Bahai Briefe/Heft 16/Text

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BAHÁ'I-

BRIEFE


BLÄTTER FÜR

WELTRELIGION UND

WELTBEWUSSTSEIN



AUS DEM INHALT:


Die Quelle der Wirklichkeit

Christus und die Kette der Offenbarungen

Aus der Bahá’í-Geschichte

Die Sendung von Bahá’u’lláh


APRIL 1964 HEFT 16

D 20 155 F


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Die ist der Tag, an dem Gottes erhabenste Segnungen
den Menschen zugeströmt sind, der Tag, an dem aich
Seine größte Gnade über alles Erschaffene ergossen hat.
Allen Völkern der Welt obliegt es, ihre Gegensätze
auszugleichen und in vollkommener Einigkeit und in
Frieden unter dem Schatten des Baumes Seiner Hut und
Güte zu verweilen. Es geziemt ihnen, sich an das zu
halten, was an diesem Tag der Erhöhung ihrer Stufe
und der Förderung ihres eigenen Besten dienen kann.
Glücklich die, zu deren Gedächtnis die allherrliche Feder
sich bewegt hat, und gesegnet, wessen Namen Wir nach
Unserem unerforschlichen Ratschluß zu verschweigen
beliebten. Bitte den einen wahren Gott, daß Er allen
Menschen gnädig beistehe, damit sie das erfüllen,
was Unsere Augen billigen können. Bald wird die heutige
Ordnung aufgerollt und eine neue an ihrer Statt entfaltet
werden. Wahrlich, Dein Herr spricht die Wahrheit,
und Er weiß um das Ungeschaute.


Bahá’u’lláh


(Ährenlese IV)



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‘Abdu’l-Bahá

Die Quelle der Wirklichkeit[Bearbeiten]

In unserem Sonnensystem ist der Ausgangspunkt allen Lichtes die Sonne selbst. Durch den Willen Gottes ist diese zentrale Lichtquelle der eine Ursprung des Daseins und der Entwicklung aller Dinge in der Welt der Erscheinung. Wenn wir die Lebewesen der stofflichen Reiche betrachten, finden wir, daß ihr Wachsen und Gedeihen von der Wärme und dem Licht der Sonne abhängen. Ohne ihren belebenden Impuls könnten Bäume und Pflanzen nicht wachsen, noch wären Tier und Mensch lebensfähig; in der Tat würde sich keine Form erschaffenen Lebens auf der Erde offenbaren. Aber wenn wir tief nachdenken, werden wir gewahr, daß Gott der große Spender und Verleiher allen Lebens ist; die Sonne ist die Vermittlerin Seines Willens und Seines Planes. Ohne die Wohltat der Sonne wäre die Welt in Finsternis gehüllt. Alles Licht unseres Planetensystems geht von der Sonne aus.

Auch im geistigen Reich der Erkenntnis und der Gedankenwelt muß es einen Ausgangspunkt allen Lichtes geben, und das ist die immerwährende, ewigstrahlende Sonne des Wortes Gottes. Ihr Licht ist das Licht der Wirklichkeit, das auf die Menschheit herniederstrahlt; es erleuchtet das Reich der Gedanken und der guten Sitten und verleiht dem Menschen die Gaben der göttlichen Welt. Dieses Licht führt zur Erziehung der Seelen und ist der Ursprung der Erleuchtung der Herzen, weil es in strahlendem Glanz die Frohen Botschaften vom Königreich Gottes verbreitet. Kurz gesagt, die Welt der guten Sitten und der ethischen Werte und die Welt geistiger Erneuerung sind in ihrer fortschreitenden Entwicklung von jener himmlischen Lichtquelle abhängig. Sie strahlt das Licht der Religion aus und gewährt geistiges Leben, durchdringt die Menschheit mit den Urbildern der Tugend und verleiht ewige Herrlichkeit, Diese Sonne der Wirklichkeit, diese Strahlenquelle ist der Prophet oder Offenbarer Gottes. Wie die sichtbare Sonne über der stofflichen Welt erstrahlt und Leben und Wachstum hervorruft, so erleuchtet die geistige oder prophetische Sonne die menschliche Welt der Gedanken und der Einsicht, und wenn sie sich nicht am Horizont des menschlichen Seins erhöbe, würde des Menschen Reich verfinstert und ausgelöscht.

Die Sonne der Wirklichkeit ist nur eine Sonne, aber sie hat verschiedene Aufgangsorte, wie auch die sichtbare Sonne nur eine ist, obwohl sie an verschiedenen Punkten des Horizontes erscheint. In der Frühlingszeit erhebt sie sich weit nördlich der Tagundnachtgleiche, den Sommer über in der Mitte und winters am südlichsten Punkt ihres Jahreskreislaufes. Diese Aufgangsorte liegen weit auseinander, aber die Sonne ist immer dieselbe, die sichtbare wie die geistige Sonne. Die Seelen, die ihren Blick auf die Sonne der Wirklichkeit richten, werden ihr Licht aufnehmen, einerlei, an welchem Punkte sie aufgeht, aber jene, die wie gefesselt den Aufgangsort anbeten, bemerken sie nicht, wenn sie an einer anderen Stelle des geistigen Horizontes erscheint. �[Seite 383] Wie der Sonnenkreislauf vier Jahreszeiten kennt, so hat auch der Kreislauf der Sonne der Wirklichkeit seine bestimmten aufeinanderfolgenden Abschnitte. Beide haben zunächst ihre Frühlingszeit. Wenn die Sonne der Wirklichkeit wiederkehrt, um die Menschenwelt neu zu beleben, kommen göttliche Gaben vom Himmel der Großmut hernieder. Das Reich der Gedanken und Vorbilder kommt in Bewegung und wird mit neuem Leben gesegnet. Der menschliche Geist wird fortentwickelt, neue Hoffnungen erblühen, die Bestrebungen wenden sich dem Geistigen zu, die Tugenden der Menschenwelt treten mit neuer Wachstumskraft hervor, und das Gleichnis und Ebenbild Gottes wird im Menschen sichtbar. Es ist die Frühlingszeit der inneren Welt. Auf den Frühling folgt der Sommer mit seiner Fülle und seinen geistigen Früchten; dann kommt der Herbst mit zerstörenden Stürmen, die die Seele erschauern lassen. Die Sonne scheint ganz zu verschwinden, bis zuletzt der Mantel des Winters alles überdeckt und vom Strahlenglanz der göttlichen Sonne nur noch matte Schimmer bleiben. Wie die Erdoberfläche finster und öde wird — die Felder liegen schlafend, die Bäume stehen nackt und bloß, und nirgendwo bleibt etwas Frisches, Anmutiges, das die trostlose Finsternis aufheitern könnte — so bringt es auch der Winter des geistigen Zyklus mit sich, daß das göttliche Wachstum abstirbt und verschwindet, das Licht Gottes und die Liebe zu Ihm erlischt. Aber wieder beginnt der Kreislauf und eine neue Frühlingszeit bricht an. In ihr kehrt der vorangegangene Frühling wieder, die Welt erwacht zu neuem Leben, wird erleuchtet und vergeistigt; die Religion wird erneuert und umgestaltet, die Herzen wenden sich Gott zu, der Ruf Gottes wird gehört, und dem Menschen wird neues Leben eingehaucht. Lange Zeit hindurch war die Glaubenswelt geschwächt, der Materialismus hatte sich verbreitet, die geistigen Lebenskräfte waren im Schwinden, die guten Sitten waren zerfallen, Ruhe und Friede aus den Seelen geschwunden, teuflische Eigenschaften beherrschten die Herzen, Streit und Haß überschatteten die Menschheit, Gewalt und Blutvergießen waren alltäglich geworden. Gott wurde mißachtet, die Sonne der Wirklichkeit schien untergegangen zu sein, die Menschheit war in der Tat der Gaben des Himmels beraubt, und der Winter war über sie hereingebrochen. Aber Gottes Großmut ließ einen neuen Frühling anbrechen, Sein Licht erstrahlte, hell leuchtend kehrte die Sonne der Wirklichkeit wieder und wurde allen sichtbar; das Reich der Gedanken und das Königreich der Herzen frohlockten, neuer Lebensgeist durchflutete den Körper der Welt und stetiger Fortschritt zeigte sich.

Ich hoffe, daß die Strahlen der Sonne der Wirklichkeit die ganze Welt erleuchten werden, so daß Streit und Krieg, Schlachten und Blutvergießen völlig verschwinden. Mögen Fanatismus und Bigotterie in Vergessenheit geraten, möge die ganze Menschheit vom Band der Brüderlichkeit umschlungen werden, mögen die Seelen in vollkommener Eintracht zueinander finden, mögen endlich die Völker der Erde das Banner der Aufrichtigkeit hissen und die Religionen der Welt eintreten in den göttlichen Tempel der Einheit; denn die Grundlage der himmlischen Religionen ist eine und dieselbe Wahrheit. Die Wirklichkeit ist unteilbar; sie läßt keine Vielheit zu. Alle heiligen Offenbarer Gottes haben dieselbe Wirklichkeit verkündet und verbreitet. Sie haben die Menschheit zur Wahrheit aufgerufen, und es gibt nur eine Wahrheit. Die Wolken und Nebelschwaden �[Seite 384] der Nachahmungen haben die Sonne der Wahrheit verdunkelt. Wir müssen diese Nachahmungen aufgeben, diese Wolken, diesen Nebel vertreiben und die Sonne vom Dunkel des Aberglaubens befreien. Dann wird die Sonne der Wahrheit in voller Herrlichkeit erstrahlen, alle Weltbewohner werden vereinigt, die Religionen werden zu einer Religion, die Sekten und Bekenntnisse werden sich versöhnen, alle Völkerschaften werden eins werden in der Anerkennung des einen Vaters, und alle Schichten der Menschheit werden sich im Schutze desselben Tabernakels und unter demselben Banner versammeln.

Solange die himmlische Zivilisation nicht begründet ist, kann die materielle Zivilisation keine Früchte zeitigen, wie ihr ja selbst bemerkt. Seht, welche Katastrophen über die Menschheit hereinbrechen! Seht die Kriege, die die Welt aufwühlen! Seht die Feindseligkeit und den Haß! Solche Kriege und solche Verhältnisse zeigen und beweisen, daß die himmlische Zivilisation noch nicht begründet ist. Wenn einmal die Zivilisation des Reiches Gottes unter allen Völkern verbreitet ist, wird dieser Staub der Zwietracht vergehen, die Wolken werden verschwinden, und die Sonne der Wirklichkeit wird in ihrer größten strahlenden Fülle und Herrlichkeit über der Menschheit scheinen.


„The Source of Reality“, aus „Foundations of World Unity, compiled from Adresses and Tablets of ‘Abdu’l-Bahá“, Wilmette, Ill., 1945, p. 12 ff.



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Was Gott verordnet hat als das überlegene Heilmittel und mächtigste Werkzeug für die Heilung der Welt, ist die Vereinigung aller ihrer Völker in einer umfassenden Sache, einem gemeinsamen Glauben. Dies kann auf keine andere Weise erreicht werden als durch die Kraft eines geschickten, eines allmächtigen und inspirierten Arztes. Bei Meinem Leben! Dies ist die Wahrheit, und alles andere ist barer Irrtum. Jedes Mal, wenn dieses mächtigste Werkzeug erschien, wenn dieses Licht erstrahlte an dem altehrwürdigen Aufgangsort, wurde Er von unwissenden Ärzten behindert, die sich wie Wolken zwischen Ihn und die Welt schoben. Die Welt konnte daher nicht genesen, und ihre Krankheit dauerte fort bis auf den heutigen Tag. Unfähig waren sie in der Tat, die Welt zu schützen und eine Heilung zu bewirken, während Er, die Offenbarung der Macht unter den Menschen, durch das, was jene unwissenden Ärzte anrichteten, gehindert wurde, Seine Absicht zu verwirklichen.
Bahá’u’lláh


(an Königin Victoria von England, „Epistle to the Son of the Wolf“, p. 63)

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George Townshend

Christus und die Kette der Offenbarungen[Bearbeiten]

Die Majestät Christi, Sein überragender Anspruch und die Beweise Seiner Macht im Laufe der Jahrhunderte blendeten die Vorstellungskraft der christlichen Öffentlichkeit, und allmählich bildete sich eine Auffassung von Seiner Stufe in der Religionsgeschichte, die für die längst vergangenen Zeiten der Unwissenheit genügt haben mochte, in der Moderne jedoch nicht haltbar ist. Denkende Menschen wissen, daß diese Auffassung irrig ist, aber sie haben noch keine Alternative gefunden, die der Erhabenheit Christi nicht Abbruch täte und mit Seinem Anspruch vereinbar wäre.

Ganz allgemein ausgedrückt, glaubte und glaubt die Gemeinde der Christen nicht an einen fortdauernden, weltumspannenden Offenbarungsplan Gottes, in welchem Jesus Christus eine Rolle spielt. Das Vorhandensein eines solchen göttlichen Planes dürfte in der Vergangenheit abgelehnt worden sein; vielleicht wäre schon die Vorstellung als solche für viele ohne Wert oder Bedeutung gewesen.

Auch glaubt die christliche Gemeinde nicht, daß die Bibel ein fortschreitendes System der Offenbarung lehrt, das mit der Erschaffung des Menschen begann und die Menschenrasse ständig voranführt, bis sie die geistige Reife erlangen wird. Sie glaubt auch nicht an das allmähliche geistige Wachstum der ganzen Menschheit im Verlauf der Geschichtsepochen, ein Wachstum, das durch eine Aufeinanderfolge göttlicher Gesandter gefördert wird.

Zweifellos mit dem Gedanken, die Stellung Christi zu erhöhen, und sicherlich mit der Auswirkung, daß ihre eigene Meinung erhöht wurde, hat es die christliche Gemeinde zugelassen, daß Jesus von Nazareth alle anderen göttlichen Lehrer völlig ins Dunkel abdrängt; sie hat Seine geistigen Lehren als erschöpfend und endgültig angesehen und Ihm eine persönliche Unsterblichkeit von solcher Körperhaftigkeit zugeschrieben, wie sie die alten Heiden einem ihrer Götter, etwa Apollo, zugeschrieben haben mochten.

Auffassungen wie diese, auch wenn sie in den förmlichen Glaubensbekenntnissen des Christentums tatsächlich nicht enthalten sein mögen, sind durch Tradition überkommen und gang und gäbe; in vielen der bedeutendsten christlichen Schriften sind sie entweder angedeutet oder offen ausgedrückt.

Aber die Saat dieser Auffassungen wurde von Männern gesät, die in weniger aufgeklärten Zeiten als der unseren lebten, und zur Blüte kamen sie im Frühmittelalter. Sie wurden nicht von Christus gelehrt. Heute sind sie schwer mit der anerkannten Wahrheit zu vereinbaren. Sie tragen nichts zur Erhabenheit der Stufe Christi bei, scheinen vielmehr Gottes, des Allmächtigen, in Seinem Wesen unwürdig zu sein. �[Seite 386]

Diese Vorstellungen entsprechen den Ansichten, die die Juden zu Jesu Zeiten über Moses hatten; denn auch die Schriftgelehrten verkündeten, daß die Offenbarung Mose vollständig und endgültig sei, daß darin keine Entwicklung stattfinde oder nötig sei und daß ein formales Bekenntnis zum Mosaismus hinreiche, einen Menschen über die ganze übrige Menschheit hinauszuheben. Weil sie Moses in diesem Sinn aufnahmen, verwarfen sie Jesus. Die mosaische Religion, so dachten sie, sei genug, sei endgültig; warum sollten sie da auf eine neue Lehre hören? Diese Engstirnigkeit, diesen Mangel an geistiger Aufgeschlossenheit, verdammen wir an den Pharisäern und Schriftgelehrten als eine abscheuliche Sünde; es war das, was sie zu dem entsetzlichen Verbrechen führte, Jesus am Kreuz zu töten. Und wenn die Geschichte ihres Irrtums zum Studium für uns aufgezeichnet ist, dann enthält sie die Warnung, in Dingen des Glaubens nicht dünkelhaft und fortschrittsfeindlich zu sein.

Für uns bringt eine engstirnige Vorstellung vom Offenbarungsgeschehen größere Schwierigkeiten mit sich als für die Schriftgelehrten von damals, und wir haben noch weniger eine Entschuldigung dafür als jene. Denn was wußten jene im Vergleich zu uns über die unermeßliche Ausdehnung des Erdballs mit allen seinen Ländern und Meeren, über die Vielzahl und Vielfalt der Völker, die ihn bewohnen, über die Kulturen und Religionen, welche sich in dem weiten Erdteil Asien, wo sie wohnten, entfaltet hatten, welche dort aufgeblüht und vielleicht schon wieder untergegangen waren? Was wußten sie über das Alter der Erde und der Menschheit? Welchen Begriff hatten sie von solchen Wahrheiten wie Fortschritt und Entwicklung?

Unser ausgedehnteres Wissen hat uns eine größere Verantwortung auferlegt. Wir, die wir Universalgeschichten zusammenstellen, vergleichende Religionswissenschaft studieren, einen viel breiteren und genaueren Überblick über die alte Welt gewonnen haben als es jenen möglich gewesen wäre, die selbst darin lebten — wir, die wir solche Vorrechte genießen, haben überhaupt keine Entschuldigung für Vorurteile oder Egoismen in unserer Darstellung Christi und Seiner Sendung.

Das Dogma, die Ansicht, es gebe kein einheitliches göttliches Gesetz, das die menschlichen Angelegenheiten beständig regiert, sei es vor oder nach Christus, die Barmherzigkeit und die erlösende Liebe des himmlischen Vaters sei auf irgendeine unerklärliche Weise und aus keinerlei vorstellbarem Grund jahrtausendelang vor allen Seinen Kindern verschlossen gewesen, die große Masse der Menschen sei diese ganzen Zeitalter hindurch sozusagen einer äußeren Kälte und Finsternis ausgeliefert gewesen, auf sich selbst angewiesen, ohne göttliche Führung, blindlings dem Wechsel und Wandel einer verwaisten, führerlosen Welt ausgeliefert, die Nationen und Einzelmenschen seien ziellose Wege gegangen, ohne daß ihr Gewissen fortgebildet worden wäre, ohne die Inspiration und den Trost, die die Religion verleiht, ohne Zugang zur Erkenntnis geistiger Wahrheit — jedes derartige Dogma, jede so gestaltete Ansicht erscheint uns seltsam und in gewissem Grade willkürlich, als offensichtliche Erfindung einer grausamen, ungebildeten menschlichen Vorstellungsgabe. In den Lehren Christi gibt es kein einziges Wort als Beleg dafür; es ist völlig unvereinbar mit Seinen Lehren. Es ist reinster Aberglaube. Es ist �[Seite 387] in der Tat schlimmer als nur unhaltbar und absurd: Es ist unzweifelhafte Gotteslästerung, eine Schmach für das Wesen und die Macht Gottes. Was außer boshaften menschlichen Gedanken könnte auf die Idee verfallen, ein Gott der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, des Beistands und der Hilfsbereitschaft, Schöpfer alles Liebenswerten und Guten, würde das Menschengeschlecht erschaffen, um es dann unbehütet sich selbst zu überlassen, ohne den Trost Seines Wortes oder das Licht und die Wärme Seiner Gegenwart, ungezählte Zeitalter hindurch, bis dann schließlich das Jahr anbräche, das wir im Westen als das Jahr eins bezeichnen?

Wenn behauptet wird, Er habe dies tatsächlich getan und Seine Milde und Vergebung gezeigt, indem Er im Jahr eins diese Tore geöffnet habe, dann erhebt sich noch die besondere Frage: Warum gerade in diesem Jahr? Welches unterscheidende Merkmal trägt jene Epoche, daß alle anderen Zeitalter von der einen und einzigen Absicht Gottes, die Menschheit zu erleuchten und zu retten, ausgeschlossen wären? Schon vor jener Epoche erhoben sich große Heilige, blühten mächtige Kulturen auf und ließen in der Erinnerung und im Bewußtsein der Menschheit dauerhafte Prägungen zurück. Und seit jener Zeit brachte der Islam seine wundervolle Mystik und eine strahlende Kultur hervor.


Ein kostbarer Heilsplan

Welche verständliche oder stichhaltige Geschichtsphilosophie läßt sich auf der Vorstellung aufbauen, die einzige authentische Offenbarung Gottes sei vor neunzehnhundert Jahren gegeben worden und sei sowohl endgültig als auch vollständig? Keine. Diese Vorstellung stammt aus den Tagen der Unwissenheit und trägt alle Zeichen ihrer Geburtsstunde. Sie widerspricht den Lehren Christi und dem Geist der Bibel; sie ist unvereinbar mit dem geoffenbarten Wesen Gottes und widerstrebt dem entwickelteren Gefühl und dem erweiterten Wissen unserer Zeit.

Auch wenn die Deutung der Bibel als Geschichte der geistigen Entwicklung der Menschheit nicht die Wirklichkeit der Erlösung hervortreten ließe, auch wenn sie nicht die Majestät Christi steigerte und unsere Auffassung von der Herrlichkeit des Schöpfers erhöhte, müßten wir diese Deutung dennoch annehmen, weil sie unmittelbar durch das Wort der Bibel bewiesen wird. Aber warum sollte irgendjemand abgeneigt sein oder zögern, sie anzunehmen, wo sie doch zum größeren Ruhme Gottes, Seiner Boten und aller Seiner Werke gereicht? Wie kostbar inmitten einer Welt des Zweifels wie der unseren ist das Bild eines Heilsplans, der verstandlich faßbar ist, mit unserem übrigen Denken übereinstimmt und uns zeigt, wie gegenständlich, wie schwerwiegend, wie kostspielig und gefährlich Unvollkommenheiten und Sünden sind, die die Menschen in ihrer Unwissenheit schon so lange als unwesentlich abgetan haben!

Wie groß, wie weit über die Vorstellungskraft irgendeines Menschenalters hinausragend ist dieser Heilsplan, den Christus entfaltet! Wie wunderbar sind die Liebe und die Weisheit, die diesen Plan empfangen und anordnen konnten! Wie unvorstellbar die Macht, die da befiehlt und erschafft, die jeden Teil dieses unermeßlichen Ablaufs von Ewigkeit zu Ewigkeit erfüllt und diesen Plan in seiner ganzen Dauer vollzieht, einer Zielsetzung folgend, die vor dem Urbeginn der Welt bestimmt war! Wie �[Seite 388] hoch über allem, was wir je an Herrlichkeit erkennen können, ist Einer, der der Sohn eines so großen Gottes genannt ist, das Ebenbild Seiner Vollkommenheiten, der Vollzieher Seiner Macht über alle Dinge im Himmel und auf Erden!

Jesus war nicht berufen, den ganzen Entwurf des Erlösungsplanes Gottes zu zeichnen oder ihn in den Einzelheiten darzustellen, wie es zum Beispiel im „Buch der Gewißheit“ 1) geschieht. Die Schau, die Er uns bietet, 1äßt sich mit unserem Blick auf den zunehmenden Mond im Frühstadium vergleichen: Der Teil der Mondkugel, die dem christlichen Evangelium entspricht, offenbart sich in vollem Licht; der Rest zeigt sich im Umriß durch einen blassen Kranz zarten Lichtes, so daß das Auge die Größe und den Umfang des Mondes abschätzen kann, aber nichts weiter.

Christus sprach zu einem kindlichen Volk; Er hatte keine Gelegenheit, eine Philosophie des Gesamtplans Gottes auszubreiten. Zweifellos war dies eines jener größeren Geheimnisse, für deren Enthüllung der Geist jener Menschen noch nicht reif war. „Ich hätte euch noch viel zu sagen, aber ihr könnt es jetzt noch nicht tragen.“

Nichtsdestoweniger sind die Predigten Christi mit Anspielungen und Hinweisen auf den Ablauf des Entwicklungsplanes Gottes förmlich durchwirkt. Viele Seiner Worte nehmen eine reichere, tiefere Bedeutung an, wenn sie vor dem Hintergrund dieses Gesamtplanes überdacht werden. Nur wenn Seine Lehre als Teil einer fortschreitenden Offenbarung erwiesen wird, wenn sie so verstanden wird, daß sie als Antwort auf die besondere Not der Menschheit in einer bestimmten Zeit und als tragende Grundlage für einen abgegrenzten Abschnitt auf ihre Entwicklungsreise berechnet ist — nur dann läßt sich in dieser Lehre erkennen, daß sie ihre eigene Form und Gestalt hat und ein folgerichtiges, geordnetes Ganzes ist, eine genau durchdachte Verordnung, die für die geistigen Krankheiten eines bestimmten Zeitalters verschrieben wurde.

Erst wenn das Evangelium so betrachtet wird, kann die Weisheit Christi und Seine Macht wirklich verstanden werden. Christus gab verschiedene Hinweise auf andere Offenbarungen, vor und nach der Seinen. Aber es ist besonders einer, der von hervorragender Bedeutung ist, weil er darin den inneren geistigen Zusammenhang Seiner eigenen Offenbarung mit den früheren der vor-israelitischen Zeit bekräftigt, als Seine Vollmacht einmal von gewissen Juden angezweifelt wird. „Jesus sagte zu ihnen: ‚Wahrlich, wahrlich, Ich sage euch, bevor Abraham war, bin Ich.‘“ (Joh, 8, 58). Die Juden bezogen dies auf Jesus, den Sohn der Maria, der vor ihnen stand; sie meinten deshalb, Er spotte über sie. Gläubige Menschen wissen, daß Er nicht von dem Einzelwesen Jesus sprach, sondern von dem ewigen Christus. Christus, das Wort Gottes, das durch Jesus sprach, das wie eine Sonne war, deren Strahlen in Jesus wie in einem Spiegel wiedergegeben wurden, hatte zu den Menschen schon lange vor dem Propheten Abraham gesprochen und Seine Kräfte, Seine Erscheinungen, Seine Äußerungen nicht auf die Juden beschränkt. Die Offenbarung Gottes durch das ewige Wort ging der jüdischen Rasse voraus und wirkte bereits seit unvordenklichen Zeiten. Jesus setzte keine rückwärtige Zeitgrenze. Er sagte, daß die Gottesoffenbarung in der Welt wirkte, ehe die jüdische Geschichte begann, und immer ein und dieselbe war, der Quelle und dem �[Seite 389] Geist nach immer gleich mit dem, was nunmehr durch Jesus von Nazareth gewährt wurde.

Jesus war nicht berufen, weiter ins einzelne zu gehen. Offen verwarf Er die arrogante Ausschließlichkeit der selbstgerechten Juden und offenbarte damit — wie es Seine Art war — den Menschen eine Wahrheit von viel tieferer Bedeutung, als es dem oberflächlichen Blick erscheint.

Während Jesus hier und an anderer Stelle die Einheit und Ganzheit aller Offenbarung betonte, hob Er besonders und in allen Einzelheiten einen Teilabschnitt des Offenbarungsplanes Gottes hervor, nämlich Seine eigene Nachfolge Mose, das Wesen des Übergangs von einer göttlichen Sendung auf die andere, und die Beziehungen zwischen den beiden miteinander verbundenen, aber verschiedenen Lehrgebäuden.

Das war für die Juden eine Sache von überragender Bedeutung. Für uns heute, die wir uns um den einheitlichen Plan Gottes bemühen, ist es darüber hinaus von Interesse: Wenn wir diese Beziehung demütig und aufmerksam studieren, können wir möglicherweise das Prinzip der Aufeinanderfolge entdecken, das einer Bewegung, die durch eine Reihe getrennter Impulse vorangetragen wird, Beständigkeit verleiht. Wir können uns zum Beispiel einen Begriff bilden von der Art der geistigen Beziehung, die zwischen dem Wirken Abrahams und demjenigen Mose, der Jenem folgte, bestanden haben muß, und können vielleicht abschätzen, welche Art von Änderungen und Fortschritten über diejenigen Seines ersten Lehrsystems hinaus Christus der Menschheit bei Seinem zweiten Kommen bringen wird.

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Kapitel VII des Buches „The Heart of the Gospel“ (Das Herz des Evangeliums) von George Townshend, 3. Auflage 1960, Talisman Books No. 2, mit freundlicher Genehmigung des Verlags George Ronald, 5 Barandon Street, London W. 11. Copyright 1951 by George Townshend.

George Townshend war ein hoher anglikanischer Geistlicher, ehe er sich als Bahá’í erklärte. Er verdeutlicht in diesem Werk die Bibel als einen Heilsplan Gottes für die Menschheit im Sinne einer fortschreitenden Gottesoffenbarung im Gang der Weltgeschichte.

1) Bahá’u’lláh, „Buch der Gewißheit“ (Kitáb-i-Iqán), Frankfurt 1958.



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Gebet

O Du barmherziger Gott, schenke mir ein Herz, das dem Kristalle gleich vom Lichte Deiner Liebe durchstrahlt wird, und verleihe mir die Erleuchtung, welche diese Welt durch geistige Gnade in einen Rosengarten verwandeln kann. Du bist der Erbarmer, der Gnadenvolle! Du bist der große, wohltätige Gott.

‘Abdu’l-Bahá


(„Sonne der Wahrheit“ Jan./Feb. 1948, S. 175)
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Aus der Bahá’í-Geschichte

Bahá’iyyih Khánum, das Größte Heilige Blatt[Bearbeiten]

Persien, im Sommer 1852: Auf den Straßen, in den Bazaren leuchtet das Obst in bunten Farben; Maultiere, Handwagen, Eselgespanne. Die Männer betreiben ihre Geschäfte oder gehen müßig, wenn sie zu der bevorzugten Klasse der Besitzenden zählen und noch nicht die erfrischende Zuflucht ihrer Sommerhäuser aufgesucht haben. Ab und zu erblickt man eine Frau, in lange Gewänder gehüllt, tief verschleiert.

Wir bummeln durch die Gassen und Gäßchen, Karawansereien und Bazare Tihráns, und das feilschende Geschrei der Händler gellt uns in den Ohren. Wild gestikulierend preisen sie ihre Waren an wie eh und je. Von dem unterirdisch schwelenden Brand eines religiösen Machtkampfes ist an diesem Tag fast nichts zu spüren.

Wir kommen allmählich in ruhigere Straßen. In der Stadt gibt es einen besonders alten Teil, der das „arabische Viertel“ genannt wird und in dem die angesehensten Familien ihren Wohnsitz haben. Wie überall im Land der aufgehenden Sonne sind hier die Häuser ebenerdig gebaut, mit flachem Dach, einem Hof oder Garten in der Mitte; nur mag hier in diesem Viertel noch etwas mehr von der alten Kunst einer verflossenen Kultur zu sehen sein. Wir treten durch den hohen, schön geschwungenen Torbogen eines dieser herrschaftlichen Häuser, und wenn wir eine Frau sind, gehen wir vorbei an den beiden Empfangsräumen rechts und links des Mittelganges, durch deren buntbemalte Fenster die glühende Sonne als mildes Licht hereinstrahlt, über den Gartenhof in die Frauengemächer.

Áziyyih Navváb1), die schöne Dame des Hauses, begrüßt uns lächelnd. Wir spüren jenen Hauch von Wohlhabenheit, dem, gepaart mit Schönheit und Harmonie des Geistes, sich kaum jemand entziehen kann. Mit Anmut handhabt sie den Samowar, und während eine Dienerin mit einer Obstschale und Gebäck aufwartet, empfangen wir aus der Hand der Herrin den traditionellen Tee, als wäre es ein köstliches Geschenk.

Und wenn wir die beiden Kinder gewahren, die durch eine Seitentür hereingekommen sind, begleitet von ihrer Dáji (Kinderfrau) und nun in die Arme ihrer Mutter eilen, dann ist uns, als ob das beglückende Bild erst anfange zu leben; wir empfinden jene Vollkommenheit, die einen Maler zu einem großen Werk inspirieren mag. Wie schön die Kinder sind, wie ernst und hoheitsvoll in ihrer Kindlichkeit, wie aufmerksam und klug die beiden dunkelblauen Augenpaare blicken! Jedes in seiner Art, das fünfjährige Mädchen Bahá’iyyih ebenso wie der achtjährige Knabe ‘Abbás, offenbaren bereits unbewußt die Eigenschaften ungewöhnlicher Persönlichkeiten.

Wir erfahren von dem Aufenthalt des Hausherrn in Lavásán, nahe Shimirán am Alburs-Gebirge im Norden der Stadt, wo Er als Gast Jáfar-Qulí Kháns, des Bruders des Großwesirs, weilt, jedoch bald zurückerwartet �[Seite 391] wird, und wir spüren der Kinder Sehnsucht und Freude auf den Vater.

Indessen kommen und gehen Gäste; Dienerinnen eilen geschäftig hin und her. Die Damen der Regierungsmitglieder und der hohen Geistlichkeit sind keine Seltenheit in diesem Hause, gehören doch sowohl Aziyyiih Khánum als auch Mírzá Husayn-‘Alí2) zu den herrschenden fürstlichen Familien, wenn auch Husayn-‘Alí es vorgezogen hatte, auf die Staatslaufbahn zu verzichten und Sich stattdessen geistig-religiösen Gebieten zuzuwenden. Es war auch kaum ein Geheimnis, daß Er zu den edelsten und eifrigsten Förderern jener Flamme gehörte, die in Shíráz in Al-Báb emporgelodert war, die aber durch Dessen Erschießung in Tabriz gedämpft oder gelöscht zu sein schien.

Obwohl wir von der Atmosphäre dieses Hauses wie verzaubert sind, spüren auch wir allmählich jene Unruhe, die schon eine Weile durch das Haus zu gehen schien und schließlich zur Hausfrau gelangte. Ängstlich und aufgeregt redet eine alte Dienerin auf sie ein; schließlich begibt sie sich zum Fenster und sieht selbst den Volksauflauf vor ihrem Hause; und sie ahnt Schreckliches, wenn sie auch noch nicht wissen kann, von welcher Seite ein unerbittliches Schicksal sie binnen Stunden ereilen würde.

Bald dringt das Geschrei des Pöbels bis in diese hintersten Räume: Man hat den Sháh überfallen! Man will ihm an das Leben! Und schon dringen die ersten frechen Plünderer ins Haus, um mit blinder Vergeltung zu beginnen an jenen, die noch nicht einmal ahnen, um was es geht. — Es heißt schnell handeln und keine Minute versäumen mit Angst und Tränen. Áziyyih Khánum und wenige getreue Diener raffen zusammen, was sie tragen können, sie nimmt ihre Kinder — den Säugling auf den Arm; es gelingt ihr, in das Haus ihrer Tante vor der blinden Wut der aufgestachelten Menge zu fliehen — und ein Lebensabschnitt ist ein für alle Male unwiederbringlich abgeschlossen.

Was ist geschehen an diesem denkwürdigen Tag? Es war der 15. August 1852, genau zwei Jahre und 37 Tage nach dem Märtyrertod des Báb in Tabriz, als zwei junge, verblendete Bábí jene ebenso nutzlosen wie für alle Gläubigen verhängnisvollen Schrotschüsse auf den Sháh abfeuerten und damit eine Lawine ins Rollen brachten, die zahllose Menschen ins Unglück stürzte und Tausende von Märtyrern unter sich begrub — eine Lawine, die scheinbar diese ganz verhaßte Bábí-Bewegung vollends ausrotten sollte. �[Seite 392]

Während man die Bábí und andere Verdächtige auf die grausamste Art niedermetzelte, wo man sie fand, in Tihrán das Haus Mírzá Husayn ‘Alís ausplünderte, Ihn Selbst als das geistige Rückgrat dieser Schar und gar Anstifter des Anschlags auf den Sháh in Ketten legte und in den Siyáh-Chál3) warf — was gleichbedeutend schien mit dem Tod — begann in Wirklichkeit die zweite und größere Phase im heroischen Zeitalter dieser seit alters her verheißenen Zwillings-Offenbarung.

„Das Größte Heilige Blatt hatte den Vorzug, am Schluß dieses heroischen Zeitalters mit der Einkerkerung Bahá’u’lláhs im Siyáh-Chál noch in zartester Kindheit aus dem Leidenskelche zu kosten, den die ersten Gläubigen jenes apostolischen Zeitalters geschlürft hatten“, so schreibt Shoghi Effendi in einem historischen Dokument. „Wie gut ich mich erinnere, wie sie sich, als sie noch im Vollbesitz ihrer Kräfte war, die quälende Ungewißheit ins Gedächtnis zurückrief, die die Herzen derer verzehrte, die mit ihr an der Schwelle ihres geplünderten Hauses wachten, jeden Augenblick der Nachricht von Bahá’u’lláhs bevorstehender Hinrichtung gewärtig! In jenen düsteren Stunden, so erzählte sie oftmals, hatten ihre Eltern so plötzlich ihre irdischen Besitztümer verloren, daß sie innerhalb eines einzigen Tages von bevorzugten Mitgliedern der wohlhabendsten Familien von Tihrán in den Zustand unverhohlener Armut gesunken waren. Aller Unterhaltsmittel beraubt war ihre erlauchte Mutter, die berühmte Navváb, gezwungen, ihrer Tochter eine Handvoll Mehl zu geben und sie zu veranlassen, es anstelle ihres täglichen Brotes anzunehmen ...“ 4)

Obwohl der Gatte jener Tante, bei der die Familie Bahá’u’lláhs zuerst Unterkunft und Schutz gefunden hatte, ein hoher Regierungsbeamter war, sollte selbst dieses Haus kein wahrer Zufluchtsort bleiben. Die feinfühlige Navváb spürte die Erregung, die ihre Anwesenheit verursachte; sie wollte ihre Verwandten nicht in Gefahr bringen und ging mit den Kindern in ihr ausgeraubtes Haus zurück, wo sie sich, fast aller notwendigen Gegenstände bar, mühselig einrichtete.

Mit jenen düsteren Tagen, an denen ihre Mutter fast Abend für Abend mit ihrem Sohne ‘Abbás (‘Abdu’l-Bahá) zu ihrer Tante ging, um auch nur das Geringste von Bahá’u’lláh zu erfahren, und sie selbst, das fünfjährige Mädchen, in dem einsamen Haus wartete, bei dem Säugling, immer in Angst, daß im nächsten Augenblick jemand kommen und sie umbringen könnte, beginnen die Erinnerungen jener Frau, für die Bahá’u’lláh Selbst die vornehmste und höchste Stufe unter den Frauen bestimmt hat.

*

Niemand ist heute imstande, diese überragende Frau würdig zu schildern und ihrer Stufe gerecht zu werden, geschweige denn die vielfältigen und außergewöhnlichen Aufgaben, die sie ganz in der Stille vollbrachte, voll zu begreifen. Selbst Shoghi Effendi bekennt in seinem unsterblichen Nachruf, den er ihr nach ihrem Tode widmete: „Nur künftige Generationen und Federn, die geschickter sind als meine, können und werden der überragenden Größe ihres geistigen Lebens, der einzigartigen Rolle, die sie während der lärmenden Phasen der Bahá’í-Geschichte spielte, und den Ausdrücken von uneingeschränktem Lobe, die aus der Feder Bahá’u’lláhs wie ‘Abdu’l-Bahás geflossen sind (obwohl nicht verzeichnet und größtenteils �[Seite 393] unvermutet von der Menge ihrer glühenden Verehrer in Ost und West), einen würdigen Tribut zahlen und den Anteil in ausreichendem Maße schildern, den sie an der Beeinflussung des Laufes einiger der Hauptereignisse in den Annalen des Glaubens hatte...“ 5)

Shoghi Effendi ist es auch, der im Zusammenhang mit dem Größten Heiligen Blatt auf jene Frauengestalten hingewiesen hat, die in den vergangenen göttlichen Sendungen eine besondere Rolle spielten: Sara bei Abraham, Asíyih im Judentum, die Jungfrau Maria bei Jesus (‘Abdu’l-Bahá nennt hier auch Maria Magdalena), Fátimih im Islám und Táhirih in der Bábí-Ära6)). Es wird bei gründlicher Erforschung der Geschichte nicht schwerfallen, in den genannten Frauen gewisse Züge, manche besondere Eigenschaften und Fähigkeiten zu entdecken, die ihre Geschlechtsgenossinnen nie erreichten. Könnte uns die Tatsache, daß diese Frauen immer im Zusammenhang mit dem Tagesanbruch einer religiösen Sendung in Erscheinung traten, nicht auf den Gedanken bringen, daß es auch in der Entfaltung des geistigen Lebens der ergänzenden Mithilfe des weiblichen Menschen bedarf? Und daß dies bis jetzt nur nicht sichtbar war? Man kennt Petrus als den Fels, auf den die Gemeinde Christi gebaut sein soll. Aber Maria Magdalena hat den auferstandenen Christus gesehen und allen anderen die Augen geöffnet für Ihn.

So wie auf allen anderen Gebieten die Einzelheiten und Episoden der vergangenen Religionen in der Sache Bahá’u’lláhs in hellem Licht erstrahlen, erscheint auch dieses Geheimnis in leibhaftiger Klarheit, beobachtet man den Lebensweg Bahá’iyyih Khánums, des Größten Heiligen Blattes, und ihren hohen Rang an der Seite ihres Bruders ‘Abdu’l-Bahá. Die Bestätigung hierfür mögen wir darin finden, daß Bahá’u’lláh Selbst der einzigen Tochter Bahá’iyyih dieselbe Benennung und denselben Rang verlieh, mit dem Er ‘Abdu’l-Bahá ausgezeichnet und im Buche Aqdas festgehalten hat: „Derjenige, Der aus dieser urewigen Wurzel hervorgegangen ist“.

Dies ist das einzigartige Tablet Bahá’u’lláhs an das Größte Heilige Blatt:


„Er ist der Ewige.
Dies ist ein Buch von Uns für diejenigen, die den Ruf gehört und erkannt haben.
Sie ist ein Blatt von diesem urewigen Stamm und ist geoffenbart durch Meinen Namen und hat Mein geheiligtes Wohlwollen gekostet. Einmal haben Wir sie getränkt mit unseren köstlichen Worten des Lebens, ein anderes Mal mit den lieblichen Fluten des Paradiesflusses. Über ihr sei Meine Herrlichkeit und der Odem Meiner wahren Wesenheit ... O Du gesegnetes, strahlendes Blatt! Singe und jubiliere und entfalte Deinen Gesang auf den Zweigen des Baumes Bahá, und singe Deine Verse über dieses gesegnete Wort: ‚Es gibt keinen Gott außer dem Herrn dieser und jener Welt‘. Wir haben Dich als die beste der Frauen bestimmt und haben für Dich vor unserem Angesicht eine Stufe verordnet, die bis jetzt keine Frau innehatte, und haben dir damit den Vorrang gegeben durch Unsere Gnade im Namen des Herrn des Thrones. Wir haben Deine Augen geschaffen, damit Du den Glanz Unseres Antlitzes siehst, Deine Ohren, damit Du Unsere Verse vernimmst, und Deine Gestalt, damit Du Dich erhebst vor Unserem Throne. Also danke Deinem Gott, dem höchsten Herrn, der der Herr der Welt ist.

[Seite 394]

Wie groß ist das Zeugnis, wenn der Stamm selbst für Sein Blatt zeugt, und der Baum für Seine Frucht!
Mit dieser Meiner Erwähnung wehte Moschusduft, und froh sei derjenige, der ihn verspürt und ausruft: Dir sei Dank, o Gott, Du Herr der Herrlichkeit!
Wie süß ist Deine Gegenwart vor Meinem Angesicht, und Mein Blick auf Dich, und Meine Gnadengunst für Dich, und Meine Erwähnung Deiner auf dieser Tafel. Wir haben sie bestimmt als ein Zeichen Unserer Gnade für Dich im Verborgenen, und doch offenbar in aller Offenheit.“ 7)

Es ist dieser verwandte Geist vom selben Stamm, den auf der ganzen Welt sonst niemand mehr verkörpert und von dem ‘Abdu’l-Bahá spricht, wenn Er in einem Brief an Seine geliebte Gattin Munírih schreibt: „... An Meine geehrte und hervorragende Schwester vermittle den Ausdruck Meiner innigen, Meiner großen Sehnsucht. Tag und Nacht lebt sie in Meinen Gedanken. Ich wage nicht, die Gefühle zu beschreiben, die durch die Trennung von ihr in Meinem Herzen erweckt wurden, denn was immer Ich auch niederzuschreiben versuche, wird sicherlich von den Tränen ausgelöscht werden, die solche Gefühle Mir in die Augen treiben ...“ 8)

Minute für Minute eines Lebens voll Unterdrückung, Krankheit, Hunger, Verfolgung und Gefangenschaft, verwoben in die Geschichte eines Glaubens, deren Tragik und Heroismus uns wohl bekannt ist, erwies sie sich jener einzigartigen Berufung Bahá’u’lláhs würdig in solcher Vollkommenheit, daß der persische Bahá’í-Historiker Sulaymáni schreibt: „Ich habe einige Freunde, die viele Jahre im Heiligen Lande verbrachten und über alle Einzelheiten der Zeit von Bahá’u’lláh und ‘Abdu’l-Bahá Bescheid wußten, sagen hören: ‚Das Größte Heilige Blatt war durch ihre angeborenen Vollkommenheiten, ihre Begabungen, ihre Zierlichkeit, ihre Wesensart, ihre Sprechweise, die Anmut ihrer Bewegungen, ihre Liebe zu allen Menschen ohne Unterschied, so sehr beliebt bei allen Mitgliedern der Familie, daß, wenn sie sich im Zimmer bewegte oder im Garten ging, die anderen sagten: Froh soll die Erde sein, die ein solch kostbares Wesen tragen darf, froh sollen die Atome des Staubes sein, die unter ihre Füße zu liegen kommen dürfen.‘ “

„Als dieses verehrte und kostbare Mitglied der Heiligen Familie im Alter von etwa 17 Jahren von der leitenden Hand ihres Vaters mit Aufgaben betraut wurde, die kein Mädchen ihres Alters fähig oder gewillt wäre, auszuführen — wie freudig ergriff sie die Gelegenheit und entledigte sich der Aufgabe, die ihr anvertraut worden war! Die Empfindlichkeit und der außerordentliche Ernst solcher Funktionen, die ihr von Zeit zu Zeit auferlegt wurden, als Baghdád von dem Orkan heimgesucht wurde, den die Achtlosigkeit und der Eigensinn von Mírzá Yahyá9) entfesselt hatten, sowie die zarte Besorgnis, die sie in so früher Jugend an den Tag legte während der Periode von Bahá’u’lláhs erzwungener Zurückgezogenheit in die Berge von Sulaymániyyih, kennzeichnen sie als eine Frau, die sowohl fähig war, die Last zu tragen, als auch bereit, das Opfer �[Seite 395] zu bringen, welches ihre hohe Geburt verlangte ... Aber erst, nachdem sie mit Bahá’u’lláh in den Mauern des Gefängnisses von ‘Akká eingekerkert war, legte sie in der Fülle ihrer Kraft und im Überfluß ihrer Liebe zu Ihm jene Gabe an den Tag, die sie, nächst ‘Abdu’l-Bahá, unter den Mitgliedern der heiligen Familie als die glänzendste Verkörperung jener Liebe, die von Gott geboren ist, und jener menschlichen Sympathien, wie nur wenige Sterbliche sie zeigen können, erwies.“ (Shoghi Effendi) 10).

„Die Feder ist unfähig, ein solches Licht zu beschreiben, wie Bahá’iyyih es verbreitete“, so lesen wir bei Sulaymání. „Einerseits betreute sie als Lehrerin die Kinder der heiligen Familie; dann empfing und umsorgte sie die weiblichen Pilger, die ins Heilige Land kamen. Aber sie war auch diejenige, bei der alle Bekümmerten und Beladenen der Stadt Zuflucht und Erleichterung von ihrem Kummer fanden.“ 11)

Besonders nach dem unglücklichen Tod ihres jüngeren Bruders (des Reinsten Zweiges), der ihre Mutter, Azíyyih Khánum, in tiefsten Kummer versetzte, muß sie, obwohl nicht weniger bekümmert, der Mutter Stütze und ruhender Pol, der Familie ein tröstender Engel gewesen sein.

Die Geschichte des Bahá’í-Glaubens, von Bahá’u’lláh bis zu Shoghi Effendi, dem ersten Hüter, ist in der Fülle ihrer Ereignisse bekannt. Das Leben des Größten Heiligen Blattes ist mit dieser ganzen Geschichte so eng verknüpft wie mit jeder der Hauptgestalten dieses Zeitabschnitts im besonderen, und gleichzeitig ist ihre erhabene, edle Gestalt eine Geschichte für sich in dieser Geschichte, eine unvergleichlich hehre Gestalt, wenngleich im Blick auf die des Meisters ‘Abdu’l-Bahás Selbst, unendlich verschlungener und verborgen, „... größtenteils unvermutet von der Menge ihrer glühenden Verehrer in Ost und West“. Dies kommt auch in dem unsterblichen Nachruf Shoghi Effendis für sie zum Ausdruck. In der konzentrierten Form, die für den Hüter so charakteristisch ist, enthält dieser Nachruf eine so unerschöpfliche Fülle der Würdigung menschlicher Fähigkeiten und Tugenden, daß man erkennen muß: Um diese Quellen auszuschöpfen und alle diese Eigenschaften voll zu ermessen, müßte nicht nur ein Buch geschrieben werden, sondern auch Zeit vergehen. Der Mensch muß zuerst selbst weiter kommen; erst einem entfalteten Schauen wird sich diese Blüte offenbaren. Es bleibt in diesem Rahmen nichts anderes übrig, als auf die besonderen Höhepunkte eines Lebens, das ein einziger Lichtglanz war, einzugehen mit Hilfe einiger Zitate aus Shoghi Effendis Nachruf.

*

Das Größte Heilige Blatt hatte ein für alle Mal ihren Entschluß geäußert, sich nicht zu verheiraten. Und in der Tat, wie hätte sie als verheiratete Frau in solchem Maße durch alle Phasen der bewegten Geschichte hindurch ihre kluge, liebevolle, beschützende Mission erfüllen und sowohl Bahá’u’lláh als ‘Abdu’l-Bahá und dem ersten Hüter des Bahá’í-Glaubens so viel Fürsorge angedeihen lassen können?

Sie sorgte für alle ihre Kinder, und sie erzählt selber, wie sie sogar bestrebt war, für ‘Abdu’l-Bahá eine liebevolle Frau zu finden, die Ihm dann auch in der Heiligen Mutter, Munírih, geschenkt wurde. Es ist charakteristisch für die Einzigartigkeit ihrer Gestalt, daß sie selbst ihre Rolle erkannte als die Verkörperung des eigentlich Weiblichen, das als Beispiel �[Seite 396] für die Welt in ihrem Fall wohl nur vollkommen wirksam und sichtbar werden konnte, wenn es nicht teilweise abgelenkt war durch Ehe und Kinder.

„Indem sie jede irdische Verbindung aus Herz und Gemüt verbannte, erhob sie sich an der Seite eines Bruders, dem sie so treu helfen und dienen sollte, um ihr Leben dem Dienste an ihres Vaters glorreicher Sache zu widmen... Mit dem Heimgang Bahá’u’lláhs und den wilden Angriffen der Mächte der Spaltung, die darauf folgten, ergriff das Größte Heilige Blatt, die jetzt auf der Höhe ihres Lebens stand, ihre größte Gelegenheit und entledigte sich würdig ihrer Aufgabe ... Ausgerüstet mit den Kräften, mit denen ein inniger und langjähriger Umgang mit Bahá’u’lláh sie bereits ausgestattet hatte, und Nutzen ziehend aus dem großartigen Beispiel, welches der immer weiter werdende Umfang von ‘Abdu’l-Bahás Tätigkeit ihr vor Augen führte, war sie vorbereitet, dem Sturm ins Gesicht zu sehen, den das verräterische Betragen der Bündnisbrecher heraufbeschwor, und seinen gefährlichsten Angriffen standzuhalten.“

(Shoghi Effendi) 12)

Ohne zu zögern, gestählt noch von dem Kummer um den Verlust des geliebten Vaters, löste sie die Beziehungen zu den Verletzern Seines Letzten Willens und der Einsetzung des Mittelpunktes des Bündnisses. „Die Trennung, die dann erfolgte, fand sie an der Seite ‘Abdu’l-Bahás. Ihre verehrte Mutter sowohl wie ihr hervorragender Onkel Aqá-i-Kalím, die, anders wie die meisten Familienmitglieder, die Zähigkeit ihrer Treue bewiesen hatten, waren bereits hinter dem Schleier verschwunden. Sie blieb allein von der Familie Bahá’u’lláhs, um des Größten Zweiges, ‘Abdu’l-Bahás, Herz zu erfreuen und Seine Bemühungen zu unterstützen, gegen den fast die ganze Schar Seiner treulosen Verwandten aufgereiht waren. Sie wurde in ihren Bemühungen von Munírih Khánum, der Heiligen Mutter, und deren Töchtern unterstützt...“ 13)

Diese schreckliche Kampfzeit ‘Abdu’l-Bahás mit den Verletzern des Bündnisses in Verbindung mit dem türkischen Sultán ‘Abdu’l-Hamid ist in „Gott geht vorüber“ (S. 299 bis 310) festgehalten. Vom Größten Heiligen Blatt ist dabei nicht die Rede. Ihren Anteil an dem Werk ‘Abdu’l-Bahás und an Seinen Leiden in jener Zeit hebt Shoghi Effendi an anderer Stelle hervor, indem er schreibt: „... Es genügt zu sagen, daß ohne ihre schlaflose Wachsamkeit, ihren Takt, ihre Höflichkeit, ihre unendliche Geduld und heroische Stärke, verhängnisvolle Komplikationen hätten entstehen können, die imstande gewesen wären, die Bürde von ‘Abdu’l-Bahás besorgter Umsicht bedeutend zu vermehren.“ 14) Und weiter schreibt der Hüter: „Und als nach Gottes unerforschlicher Weisheit der Bann von ‘Abdu’l-Bahás Gefangenschaft aufgehoben wurde, und sich der Plan, den Er in den dunkelsten Stunden Seiner Gefangenschaft erdacht hatte, verwirklichte (die Reisen nach Europa und Amerika sind gemeint), übertrug Er Seiner vertrauten und verehrten Schwester ohne Zögern die Verantwortung für die Unmenge von Einzelheiten, die während Seiner Abwesenheit vom Heiligen Land anfiel.“ 15)

»... Kaum hatte ‘Abdu’l-Bahá die Gestade des europäischen und amerikanischen Kontinents betreten, als sich die geliebte Hadrat-i-Khánum �[Seite 397] fast überwältigt sah von den ergreifenden Botschaften, die alle den unwiderstehlichen Fortschritt der Sache anzeigten, in einer Weise, die ihr trotz ihrer umfassenden Erfahrung fast unglaublich schien. Die Jahre, während welcher sie sich im Glanze von ‘Abdu’l-Bahás geistigen Siegen sonnte, gehörten vielleicht zu den heitersten und glücklichsten ihres Lebens. Sie hätte es sich nicht träumen lassen, als sie, ein kleines Mädchen, im Hofe ihres Vaterhauses in Tihrán herumlief in Gesellschaft Dessen, Der bestimmt war, eines Tages der auserwählte Mittelpunkt von Gottes unzerstörbarem Bündnis zu werden — daß dieser Bruder imstande sein würde, in solch entfernten Gegenden und unter fremden Rassen einen so großen und denkwürdigen Sieg zu erringen. Sie war mit Dankbarkeit zu Bahá’u’lláh erfüllt, daß Er ihr erlaubt hatte, nicht weniger als Sein Sohn die Beweise solcher glanzvoller Siege für die Sache zu erleben.“

(Shoghi Effendi) 16)

Im Qu’rán ist „der Tag, an dem alles Verborgene offenbar wird“, verheißen, und Bahá’u’lláh bestätigt, daß heute dieser Tag gekommen ist: „Wenn ein einziges Atom der Substanz im Herzen von hundert Bergen verborgen läge und hinter sieben Meeren versteckt wäre, so wird es doch durch die Hand der Macht aufgenommen und ans Licht gebracht.“ 17)

So mußte auch der Tag kommen, an dem die erhabene Stellung dieser Frau doch für alle Welt aufleuchtete. Es war dies in der Zeit unmittelbar nach dem Heimgang ‘Abdu’l-Bahás, der für sie ein so harter Schlag war, daß sie sich nie mehr ganz davon erholte. War doch mit Ihm ihr einziger Vertrauter und Zufluchtsort inmitten des Sturmes der Abtrünnigen von hinnen gegangen. Es war in einem Augenblick, von dem niemand ahnen konnte, daß „eine Frau in ihrem Alter, so gebrechlichen Körpers, mit einem so zartfühlenden Herzen und beladen mit den Sorgen von fast achtzig Jahren unaufhörlicher Leiden, so lange und in dieser Art einen so vernichtenden Schlag überleben konnte.“ (Shoghi Effendi) 18)

Dennoch war sie es, die zum zweitenmal, und diesmal völlig allein und auf sich gestellt, ohne die leibhaftige, stärkende Anwesenheit ‘Abdu’l-Bahás, in unbeugsamer Standhaftigkeit und Tatkraft ihre Treue zu dem nun heimgegangenen Mittelpunkt des Bündnisses Bahá’u’lláhs bewies, und die mit ihren weisen Ratschlägen und wunderbaren schriftlichen Zeugnissen als eine ebenso würdige wie fähige Repräsentantin bis zum Eintreffen Shoghi Effendis in Haifa im Mittelpunkt der Bahá’í-Welt stand. „Nicht nur, daß sie bis zu diesem Zeitpunkt das Buch vom ‚Willen und Testament‘ ‘Abdu’l-Bahás in sicherer Verwahrung hielt; sie war auch in den folgenden vollen acht Monaten, bevor Shoghi Effendi sein Amt übernahm, die einzige, die die Bahá’í-Gemeinschaft führte. Während dieser Zeit sandte sie überallhin auf der Welt ihre wertvollen Anweisungen und erleuchtete damit die heilige Stadt Gottes.“ (Sulaymání) 19)

Shoghi Effendi, der ‚Jugendliche Ast‘, war über der plötzlichen Nachricht vom Tode ‘Abdu’l-Bahás so erschüttert, daß er mehrere Male in Ohnmacht fiel und erst Wochen später in Begleitung der Lady Bloomfield die Reise nach Haifa antreten konnte. Zu stark getroffen von dem unvermutet raschen Verlust des Großvaters und überwältigt von der Last der nun auf ihn fallenden Verantwortung, dauerte es nicht weniger als acht Monate, bis er sich so weit erholt hatte, daß er sein schweres Amt antreten konnte. �[Seite 398] In seinem Nachruf für diejenige, die so selbstverständlich und würdig jene Zeit überbrückte, deutet er darauf hin, wenn er schreibt: „Welche von den Segnungen soll ich aufzählen, mit denen sie mich in ihrer nie versagenden Besorgnis in den kritischsten und bewegtesten Stunden meines Lebens überschüttete? Für mich, der ich die lebensspendende Gnade Gottes so bitter nötig hatte, war sie das lebende Symbol manch einer Eigenschaft, die ich in ‘Abdu’l-Bahá zu bewundern gelernt hatte. Sie war für mich eine beständige Erinnerung an Seine inspirierende Persönlichkeit, Seine ruhige Ergebenheit, Seine Freigebigkeit und Seine Großmut. Für mich war sie die Verkörperung Seiner gewinnenden Huld, Seiner allumfassenden Zärtlichkeit und Liebe ...“ 20)

Und wiederum ist es Shoghi Effendi, der von ihrer erhabenen Stufe ein Bild entworfen und uns übermittelt hat, dem nicht nur nichts hinzuzufügen ist, sondern dessen Inhalt erst in Generationen allmählich gewürdigt werden kann, ein Bild jener Würde, mit der sie die unschätzbare Erbschaft angetreten hatte, die Bahá’u’lláh ihr vermachte: „... Eine Reinheit des Lebens, die sich in den kleinsten Einzelheiten ihrer täglichen Beschäftigungen spiegelte; eine Zartheit des Herzens, die jeden Unterschied von Glaubensbekenntnissen, Klasse und Farbe auslöschte; eine Ergebung und Heiterkeit, die die Ruhe und heroische Stärke des Báb ins Gedächtnis zurückrief; eine natürliche Liebe zu Blumen und Kindern, die so charakteristisch war für Bahá’u’lláh; eine außerordentliche Geselligkeit, die sie jedermann zugänglich machte, und eine Großmut und Liebe, gleichzeitig uneigennützig und keinen Unterschied machend, die so deutlich die Attribute von ‘Abdu’l-Bahás Charakter widerspiegelte; eine Heiterkeit, die kein Kummer trüben konnte ... und eine verzeihende Natur, die im Augenblick den unnachgiebigsten Gegner entwaffnete, alle diese Eigenschaften gehören zu den hervorragendsten Attributen eines heiligen Lebens, das von der Geschichte anerkannt werden wird als mit einer himmlischen Stärke ausgestattet, die nur wenige von den Helden der Vergangenheit besaßen.“ 21)[Seite 399]

Shoghi Effendi wendet sich an sie mit folgenden Worten: „... Innig geliebtes Größtes Heiliges Blatt! Obgleich die Schatten des Grabes uns trennen, kann ich noch in Deine blauen, liebeerfüllten Augen schauen und in ihrer ruhigen Tiefe die unendliche Liebe spüren, die Du für die Sache Deines allmächtigen Vaters fühltest, die Anhänglichkeit, die Dich dem Geringsten und Unbedeutendsten Seiner Anhänger verband, und die warme Liebe, die Du für mich in Deinem Herzen hegtest. Die Erinnerung an die unbeschreibliche Schönheit Deines Lächelns wird nie aufhören, mich zu ermutigen und anzufeuern auf dem dornigen Pfade, der mir zu gehen bestimmt ist. Das Andenken an die Berührung Deiner Hand wird mich anspornen, dir beständig in Deinen Spuren zu folgen. Der holde Zauber Deiner Stimme wird mich in Stunden dunkelster Not gemahnen, das Seil zu ergreifen, an das Du dich Dein ganzes Leben lang so fest gehalten hast ...“


Helga Ahmedzadeh


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1) ein Ehrentitel, den Bahá’u’lláh Seiner Frau verlieh
2) bürgerlicher Name Bahá’u’lláhs
3) Kerker von Tihrán, ehemaliges Wasserreservoir, ein „schwarzes Loch“
4) Shoghi Effendi, Nachruf für das Größte Heilige Blatt, aus „Guidance for Today and Tomorrow“, London 1953, p. 59 ff.
5) wie 4), p. 59
6) Shoghi Effendi, „Gott geht vorüber“, Frankfurt/Oxford 1954, S. 395
7) Zitiert aus einem Brief Shoghi Effendis an die Bahá’í in Persien vom 13. 12. 1932, deutsch von Dr. A. Ahmedzadeh und D. Maani
8) ‘Abdu’l-Bahá, zit. in 4), p. 69
9) Mírzá Yahyá, Halbbruder und Widersacher Bahá’u’lláhs, der sich Subh-i-Azal („Morgenröte der Ewigkeit“) nannte
10) wie 4), p. 60
11) Azizu’lláh Sulaymání, in einem Brief an Dr. Ahmedzadeh
12) wie 4), p. 61
13) wie 4), p. 63
14) wie 4), p. 64
15) wie 4), p. 65
16) wie 4), p. 65£.
17) nach Sulaymání, wie 11)
18) wie 4), p. 67
19) wie 11)
20) wie 4), p. 67
21) wie 4), p. 67



Was sagt die Wissenschaft über dıe Bahá’í- Religion? (II)[Bearbeiten]

Bahá’u’lláh

Begründer der neuen Religion, die die Bezeichnung „Bahá’í-Religion“ nach seinem Namen (wörtlich „Herrlichkeit“ oder „Strahlenglanz Gottes“) annahm. In Persien ist diese Religion als Amr-i-Bahá’í („Bahá’í-Sache“, Amr = „Befehl, Geheiß“) oder Amru’lláh („Sache Gottes“) bekannt; das Adjektiv amri wird für Veröffentlichungen und sonstige Dinge, die mit dem Glauben zusammenhängen, verwandt, z. B. Nashriyyát-i-amri („religiöse Schriften“) usw. Von seinen Anhängern wird Bahá’u’lláh gewöhnlich Jamál-i-Mubárak („die gesegnete Schönheit“) oder Jamál-i-Qidam („die altehrwürdige Schönheit“) genannt. Sein ursprünglicher Name war Mírzá Husayn-'Alí Núrí (nach Núr in Mázindarán, der Heimat seiner Familie). Er wurde am 2. Muharram 1233 (12. November 1817) in Tihrán geboren, als Sohn einer adeligen Familie, die dem persischen Hof verschiedene Minister stellte. Nach der Bahá’í-Überlieferung und seinem eigenen schriftlichen Zeugnis besuchte er nie eine Schule. Er war eine zutiefst religiöse Persönlichkeit. In einem seiner Werke (Lawh-i-Rai’s = „Sendschreiben an den Minister“, den Großwesir ‘Ali Pashá in Konstantinopel) erzählt er, wie er schon in früher Kindheit zu religiösen Gedanken bewegt wurde, als er ein Puppenspiel besuchte und sah, wie die Puppen nach der Vorstellung mit ihrem eindrucksvollen Gepränge lieblos in die Schachteln zurückgelegt wurden; damals sei in ihm der Gedanke an die Hinfälligkeit und Nichtigkeit menschlicher Macht geweckt worden.

Nachdem der Báb im Jahre 1260 (1844) seine Sendung erklärt hatte, wurde Bahá’u’lláh einer seiner ersten Schüler und teilte das Schicksal der Bábí. Bahá’u’lláh kannte den Báb nicht persönlich; nach einer Stelle des „Briefs an den Sohn des Wolfes“ (page 165) hat er auch nie den Bayán gelesen, den er dennoch auswendig kannte. 1852 wurde er nach �[Seite 400] dem Attentat auf Násiri’d-Din Sháh verhaftet und in das Gefängnis von Tihrán geworfen, das unter dem Namen Siyáh-Chál („schwarzes Loch“) bekannt ist. Er schmachtete dort von August 1852 bis 12. Januar 1853. In seinem Buch Lawh-i-Ibn-i-Dhi’b („Brief an den Sohn des Wolfes“) oder Kitábu’l-Shaykh („Buch des Shaykhs“) erzählt er die Geschichte seiner Überführung in Ketten von Niyávarán (nördlich der persischen Hauptstadt am Gebirgsrand) nach Tihrán und seiner aufschlußreichen mystischen Erlebnisse im Kerker während der langen Nächte, die er dort, ohne Schlaf wegen der schweren Ketten um Nacken, Arme und Beine, zubringen mußte. Es schien ihm, so berichtet er (page 21), als ob er eine Stimme hörte, die ihm zurief: „Wahrlich, Wir werden Dich siegreich machen durch Dich Selbst und durch Deine Feder... Fürchte Dich nicht, denn Du bist in Sicherheit. Binnen kurzem wird Gott die Schätze der Erde erstehen lassen — Menschen, die Dir beistehen werden durch Dich selbst und durch Deinen Namen, durch welchen Gott die Herzen derer belebt, die Ihn erkannt haben.“ Ein andermal war es ihm, als fließe ihm ein starker Wasserstrom vom Haupt herab über die Brust, „einem mächtigen Sturzbach gleich, der sich vom Gipfel eines hohen Berges zu Tal ergießt“. Dieses Erlebnis sehen die Bahá’í als die ersten Anfänge der prophetischen Sendung ihres Religionsstifters an. Mit seiner ganzen Familie nach dem ‘Iráq verbannt, nachdem alle seine Besitzungen beschlagnahmt worden waren, lebte Bahá’u’lláh in Baghdád, wo sein geistiger Einfluß auf die verbannten Bábí ständig zunahm, während sich der seines Halbbruders Mírzá Yahyá, bekannt unter dem Namen Subh-i-Azal, den ihm der Báb gegeben hatte, immer mehr verringerte. Von 1854 bis 1856 zog sich Bahá’u’lláh nach Kurdistán zurück; er streifte dort als Derwisch durch die Berge um Sulaymániyyih. Nach seiner Rückkehr nach Baghdád veranlaßte sein wachsender Einfluß und die zahllosen Besucher, die selbst aus Persien zu ihm strömten, den persischen Konsul, seine sofortige Weiterverbannung nach Konstantinopel zu fordern. Kurz vor seiner Abreise am 21. April 1863 erklärte sich Bahá’u’lláh im Garten des Najíb Páshá bei Baghdád — von den Bahá’í Bágh-i-Ridván genannt — vor einigen auserwählten Anhängern als „Der, Den Gott offenbaren werde“ (Man-Yuzhiruhu’lláh), wie vom Báb verheißen.

Die Verbannten erreichten Konstantinopel im August und wurden nach einigen Monaten nach Edirne weitergeschickt, wo sie im Dezember 1863 ankamen. In Edirne erklärte Bahá’u’lláh seine prophetische Sendung öffentlich; er sandte Briefe (die, wie alle Briefe Bahá’u’lláhs, unter der Bezeichnung Lawh, Pl. Alváh = „Sendschreiben, Tablets“, bekannt sind) an verschiedene Herrscher und lud sie ein, seine Sache zu unterstützen. Der größte Teil der Bábí entschied sich damals für ihn. Die Auseinandersetzungen mit der Minderheit, die Subh-i-Azal folgte, führte zu Vorfällen, welche die türkische Regierung veranlaßten, jene in Edirne, die sich fortan Bahá’í nannten, nach ‘Akká, die anderen nach Zypern zu verbannen.

Im August 1868 kamen Bahá’u’lláh und seine Familie in ‘Akká an. Eine strenge Einkerkerung in der Festung dauerte bis 1877; später wurde es Bahá’u’lláh erlaubt, in ein Landhaus überzusiedeln, das er in Mazra’ih gemietet hatte. Zwischen 1288 (1871) und 1290 (1874) befaßte sich Bahá’u’lláh �[Seite 401] mit der Niederschrift des grundlegenden Werks seiner Religion, des Kitáb-i-Aqdas (des „heiligsten Buches“). Um 1880 durfte er seinen Wohnsitz in die Nähe ‘Akkás, nach Bahjí, verlegen, wo er nach einer Krankheit von mehreren Tagen am 29. Mai 1892 verschied. 1890 hatte er dort Prof. E. G. Browne empfangen, den einzigen Europäer, der ihm persönlich begegnete und der einen tiefen Eindruck von dem Besuch bei Bahá’u’lláh mit sich nahm.

Bibliographie:

Hauptwerke Bahá’u’lláhs: Kitáb-i-Aqdas (arabisch), herausgegeben und ins Russische übersetzt von A. Tumanski (Zapiski Imp. Akad. Nauk., Hist.-Phil. Class., Reihe VIII, Band VI, St. Petersburg 1899); Kitáb-i-Iqán (persisch); Tihrán o. D., französische Übersetzung von I. Dreyfus „Le Livre de la Certitude“, Paris 1904, englische Übersetzung von Shoghi Effendi „The Book of Certitude“, Wilmette 1943, deutsch „Das Buch der Gewißheit“, Frankfurt 1958; Haft-Vádí und Chahár-Vádi (persisch), deutsch „Sieben Täler — Vier Täler“ Frankfurt 1963; Kalimát-i-Maknúnih (persisch und arabisch), englische Übersetzung von Shoghi Effendi „The Hidden Words“, London 1944, deutsch „Verborgene Worte“, Frankfurt 1948; Majmú‘a-i-Matbú‘a-i-Alwáh-i-Mubárakiyyih Hadrat-i-Bahá’u’lláh, Kairo 1338 (1920), wichtige kurze Werke Bahá’u’lláhs; Law-i-Ibn-i-Dhi’b oder Kitábu’l-Shaykh, Kairo 1338 (1920), englische Übersetzung von Shoghi Effendi „Epistle to the Son of the Wolf“, Wilmette/Ill. 1941/1953, deutsch „Brief an den Sohn des Wolfes“ (erscheint demnächst); Kitáb Bahá’u’lláh ila‘l-Sultán Násiri‘d-Dín Sháh, Kairo 1330 (1912); Súriy-i-Mulúk (Sendschreiben an die Könige); Ad‘iyyih Hadrat-i-Mahbúb, Kairo 1339 (1921), verschiedene Gebete Bahá’u’lláhs einschließlich der Pflichtgebete;

Anthologien in englischer Übersetzung: Shoghi Effendi, „Gleanings from the Writings of Bahá’u’lláh“, New York 1935, deutsch „Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs“, Frankfurt 1956; dgl., „Prayers and Meditations“, New York 1938, deutsch „Gebete und Andachten“, Frankfurt 1963; „Selected Writings of Bahá’u’lláh“, Wilmette 1942; „Bahá’í World Faith“, Wilmette 1943/1956 (Übersetzung zahlreicher kürzerer Schriften Bahá’u’lláhs und ‘Abdu’l-Bahás).

Über sein Leben bis 1853: Nabíl Zarandí, Ta’ríkh-i-Nabíl, englische Übersetzung von Shoghi Effendi „The Dawn Breakers, History of the Early Days of the Bahá’í Revelation“, New York 1932.

Über die folgenden Jahre: Shoghi Effendi, „God passes by“, Wilmette 1945, deutsch „Gott geht vorüber“, Oxford/Frankfurt 1954. Der Tod Bahá’u’lláhs wird beschrieben in Nabíl Zarandí, Ta’rikh-i-Su‘úd-i-Hadrat-i-Bahá’u’lláh, Kairo 1342 (1924), mit einem Mathnavi desselben Verfassers über die Bahá’í-Geschichte sowie dem Testament Bahá’u’lláhs, dem Kitáb-i-‘Ahd.


A. Bausani
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Aus „Encyclopaedia of Islam — New Edition“, Leyden/London, seit 1954 p. 911 ff., mit freundlicher Genehmigung der Verlage.


[Seite 402]



Die Sendung von Bahá’u’lláh[Bearbeiten]

Worte von Bahá’u’lláh aus verschiedenen Schriften


Ich bezeuge vor Gott die Größe, die unfaßbare Größe dieser Offenbarung. Wieder und immer wieder haben Wir in den meisten Unserer Tablets für diese Wahrheit Zeugnis abgelegt, auf daß die Menschheit aus ihrer Nachlässigkeit erwache...

Er (Bahá’u’lláh) ist die Offenbarung des Unerkennbaren, des Unsichtbarsten alles Unsichtbaren, vermöchtet ihr es doch zu begreifen! Er ist es, der den verborgenen und verwahrten Edelstein offen vor euch hinlegt, wolltet ihr ihn doch suchen! Er ist der Geliebte von allem, was vergangen und künftig ist, wolltet ihr doch Herz und Hoffnung auf Ihn richten!

Er ist es, dessen Name im Alten Testament Jehova war, der im Evangelium als „der Geist der Wahrheit“ bezeichnet und im Qur’án als „die große Verkündung“ angerufen wurde...

Das ganze Menschengeschlecht hat sich nach diesem Tag gesehnt, damit er vielleicht erfülle, was seiner Stufe geziemt und seines Schicksals wert ist. Gesegnet der Mensch, den die Dinge der Welt nicht davon abhalten konnten, Ihn, den Herrn aller Dinge, zu erkennen!

Ihr Anhänger des Evangeliums, sehet hin, die Tore des Himmels sind weit geöffnet. Er, der zum Himmel aufgefahren war, ist nun gekommen. Hört auf Seine Stimme, die laut über Länder und Meere hinschallt und die ganze Menschheit mit dem Anbruch dieser Offenbarung bekannt macht, einer Offenbarung, durch deren Wirken die Zunge der Erhabenheit verkündet: „Seht, das heilige Liebespfand ist nun eingelöst, denn Er, der Verheißene, ist gekommen.“ Die Stimme des Menschensohnes ruft laut aus dem geheiligten Tal: „Hier bin ich, hier bin ich, o Gott, mein Gott!“ ... während aus dem brennenden Busch der Schrei erschallt: „Seht, der Ersehnte der Welt ist geoffenbart in Seiner erhabenen Herrlichkeit!“ Der Vater ist gekommen! Was euch verheißen worden ist im Reiche Gottes, ist erfüllt. Dies ist das Wort, das der Sohn verhüllte, als Er zu den Jüngern sprach, daß sie „es heute noch nicht tragen“ könnten... Wahrlich, der Geist der Wahrheit ist gekommen, der euch in die ganze Wahrheit leitet... Er ist der Eine, der den Sohn verherrlichte und Seine Sache erhöhte...

Das Wort, das der Sohn verbarg, ist offenbar geworden. Er wurde an diesem Tag herabgesandt in der Gestalt des menschlichen Körpers. Gesegnet sei der Herr, welcher der Vater ist! Er, wahrlich, ist zu den Völkern in Seiner größten Majestät gekommen. Wende dein Angesicht Ihm zu, o Schar der Rechtschaffenen!... Dies ist der Tag, da der Fels (Petrus) ausruft und jauchzt und den Lobpreis seines Herrn, des Allbesitzenden, des Höchsten verherrlicht mit den Worten: „Sehet, der Vater ist gekommen, und was euch verheißen ward im Königreich, das ist erfüllt!...“

Der Tröster, dessen Kommen alle Schriften verheißen haben, ist nun da, damit Er euch alle Erkenntnis und Weisheit offenbare. Sucht Ihn auf dem ganzen Erdenrund, damit ihr Ihn vielleicht findet.


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Neun Eigenschaften, an denen der Offenbarer zu erkennen ist[Bearbeiten]

(Worte von ‘Abdu’l-Bahá)


1. Der Offenbarer muß der Erzieher der Menschheit sein.

2. Seine Lehren müssen allumfassend sein und der Menschheit Erleuchtung bringen.

3. Sein Wissen muß angeboren und ursprünglich, nicht erworben sein.

4. Er muß fähig sein, die Fragen der Gelehrten und Weisen zu beantworten und die Probleme der Menschheit zu lösen.

5. Er muß Freude und Glückseligkeit bringen und ein Herold des Reiches Gottes sein.

6. Sein Wissen muß unbegrenzt und Seine Weisheit allumfassend sein.

7. Die Kraft Seiner Worte und die Macht Seines Geistes müssen so groß sein, daß selbst Seine schlimmsten Feinde überwunden werden.

8. Sorge und Trübsale dürfen Ihn nicht bedrücken. Sein Heldenmut und Seine Überzeugung müssen von göttlicher Kraft getragen sein. Tag für Tag muß Er stärker und mächtiger werden.

9. Er muß der Begründer der Weltordnung, der Vereiniger der Religion, der Bannerträger des Weltfriedens und die Verkörperung der höchsten und edelsten menschlichen Tugenden sein.

Wenn ihr diese Eigenschaften in einem Menschen verwirklicht findet, so schaut zu ihm auf als eurem Führer und Erleuchter.

Eine Manifestation Gottes gleicht der Sonne, welche verschiedene Aufgangspunkte hat. Die Aufgangspunkte ändern sich, aber die Sonne bleibt immer dieselbe. Die Lampen sind verschieden, aber das Licht ist immer das gleiche.


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NEU AUF UNSEREM Büchertisch[Bearbeiten]

Peter Bamm: „Welten des Glaubens. Aus den Frühzeiten des Christentums“, 380 Seiten, 350 Abbildungen, Knaur-Taschenbücher 1, München 1963

Das kulturhistorische Werk des bekannten Schriftstellers und Arztes ist nun auch in einer wohlfeilen Taschenbuchausgabe auf dem Markt. Die Fülle und Flüssigkeit der Darstellung, weitgehend im Stil einer Reportage zu den Bildern, versöhnt nicht ganz mit der Tatsache, daß das Buch der Tendenz nach ein Bekenntnis zur Überlegenheit des Christentums und der abendländischen Kultur ist — eine Haltung, die nicht erst durch die Ereignisse der neuesten Geschichte fragwürdig geworden ist. Interpolationen unter dem Motto: „Was wäre geschehen, wenn... “ sind immer ein Wagnis, vor dem ernsthafte Forscher insbesondere dann zurückschrecken sollten, wenn das Ergebnis zu einer negativen Aussage wird: Der Verfasser stellt die Araber mit den Hunnen, den Mongolen und den Türken auf eine Stufe (S. 343) und ist der festen Überzeugung, daß Niederlagen bei Tours und Poitiers, auf den Katalaunischen Feldern, auf dem Lechfeld usw. jeweils zur Vernichtung Europas geführt hätten. Für ihn sind die Araber barbarische Eindringlinge, die die blühende oströmische Kultur vernichtet haben, und Byzanz erscheint ihm als das Bollwerk der abendländischen Zivilisation gegen die Wüste. Er geht bis zu der Behauptung, wenn Byzanz nicht christlich gewesen wäre, hätte Zeus gegen Allah kämpfen müssen. Zwar entschuldigt er sich für die Komik dieses Anachronismus, fährt dann aber fort: „Wie die Auseinandersetzung zwischen den Göttern des Olymp und den Streitern Mohammeds ausgegangen wäre, kann wohl nicht zweifelhaft sein, wenn man die Kraft der Ideen, die da einander gegenübergestanden hätten, in Rechnung stellt (S. 140 f.).“

Wie muß es im Bewußtsein eines Kulturforschers aussehen, der die blühende islamische Kultur des Mittelalters nicht als Zwischenträger, geschweige denn als selbständige Fortentwicklung zwischen Antike und Moderne sieht? Wie kann ein überzeugter Christ glauben, auf den — ausdrücklich erwähnten — Jüngsten Tag vorbereitet zu sein, wenn er die Offenbarung Muhammads nicht als eine weitere Stufe im Heilsplan Gottes für die Menschheit erfaßt? Wie können wir der wachsenden Notwendigkeit einer Integration aller menschlichen Belange gewachsen sein, wenn wir nicht die außereuropäischen Kulturen und deren Entwicklung gleichberechtigt und verzahnt mit unserer abendländischen Zivilisation sehen? Das sind Fragen, die über den Rahmen einer populärwissenschaftlichen Betrachtung der Frühzeit des Christentums hinausgehen mögen, die sich aber jeder Bearbeiter eines solchen Wissensgebietes stellen muß, wenn sein Werk Nutzen bringen und Bestand haben soll.

Peter Mühlschlegel


Die „BAHA’I-BRIEFE“ werden vierteljährlich herausgegeben vom Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í in Deutschland e. V., 6 Frankfurt, Westendstraße 24. Alle namentlich gezeichneten Beiträge stellen nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers oder der Redaktion dar.

Redaktion: Dipl.-Volksw. Peter A. Mühlschlegel, 7022 Leinfelden, Jahnstraße 8, Telefon (07 11) 79 16 74, und Dieter Schubert, 7022 Leinfelden, Fliederweg 3, Telefon (07 11) 79 35 35.

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