strahlende, dankbare Gesichter. Vor den Toren des Hauses fand manch frohes Wiedersehen unter Freunden statt, die sich jahrelang nicht mehr getroffen hatten. Sie kamen aus Frankreich, England, Belgien, Luxemburg, Holland, aus der Schweiz, aus Österreich, Italien, aus Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland, aus Island, aus Pakistan, aus Persien, dem Geburtsland der Bahá’í-Religion, den USA und vielen anderen Ländern mehr. An die eintausend hatten sich schließlich eingefunden.

Als man sich im weiten Rund des lichtdurchfluteten, mit kostbaren Teppichen und herrlichen Blumen geschmückten Tempels versammelt hatte, wurde es still. Nach einem Gebet in englischer Sprache trat Amatu'l-Bahá Rúhiyyih Khánum vor die festliche Versammlung. In einer kurzen, in Deutsch gehaltenen Ansprache, die wir an anderer Stelle im Wortlaut veröffentlichen, wies sie auf die Bedeutung des Hauses der Andacht hin, welches sie dann im Namen des Weltzentrums des Bahá’í-Glaubens in Haifa offiziell seiner Bestimmung übergab.

Texte aus den Schriften Bahá’u’lláhs, aus dem Alten und Neuen Testament, aus der Bhagavadgita und dem Qur’án wechselten anschließend ab mit Gebeten in persischer, französischer, schwedischer und deutscher Sprache. Umrahmt wurden die erhabenen Feierstunden durch Sologesänge von Maria Montana, Farah Föhr, Norman Bailey und dem Kantaten-Chor Frankfurt.

Den beiden Andachten des Vormittags folgte am frühen Nachmittag eine dritte, zu der neben zahlreichen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens auch die Presse und ein Aufnahmeteam des Deutschen Fernsehens geladen worden waren, sowie zwei weitere, zu denen sich eine große Zahl Bürger von Langenhain und Umgebung eingefunden hatte. [Seite 407]

Sie alle wollten bei der Weihe des Hauses der Andacht, dessen Werden sie von den ersten Erdarbeiten an mit Interesse und Staunen verfolgt hatten, dabei sein.

Rund um den Tempel standen die vielen Menschen. Immer mehr waren es im Laufe des Tages geworden. Der starke Wind hatte bald den Regen vertrieben, und die Sonne strahlte. Wer es zeitlich einrichten konnte, blieb noch lange, im Gespräch mit Freunden oder bemüht, einen Abglanz dieses schönen Tages fotografisch einzufangen.


Herzliche Worte des Dankes

Am Abend fand im Gesellschaftshaus des zoologischen Gartens in Frankfurt für geladene Gäste des In- und Auslands ein Bankett statt, in dessen Verlauf der Vorsitzende des Nationalen Geistigen Rates der Bahá’í in Deutschland, Ruprecht Krüger, dem Architekten des Hauses der Andacht, Dipl.-Ing. Teuto Rocholl, den Dank und die hohe Anerkennung der Bahá’í aussprach. Er erinnerte daran, daß Herr Rocholl vor Jahren unter 24 namhaften Architekten als der jüngste ausgewählt worden sei. Durch den Bau dieses Tempels werde sein Name eingeschrieben in die Tafel der großen stilgebenden Architekten unserer Zeit. Weiter dankte er den Gemeindevätern von Langenhain, Bürgermeister i.R. Heuss und Bürgermeister Nickel, die bei der Beschaffung von Grund und Boden große Hilfe geleistet hätten. Sie dürften sicher sein, daß Langenhain schon





Ein eindrucksvolles Bild bei Nacht: die lichtdurchflutete Kuppel


[Seite 408] heute in der Welt bekannt sei. Sehr zu Dank verpflichtet fühle er sich der hessischen Landesregierung, insbesondere dem Vertreter derselben, Regierungsdirektor Schwarzer. Nicht zuletzt dankte er den Baufirmen sowie allen, die zu dem Gelingen dieses Bauwerks beigetragen haben. Es sei ihm Ehre und Pflicht, betonte Ruprecht Krüger weiter, den Bahá’í aller Länder Dank auszusprechen nicht nur für ihre finanzielle Mithilfe, sondern in erster Linie für ihre Unterstützung durch Gebete. Wörtlich sagte er: „Diese Stätte des Gebets ist auch eine Stätte der Geburt des Gebets.“

Die letzten Worte unterstrich Amatu'l-Bahá Rúhiyyih Khánum, indem sie sagte: „Von diesem Gebäude geht eine geistige Kraft aus. Liebe hat den Tempel gebaut. Jeder Faden der Vorhänge und jeder Stein ist ein Sinnbild für die Opfer, die gebracht worden sind.“ Und sie fügte hinzu: „Es ist etwas sehr Kostbares, was Langenhain umfängt. Es ist ein Juwel. Vielleicht haben viele Menschen heute erkannt, wie sehr die Bahá’í die Menschen lieben. Alle Bahá’í danken den Deutschen, den Frankfurtern, den Langenhainern und all denen, die mitgeholfen haben, daß dieses Gebäude errichtet werden konnte.“

Teuto Rocholl führte in seiner Ansprache aus, er sei froh, daß der Tag der Einweihung des Hauses der Andacht gekommen sei; zugleich sei er jedoch ein wenig besorgt, daß sich bei ihm nun ein Gefühl der Leere einstellen werde, da er jetzt an dem ihm ans Herz gewachsenen Projekt nicht mehr täglich arbeiten könne. Architekt Rocholl dankte dem Nationalen Geistigen Rat für das ihm entgegengebrachte Vertrauen. Es sei stets sein Wunsch gewesen, daß dieses Bauwerk zur inneren Gestaltung des Menschen beitragen möge.

Herzliche Worte fand auch Bürgermeister Nickel aus Langenhain, als er sagte: „Dies ist ein ereignisreicher Tag. Man hat aus allem herausgefühlt, daß Ihr Herzblut an diesem Bauwerk hängt. Die Ehre des Augenblicks gebührt dem früheren Bürgermeister Heuss, der es verstanden hat, das in Gang zu bringen, was heute vollendet worden ist.“ Er sei noch im Langenhainer Gemeindevorstand gewesen, als der Verkauf des Tempelbaugeländes zur Erörterung gestanden habe. Die Entscheidung sei für die Gemeindevertreter nicht einfach gewesen. Er glaube jedoch, daß sie der Menschen des 20. Jahrhunderts nicht unwürdig sei. Namens der Einwohnerschaft und des Gemeindevorstands von Langenhain sprach Bürgermeister Nickel den Bahá’í zu dem Tag der Einweihung des Hauses der Andacht die herzlichsten Glückwünsche aus und sagte: „Wir sind beglückt über das, was auch wir unser eigen nennen dürfen. Wir wünschen, daß sich manches Band knüpfen und weiter festigen möge und hoffen, dazu beitragen zu können, daß dieses Haus, das Sie mit dem großartigen Ausdruck ‚Haus der Andacht‘ bezeichnen, allezeit zur Ehre Gottes stehen möge!“

Am 5. und 6. Juli trafen sich annähernd 1000 Bahá’í-Freunde aus ganz Europa in Frankfurt zu einer Lehrkonferenz. Delegierte aus den verschiedenen Ländern berichteten über den Fortgang der Lehrarbeit und die Verbreitung des Glaubens in ihrer Heimat. Übereinstimmend wurde dabei hervorgehoben, daß die persönlichen Kontakte besonders wichtig sind. [Seite 409]


Die Presse informierte sich

Am Tage vor der Bestimmungsübergabe des Hauses der Andacht hatte der Nationale Geistige Rat zu einer Pressekonferenz eingeladen, zu deren Beginn Ruprecht Krüger den Pressevertretern Dipl.-Ing. Teuto Rocholl und die Delegierten der europäischen Nationalen Geistigen Räte der Bahá’í vorstellte. Rúhiyyih Khánum, die ebenfalls gekommen war, berichtete von ihrer ausgedehnten Lehrreise nach Indien, von der sie erst Ende Juni zurückgekehrt war, und sprach über die Bedeutung der Häuser der Andacht in der ganzen Welt. Die anschließenden Fragen der Presse bezogen sich vor allem auf die Prinzipien der Bahá’í-Religion und die Verbreitung der Lehre.

U. Sch.


Kurz gefaßt: Die Architektur

Die Forderungen des Bauherrn an den Architekten (Dipl.-Ing. Teuto Rocholl) für die Gestaltung dieses Hauses der Andacht waren eine hochaufragende Kuppel über einem Zentralraum mit neun symmetrisch angeordneten Eingängen, Sitzmöglichkeiten für etwa 500 Personen und die Bekrönung der Kuppel mit einer Leuchte. Es galt, einen hohen, lichtdurchfluteten Raum in möglichst enger Beziehung zur umgebenden Außenwelt zu schaffen.

Die Grundfläche des Tempels hat einen Durchmesser von 48 m; die Höhe beträgt fast 28 m. Der Kuppelraum besitzt einen Durchmesser von 25 m. Dreimal neun Pfeiler, welche die Kuppel tragen, begrenzen den Innenraum. Vom Fußboden bis zur Spitze führen 27 Rippen, die in einem Ring enden, der die Leuchte trägt. Die Zwischenräume dieser Rippen wurden durch dünnwandige Elemente mit rhombenförmigen, verglasten Öffnungen geschlossen. Daraus ergibt sich ein interessantes Spiel von Licht und Schatten, das durch die Sonnenreflexe auf den 570 Glasscheiben noch belebt wird.

Das ganze Bauwerk ist eine Stahlbetonkonstruktion, die aus Fertigbetonteilen errichtet wurde. Infolge der 27maligen Wiederholung jedes einzelnen Fertigteils wurde eine große Rentabilität erreicht. Die etwa 25 m hohen und fast 30 Tonnen schweren Rippen wurden aus Transport- und Montagegründen von der holländischen Lieferfirma je in drei Teilstücken angefertigt.

Auf eine Wärme-Isolierung der Kuppel konnte verzichtet werden, da eine Heizungsart gewählt wurde, die einen Wärmestau in der Kuppel nicht aufkommen läßt. Es handelt sich dabei um eine elektrische Fußbodenspeicherheizung, bei der die Temperaturen in Fußbodennähe 20 bis 25 Grad Celsius betragen, sich nach oben hin jedoch merklich verringern.

Durch die neun Tore gelangt man zunächst in einen nach außen verglasten Umgang. Weitere neun Eingänge führen dann in das Innere des Hauses, wobei vorerst auf die Anbringung von Zwischenwänden verzichtet worden ist. Stattdessen schirmen Vorhänge den eigentlichen Andachtsraum gegenüber äußeren Einwirkungen ab.

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Schon am frühen Morgen waren die Bahá’í auf die Höhe bei Langenhain geströmt. Vor dem Haus der Andacht erlebte man so manche frohe Szene des Wiedersehens. Aus fast allen Teilen Europas, aus Asien und von Übersee waren die Freunde herbeigeeilt, um das frohe und festliche Ereignis mitzuerleben. Nicht nur vor dem Haus der Andacht drängte man sich, auch im Innern standen die Freunde dicht an dicht.



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Auch diese Bilder vermitteln einen Eindruck von den Ereignissen rund um die Bestimmungsübergabe des Hauses der Andacht. Links: Rúhiyyih Khánum spricht; auf dem Bild rechts oben unterhält sich Dr. Eugen Schmidt mit dem Vertreter der hessischen Landesregierung, Reg.-Direktor Schwarzer. Links mitte: Bis zuletzt wurde von den Baufirmen gearbeitet. — Rechts mitte: Rúhiyyih Khánum und Anneliese Bopp während der Pressekonferenz. Unten links ein Teil des Kantatenchors, rechts interessierte Anwohner.
Fotos: Schubert



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Die drei Wahrheiten des Glaubens[Bearbeiten]

Ansprache von Amatu'l-Bahá Rúhiyyih Khánum bei der öffentlichen Bestimmungsübergabe des Bahá’í Hauses der Andacht in Langenhain


Freunde,

ich bin sehr glücklich über die Ehre, Sie alle innerhalb der Tore dieses ersten in Europa erbauten Bahá’í Hauses der Andacht anläßlich seines Eröffnungsgottesdienstes begrüßen zu dürfen.

Dieses Gebäude ist den drei Wahrheiten geweiht, die dem Bahá’í-Glauben zugrundeliegen: der Einheit Gottes, der Einheit Seiner Offenbarer, der Einheit des Menschengeschlechts. Seine Tore stehen offen für Menschen aller Glaubensrichtungen, aller Rassen, aller Völker und aller Klassen. Innerhalb seiner Mauern wird man die Gebete und heiligen Schriften nicht nur unseres eigenen Glaubens hören, sondern der großen Offenbarungsreligionen der ganzen Welt. Wir glauben, daß diese heiligen Schriften die Schatzkammern der ewigen Grundwahrheiten sind, die Gott in verschiedenen Zeitaltern für die Führung und die Erlösung der ganzen Menschheit geoffenbart hat.

Es ist die Hoffnung der Bahá’í, daß ein jeder von Ihnen sich frei fühlen möge, in diesen Tempel zu kommen und hier zu beten und mit uns teilzunehmen an den Andachten zum Preise des Gottes, Den wir alle lieben, Dem wir alle uns anbetend zuwenden, und von Dem wir alle göttliche Gnade und Segnungen erhoffen in dieser unserer unruhigen, sorgenvollen Welt. Ich lese jetzt Worte von Bahá’u’lláh, dem Begründer des Bahá’í-Glaubens:

„O Gott, Der Du der Urheber aller Offenbarungen bist, der Born aller Borne, der Urquell aller göttlichen Offenbarungen, der Ursprung allen Lichtes! Ich bezeuge, daß durch Deinen Namen der Himmel des Verstehens geschmückt wurde, das Meer der Äußerung wogte und den Anhängern aller Religionen das Walten Deiner Vorsehung verkündet wurde «.. Lob und Preis seien Dir, o Herr, mein Gott! Du bist Er, Der von Ewigkeit her mit Majestät, mit Autorität und mit Macht angetan war, und Der bis in alle Ewigkeit mit Ehre, mit Kraft und mit Herrlichkeit geschmückt bleiben wird. Die Gelehrten stehen, einer wie der andere, bestürzt vor den Zeichen und Beweisen von Deiner Hände Werk, und die Weisen erkennen ohne Ausnahme ihre Unfähigkeit, das Geheimnis Jener zu enträtseln, Die die Manifestationen Deiner Macht und Kraft sind. Jeder Einsichtige hat seine Ohnmacht gestanden, die Höhen Deines Wissens zu erklimmen, und jeder Gebildete hat zugegeben, daß er außerstande ist, das Wesen Deines innersten Seins zu ergründen.

Nachdem Du den Weg, der zu Dir führt, verriegelt hattest, riefest Du kraft Deiner Autorität und durch die Wirksamkeit Deines Willens Sie ins Leben, Die die Manifestationen Deines Selbstes sind, und betrautest Sie [Seite 413]







Europa-Lehrkonferenz: Rúhiyyih Khánum spricht zu rund 1000 Freunden



mit den Botschaften an Dein Volk und machtest Sie zu Tagesanbrüchen Deiner Eingebung, zu Vertretern Deiner Offenbarung, zu Schatzkammern Deines Wissens und zu Aufbewahrungsorten Deines Glaubens, auf daß alle Menschen durch Sie ihr Angesicht Dir zuwenden und dem Königreiche Deiner Offenbarung, dem Himmel Deiner Gnade nahe kommen sollten. Daher bitte ich Dich, bei Dir und bei Ihnen, sende herab von der rechten Hand des Thrones Deiner Gnade auf alle, die auf Erden wohnen, was sie reinwaschen wird von der Befleckung durch ihre Sünden wider Dich, und bewirke, daß sie sich Deinem Selbst gänzlich ergeben, o Du, in Dessen Hand die Quelle aller Gaben ruht, auf daß sie alle sich erheben, Deiner Sache zu dienen, und sich von allem außer Dir völlig loslösen.

Du bist der Allmächtige, der Allherrliche, der Uneingeschränkte.“



Die lebendige Kraft der Religion[Bearbeiten]

Vortragsabend am 5. Juli 1964 in Frankfurt


Zwei Fragen gilt es zu beantworten, sagte der Vorsitzende des Nationalen Geistigen Rates der Bahá’í in Deutschland, Ruprecht G. Krüger, in seiner Begrüßung der mehr als 800 Gäste, die zu dem Vortragsabend am 5. Juli anläßlich der Bestimmungsübergabe des Hauses der Andacht erschienen waren: „Welcher Bestimmung dient das Bahá’í Haus der Andacht?“ — „Was hat es mit den Bahá’í überhaupt auf sich?“

Dr. Eugen Schmidt ging in seinen Ausführungen von der wachsenden Verweltlichung der modernen Industriegesellschaft aus, die Quasi-Religionen aller Art Vorschub leistet und es fraglich erscheinen läßt, ob die bisherigen Formen des Gottesdienstes noch dem heutigen Selbstverständnis und den geistigen Bedürfnissen des Menschen angemessen sind. Die Suche nach Wahrheit ist das gemeinsame Anliegen von Religion und Wissenschaft — nach einer Wahrheit, die sich durchaus nicht durch das [Seite 414] rationale Denken ausschöpfen läßt; auch der Wissenschaft sind Meditation und Intuition als Arbeitsmethoden nicht fremd. Fest steht jedoch, daß die höchsten Maßstäbe eines geistig-sittlichen Weltbildes unmöglich von der Wissenschaft her gesetzt werden können. Kein Mensch kann es künftig mehr wagen, das Wort Gottes — „das Licht der göttlichen Einheit“ — nicht zu beachten, lehrte Bahá’u’lláh schon vor über 90 Jahren.

Das Haus der Andacht ist die zentrale, integrale und wesensgemäße Einrichtung des Glaubens Bahá’u’lláhs. Ohne Auslegung wird dort das Wort Gottes zu Gehör gebracht, und die menschliche Stimme ertönt ohne instrumentale Begleitung zum Lobe Gottes. Neun Tore und eine hoch aufragende Kuppel versinnbildlichen die alle Menschen umspannende Einheit im Glauben an den einen wahren Gott. Und wie die persönliche Heilserfahrung in der Bahá’í-Religion überhöht wird durch die seit Jahrtausenden verheißene Heilsgewinnung für die in einem Glauben geeinte Menschheit, erfüllt das Haus der Andacht — als das künftighin von humanitären und wissenschaftlichen Instituten umgebene Zentralgebäude des Mashriqu’l-Adhkárs — die Schau des Propheten Jesaja: „Mein Haus soll ein Bethaus sein allen Völkern.“

Der allumfassende Charakter der Bahá’í-Gottesdienste bekräftigt die den voraufgegangenen Religionen „zugrundeliegenden ersten und immerwährenden Grundsätze“. Die Bahá’í-Offenbarung betrachtet die vorausgegangenen Religionen „als verschiedene Stufen in der ewigen Geschichte und andauernden Entwicklung einer göttlichen und unteilbaren Religion“. Der Redner bezeichnete das Haus der Andacht als einen „geistig weithin ausstrahlenden Brennspiegel des alle Erdenbewohner umhüllenden Lichtes des Wortes Gottes“, das nach Bahá’u’lláh unter den Menschen als die „untrügliche Waage“ aufgestellt worden ist, auf der „alles gewogen werden soll“, was „die Völker und Geschlechter der Erde besitzen“.

„Ziert euch mit dem Schmuck Seines Gedenkens und erleuchtet euer Herz mit dem Lichte Seiner Liebe! Das ist der Schlüssel, der die Herzen der Menschen öffnet .. .“ (Bahá’u’lláh).

*

Amatu'l-Bahá Rúhiyyih Khánum, die Witwe des ersten Hüters des Bahá’í-Glubens, führte in ihrer Ansprache über: „Die Menschheit in der Krise“ aus, das Leben der Menschheit vollziehe sich wie das jedes einzelnen, und jedes menschliche Leben sei eine Kette von Krisen und deren Überwindung. Manche Krisen seien jedoch besonders schwer; der Patient kämpfe um sein Leben. Jeder, der aufmerksam die Zeitungen lese, müsse sich eigentlich sagen, daß die Menschheit als Ganzes in einer solchen lebensbedrohenden Krise stehe. Und doch sei diese Situation den wenigsten voll bewußt; die Menschen des Westens seien Experten darin, die einfachen Dinge zu komplizieren und die schwierigen leicht zu nehmen.

Auf ihre jüngsten Reiseerlebnisse in Afrika, Indien und Südostasien eingehend, berichtete Rúhiyyih Khánum, wie spontan die Bahá’í dort verstanden würden, wenn sie den Menschen die Lehren Bahá’u’lláhs darbrächten — und dies sowohl bei den Afrikanern, als bei den Indern, Malaien und indochinesischen Völkern, die auf eine dreitausendjährige [Seite 415]







Voll besetzt war der große Saal bei der Europa-Lehrkonferenz



Geschichte zurückblickten. Warum sollten die Menschen Europas diese Lehren nicht aufgreifen?

Die Welt braucht Einigkeit, sonst geht die zivilisierte Menschheit dem Untergang entgegen. Der ganze Inhalt der Lehren Bahá’u’lláhs ist, daß die Menschheit sich heute vereinigen kann und muß, und daß dies auf der Grundlage der Religion Gottes am dauerhaftesten geschehen wird. Es berührt seltsam, daß die Hindus dies ohne weiteres verstehen, die Europäer und Amerikaner aber nicht. Das Rad der Ochsenkarren, die zu Millionen über Indiens Straßen ziehen, sei ein schönes Gleichnis, sagte Rúhiyyih Khánum: Wenn die Menschheit durch den Reifen des Rades versinnbildlicht werde, die verschiedenen Nationen und Religionen durch die Speichen, dann fehle es heute noch an der Nabe, die diese Speichen in der gleichen Weise zusammenhalte: Diese Nabe bringe Bahá’u’lláh.

Einheit in der Mannigfaltigkeit, ein wesentliches Prinzip Bahá’u’lláhs, sei uns westlichen Menschen weit weniger geläufig, als es den Anschein habe, sei doch die ausgeprägte Tendenz der westlichen Zivilisation die Einheit in der Einförmigkeit, bei den Konsumgütern in gleicher Weise wie bei den politischen Ideen. Wer Bahá’í werde, verleugne damit nicht seine volkliche oder religiöse Herkunft, sondern erkenne sie in einem neuen Lichte. Den Bahá’í seien die Rechte der Minderheiten heilig.

Über die Vereinten Nationen sagte Rúhiyyih Khánum, man müsse dankbar sein für das, was bis jetzt erarbeitet wurde. Dieser Staatenbund sei besser als sein Vorgänger, aber es fehlten in ihm die Liebe und der Glaube. Aufgabe der Bahá’í sei es, in ihrer Weltgemeinschaft das Modell einer Ordnung zu schaffen, die in liebender Solidarität verbunden ist.

Es gibt nichts, was die lebendige Kraft der Religion übertreffen könnte, und in den Lehren Bahá’u’lláhs kommt diese Kraft zum Ausdruck, so natürlich und unwiderstehlich wie der Frühling oder der Glanz der Sonne. Dies ist die frohe Botschaft, die die Bahá’í mit allen anderen Menschen teilen wollen.

P.M.


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Die Überwindung von Vorurteilen[Bearbeiten]

Eine Erklärung des Nationalen Geistigen Rates der Bahá’í der Vereinigten Staaten von Amerika


Bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein führte die natürliche Abgeschlossenheit der Völker zu Unterschieden in ihrer kulturellen Entwicklung, ihrer wirtschaftlichen und politischen Struktur und ihren religiösen Gemeinschaftsformen. In einer von den natürlichen Voraussetzungen her geeinten Welt sind diese Ergebnisse der Absonderung nicht mehr zu rechtfertigen. Als Folge menschlicher Tätigkeit bestehen sie fort und kommen zum Ausdruck in Vorurteilen, welche eine unmittelbare Bedrohung für die Sicherheit der Menschheit und eine Sünde wider den Geist aller Offenbarungsreligionen darstellen.
Die Entfaltung von Wissenschaft und Technik mit ihrer Macht, die menschlichen Verhältnisse umzuformen, erfordert eine entsprechende Wandlung des menschlichen Wesens und Wirkens vom instinktiven Stammesbewußtsein zu einer reifen, durchgeistigten, verständigen Weltschau. In den Augen der Angehörigen der Bahá’í-Weltgemeinschaft setzt diese Umwandlung eine Kraft voraus, wie sie durch die Lehren Bahá’u’lláhs bewirkt wird, Der mit aller Entschiedenheit für die Einheit der Menschheit Zeugnis ablegte. „Die Welt ist nur ein Land, und alle Menschen sind seine Bürger“, erklärte Er vor über achtzig Jahren. „Alle Propheten Gottes verkünden denselben Glauben.“ „Die Wohlfahrt der Menschheit, ihr Friede und ihre Sicherheit können nicht verwirklicht werden, wofern nicht und ehe nicht ihre Einheit fest begründet ist.“

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Auf der Grundlage der Gesetze, Prinzipien und Wahrheiten, die Bahá’u’lláh verkündete, ist eine Weltgemeinschaft von Menschen entstanden, in deren Reihen es keine Vorurteile gibt. Ohne Rücksicht auf Rasse, Klasse, Bekenntnis oder Volkszugehörigkeit heißt diese Gemeinschaft jeden Gläubigen willkommen, der sich zu den Lehren Bahá’u’lláhs bekennt. Ihre gewählten Verwaltungskörperschaften führen eine Vielfalt von Angehörigen aller Rassen zu gemeinsamem treuhänderischem Bemühen zusammen. Ihr Haus der Andacht vermittelt Lesungen aus allen heiligen Büchern.
Die Bahá’í-Gemeinschaft beweist daher in ihren Tätigkeiten die vollständige Überwindung von Vorurteilen. Darüber hinaus sind ihre öffentlichen Vertreter und ihre einzelnen Mitglieder gehalten, die Botschaft der Einheit bei jeder Gelegenheit zu verkünden. Durch die Verbreitung von Schrifttum, durch öffentliche Veranstaltungen und durch das persönliche Gespräch wirken die Angehörigen der Bahá’í-Weltgemeinschaft für das Ziel, verderbenbringende Vorurteile, wo sie auch anzutreffen sind, ständig an der Wurzel zu treffen. Und wenn die Bahá’í ihren Glauben verbreiten, suchen sie zugleich ihre Überzeugung mitzuteilen, daß Zusammenarbeit die Antriebskraft jeder organischen menschlichen Entwicklung ist und daß dieses Zusammenwirken einerseits die höchste Stufe persönlicher Ethik, andererseits das machtvollste Grundgesetz menschlicher Kultur darstellt.


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Kirchen, Tempel und Moscheen ...[Bearbeiten]

Gottesdienste und Andachtshäuser im Wandel der Zeiten


Im echten Gottesdienst, welcher Art auch immer er sei, will sich das Edelste in unserer Seele dem Höchsten, das sie sich vorstellen kann, dem Göttlichen zuwenden — in Glauben und Vertrauen, in Demut und Ehrfurcht, in Liebe und Begeisterung. Gottesdienst ist ein ganz persönliches Anliegen, so wie die Suche nach dem Guten, Schönen und Wahren in Ethik, Kunst und Wissenschaft.

Der primitive Mensch in seiner Sehnsucht nach Geborgenheit und Führung sucht das Höhere, Mächtigere am ehesten draußen in der Natur, wo immer er sich ihm nahe fühlt, an heiligen Quellen oder Steinen, in geweihten Hainen, auf Bergesgipfeln. Er fleht dort um Hilfe und Segen zu den Mächten, die er fürchtet und zu denen es ihn doch immer wieder hinzieht, weil er sie stärker und gewaltiger glaubt als sich selbst. Er fügt Steine zusammen zu Weihestätten und Altären und bringt auf ihnen Opfer dar, um die Götter und Geister gnädig zu stimmen. Er bittet um Rat und Hilfe bei Ahnen seiner Sippe, bei toten Häuptlingen und Heroen seines Stammes. Und andere wenden sich zu Göttern, die über Naturgewalten herrschen, wieder andere vielleicht auch an eine Gottheit, die, wie sie glauben, vor allen Völkern das eigene Volk bevorzugt.

Mag sich der Mensch dem Angebeteten in andachtsvoller Ergebenheit nahen oder erfüllt von Bitten, die auf seinem Herzen lasten — immer wieder macht er die Erfahrung, daß an bestimmten Orten oder zu bestimmten Tagen und Stunden die Gottheit ihm gleichsam näher ist und daß durch bestimmte Symbole, Riten oder Sakramente die beglückende Verbindung der Seele mit dem Göttlichen leichter erreicht wird. So gewinnen einzelne Stätten der Andacht und gewisse Formen des Kultes besondere Bedeutung. Auch will der Mensch sie noch mehr absondern und herausheben von der Umgebung. Der Hain, der Berg und andere Orte in der Natur sind vielerlei Einflüssen preisgegeben; oft mangelt es dort an Sammlung und Geborgenheit. Da sucht der Mensch den heiligen Bezirk durch Mauern abzugrenzen und den Versammlungsort der Gläubigen durch einen würdigen Bau zu überwölben. Damit begeht er einen Akt schöpferischer Gestaltung, einen bedeutsamen Schritt auf seinem langen Entwicklungswege. Tiefen seines Unterbewußten werden berührt, wenn er gestaltend gleichsam wiederholt, was er vor Urzeiten einem Tiere gleich tat, als er vor feindlichen Gewalten sich in seine Höhle verkroch oder in einer abgelegenen Grotte zu seinem Stammesgott flehte. Der überwölbte Bau, durch den kein Windeswehen, kein Tiergeschrei dringt, läßt die heilige Ruhe zu, in der die Seele des Göttlichen innewird.

*

Mannigfach sind die Raumgefühle und die Leitbilder des Menschen, wenn er Steine über sich wölben will, um Gott anzubeten und ihm durch Kulthandlungen zu dienen. „Raumgefühl ist Weltgefühl, gestaltetes Raumgefühl [Seite 419] ist gestaltetes Weltgefühl“, sagt Wilhelm Pinder. Nächst dem Schöpferwillen und Können der Baumeister und ausschmückenden Künstler bestimmen Glaube, Kult, Rasse, Tradition und Zeitgeist, aber auch Werkzeug, Material und Geldmittel die Art und Schönheit des würdigen Baues. Sie alle fügen sich zusammen zu Wänden, Gewölben und Farben, zu Säulen, Stufen und Nischen, zu Lichtzonen und Durchblicken und zu geheimnisvollem Dämmerdunkel.

Eindrucksvolle Zeugen frommen Ringens um Ausdruck ragen aus ferner Vergangenheit in immer rascherer Folge bis in die Gegenwart herein. Heilig ist das Raumerleben und Raumgestalten aller Zeiten. Fern und fremd mögen uns manche Elemente archaischer sakraler Kunst erscheinen. Wir dürfen uns nicht auf Wertungen einlassen, denn unser Standpunkt ist nicht überlegen, unser Gesichtskreis nur begrenzt, und wir Heutigen können nur schwer nachempfinden, was Menschenseelen in uralten Zeiten schauten und ahnten: In Ägypten den Archetyp der Pyramide, der Stufe, des Obelisken; in Babylon, wenn die feierliche Prozession die vielen Treppen weit hinaufschreitet hoch über Dunst und Drang des Häusermeeres zum Zikkurat, dem Wohnsitz der furchterregenden Götter; im alten Peru die wuchtige Größe der Megalithbauten, von nackten Gebirgsriesen überragt; im Fernen Osten die bedeutungsvollen Holzpfeiler und Holztore, die weit ausladenden Dächer mit emporgeschwungenen Ecken. In Ostasien und in Indien sind die meisten Tempel der geweihte Raum eines Kultes, der durch Riten und Beschwörungen geistige Kräfte auf die versammelten Gläubigen übertragen will.

Unser Geschichtsbild ist gemeinhin wie das unserer Urgroßeltern auf Europa und allenfalls den Nahen Osten begrenzt — welch Paradoxon zur Technik, die sich einstweilen weltraumweit entwickelt hat! So wollen wir in jenen vertrauteren Räumen bleiben. Form und Auge haben wir an Hellas gebildet. Die leuchtenden Marmortempel waren keine Andachtshäuser; die Frommen gingen nicht hinein um zu beten. Die Gottheit wohnte im Tempel. Draußen stand der Altar, und auf dem Platz ringsumher wohnten die Versammelten den Hymnen und dem Opferdienst bei.

Anders das Gotteshaus des Islam, die Moschee (arabisch: masdjid = „Ort des sich Niederwerfens“). Diese ist ein eigentliches Gebetshaus. Die älteren Moscheen sind ein Hof mit Säulengängen und -hallen ringsum. Die Gläubigen, meist in Reihen ausgerichtet, beten Mekka zugewandt. Predigten, sakrale Kulte, Bilder, Musik gibt es nicht. Das Faszinosum des Gottesdienstes entspringt weniger dem, was das Auge sieht an Säulen, Hallen, Arabesken, sondern eher in der schmucklosen Konzentration auf den unfaßbaren, einzigen Gott, vor dem die Schöpfung Staub ist, gesteigert durch das geoffenbarte Wort des Propheten in der heiligen Sprache des Qur’án und durch die ohne Ansehen der Person nivellierten Massen der mitbetenden Glaubensbrüder.

Dem Jahwe-Tempel liegt die eindrucksvolle Dreiteilung in Vorhof, Heiliges und Allerheiligstes zugrunde.

Der altchristliche Kirchenbau ging aus der antiken Basilika hervor. Die längliche Säulenhalle war als starke Zielrichtung nach dem Chor hin empfunden, wo am Altar die Liturgie geübt wurde. Die vielen hohen Säulen, [Seite 420] jetzt nach innen gekehrt, nicht mehr nach außen wie im antiken Tempel, weckten das Gefühl erhabenen Tragens, eine Mahnung an den Gottessohn, der der Welt Sünde trägt bis hinauf zum alle beseligenden Himmelsgewölbe.

Der byzantinische Kirchenbau entwickelte daraus unter vorderasiatischen Einflüssen die Kuppelbasilika und den Kuppelzentralbau. Das Allumfassende, Absolute des Eingottes will sich darin zeigen, auf Erden repräsentiert im Kaiser, der zugleich das Haupt der orthodoxen Kirche ist. Der Altarraum ist vom Gemeinderaum betont abgeteilt, am auffälligsten durch die Ikonostase, eine Bilderwand feierlich strenger Ikonen der Gnade vermittelnden Heiligen, die aus verklärtem Goldgrund hervorschauen. Deren Farbenpracht wird durch Marmor, Mosaike, bunte Lampen und Fenster ins Mystische erhöht.

Der lateinische Westen der Christenheit liebt klarere, geometrische Formen. Aus diesem Gefühl erstand die Romantik, die den meisten Ländern des christlichen Mittelalters echter Ausdruck wurde. Die römische Kirche hatte sich organisiert; auch für alle Glaubensfragen hatte sie eine Antwort bereit. Die Welt — ringsumher gab es ja nur noch Heiden und Ketzer, die nicht mitzählten — war wohlgegliedert in eine geistliche und eine weltliche Hierarchie. Kraft und Klarheit beherrschen auch den Kirchenbau in einheitlicher Durchgestaltung römischer Grundformen wie Säulen, Pfeiler, Gewölbe, Rundbogen und deren vielgliedriger Weitergestaltung zu einem monumentalen Ganzen.

Im zwölften Jahrhundert erblühte ein neues Weltgefühl: himmelstrebende Sehnsucht, die Welt mit emporreißend — die Gotik. Der Stein sang in herrlichen Kathedralen. Pfeiler und Türme wuchsen himmelwärts, reich gegliedert voll Leben wie der Wald. Das Kircheninnere wird hoch und höher. Kreuzrippen tragen das Gewölbe und gehen in längliche Bündelpfeiler über, die von Strebepfeilern gestützt sind. Dazwischen durchsetzen spitzbogige schmale Fenster die Wände. Das Heilsgeschehen wird von


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Die den Völkern und Geschlechtern der Erde vorbestimmte Zeit ist nun gekommen. Die Verheißungen Gottes, wie sie die Heiligen Schriften überliefert haben, sind alle erfüllt. Aus Zion ist Gottes Gesetz hervorgegangen, und Jerusalem mit seinen Hügeln und seinem Land ist voll der Herrlichkeit seiner Offenbarung. Selig, wer in seinem Herzen bewegt, was in den Büchern Gottes, des Helfers in Gefahr, des Selbstbestehenden, geoffenbart ist... Dies ist der Tag, den die Feder des Höchsten in allen Heiligen Schriften verherrlicht hat. Kein Vers ist darin, der nicht den Ruhm Seines heiligen Namens kundtut, und Kein Buch, das nicht für die Erhabenheit dieses höchsten Themas zeugt... Es obliegt an diesem Tag einem jeden, sein ganzes Vertrauen auf die mannigfachen Gaben Gottes zu setzen und sich zu erheben, um mit äußerster Weisheit die Wahrheiten Seiner Sache zu verbreiten. Dann, und nur dann wird das Morgenlicht Seiner Offenbarung die gesamte Erde umgeben.

Bahá’u’lláh


„Ährenlese“, X
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[Seite 421] vielen Figuren dargestellt, die meisten an Portalen, wo sie den Frommen grüßen und mahnen. Ihre Gewänder verhüllen die irdische Nichtigkeit des Körpers.

Das Weltgefühl der Renaissance ist dem sonnigen Diesseits zugekehrt, die Antike zurückrufend. Der Humanismus sieht im Menschen das Maß aller Dinge. So werden nun die Teile des Gotteshauses harmonisch nach Idealproportionen aufeinander abgestimmt. Der Zentralbau mit seiner großen Kuppel entspricht diesem Menschen- und Allgefühl. Wie in der Antike wird wieder der unverhüllte Menschenkörper Sinn und Maß der Schönheit.

Bunter Individualismus bringt starke Bewegtheit durch geschwungene Grund- und Aufrisse und doch Unterordnung aller Einzelheiten unter das Ganze, dazu aufgeklärte Helle der Innenräume — dies kennzeichnet das Zeitgefühl des Barock. Dann aber, seit bald zweihundert Jahren, beginnt im Abendland eine zunehmende Säkularisierung, und Zeitgeist und Stil haben nicht mehr die eindeutige Gestalt wie einst.

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So ist die Geschichte der sakralen Baukunst ein nie vollendetes Suchen nach einer gültigen Form des Kultbaues. In den letzten Jahrzehnten ist dieses Suchen wieder stärker geworden und wird auch viel diskutiert. Millionen haben in den letzten Kriegsläuften ihre Heimat verloren und suchen, vielleicht unbewußt, nach jener Geborgenheit innen und außen, die der mittelalterliche Mensch noch besessen hatte. Viele andere freilich sind des Suchens müde geworden.

Was aber ist nun der heutige Zeitgeist? Das Vordergründige — Technik, Hetzen und Jagen, das Ringen zweier Machtblöcke auf dem immer engeren Planeten — ist nur Übergang und Umbruch. Die Menschheit wächst durch Krisen und Irrungen hindurch ihrer Einheit entgegen, einer neuen Lebensform, einem neuen Weltgefühl. Der rasche Fortschritt der Technik läßt Raum und Zeit auf unserer Erdoberfläche zusammenschrumpfen. Bald kann die Menschheit nicht mehr gedeihen ohne echte geistige und politische Einheit. Wieviel Schuld und Leid es noch bedarf, um diese Reife zu erreichen, liegt im Dunkel der Vorsehung.

Aber die Offenbarung des Willens Gottes für das kommende Zeitalter, das heißt ein neues Bündnis, ein neuer geistiger Impuls, eine neue zeitgemäße Form der alten Wahrheitslehre und eine neue Ordnung, das ist durch Bahá’u’lláh gegeben worden. Das Haus der Andacht der Bahá’í ist ein Sinnbild dafür. Wo die Herzen noch nicht erwacht sind, sollen die Steine zu ihnen reden. Werden sie verstanden?

Ganz allgemein betrachtet — von vielen Varianten abgesehen — hat sich das religiöse Empfinden der letzten Geschlechter langsam und stetig gewandelt. Es ist unabhängiger geworden von Kircheneinrichtungen, das heißt von Priestern, Kult und Bekenntnissen, es ist mehr praktisch orientiert. Oder mit anderen Worten: In den Gemütern der vielen Millionen tief religiös gesinnter Menschen auf Erden ist weniger Theologie und mehr Brüderlichkeit und Sehnsucht nach Einheit und Weltfriede zu [Seite 422] erkennen. So haben die alten religiösen Institutionen nicht mehr die ursprüngliche, zeitgemäße, plastische Kraft wie ehedem. So machten unzählige religiöse und säkulare Bewegungen und Ideologien ihre eigenen Versuche, der Wirklichkeit der Gegenwart gerecht zu werden, größte und kleinste, von dem ein Drittel der Menschheit umfassenden Marxismus bis herab zu winzigen Grüppchen idealistischer Weltverbesserer oder Mystiker.

Der erhabene Kuppelbau trägt inwendig in seiner Spitze den „Größten Namen“, den „neuen Namen“, unter dem der Christusgeist wiedergekommen ist (vgl. Offenbarung Joh. 3, 12). Die Kuppel überwölbt die runde Haupthalle, in welche, einen Rundgang überquerend, die Herbeiströmenden sofort eintreten. Hier hören sie nur das Wort Gottes, und dies aus allen Religionen. Was aus dem Mund der Gottesoffenbarer aller Zeiten kam, soll in die Herzen aller Menschen eingehen, ohne die heute nicht mehr benötigte Vermittlung durch Priester, Kult und Dogmen. Denn diese rufen oft ein emotionales Gruppenbewußtsein hervor; das aber ist dem neuen, universalen Zeitalter nicht mehr gemäß. Die Kuppel überwölbt den ganzen runden Raum und gibt damit ein Gefühl erhabener Geborgenheit und unentrinnbarer Verpflichtung zugleich.

’Abdu’l-Bahá sagt: „Deshalb hat Seine Heiligkeit Bahá’u’lláh verordnet, daß jener Ort der Anbetung für die Angehörigen aller Religionen der Welt gebaut werde, auf daß alle Religionen, Rassen und Sekten innerhalb Seines universalen Schutzes zusammenkommen mögen, auf daß die Einheit der Menschheit verkündet und zur Dienerin Gottes werde und alle im Ozean Seiner Barmherzigkeit untergetaucht werden mögen. Es ist der Mashriqu’l-Adhkár, der Dämmerungsort der Anbetung Gottes ...“

Der Geist bedarf des Körpers, um diese Welt zu gestalten. Eine bessere Welt, eine echte Einheit der Menschheit kann nur entstehen, wenn besser gewordene Menschen in besseren Gedanken geeint sind und in einer besseren Ordnung zusammen zu leben gelernt haben. Bahá’u’lláh bahnte den Weg zu solcher Wandlung, Erkenntnis und neuen Ordnung. Das Erforschen der Wirklichkeit und der Dienst am Nächsten sind Anliegen der Wanderer auf diesem Wege, und der Mashriqu’l-Adhkár, das Haus der Andacht, mit seinen humanitären und wissenschaftlichen Ergänzungsgebäuden, ist die Stätte, auf der sich ein neues Weltbewußtsein festigen und verwirklichen.

Dr. Adelbert Mühlschlegel



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Der Anfang aller Dinge ist die Erkenntnis Gottes, und das Ziel aller Dinge die genaue Befolgung dessen, was aus dem höchsten Himmel des göttlichen Willens herabkam, der durchdringt, was in den Himmeln und auf Erden ist.
Bahá’u’lláh


„Ährenlese“, II
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Die Einrichtung des Mashriqu'l-Adhkárs[Bearbeiten]

Die sichtbare Verkörperung der Universalität des Bahá’í-Glaubens

Viele einsichtsvolle Geister bezeugen, daß in den letzten Jahrzehnten eine bedeutsame Wandlung in der religiösen Gedankenhaltung der Menschen vor sich gegangen ist. Die Religion hat völlig neue Schwerpunkte bekommen, insbesondere für den Laien, und zwar ganz unabhängig von den früheren bekenntnisgebundenen Unterscheidungen.

An die Stelle der Auffassung, die Religion sei eine Sache der Hinwendung zu einer abstrakten Gläubigkeit, ist für den Durchschnittsgläubigen heute die praktische Anwendung der Religion auf die Probleme des menschlichen Lebens getreten. In kurzen Worten: Die Religion hat offensichtlich nach theologischen Gesichtspunkten ihren Einfluß verloren; dafür ist sie aber machtvoller als je zuvor als Geist der Brüderlichkeit, als Impuls zur Einheit, als ideale Ausgangsbasis für eine aufgeklärtere Zivilisation auf der ganzen Erde rehabilitiert worden.

Vor diesem Hintergrund erhebt sich die Einrichtung des Mashriqu’l-Adhkárs als der höchste Ausdruck aller jener modernen religiösen Bestrebungen, die von sozialen Idealen beseelt sind und die Wirklichkeit geistigen Erlebens nicht leugnen, sondern sie in ein dynamisches Streben nach Einheit umzuformen suchen. Der Mashriqu’l-Adhkár gibt der Welt, wenn er klar verstanden wird, die kraftvollsten Hilfsquellen an die Hand, um mystische Schau oder idealistische Bestrebung dem Dienst an der Menschheit nutzbar zu machen. Er macht jene tieferen Bedeutungen und erweiterten Möglichkeiten der Religion sichtbar und faßbar, welche nicht vor dem Anbruch dieses universalen Zeitalters vergegenständlicht werden konnten.

Das Wort „Mashriqu’l-Adhkár“ bedeutet „Aufgangsort des Lobpreises Gottes“.

Um die Bedeutung dieser Bahá’í-Institution zu erfassen, müssen wir alle überkommenen Vorstellungen von den Kirchen und Kathedralen der Vergangenheit ablegen. Der Mashriqu’l-Adhkár erfüllt die ursprüngliche Zielsetzung der Religion, wie sie in jeder Sendung vorhanden war, ehe diese Zielsetzung durch menschliche Erfindungen und Glaubensvorstellungen abgewandelt und verschleiert wurde.

Der Mashriqu’l-Adhkár ist ein Kanal, dem geistige Kräfte für eine gesellschaftliche Wiedergeburt entströmen, weil er eine andersartige Aufgabe erfüllt als die, welche sich die Bekenntniskirchen stellen. Sein Hauptzweck ist der eines gemeinschaftlichen Versammlungsorts für alle, die [Seite 424] Gott anzubeten suchen, und dieser Zweck wird dadurch erreicht, daß keinerlei von Menschen geschaffene Schleier zwischen den Andächtigen und den Allhöchsten treten. So steht der Mashriqu’l-Adhkár den Anhängern aller Bekenntnisse, die nunmehr die Universalität Bahá’u’lláhs durch Seine Offenbarung der Einheit aller Propheten erkennen, in derselben Weise offen. Weil darüber hinaus die Bahá’í-Religion kein Berufspriestertum kennt, hört der Gottsucher, der den Tempel betritt, keine Predigt und nimmt an keinem Ritual teil, dessen emotionale Wirkung auf ein abgesondertes Gruppenbewußtsein hinauslaufen würde.

Unlöslich ist der Tempel mit seinen Nebengebäuden verbunden, ohne die der Mashriqu’l-Adhkár keine vollständige Gesellschaftseinrichtung wäre. Diese Gebäude haben Zwecken wie einer Hochschule für Wissenschaften, einer Herberge, einem Krankenhaus, einem Waisenhaus zu dienen. Hier schließt sich der Kreis geistigen Erlebens; denn Geburt und Andacht sind unmittelbar mit dem schöpferischen Dienst verbunden, um das beharrende subjektive Element aus der Religion auszuschalten und die Grundlage für eine neue, höhere Form menschlicher Gemeinschaft zu legen.

„Unter den Einrichtungen der Heiligen Bücher“, sagte ’Abdu’l-Bahá, „findet sich die der Begründung von Stätten der Andacht. Das heißt, ein Bauwerk oder Tempel muß errichtet werden, damit die Menschenwelt eine Stätte der Begegnung findet, und dies muß zur Einheit und Brüderlichkeit in ihren Reihen beitragen. Der wirkliche Tempel ist das Wort Gottes selbst; denn zu ihm muß sich die ganze Menschenwelt wenden; es ist der Brennpunkt der Einheit für die gesamte Menschheit. Es ist der Sammelpunkt, der Ursprung des Einklangs und der Verbindung der Herzen, das Zeichen der Zusammengehörigkeit der Menschenrasse, die Quelle ewigen Lebens. Tempel sind Symbole der vereinenden göttlichen Kraft; wenn sich daher die Menschen im Hause Gottes zusammenfinden, mögen sie sich ins Bewußtsein rufen, daß das Gesetz für sie geoffenbart worden ist, und daß das Gesetz sie vereinen soll. Sie werden begreifen, daß wie dieser Tempel für die Vereinigung der Menschheit begründet wurde, das Gebot, das ihm vorausging und das ihn schuf, von dem geoffenbarten Wort Gottes ausgegangen ist... Deshalb hat Seine Heiligkeit Bahá’u’lláh befohlen, daß eine Stätte der Andacht für alle gläubigen Menschen der Welt erbaut werde, daß alle Religionen, Rassen und Sekten unter ihren allumfassenden Schutz treten mögen, daß die Verkündung der Einheit der Menschheit von ihren offenen, geweihten Hallen ausgehe — die Verkündung, daß alle Menschen die Diener Gottes sind und daß sie alle versunken sind in dem Meer Seiner Gnade. Das ist der Mashriqu’l-Adhkár.“

„Die Welt des Seins kann mit diesem Tempel, dieser Andachtsstätte verglichen werden; denn wie die äußere Welt ein Ort ist, wo die Angehörigen aller Rassen und Farben, der verschiedensten Glaubensrichtungen, Bekenntnisse und Lebensumstände zusammentreffen, wie sie alle versunken sind in demselben Meere göttlicher Gunst, so mögen sich auch alle unter der Kuppel des Mashriqu’l-Adhkár versammeln und den einen Gott in demselben Geist der Wahrheit verehren; denn die Zeitalter der Finsternis sind vergangen, und das Jahrhundert des Lichtes ist angebrochen.“ [Seite 425]

„Der Mashriqu’l-Adhkár muß neun Seiten und Tore, dazu Brunnen, Wege, Pforten, Säulen und Gärten haben, und in Entwurf und Ausführung muß er herrlich sein. Das Mysterium des Baues ist groß und kann jetzt noch nicht enthüllt werden, aber seine Errichtung ist das wichtigste Werk dieses Tages. Der Mashriqu’l-Adhkár hat wichtige Ergänzungsgebäude, welche bei der Gründung schon mit in Rechnung gezogen werden. Diese sind: ein Waisenhaus, ein Krankenhaus und eine Apotheke für die Armen, ein Heim für die Arbeitsunfähigen, eine Hochschule für höhere wissenschaftliche Bildung und ein Fremdenheim. In jeder Stadt muß nach diesem Befehl ein großer Mashriqu’l-Adhkár errichtet werden. Im Mashriqu’l-Adhkár werden jeden Morgen Gottesdienste gehalten. Eine Orgel wird im Mashriqu’l-Adhkár nicht sein. In den Nebenbauten werden Feste, Gottesdienste, öffentliche Zusammenkünfte und geistige Versammlungen gehalten werden, aber im Tempel werden Lied und Gesang unbegleitet sein. Öffnet die Tore des Tempels allen Menschen!“

„Wenn diese Einrichtungen geschaffen sind, werden die Tore allen Nationen und Religionen offenstehen. Es wird keine Trennungslinie gezogen werden. Ihre Tore werden dem Menschengeschlecht geöffnet sein. Vorurteil gegen niemand, Liebe für alle. Auf diese Weise ... wird Religion mit Wissenschaft in Einklang gebracht, und die Wissenschaft wird zur Dienerin der Religion werden. Beide werden ihre materiellen und geistigen Gaben auf die ganze Menschheit strömen lassen.“

Dies ist der neue, universelle Begriff von Religion, den Bahá’u’lláh heute geoffenbart hat: Die Quelle des Glaubens ist der Prophet, die Manifestation Gottes, nicht von Menschen geschaffene Glaubenssätze, Lehrmeinungen, Riten, Zeremonien oder Kirchen; denn der Wille und die Liebe Gottes werden der Menschheit in jedem Zeitalter durch Seinen erwählten und inspirierten Gesandten übermittelt, und der Glaube findet seinen Ausdruck im unmittelbaren Dienst an den menschlichen Nöten, in der Aufopferung für die Sache des Weltfriedens, in der Hingabe für die Sache der Einheit der Menschheit. Der Glaube an ein sektiererisches


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Was der Herr als höchstes Mittel und mächtigstes Werkzeug für die Heilung der ganzen Welt bestimmt hat, ist die Vereinigung aller Völker in einer allumfassenden Sache, einem gemeinsamen Glauben. Das kann nicht anders erreicht werden, als durch die Kraft eines erfahrenen, allgewaltigen und erleuchteten Arztes. Wahrlich, das ist die Wahrheit und alles andere nichts als Irrtum.


Bahá’u’lláh


„Ährenlese“, CXX

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[Seite 426] Bekenntnis, die geistige Anerkennung nur der Mitgläubigen der eigenen Denomination bei Indifferenz für die Nöte und Rechte der Angehörigen aller anderen — das reicht nicht hin, den Bedürfnissen einer Welt zu begegnen, die aus Mangel an Einheit unterzugehen droht, und wird von Bahá’u’lláh nicht als wahrer Glaube angenommen.

Das Bahá’í Haus der Andacht, in dieser größeren, endgültigen Bedeutung verstanden, kündigt das Kommen der umfassenden Wahrheit an, die in der Lage ist, die Einrichtungen dieser Welt für religiöse Zwecke mit denen für humanitäre Dienste zu verbinden und zu vereinen, während sie jetzt noch zersplittert und nicht in der Lage sind, die menschlichen Leiden zu heilen. Es verbindet sie als ein Geist, der einen Körper durchflutet. Ohne den Körper hat der Geist der Religion keine Kraft zu handeln; ohne Geist ist der Körper leblos. Die Bahá’í-Lehren verurteilen untätige Andacht so sehr, wie sie andererseits Tatendrang ohne geistige Führung bedauern.


Das Tor der Hoffnung

Die Bahá’í-Lehren bilden eine religiöse Gemeinschaft heran, in der sich alle menschlichen Beziehungen von gesellschaftlichen in geistige Problemstellungen verwandeln.

Die gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit sind in erster Linie politischer und wirtschaftlicher Natur. Es sind Probleme, weil die menschliche Gesellschaft in Nationen eingeteilt ist, deren jede für sich beansprucht, sich selbst Ziel und Gesetz zu sein, dazuhin in Klassen, deren jede eine ökumenische Theorie auf die Ebene eines machtvollen, ausschließlichen Prinzips erhoben hat. Das Nationalbewußtsein ist zu einer Ideologie geworden, die die grundsätzliche Menschlichkeit aller beteiligten Völker umstößt, um politischen Erwägungen den Vorrang vor allen ethischen oder moralischen Belangen einzuräumen. Desgleichen entwickeln wirtschaftliche Gruppen soziale Systeme und treiben sie voran, ohne Rücksicht auf die Wesensart menschlicher Beziehungen im Verhältnis zur Religion. Aber wo man menschliche Beziehungen als politische oder soziale Probleme auffaßt, da nimmt man sie aus einem Bereich heraus, in welchem der vernunftsgemäße Wille unter der Führung des göttlichen Gesetzes wirksam werden kann. Nur geistige Probleme können gelöst werden, denn nur Fragen, die mit der geoffenbarten Wahrheit gemessen werden, sind damit in die Arena der Einheit verbracht. Im Grunde ist die schicksalhafte Zerklüftung der internationalen Beziehungen, die Krieg und Revolution zur Ursache hat, das sichtbare Zeichen dafür, daß Unruhestifter politische Mittel an sich rissen, um sich in Taten auszutoben, die geistiger Wahrheit und geistigem Gesetz zuwiderlaufen. Außerhalb dieser Wahrheit und diesem Gesetz gibt es aber keine Lösung. Gewaltsamer Angriff führt letztlich nur zum Ruin.

Das sind die Gründe, warum die Welt in Streit und Verwirrung gerät, wenn der Glaube schwach und das Bewußtsein blind wird. Kein Anstifter zur Gewaltanwendung trägt die ganze Verantwortung für den Kampf allein. Er könnte niemals hoffen, durch einen plötzlichen Umsturz zu Macht oder Profit zu gelangen, wenn nicht die moralische Kraft der übrigen Welt gleichgültig oder gespalten wäre. Zu solchen Zeiten, wenn der [Seite 427] Weg im Dunkel liegt, kommt der Prophet wieder in die Menschheit, um das Gesetz zu erneuern und die Herrschaft der Wahrheit fortzuführen. Wer aber heute noch glaubt, die Welt könne beständige Ordnung, Sicherheit und Frieden auch ohne die Einheit des Bewußtseins finden, wie sie durch einen gemeinsamen Glauben herangebildet wird, der bleibt auf dem Marsch schicksalhafter Entwicklung so weit zurück wie jener, welcher einwendet, es sei keine höhere Gesellschaftsform als die der Nation vonnöten, um die Lebensinteressen der Menschenrasse in alle Zukunft hinein sicherzustellen. Bis auf den heutigen Tag hat die geistige und gesellschaftliche Entwicklung den ganzen Verlauf der menschlichen Geschichte bestimmt. Wer die Möglichkeit einer organischen Religion und einer organischen Gesellschaftsordnung für die ganze Menschheit leugnet, der leugnet jede Aufwärtsbewegung im Leben schlechthin und legt seine begrenzten eigenen Maßstäbe an den Willen Gottes an. Für einen wahrhaft gläubigen Menschen jedoch ist es genug, wenn er sich das ehrwürdige Gebet ins Bewußtsein ruft, das den Sieg des Willens Gottes auf Erden wie im Himmel erfleht.

Kein Mensch kann die Tür der Hoffnung schließen, die ’Abdu’l-Bahá aufgestoßen hat mit den Worten, die Er 1912 an eine Öffentliche Versammlung in Amerika richtete:

„Religion ist der sichtbare Ausdruck der göttlichen Wirklichkeit. Deshalb muß sie lebendig, kraftvoll, beweglich und fortschrittlich sein. Ist sie ohne Bewegung und Fortschritt, dann ist sie des göttlichen Lebens bar und tot. Die göttlichen Gebote sind allezeit wirksam und auf Entwicklung bedacht; deswegen muß ihre Offenbarung fortschreitend und beständig sein. Alle Dinge unterliegen der zeitweiligen Neugestaltung. Heute stehen wir in einem Jahrhundert des Lebens und der Erneuerung. Wissenschaften und Künste, Gewerbefleiß und Erfindungsgeist sind neugestaltet worden. Gesetz und Sittenmaßstäbe sind neu gefaßt, neu gegründet worden. Die Welt der Gedanken ist neu geformt worden.“

„Wird die Gewaltherrschaft früherer Regierungsformen dem Ruf nach Freiheit antworten, der sich aus dem Herzen der Menschenwelt in diesem Zeitalter der Erleuchtung erhoben hat? Offensichtlich haben die Bräuche, Einrichtungen und Standpunkte der Vergangenheit heute keine günstigen Ergebnisse mehr. Sollen in Anbetracht dessen die blinden Nachahmungen vorväterlicher Formen und theologischer Ausdeutungen weiterhin das religiöse Leben und die geistige Entwicklung der heutigen Menschheit lenken und kontrollieren? Soll der Mensch, mit der Macht der Vernunft begabt, gedankenlos Dogmen, Glaubenssätzen und überkommenen Meinungen folgen, welche der Analyse der Vernunft in diesem Jahrhundert strahlender Wirklichkeit nicht mehr standhalten?“

„Aus der Saat der Wirklichkeit ist die Religion zu einem Baum aufgewachsen, der Blätter und Zweige, Blüten und Früchte getragen hat. Nach einer gewissen Zeit ist dieser Baum jedoch in Verfall geraten. Die Blüten und Blätter sind verwelkt und vergangen, der Baum selbst ist angeschlagen und unfruchtbar geworden. Es ist nicht vernünftig, daß der Mensch sich an diesen alten Baum klammern und behaupten sollte, seine Lebenskräfte seien unvermindert, seine Frucht unerreicht, seine Existenz ewig. Die Saat der Wirklichkeit muß aufs neue in den Menschenherzen ausgesät [Seite 428] werden, auf daß ein neuer Baum daraus wachse und neue göttliche Früchte die Welt erfrischen. Auf diese Weise werden die Nationen und Völker, die sich jetzt der Religion nach unterscheiden, zur Einheit geführt werden, die Nachahmungen werden aufgegeben, und weltumspannende Brüderlichkeit wird auf die Wirklichkeit selbst gegründet sein. Krieg und Streit werden unter der Menschheit aufhören; alle werden als Diener Gottes ausgesöhnt werden.“


Eine Mission des Friedens

Das Bahá’í-Haus der Andacht bewahrt die Grundwahrheit, die 'Abdu'l-Bahá als den wichtigsten Teil Seiner Botschaft überbrachte, die aber von einem Geschlecht vernachlässigt wurde, welches sich an die Annahme gewöhnt hatte, eine liberale Politik würde aus eigenem Impuls fortbestehen, wenn sie nur gut und nützlich sei. Was ’Abdu’l-Bahá als die wesentliche Bedingung darlegte, war die Macht des Heiligen Geistes, die von der Manifestation Gottes ausströmt. Das Mashriqu’l-Adhkár ist die Gedenkstätte, die die Bahá’í für Bahá’u’lláh errichten, und nicht nur öffentliches Bekenntnis zu einem System liberaler Wahrheiten.

„Der Körper der Menschenwelt“, erklärte 'Abdu'l-Bahá, „ist krank. Seine Arznei und Heilung wird die Einheit des Menschenreiches sein. Sein Leben ist der Größte Friede. Seine Erleuchtung und Erquickung ist Liebe. Seine Glückseligkeit ist das Erlangen geistiger Vollkommenheiten. Es ist mein Wunsch und meine Hoffnung, daß wir in den Gaben und Gunstbeweisen der Gesegneten Vollkommenheit (das heißt Bahá’u’lláhs) neues Leben finden, neue Kraft gewinnen und Zugang zu einer wundersamen höchsten Energiequelle erlangen, auf daß nach göttlichem Ziel der Größte Friede auf der Grundlage der Einheit der Menschenwelt mit dem Göttlichen errichtet werde.“

Ein Andachtshaus, das nicht nur das Symbol, sondern zugleich der Beweis so vieler geistiger Wahrheiten ist, ist mehr als ein architektonisches Wahrzeichen in der Landschaft.

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Nach „Bahá’í-World“, Band IX, Wilmette/Ill. 1945, p. 481 ff., Verfasser Horace Holley.




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