BAHÁ'I-
BRIEFE
BLÄTTER FÜR
WELTRELIGION UND
WELTBEWUSSTSEIN
AUS DEM INHALT:
Bahá’i-Weltkongreß in London
Der Geistige Zehnjahres-Weltkreuzzug
Tablet Tajalliyát
Bildberichte aus London und Stuttgart
JULI 1963 HEFT 13
Postverlagsort 6 Frankfurt
- Die den Völkern und Geschlechtern der Erde vorherbestimmte Zeit ist nun gekommen. Die Verheißungen Gottes, wie sie die Heiligen Schriften überliefert haben, sind alle erfüllt. Aus Zion ist Gottes Gesetz hervorgegangen, und Jerusalem mit seinen Hügeln und seinem Land ist voll der Herrlichkeit Seiner Offenbarung. Selig, wer in seinem Herzen bewegt, was in den Büchern Gottes, des Helfers in Gefahr, des Selbstbestehenden, geoffenbart ist. Sinnt darüber nach, o ihr Geliebten Gottes, und lauscht Seinem Worte, damit ihr euch durch Seine Gunst und Gnade aus den kristallenen Wassern der Beständigkeit satt trinkt und in Seiner Sache so unerschütterlich wie die Berge werdet.
- Bahá’u’lláh
- (Ährenlese X)
Der geistige Zehnjahres-Weltkreuzzug[Bearbeiten]
Die Entfaltung des Göttlichen Planes von 'Abdu’l-Bahá
Als ‘Abdu’l-Bahá 1916 Seine Sendschreiben über den Göttlichen Plan an die Bahá’í der Vereinigten Staaten und Kanadas richtete, rief Er sie auf:
- „Jetzt ist es an der Zeit, daß ihr euch des Gewandes der Bindung an dieses äußerliche Reich entledigt, daß ihr euch von der stofflichen Welt völlig loslöst, daß ihr zu Engeln des Himmels werdet, durch alle diese Gegenden reist und lehrt“ 1). Weiter sagt Er: „Es ist Meine große Hoffnung, daß eure Errungenschaften binnen kurzem die Pfeiler der Erde mächtig zum Schwingen bringen. Die Hoffnung, die ‘Abdu’l-Bahá für euch hegt, ist, daß derselbe Erfolg, den ihr bei euren Anstrengungen in Amerika hattet, auch eure Bemühungen in anderen Teilen der Welt krönt, auf daß durch euch der Ruhm der Sache Gottes überall im Osten und im Westen verbreitet und das Kommen des Königreiches des Herrn der Heerscharen in allen fünf Erdteilen verkündet werden“ 2).
Die dritte Phase im Göttlichen Plan
Der geistige Zehnjahres-Weltkreuzzug von 1953 bis 1963 ist die dritte der Phasen, in denen die Entfaltung des Göttlichen Plans ‘Abdu’l-Bahás „vorangetrieben wird“, ein Abschnitt, der — wie Shoghi Effendi ausführt — die erste Epoche in der Entwicklung dieses Göttlichen Plans zum Abschluß führt.
Der erste Abschnitt „trat noch nicht klar in Erscheinung; die Verwaltungseinrichtungen des Glaubens nahmen Schritt für Schritt Gestalt an und wurden vervollkommnet“ 3). Es handelte sich um den ersten Siebenjahresplan, 1937 bis 1944, in welchem die Lehren Bahá’u’lláhs in den Republiken Lateinamerikas eingeführt und in jeder von diesen Verwaltungszentren errichtet wurden, während am Ausgangspunkt, im Herzen Nordamerikas, der „Muttertempel des Westens“ seiner Vollendung entgegenging.
Der zweite Siebenjahresplan faßte als zweiter Abschnitt die doppelte Aufgabe der Lehrtätigkeit und der Festigung in erweitertem Umfang ins Auge. In zehn „Zielländern“ Europas wurden neue Mittelpunkte erschlossen, die neuen Verwaltungszentren Lateinamerikas wurden gefestigt, das Bahá’í-Haus der Andacht in Nordamerika mit den es umgebenden Gartenanlagen fertiggestellt.
Es liegt an jedem einzelnen
‘Abdu’l-Bahá rief jeden einzelnen Gläubigen auf, an diesem Tag „seinen
Einsatz zu erhöhen und seine Ziele weit zu stecken“. Er verglich die Aufgabe
mit derjenigen zur Zeit Christi und führte aus, Christus habe gesagt,
daß die Armen das Himmelreich erben werden, während es im Qur’án
heiße: „Wir wünschen Unsere Gaben zu verteilen auf diejenigen, die auf
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Erden schwach wurden, und sie zu einer Nation und zu Erben (geistiger
Wahrheit) zu machen“ 4). An den einzelnen Gläubigen — unbekannt und
unwichtig in den Augen der Welt — richtete auch der Hüter immer wieder
seine Appelle, besonders bei der Eröffnung des dritten Abschnitts in der
Entfaltung des Göttlichen Plans ‘Abdu’l-Bahás. Vor allem forderte er dazu
auf, daß sich Pioniere erheben und in die Zielgebiete des
Zehnjahres-Weltkreuzzuges übersiedeln:
- „Dieser Appell, ernst und eindringlich und gleichzeitig so ruhmreich, richtet sich zweifellos in erster Linie an den einzelnen Gläubigen, von dem letzten Endes das Schicksal der ganzen Gemeinschaft abhängt. Dieser einzelne ist Kette und Schuß, von denen Güte und Muster des ganzen Gewebes bestimmt werden. Er wirkt als eines der zahllosen Glieder in der mächtigen Kette, die nunmehr den Erdball umspannt. Er dient als einer der unzähligen Ziegelsteine, die das Mauerwerk des Verwaltungsgebäudes tragen, welches jetzt in jedem Teil der Welt errichtet wird, und die dessen Standfestigkeit sicherstellen. Ohne seine beständige großmütige, von ganzem Herzen kommende Unterstützung sind alle Maßnahmen, alle Pläne, wie sie von der Körperschaft der nationalen Vertreter einer Gemeinschaft, zu der auch er sich zählt, in Angriff genommen werden, von vorn herein zum Scheitern verurteilt. Selbst das Weltzentrum des Glaubens ist gelähmt, wenn ihm eine derartige Unterstützung aus Reih’ und Glied der Gemeinde versagt wird. Der Urheber des Göttlichen Plans wird in Seiner Absicht verhindert, wenn die geeigneten Werkzeuge zur Durchführung Seines Vorhabens fehlen. Die stärkende Kraft Bahá’u’lláhs Selbst, des Begründers unseres Glaubens, wird jedem einzelnen Gläubigen vorenthalten bleiben, wenn er es auf lange Sicht versäumt, sich aufzumachen und seine Rolle zu spielen“ 5).
Als Shoghi Effendi im Oktober 1952 die Ziele für den Zehnjahres-Weltkreuzzug steckte, konnte er sich auf zwölf nationale geistige Räte als Ausgangspunkte für diese „geistige Invasion“ stützen. Die Weltkarte, auf der er die Ziele absteckte, machte deutlich, daß es sich in der Tat um einen Weltkreuzzug handelte, der die aktive Teilnahme aller Bahá’í, und der zwölf nationalen Verwaltungskörperschaften auf der ganzen Welt erforderte, wobei den Mitgliedern der US-Gemeinde als den „Hauptvollziehern“ des Göttlichen Plans ‘Abdu’l-Bahás die „Rolle des Schwerpunkts in der systematischen Verbreitung des Glaubens“ zufiel. Zu „Alliierten“ wurden ihnen die Mitglieder der kanadischen Gemeinde bestimmt, zu „Assoziierten“ diejenigen der lateinamerikanischen Länder6).
Die interkontinentalen Lehrkonferenzen
Um diesen Zehnjahres-Weltkreuzzug einzuleiten, berief Shoghi Effendi
vier Lehrkonferenzen auf den Kontinenten Afrika, Amerika, Europa (in
Stockholm) und Asien ein. Zum erstenmal bediente sich der Hüter darüber
hinaus der Unterstützung von Händen der Sache, die er im Dezember 1951
sowie im Februar und März 1952 ernannt hatte; während des ersten und
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zweiten Siebenjahresplans hatte er sich die planende und leitende Tätigkeit
alleine aufgebürdet. Einige der Hände der Sache wurden dazu bestimmt, ihm
im Weltzentrum des Glaubens in Haifa zur Seite zu stehen.
Zu jeder der interkontinentalen Konferenzen entsandte Shoghi Effendi eine
der Hände der Sache aus dem Heiligen Land als seinen persönlichen
Vertreter und benannte die nationalen Geistigen Räte oder Ausschüsse, die
für die Einberufung verantwortlich beziehungsweise dort vertreten waren.
So fanden bei diesen interkontinentalen Konferenzen die Mitglieder der
zwölf nationalen Geistigen Räte, die sich zum erstenmal persönlich
begegneten, zu Beratungen zusammen, nicht nur untereinander, sondern auch
mit den Händen der Sache. Das weltweite Vorhaben erforderte zunächst
die Entsendung von Pionieren in die 131 neu zu erschließenden Gebiete,
die vom Hüter in seinem umfassenden Weitblick jeweils bestimmten
nationalen Räten zugewiesen worden waren.
„Das vornehmste Ziel dieses geistigen Kreuzzugs“, stellte Shoghi Effendi fest, „ist nichts anderes als die Eroberung der Bollwerke der Menschenherzen“ 7).
Des Hüters Kreuzzug...
Der Zehnjahresplan von 1953 bis 1963 ist im wahrsten Sinne des Wortes
der Weltkreuzzug des Hüters. Shoghi Effendi war es, der die Ziele steckte:
im Weltzentrum des Glaubens, in den fünf Erdteilen und auf den Inseln
der Weltmeere. Er bestimmte die Zeitspanne: die zehn Jahre zwischen
zwei großen Jahrhundertfeiern des Glaubens. Er war es auch, der die
Rangordnung festlegte, nach der die einzelnen Ziele in Angriff genommen
wurden: Zunächst rief er Pioniere auf, die „jungfräulichen“ Gebiete zu
erschließen und sich dabei die Auszeichnung zu verdienen, als „Ritter
Bahá’u’lláhs“ auf seine Ehrenrolle gesetzt zu werden; sodann forderte er
sie auf, in jedem neuerschlossenen Gebiet Bahá’í-Verwaltungseinrichtungen
zu errichten und auszubauen. Mit eigener Hand zeichnete er die beiden
einzigartigen Weltkarten, deren erste die Ziele darstellte, während die
zweite — fertiggestellt in der Nacht, bevor er die Welt verließ, in der Mitte
des Kreuzzuges — die überplanmäßigen Erfolge enthielt, die ihn so erfreut
und beglückt hatten. Aus seiner Feder floß ein Strom von Briefen und
Telegrammen zu den verantwortlichen nationalen Geistigen Räten in allen
Teilen der Welt, um sie anzuspornen, sie zu ermahnen vor der drohenden
Katastrophe, die alle Eile geboten sein ließ, um die Erfolge aufzuzeichnen,
die — zögernd oder heldenhaft — erreicht wurden und die sich steigerten,
wie sich die Siege „dieses unüberwindlichen Glaubens“ steigerten, schließlich
um jeden einzelnen Gläubigen aufzurufen, „wo immer er sich befinde,
wie immer sein Beruf, seine Mittel, seine Rasse oder sein Lebensalter
seien“ 8), seinen unabdingbaren Anteil beizutragen, um zu warnen vor
„Gleichgültigkeit, Furchtsamkeit oder Selbstgefälligkeit“9) und zu
versichern, daß „die allbezwingende Kraft der Gnade Gottes, vermittelt
durch die Offenbarung Bahá’u’lláhs, zweifellos auf geheimnisvolle,
überraschende Weise jeden, der sich aufmacht, Seine Sache zu verfechten,
befähigen wird, einen überwältigenden, vollkommenen Sieg
davonzutragen“ 10),
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Für die Halbzeit des Weltkreuzzuges erwies sich die zweite Serie von interkontinentalen Konferenzen, die Shoghi Effendi in seiner letzten allgemeinen Botschaft vom Oktober 1957 einberief, als eine weise Vorsehung, weil sie den Bahá’í der ganzen Welt die Gelegenheit bot, ihren tiefen Schmerz über sein plötzliches Hinscheiden im November 1957 in Taten umzuformen. Wie bei den ersten bestellte der Hüter wiederum Hände der Sache zu seinen persönlichen Vertretern bei diesen Veranstaltungen, die diesmal auf allen fünf Kontinenten stattfanden. Gleichzeitig ernannte er acht weitere Hände der Sache in Afrika, Europa, Asien und Arabien und erhöhte somit deren Zahl auf 27.
Die zweite Serie von Konferenzen, schrieb er, war „der Verherrlichung Seines (Bahá’u’lláhs) Namens gewidmet und eigens dazu einberufen, den Vormarsch der Einrichtungen Seiner welterlösenden Ordnung voranzutreiben und die Errichtung Seines Königreichs in den Herzen der Menschen zu beschleunigen“ 11).
... ein weltumspannendes Unternehmen
Der Zehnjahres-Weltkreuzzug als dritter Abschnitt in der Entfaltung des Göttlichen Plans ‘Abdu’l-Bahás unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von den Plänen der beiden vorangegangenen Abschnitte. Er ist weltweit in seinen Ausmaßen und sieht die gleichzeitige Ausführung von zwölf nationalen Plänen vor. Noch bedeutsamer ist jedoch die Tatsache, daß das Weltzentrum des Glaubens zum erstenmal in die Zielsetzungen einbezogen ist; dadurch steht der ganze Kreuzzug unter dem geistigen Impuls aus diesem Zentrum.
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- O Mein Diener! Höre auf das, was vom Thron deines Herrn, des Unerreichbaren, des Größten, zu dir herabgesandt wird! Es ist kein Gott außer Ihm. Er hat Seine Geschöpfe ins Dasein gerufen, damit sie Ihn, den Mitleidigen, den Allerbarmenden, erkennen. In die Städte aller Völker hat Er Seine Boten geschickt und ihnen aufgetragen, den Menschen die Botschaft vom Paradies Seines Wohlgefallens zu verkünden und sie zum Hafen der ewigen Sicherheit, zum Hort immerwährender Heiligkeit und erhabener Herrlichkeit zu führen.
- (Ährenlese LXXVI.)
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Der Weltkreuzzug ist, wie der Hüter sagte, „dreifach gesegnet“: Er ist „eng verbunden mit den epochemachenden Sendschreiben ‘Abdu’l-Bahás über den Göttlichen Plan“ und verknüpft „zwei historische Jahrhundertfeiern miteinander, die der Geburt und der Erklärung der Sendung des Begründers unseres Glaubens gedenken“ 12). Dem Beginn des Zehnjahresplanes ging ein heiliges Jahr aus Anlaß der hundertsten Wiederkehr der Tage voraus, in denen Bahá’u’lláh Seine Berufung im Siyáh-Chál, dem Kerker von Tihrán, empfing, und sein Abschluß fällt mit dem „Größten Jubiläum aus Anlaß der Hundertjahrfeier der Erklärung Bahá’u’lláhs in Baghdád“ zusammen 13). Diese Jahrhundertfeier fand vom 28. April bis 2. Mai 1963 in London statt und kennzeichnet nach Shoghi Effendi „die formelle Übernahme Seines prophetischen Amtes“ durch Bahá’u’lláh; „sie ist verknüpft mit dem Jahr 1335, das Daniel im letzten Kapitel Seines Buches erwähnte, und wurde von ‘Abdu’l-Bahá mit dem weltweiten Triumph des Glaubens Seines Vaters in Verbindung gebracht“ 14).
Die Erfüllung der Planziele
Als Shoghi Effendi den Zehnjahres-Weltkreuzzug eröffnete, rief er die Bahá’í-Welt auf, „in einem einzigen Jahrzehnt Heldentaten zu vollbringen, die in ihrer Ganzheit das, was im Laufe der elf vorangegangenen Jahrzehnte vollendet wurde und die Annalen der Bahá’í-Pionierarbeit erhellte, in den Schatten stellen"15). Eine Betrachtung der Erfolge des Zehnjahresplanes anhand der Botschaften, die Shoghi Effendi selbst an die Nationaltagungen und seit seinem Tod die Hände der Sache in Haifa an die Bahá’í-Welt richteten, führt folgende Tatsachen vor Augen:
Schon im ersten Jahr des Zehnjahres-Kreuzzuges wurden 100 der 131 „Zielgebiete“ erschlossen. Von den vielen spannenden Erlebnissen der einzelnen Pioniere, die im Vertrauen auf Gott in entlegene, oft feindselige Gegenden zogen, war bei anderen Gelegenheiten schon oft die Rede. Bis zum Ende der Planzeit hatte sich die Zahl der dem Glauben erschlossenen Gebiete von 128 (1952) auf 259 verdoppelt.
Im zweiten und dritten Planjahr waren bis auf sechs alle 49 nationalen Verwaltungszentren (Hazíratu’l-Quds), die zum Zweck der weiteren Entwicklung des Glaubens zu erwerben waren, gekauft, desgleichen zehn von den elf Tempelgeländen außerhalb des Heiligen Landes. 1959 waren alle 49 Hazíratu’l-Quds errichtet, das letzte Tempelgelände gekauft und über den Plan hinaus mehrere weitere Verwaltungssitze und Tempelgrundstücke erworben. Demgegenüber hatte man in den elf Jahrzehnten vor 1953 nur sieben nationale Verwaltungszentren und zwei Tempelgelände kaufen können.
Im vierten und fünften Planjahr waren 16 neue nationale und regionale
Geistige Räte errichtet; die Zahl der Orte, an denen Bahá’í leben, war von
2000 auf 4500 angewachsen. Bis zum Ende der Planzeit stieg diese Zahl
auf 13.000, die der nationalen Geistigen Räte als „Pfeiler“ des Universalen
Hauses der Gerechtigkeit von ursprünglich 12 auf 56. Die „Muttertempel“
von Afrika und Australien wurden fertiggestellt, derjenige von Europa
nähert sich der Vollendung. In über 60 Ländern sind nun nationale
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Bahá’í-Besitzungen für die weitere Ausdehnung der Einrichtungen des Glaubens
errichtet, während die Anzahl der Grundstücke für künftige Häuser der
Andacht mit 45 die ursprüngliche Planung weit übersteigt. Neun nationale
Geistige Räte unterhalten Zweigniederlassungen in Israel. Die Anzahl der
örtlichen Geistigen Räte hat sich mit 3545 seit 1957 verdreifacht. Über 300
örtliche und nationale Räte haben durch registergerichtliche Eintragung
Rechtsstatus erworben. Von 90 auf 309 wuchs die Zahl der Sprachen, in
denen Bahá’í-Literatur verfügbar ist, von etwa 30 auf 558 die Zahl der
Volksstämme.
Im Weltzentrum des Glaubens erhebt sich das internationale Archivgebäude als erstes Verwaltungsbauwerk majestätisch über dem Bogen, den Shoghi Effendi in den herrlichen Parkanlagen am Berg Karmel beim Schrein des Báb zog. Es beherbergt die unschätzbaren Sendschreiben und Erinnerungsstücke in einer ausgesuchten Einrichtung, die vom Hüter geplant und von seinen Helfern, den Händen der Sache im Heiligen Land, ausgeführt worden war.
Die Massengewinnung für den Glauben Bahá’u’lláhs hat in den letzten Jahren auf einigen pazifischen Inseln, in Südostasien, Indien, Afrika und unter gewissen indianischen Volksstämmen Lateinamerikas eingesetzt.
Der Geringere Friede
Ein weiteres, weniger greifbares, doch bedeutsames Ergebnis der Kraft
Bahá’u’lláhs, wie sie durch den Weltkreuzzug wirkte, wird von Shoghi
Effendi in seinem Brief vom 4. Mai 1953 angedeutet. Es steht mit dem
zweiten der beiden großen Prozesse in Verbindung, die heute in der Welt
ablaufen: dem Göttlichen Plan ‘Abdu’l-Bahás und dem Plan Gottes für
die Welt. Dieser zweite Prozeß, so schrieb Shoghi Effendi schon früher,
muß „durch eine Folge von Siegen und Rückschlägen zur politischen
Vereinigung der östlichen mit der westlichen Hemisphäre führen, zum
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Erstehen einer Weltregierung und zur Errichtung des Geringeren Friedens,
wie er von Bahá’u’lláh vorhergesagt und vom Propheten Jesaias angekündigt
wurde. Er muß am Ende in der Entfaltung des Banners des Größten
Friedens, im Goldenen Zeitalter der Sendung Bahá’u’lláhs,
gipfeln“ 16).
Zur Beschleunigung dieses zweiten Prozesses wird nach den Worten Shoghi Effendis „dieser gegenwärtige Kreuzzug ... vermöge der dynamischen Kräfte, die er entbindet, und durch seinen weiten Widerhall auf der ganzen Oberfläche des Erdballs, wirkungsvoll beitragen“ 17).
Obwohl der geistige Zehnjahres-Weltkreuzzug den dritten und letzten Abschnitt der ersten Entwicklungsepoche des Göttlichen Plans ‘Abdu’l-Bahás darstellt, ist er doch nach all dem bisher Erwähnten keineswegs der letzte „Plan“ oder „Kreuzzug“. Shoghi Effendi sagt uns, daß dieser Zehnjahresplan „seinerseits den Weg ebnet und ein Vorspiel bildet für die Einleitung des mühevollen und überaus langen Vorgangs, im Laufe weiterer Kreuzzüge in allen neuerschlossenen souveränen Staaten, abhängigen Gebieten und Inseln des Planeten wie auch in den restlichen Territorien der Erde das Rahmenwerk der Verwaltungsordnung unseres Glaubens mit allen dazugehörigen Hilfseinrichtungen zu errichten und schließlich in diesen Gebieten weitere Pfeiler aufzubauen, die dabei mitwirken, das Gewicht des Universalen Hauses der Gerechtigkeit zu tragen und dessen Grundlagen zu verbreitern“18).
So ist in dem ständig fortschreitenden Vorgang der Entfaltung des Göttlichen Plans ‘Abdu’l-Bahás das Geschick der Bahá’í-Gemeinschaft unlöslich verknüpft mit dem Schicksal der ganzen Menschheit auf diesem Planeten, wie Shoghi Effendi schon 1946 schrieb:
- „Während der von ‘Abdu’l-Bahá hinterlassene Plan in den aufeinanderfolgenden Jahrzehnten dieses Jahrhunderts seine unermeßlichen inneren Kräfte entfaltet und auf immer weiteren Kontinenten des Erdballs Nation auf Nation in seine Unternehmungen einbezieht, wird er in wachsendem Maße nicht nur als das mächtigste Werkzeug für die Entwicklung des Systems einer Weltverwaltung, sondern auch als ein Hauptfaktor bei der Entstehung und Entfaltung der Weltordnung selbst, im Osten wie im Westen, erkannt werden“ 19).
- Beatrice Ashton
- —————
Aus dem Englischen (Beilage zu „Bahá’i News“, USA, Februar 1963) in Auszügen von Peter Mühlschlegel. Die Untertitel wurden von der Redaktion eingesetzt.
- 1) „Sendschreiben zum Göttlichen Plan“, zitiert nach Shoghi Effendi, „The Challenging Requirements of the Present Hour“. S. 27; vgl. 19-Tage-Brief 18/114, 7. 2. 58., S. 9
- 2) wie 1), S. 10
- 3) „God-Given Mandate“ in „Messages to America 1932—1946", S. 92
- 4) wie 1), S. 9
- 5) Brief vom 28. 7. 54.
- 6) Brief vom 3. 5. 53; vgl. „Bahá’i World“ XII, S. 139
- 7) Brief vom 4.3.53; vgl. „Hüterbotschaften an die Bahá’i-Welt“. Frankfurt 1962, S. 16
- 8) Brief vom 19. 7.56, Absatz 11
- 9) Brief vom 21. 9. 57, Absatz 15
- 10) Brief vom 19. 7. 56, Absatz 14
- 11) Brief vom Oktober 1957, letzter Absatz; vgl. „Hüterbotschaften ...“, Frankfurt 1962, S. 96
- 12) Botschaft von Ridván 1957; vgl. „Hüterbotschaften....“, S. 88
- 13) wie 7)
- 14) wie 3), S. 101
- 15) Brief vom 8. 10. 52; vgl. „Hüterbotschaften... .“, S. 2
- 16) „Challenging Requirements...“, S. 30 f.
- 17) Brief vom 4. 5. 53; vgl. „Hüterbotschaften...“, S. 18
- 18) dgl., S. 17
- 19) wie 3), S. 97
Das Größte Jubiläum[Bearbeiten]
Bericht über den ersten Bahá’í-Weltkongreß in London
Es ist nicht nötig, den Vergleich zu Weltkonferenzen anderer Art — seien sie politisch, theologisch, sozialreformerisch oder wirtschaftlich in ihrer Zielsetzung — zu ziehen oder an die von Verfolgungen und Krisen gezeichnete Geschichte der Bahá’í-Religion zu erinnern, um den ersten Bahá’í-Weltkongreß, der am 2. Mai 1963 in London zu Ende ging, ins rechte Licht zu rücken. Das Zusammentreffen von über 6 000 Menschen fast aller Nationalitäten, Rassen und Klassen, die heute die Erde bevölkern, im Geiste weltweiter Liebe muß einer skeptischen Umwelt Anlaß genug sein, aufzuhorchen und sich auf die neuerwachte Kraft religiösen Denkens und Glaubens zu besinnen.
- (Fortsetzung Seite 318)
- Blick in einen Teil der mit 6000 Bahá’í vollbesetzten Royal Albert Hall.
Drei Ereignisse waren es, die bei diesem Kongreß festlich begangen wurden:
- — das hundertjährige Jubiläum der öffentlichen Erklärung Bahá’u’lláhs als des Verheißenen aller Religionen (21. April bis 2. Mai 1863 in Baghdád),
- — der erfolgreiche Abschluß des ersten weltweiten Zehnjahresplanes der Bahá’í, eines „geistigen Weltkreuzzuges“ von 1953-1963, von dem an anderer Stelle dieses Heftes die Rede ist,
- — die erstmalige Wahl des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, der höchsten administrativen Einrichtung der Bahá’í-Weltgemeinschaft, die kurz zuvor in Haifa stattgefunden hatte.
Vor Beginn des Kongresses hatten die aus aller Welt eintreffenden Freunde Gelegenheit, sich in den Räumen des Royal Hotels, nördlich des Londoner Stadtzentrums, zu treffen, um sich kennenzulernen und Gedanken auszutauschen. Schon hier erregte das bunte Gemenge von Angehörigen fast aller Rassen und Völker, vielfach in Nationaltracht gekleidet, das Interesse: der Öffentlichkeit.
In ihrer Eröffnungsansprache am Nachmittag des 28. April betonte ‘Amatu’l-Bahá Rúhíyyíh Khánum in der bis in die obersten Ränge gefüllten Royal-Albert-Konzerthalle, welche großen Segnungen des Glaubens Bahá’u’lláhs auf diesem Kongreß ruhten, den Shoghi Effendi ursprünglich nach Baghdád einberufen hatte, der aber nach dem plötzlichen Tod des Hüters nach London, seinem Sterbeort, verlegt worden war. Das Ende der Einleitungszeit des Göttlichen Planes ‘Abdu’l-Bahás für die Verbreitung des Glaubens über die ganze Erde werde durch diesen Kongreß bedeutungsvoll gekennzeichnet. Die großen Lehrerfolge in Südamerika, Afrika und Südasien unter den einfachen, unkomplizierten Menschen dieser Gebiete müßten vor allem den weißen Gläubigen vor Augen führen, wie schlicht und geradlinig die Lehren Bahá’u’lláhs sind. Alle göttliche Wahrheit sei unkompliziert.
‘Alí Akbar Furútan hob in der Eröffnungssitzung die Bedeutung dieses Tages anhand der heiligen Bücher, insbesondere des Alten und Neuen Testaments sowie der zarathustrischen Schriften, hervor. Hasan Balyuzi stellte dem Jubelfest die schicksalsschweren Tiefpunkte der Bahá’í-Geschichte gegenüber.
Der zweite Kongreßtag stand im Zeichen der Sendung Bahá’u’lláhs als des
Gottgesandten unserer Zeit. Wie sich in Ihm alle Verheißungen der früheren
Offenbarungen erfüllten, legte Marion Hofman dar. Amoz Gibson
rückte die persönliche Dankbarkeit und Verpflichtung des einzelnen
Gläubigen gegenüber der „Gesegneten Schönheit“ Bahá’u’lláhs in den
Vordergrund, während der ehrwürdige Tarazu’lláh Samandarí, fast
neunzigjährig, über seine Begegnung mit Bahá’u’lláh 1890/91 berichtete,
strahlend vor Glück, dieses große Jubiläum noch miterleben zu dürfen.
Ein eindrucksvolles Erlebnis war die Feier des neunten Ridván-Tages am
Nachmittag, bei der, wie auch bei anderen Gelegenheiten, Gebete in Sprachen
aus allen Teilen der Erde gesprochen und gesungen wurden.
[Seite 319]
Über die Entfaltung des Göttlichen Plans wurde am Dienstagvormittag, 30. April, gesprochen, wobei Rowland Estall und Jan Sijsling die umfassende Konzeption ‘Abdu’l-Bahás, Jan Semple die durchführenden Planungen des Hüters behandelten, der die Bahá’í-Weltgemeinschaft organisch, wie der Gärtner eine Pflanze, zur Entwicklung gebracht habe. Eine Grußbotschaft der wegen ihres Glaubens gefangenen und zum Tode verurteilten Bahá’í in Marokko überbrachte Rechtsanwalt Navidi; ergriffen hörte die Versammlung Tonbandaufnahmen von Andachten dieser Märtyrer in ihrem Gefängnis.
Das Weltzentrum des Bahá’í-Glaubens in Haifa stand im Mittelpunkt der Nachmittagssitzung. Ugo Giachery betonte, wie durch die Verbannung Bahá’u’lláhs nach ‘Akká zahlreiche Prophezeiungen des Alten Testaments ihre Erfüllung gefunden haben. Im gleichen Jahr, in dem Bahá’u’lláh den bedeutungsvollen Besuch Professor Brownes in ‘Akká empfing, besuchte Er zweimal den Berg Karmel, wobei Er einen Baum pflanzte und den Platz für den Schrein des Báb auswählte. Paul Haney bezeichnete das Karmel-Tablet Bahá’u’lláhs, Wille und Testament ‘Abdu’l-Bahás sowie Dessen Sendschreiben zum Göttlichen Plan als die Charta der göttlichen Weltordnung und die geistige Grundlage des Weltzentrums, dessen Institutionen Shoghi Effendi in den letzten Jahrzehnten systematisch entfaltet habe. Über die in schlichter Feierlichkeit am 21. April vollzogene Wahl des ersten Universalen Hauses der Gerechtigkeit berichtete Charles Wolcott; anschließend wurde die erste Erklärung des Hauses verlesen, die die Freude über die Erfüllung der althergebrachten Verheißungen und über die Vollendung des ersten Abschnitts des Göttlichen Plans, ferner den Dank für die aufopfernde Tätigkeit Shoghi Effendis und der Hände der Sache Gottes und die Aufforderung an alle Bahá’í, nicht nachzulassen in ihren Lehrbemühungen, zum Ausdruck brachte.
Großen Widerhall, auch in der Presse, fand die öffentliche Kundgebung am Dienstagabend, 30. April, mit zwei eindrucksvollen Ansprachen, die unter dem Leitwort „Welteinheit in Sicherheit“ standen. Philip Hainsworth führte aus, daß ein neuer Abschnitt in der Menschheitsgeschichte erreicht sei, der den Niedergang alter Institutionen wirtschaftlicher, politischer und religiöser Art bedeute, weil man keinen neuen Wein in alte Schläuche füllen könne, „Die Bahá’í behaupten nicht, sie seien gekommen, die Einheit zu errichten. Sie sagen, daß die Einheit der Menschheit bereits besteht, aus dem einfachen Grund, weil alle Menschen von einem Gott erschaffen sind ... Das Echo, das wir unter Eskimos, Dyaks, Afrikanern und vielen anderen Völkern finden, zeigt, daß wir, wenn wir über Weltordnung, Welteinheit und Weltregierung sprechen, von keiner Utopie reden, sondern von Tatsachen, die bereits in ihrer geistigen Wirklichkeit bestehen. Es gibt heute eine Weltgemeinschaft Bahá’u’lláhs, eine Grundlage des Reiches Gottes, die bereits auf dieser Erde errichtet ist“.
William Sears definierte den Bahá’í-Glauben als „keine Philosophie, keine Weltanschauung, keine ethische Gemeinschaft, keine Sekte, auch kein Ableger irgend einer anderen Religion. Er ist eine Religion Gottes, die ihre Wurzeln tief in demselben Boden hat, aus dem auch die Religionen Jesu, Muhammads und der anderen Propheten entsprungen sind“. Wir
- (Fortsetzung Seite 322)
- Nur einen kleinen Eindruck von der Vielfalt der Londoner Jubiläumstage kann dieser
- Querschnitt mit der Kamera bieten. Fotos: Schubert, Monitor Press
[Seite 322]
lebten heute in einem „Zeitalter der nuklearen Riesen und der ethischen
Zwerge“. In einer Welt, die Gott den Rücken zugekehrt habe, sei Bahá’u’lláh
die einzige Kraft, die völlige Einheit bringen und alle sozialen,
wirtschaftlichen, politischen und religiösen Krankheiten heilen könne.
(Zitate The Times, 1. 5. 1963.)
- Rûhíyyih Khánum bei ihrer Eröffnungsansprache. Daneben Borah Kavelin, USA.
Die beiden Sitzungen am Mittwoch, 1. Mai, standen unter dem Leitthema: „Die geistige Eroberung der Erde“. Eine Reihe von Bahá’í-Lehrern berichtete zunächst über die Erschließung neuer Gebiete und die Erfolge der Pionierarbeit, so insbesondere Enoch Olinga, der ausgedehnte, abenteuerliche Reisen durch Zentralafrika unternommen hatte, und Ruth Pringle aus Panama, wo unter großen, auch geographisch bedingten Schwierigkeiten in kurzer Zeit rund 2500 Ureinwohner zu neuen Gläubigen gewonnen worden waren. Die begeisternden Berichte von Shirin Bowman aus Indien, wo sich in zwei Jahren die Zahl der Bahá’í auf 90 000 verhundertfachte, von Jamshed Fozdar und Rahmatu’lláh Muhájir aus Südostasien und von Alvin Blum aus den weiten Gebieten des Pazifik leiteten über zum Thema der Massengewinnung für den Glauben, der besonders bei den Völkern der Entwicklungsländer auf fruchtbaren Boden fällt. Zu Herzen gingen auch die Ansprachen der Vertreter neugewonnener Rassen und Völkerschaften, die fast alle zum erstenmal in eine westliche Großstadt gekommen waren und sich trotz aller Sprachschwierigkeiten in dieser völkervereinenden Gemeinschaft ohne Minderwertigkeitsgefühle als Gleiche unter Gleichen fühlten.
„Unsere geheiligte Verpflichtung, unser ruhmreicher Auftrag“ lautete das Thema des Donnerstagvormittags mit Referaten von Anneliese Bopp, Hushmand Fatheazam, Peter Khan und John Robarts, in denen, sozusagen von der Theorie her, Folgerungen aus den Berichten des Vortages gezogen wurden. Wie wenig die scheinbar erfolglose Lehrtätigkeit, vor allem in den saturierten Ländern Europas, verlorene Mühe ist, führte am Nachmittag Abú’l-Qásim Faizí vor Augen, der aus der Bahá’í-Geschichte erzählte, wie vor neunzig Jahren Bahá’u’lláh Reiselehrer nach Indien entsandte, die trotz aufopfernder, jahrelanger Bemühungen keine nennenswerten Erfolge herbeiführten; erst Generationen später sei jetzt diese Saat aufgegangen.
Einen erhabenen Abschluß fand die Konferenz durch die Ansprache von
‘Amatul’-Bahá Rúhíyyih Khánum über „Shoghi Effendi, das Zeichen Gottes“,
in der sie aus den langen Jahren ihres Lebens an der Seite des Hüters
erzählte. Der zielbewußte Weitblick Shoghi Effendis, sein umfassendes,
begnadetes Wissen um das Wesen religiöser Wahrheit und um den Heilsplan
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Gottes für die Menschheit, seine Fähigkeit, die edelsten Eigenschaften der
Menschen, die ihm begegneten, zur Entfaltung zu führen, seine unermüdliche,
hingebungsvolle Arbeit für die Entwicklung der Bahá’í-Weltgemeinschaft und
die Gestaltung ihres Weltzentrums, sein Sinn für Wirtschaftlichkeit und
seine persönliche Anspruchslosigkeit — dies alles kam in dem lebendigen
Vortrag unvergeßlich zur Geltung und vertiefte die innige Verbundenheit
mit dem geliebten Hüter und seinem Werk, die jeder Kongreßteilnehmer
nicht zuletzt durch den Besuch am Grabe Shoghi Effendis zuvor gewonnen
hatte. Mit einer Andachtsstunde ging hernach der Kongreß zu Ende.
Obwohl die Sitzungen nichtöffentlich waren, nahmen die Londoner Zeitungen wie auch die Auslandskorrespondenten führender Blätter und Agenturen aus allen Teilen der Welt regen Anteil am Ablauf der Tagung. Das englische Fernsehen brachte eine längere Sendung und BBC übertrug dreimal ein Hörfunk-Interview von zwölf Minuten in seinem deutschen Programm. Auch die hervorragende Organisation des Kongresses und der Verkauf von Bahá’í-Literatur in den wichtigsten Verkehrssprachen sollten nicht unerwähnt bleiben, vor allem aber die unermüdliche Tätigkeit der Dolmetscher, die die fast ausschließlich in Englisch gehaltenen Ansprachen simultan ins Französische, Spanische, Deutsche und Persische übersetzten und damit zahlreichen Teilnehmern die unvergänglichen Eindrücke bewahren halfen.
- Peter Mühlschlegel
Jubeltage in London
Noch sind wir zu erfüllt von den Ereignissen, noch zu nah dem beglückenden Geschehnis, um das, was Herz und Geist empfangen haben, mit dem nüchternen Verstand analysieren zu können. Wer wollte es auch! Noch trägt uns die von Gott geschriebene, von den himmlischen Heerscharen niedergetragene, von Bahá’u’lláh dirigierte Symphonie zu solchen Höhen hinauf, daß es — vermöchte er es auch — niemandem einfallen könnte, die himmlische, auf unsre Menschenwelt transponierte Harmonie aufzulösen in Fugen, Tonarten und Generalbaß, in die einzelnen Instrumente und die Schlüssel, nach denen sie spielten. Und wie die Spieler an ihren Pulten sitzen, kaum noch bewußt des eignen Ichs und eignen Schicksals, ganz hingegeben dem, was sie mit ihrer Liebe zur Sache und mit dem ganzen Einsatz der Kraft ihrer Seele und ihres Vermögens für die Harmonien herzugeben haben, entströmte sechstausend inspirierten, glücklichen Gläubigen die Musik, welche die Offenbarung in ihnen geweckt hatte.
Sechstausend Gläubige zogen nach London. Sie kamen mit aller Freude
ihres Herzens. Sie strahlten diese wunderbaren Kräfte aus, während die
Kräfte des weitoffenen Himmels sich herabsenkten auf die Versammlung
im Geiste Bahá’u’lláhs, sich mit denen der Menschen mischten, bis sich
in dieser gesegneten Umarmung von Himmel und Erde die Geburt einer
neuen Welt vollzog. Und diese ist es, die wir mit uns nehmen durften.
Wir haben sie wie einen unantastbaren Schrein in uns eingeschlossen.
Wir fühlen mit jedem Tage, wie die darin bewahrte Kraft uns durchglüht,
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belebt und erhebt. Wir wissen, daß wir dieses Mysterium in uns
zu hüten haben vor den Zugriffen der Welt, und wir wissen auch, daß
wir eines solchen Geschenkes nur dann würdig sein, nur dann unsren
Dank für das Empfangene abtragen können, wenn wir unsre Hingabe
steigern, unsre Liebe zur Sache Gottes mehren, jede Behinderung, Opfer
zu bringen, beiseite schieben und mit wachsender Begeisterung lehren.
Wen hat es nicht zutiefst berührt, als Frau und Kinder eines der marokkanischen Freunde, dieser wahren Märtyrer, die von einer grausamen, willkürlichen Justiz zum Tode verurteilt wurden, auf dem blumengeschmückten Podium erschienen, und nach einem Gebet der Frau auch ihr kleiner Junge mit kindlicher Stimme betete? Wer fühlte sich nicht ergriffen, als der bald neunzigjährige Maori aus dem Herzen Neuseelands langsam, auf den Stock gestützt, zum Pulte ging, mit zögernden Worten zu sprechen begann, auf Rúhíyyih Khánum als seine Mutter wies, erzählte, daß er der letzte seines Stammes sei, und wie er dann, die Arme erhebend zu einer umfangenden Bewegung, auf die atemlos lauschende Versammlung deutete und sagte: „Ihr alle... mein Stamm... meine Brüder...“ Konnte es einen bewegenderen Beweis der gottgewollten Menschheitseinheit geben als die Ridván-Feier, wie da eine Eskimo, eine Navajo-Indianerin, ein zierlicher, scheuer Eingeborener aus den Urwäldern Borneos, ein rotgewandeter Inka aus Bolivien, ein Bewohner von Samoa, eine Finnin, ein Deutscher und viele, viele andere in ihrer Muttersprache Gebete sagten, in der allen gleich verständlichen Sprache Gottes? Riß es nicht alle mit, als Hand der Sache Enoch Olinga von den Triumphen des geliebten Glaubens sprach, der den dunklen Erdteil als eine Welt des Lichts erscheinen läßt? Wer lauschte nicht gebannt, als die ehrwürdige Hand der Sache Samandari mit wahrem Feuer von seinen Begegnungen mit Bahá’u’lláh sprach, oder die Kunde verbreitet wurde, wie die Menschen aus dem von altem Aberglauben befreiten Indien hinströmten zur Quelle des „Wassers des Lebens“? Wer vermöchte von diesen und jenen Einzelheiten — diesen Variationen auf das eine große symphonische Thema — zu sagen, daß sie die Höhepunkte gewesen wären?
Es war schon atemraubend und überwältigend genug, wenn vor und nach den Ansprachen und Feiern Afrikaner in ihren fließenden Gewändern ihre weißen Brüder umarmten, Malayen den amerikanischen Freunden „Alláh-u-Abhá“ zuriefen. Menschen, die sich niemals zuvor gesehen hatten, sich strahlenden Auges küßten. Es gab nichts Fremdes, der Atem der Einheit hielt alle umfangen. Und hatte man sich tagsüber sattgetrunken vom Wasser der Gnade, fühlte man, daß man die Freude in die Nacht hinein fortspinnen mußte, und man ging durch die Straßen, saß in den Hotels. als ließe sich das entzündete Licht nicht durch die späte Stunde löschen.
Und war dies nicht doch der eigentliche Höhepunkt, als man erfahren
durfte, daß der vom unvergeßbaren, geliebten Hüter entworfene Zehnjahresplan
erfüllt worden war? Oder dies vielleicht, als bescheiden, verwirrt von
solcher Ehrung, die Pioniere der Sache Gottes, die Ritter
Bahá’u’lláhs zusammenrückten, um den Dank der gläubigen Welt zu
empfangen? War nicht alles überstrahlt von dem höchsten Triumphe
der im Heiligen Land vollzogenen Wahl und Einsetzung des Universalen
Hauses der Gerechtigkeit, ein Begebnis von kaum vorstellbarer Größe und
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Tragweite, die Verwirklichung der höchsten, von Gott gewollten, von
Bahá’u’lláh uns vermittelten Forderung? War die Wahl gerade dieser
neun Menschen nicht ein sichtbares Zeichen von Gottes Führung, neun
Menschen, herausgehoben wie Perlen aus dem Ozean der Gläubigen,
die — vom Ich befreit — zu der hohen Körperschaft zusammenschmelzen,
welche mit dem Gewand der Unfehlbarkeit bekleidet, der Welt von
morgen in die Jahrtausende hinaus Gesicht geben, Gerechtigkeit schenken und
unter der höchsten Führung die von heiligen Gesetzen ausgehobenen
Wege sichern wird, die zur Einheit der Menschheit als Sinnerfüllung der
menschlichen Existenz auf Erden führen? Steht es einem solchen
Höhepunkte nach, wenn Rúhíyyih Khánum vom geliebten Hüter, von ihrem
Leben mit Shoghi Effendi sprach?
Aber es mangelte nicht an stillen Minuten. Man durfte hinausziehen zu dem weitab gelegenen Friedhof und am blumenübersäten Grabe des Hüters stehen. Man durfte in Trauer und Dankbarkeit dessen gedenken und für ihn beten, der sein Leben als Opfer für das Wachsen des heiligen Baumes der Sache gegeben hat — ein unsterbliches Beispiel der Hingabe, das erhabene menschliche Gehäuse, in dem das Herz der Welt schlug und der Wille des Erhabenen sich umsetzte in Worte liebender und wegweisender Führung.
So ging man weg von dieser Stadt. Man hatte die Brüder aus aller Welt gesehen, hatte mit ihnen darum gebetet, daß der Allmächtige Seinen Geschöpfen ein erhöhtes Bewußtsein und die Kraft leihen möge, emsiger in Seinem Weinberg zu schaffen. Man hatte einatmen, sehen, spüren dürfen, was eine in Leidenschaften, Gehässigkeiten, Vorurteilen und im Dünkel erblindete Welt nur in lichtvollen Augenblicken als Traumbild
- Tarazu’lláh Samandari (am Rednerpult rechts) bei seiner Ansprache. Neben ihm übersetzt Marzeih Gail. Links sitzt Marion Hofmann, neben ihr Amos Gibson, die beide gleichfalls sprachen.
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aus der Seele steigen sieht: die ewige Hoffnung, die heilige Stadt, die
leuchtende Wirklichkeit des unzerstörbaren Bündnisses Gottes mit den
Menschen, die Welt, die — in Gestalt Bahá’u’lláhs — aus den Wolken
herabkam, um auf der Erde zum Hause Gottes zu werden, an dessen Bau
wir, die Wissenden und Gläubigen, mitwirken, Mörtel rühren, Steine
herantragen dürfen. Das ist der Ruf, der von London in die Welt
hinaustönt: Der Traum hat seine Hüllen abgeworfen! Die Wirklichkeit
Gottes auf Erden ist erstanden.
- Karl Schück
Bahá’u’lláh
Tablet Tajallíyát[Bearbeiten]
Er hört von Seinem erhabenen Horizont aus!
Ich bezeuge, daß es wahrlich keinen Gott gibt außer Ihm und daß Er, Der gekommen ist, das verborgene Mysterium ist, das verhüllte Geheimnis, das größte Buch für die Völker und der Himmel der Wohltat für die Welt: Er ist das mächtige Zeichen unter der Menschheit und der Aufgangsort der höchsten Eigenschaften in der Welt der Offenbarung. Durch Ihn erschien, was seit aller Ewigkeit verhüllt und den Menschen von Urteilskraft verborgen war. Wahrlich, Er ist es, Dessen Offenbarung in früheren und späteren Zeiten durch die göttlichen Bücher angekündigt wurde.
Wer Ihn, Seine Zeichen und Seine Beweise anerkennt, anerkennt damit, was der Mund des Höchsten vor Erschaffung des Himmels und der Erde und vor dem Erscheinen des Reiches der Namen äußerte. Durch Ihn wogte die See der Erkenntnis unter den Menschen, und der Strom der Weisheit floß aus der Gegenwart Gottes, des Königs der Tage. Gesegnet ist der Einsichtsvolle, der dies erkennt und bezeugt, der Hörende, der Seine liebliche Stimme hört, und die Hand, welche durch die Kraft ihres Herrn, des Königs dieser und der kommenden Welt, das Buch Gottes erfaßt. Gesegnet ist der Wanderer, der Seinem erhabenen Horizont zueilt, und der Starke, den weder der Einfluß der Fürsten noch das Geschrei der Religionslehrer zu schwächen vermögen. Aber wehe dem, der die Gnade Gottes und Seine Großmut, Seine Barmherzigkeit und Seine Macht bezweifelt! Wahrlich, er zählt zu denen, die die Beweise Gottes seit aller Ewigkeit verwarfen.
Glücklich ist, wer an diesem Tag beiseite wirft, was die Menschen besitzen, und sich fest an das hält, was von seiten Gottes, des Königs der Namen und Schöpfers aller Dinge, befohlen ward, das heißt von Ihm, Der herabkam vom Himmel unvordenklichen Seins mit dem Größten Namen und einer Macht, der die Scharen der Erde nicht zu widerstehen vermögen, wie es das „Mutterbuch“ auf der höchsten Stufe bezeugt.
O ‘Alí-Kablí-Akbar!1)) Wir hörten wiederholt deine Stimme und Wir
antworteten dir in einer Weise, der alle Worte der Welt nicht gleichkommen
und in der die Aufrichtigen den Wohlgeruch der Äußerung des Mildtätigen,
die Liebenden die Düfte der Vereinigung und die Dürstenden das
Murmeln des Kawthar 2) des Lebens erkennen. Gesegnet ist, wer dazu
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gelangt und die linden Düfte wahrnimmt, die jetzt aus der Feder Gottes,
des Beschützers, des Mächtigen, des Gabenreichen, strömen.
Wir bezeugen, daß du dich aufmachtest, daß du des Weges zogst, bis du hier eintrafst, um vor Uns zu erscheinen und auf die Stimme Dessen zu lauschen, Der unterdrückt und eingekerkert wurde auf Betreiben derer, die die Verse Gottes und Seine Befehle leugneten und diese Gnade, welche die Regionen der Welt erleuchtet, verwarfen.
Gesegnet ist dein Angesicht, denn es hat sich Uns zugewandt; gesegnet sind deine Ohren, denn sie haben gehört, und gesegnet ist deine Zunge, denn sie sprach das Lob Gottes, des Herrn der Herren. Wir bitten Gott, daß Er dich zu einem Banner des Beistands für Seine Sache mache und dich stets näher zu Sich ziehe. Wir gedenken der Freunde Gottes und Seiner Geliebten an diesem Orte, und Wir erfreuen sie durch das, was vom Reich des Wortes ihres Herrn, des Königs am Tage des Gerichts, für sie geoffenbart ward. Grüße sie von Mir und erleuchte sie mit dem Lichte der Sonne Meiner Äußerung! Wahrlich, dein Herr ist der Mächtige, der Gnädige.
- *
O du Verkünder Meines Lobes! Höre, was die Unterdrücker in Meinen Tagen sagen! Einige sagen: „Wahrlich, Er beansprucht Göttlichkeit“, andere: „Er hat Gott gelästert“, und wieder andere: „Er kam, um zu verführen“. Wehe ihnen! Sie sind zu beklagen; denn beten sie nicht Einbildungen an?
- —————
- Die oberste Pflicht, die Gott Seinen Dienern auferlegt, ist die Erkenntnis Dessen, Der der Tagesanbruch Seiner Offenbarung und der Quell Seiner Gesetze ist, Der die Gottheit im Reiche Seiner Sache und in der Welt der Schöpfung vertritt. Wer diese Pflicht erfüllt, hat alles Gute erreicht, und wer dessen beraubt ist, geht in die Irre, und hätte er auch noch so gerechte Taten vollbracht. Es ziemt jedem, der diese erhabenste Stufe, diesen Gipfel höchster Herrlichkeit erreicht, jedem Befehl Dessen zu folgen, Der die Sehnsucht der Welt ist, Diese beiden Verpflichtungen können nicht voneinander getrennt werden. Keine von ihnen ist ohne die andere annehmbar. So wurde es von Ihm, dem Quell göttlicher Eingebung, verordnet.
- (Ährenlese CLV.)
- —————
Nun wollen Wir aufhören, in der „beredten Sprache“ 3) zu schreiben. Wahrlich, dein Herr ist der Mächtige, der Unabhängige! Wir wollen in iranischer Sprache reden, damit vielleicht das gesamte Volk Persiens die Worte des Mildtätigen vernehme und sich aufmache, die Wahrheit zu finden.
DAS ERSTE TAJALLI,
welches von der Sonne der Wahrheit ausstrahlt, ist die Erkenntnis Gottes — erhaben ist Seine Herrlichkeit! Die Erkenntnis des Königs der Ewigkeit kann nur durch die Erkenntnis des Größten Namens erlangt werden. Er ist der Sprecher des Berges, welcher bestätigt und auf den Thron der Offenbarung gesetzt ist. Er ist der Verborgene, der Unsichtbare, das verhüllte Geheimnis.
Alle früheren und späteren Bücher Gottes sind mit Seiner Erwähnung geschmückt und verkünden Sein Lob. Durch Ihn wurde die Fahne der Erkenntnis in der Welt aufgepflanzt und das Banner der Einigkeit unter den Nationen gehißt. Die Begegnung mit Gott kann nur durch die Begegnung mit Ihm erlangt werden. Durch Ihn erschien alles, was seit Ewigkeit verborgen und unsichtbar war.
Er kam in Wahrheit und äußerte ein Wort, das „alle im Himmel und auf Erden niederschmetterte, mit Ausnahme derer, die Gott erwählte“. Der Glaube an Gott und Seine Erkenntnis können nur dadurch voll verwirklicht werden, daß der Mensch an alles glaubt, was von Ihm ausging, und das ausführt, was Er befohlen hat und was durch die erhabene Feder im Buch geoffenbart ist. Die in die See der göttlichen Äußerungen untergetaucht sind, müssen die Gebote und Verbote Gottes allezeit beachten. Seine Gebote sind die sicherste Feste für den Schutz der Welt und die Erhaltung der Menschheit. Licht ist auf denen, die diese Gebote bekennen und anerkennen, und Finsternis umgibt jene, welche sie verwerfen und sich ihnen widersetzen.
DAS ZWEITE TAJALLI
ist Standhaftigkeit in der Sache Gottes und in Seiner Liebe — erhaben ist Sein Ruhm! Diese Standhaftigkeit kann nur erlangt werden durch die Erkenntnis Gottes; und eine volle Erkenntnis Gottes kann man nur erlangen, wenn man sich zu dem gesegneten Wort „Gott tut, was Er will“ bekennt. Wer sich an dieses erhabene Wort hält und von dem Kawthar göttlicher Äußerung trinkt, der in diesem Worte ruht, wird sich so standhaft finden, daß alle Bücher der Welt nicht imstande sind, ihn von dem „Mutterbuch“ fernzuhalten. O, wie groß ist diese hohe Stufe, diese erhabene Stellung, dieses letzte Ziel!
O ‘Alí-Kabli-Akbar! Bedenke, wie niedrig dagegen die Stufe der Verleugner
ist! Sie sprechen alle die gesegneten Worte nach: „Wahrlich, Er ist
lobenswert in Seinen Taten, und Seine Gebote sind zu befolgen“ 4).
Sobald aber etwas erscheint, das auch nur im geringsten ihren Lüsten und
Begierden entgegensteht, so verwerfen sie es. Sprich: Niemand ist über Sinn
und Ziel der vollendeten Weisheit Gottes unterrichtet! Fürwahr, wenn Er
erklärte, die Erde sei der Himmel, hätte niemand das Recht, Ihm zu
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widersprechen. Dies ist, was der Punkt des Bayán (der Báb) bezeugte in allem,
was Ihm von Gott, dem Spalter der Himmel, geoffenbart wurde.
DAS DRITTE TAJALLI
bezieht sich auf Wissenschaften, Gewerbe und Künste. Wissen ist gleichsam ein Flügelpaar des Seins, eine Leiter des Aufstiegs. Sich Wissen anzueignen, ist allen zur Pflicht gemacht. Es sollen dies aber solche Wissenschaften sein, die dem Volk der Erde nützen, nicht solche, die nur mit Worten beginnen und mit Worten endigen. Die Wissenschaftler und Künstler haben ein großes Vorrecht unter den Menschen. Dies bezeugt der Ursprung göttlicher Äußerung am Tage der Wiederkehr. Freude sei denen, die hören!
In der Tat, der wirkliche Schatz des Menschen ist sein Wissen. Wissen ist der Weg zu Ehre, Wohlstand, Freude, Frohsinn, Glück und Jubel. Also spricht die Zunge der Erhabenheit in diesem Größten Gefängnis.
DAS VIERTE TAJALLI
bezieht sich auf die Erklärung von Göttlichkeit, Herrschaft und ähnlichen Begriffen. Wäre jemand mit geistiger Schau ausgestattet, um solcherweise auf diesen offenbaren, gesegneten Baum und seine Früchte zu blicken, er würde wahrlich von allem außer Ihm unabhängig werden und anerkennen, was der Sprecher des Berges auf dem Throne der Offenbarung äußerte.
O ‘Alí-Kabli-Akbar! Sprich zu den Menschen über die Zeichen deines
Herrn, und mache sie bekannt mit Seinem rechten Pfad und Seiner großen
Botschaft. Sprich: O Diener! Wenn ihr das Volk der Gerechtigkeit und
Unparteilichkeit seid, dann werdet ihr alles anerkennen, was aus der
erhabenen Feder floß. Wenn ihr zum Volk des Bayán gehört, wird euch der
persische Bayán führen und euch befriedigen; und wenn ihr zum Volk des
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Qur’án zählt, dann denket nach über den „Glanz“ und die „Stimme“, welche
für den Sohn Imrams (Moses) in dem Busch am Sinai geoffenbart wurde.
Preis sei Gott! Man hat immer geglaubt, daß die Erkenntnis des Volkes durch die Offenbarung Gottes5) reif und vollkommen geworden sei. Jetzt hat es sich gezeigt, daß die Erkenntnis unter den Verleugnern verkümmerte und unreif blieb.
O ‘Alí! Sie weigern sich, vom Baum des Seins anzunehmen, was sie von dem Busch des Sinai annahmen. Sprich: O Volk des Bayán! Sprich nicht aus Selbstsucht und voll von Begierden! Die meisten Völker auf Erden bekennen sich zu dem gesegneten Wort, das von dem Baume ausging. Beim Leben Gottes, hätte es sich nicht um den Ausspruch gehandelt, den der Vorläufer (der Báb) über die „Göttlichkeit“ 6) getan hat, so hätte Ich Unterdrückter niemals über etwas gesprochen, was jetzt die Unwissenden in Wirrnis und Verderben führt.
Am Anfang des Bayán sagte der Báb in Seiner Beschreibung „Dessen, Den Gott offenbaren wird“: „Wahrlich, Er ist Der, Der auf allen Stufen ausrufen wird: ‚Wahrlich, Ich bin Gott. Es gibt keinen Gott außer Mir, dem Herrn aller Dinge, und alles außer Mir wurde durch Mich erschaffen! O Meine Geschöpfe, ihr sollt Mich anbeten!‘“ An einer anderen Stelle spricht Er über „Den, Den Gott offenbaren wird“: „Wahrlich, Ich (der Báb) bin der erste derer, die Ihn anbeten“.
Nun, der Mensch muß über den „Anbetenden“ (den Báb) und über den „Angebeteten“ (Bahá’u’lláh) nachdenken. Vielleicht gelangt das Volk der Welt dadurch zu einem Tropfen aus dem Meer der Erkenntnis und begreift die Stufe dieser Offenbarung. Wahrlich, Er erschien und sprach die Wahrheit. Gesegnet ist, wer Ihn anerkennt und bekennt; und wehe jedem Verleugner, der fernab steht!
O Ihr Scharen der Erde! Hört auf die Stimme des Sadrat7), dessen Schatten die höchsten Rangstufen der Welt umfangen hat. Gehört nicht zu den Tyrannen auf Erden, die die Offenbarung Gottes und ihre Macht leugneten und Seine Gaben verwarfen. Zählen diese nicht zu den Verachtungswürdigen im Buche Gottes, des Herrn der Geschöpfe?
Die Herrlichkeit, welche vom Himmel Meiner Vorsehung leuchtet, ruhe auf dir und jedem, der mit dir ist und um der Sache Gottes willen, des Mächtigen, des Preiswürdigen, auf deine Worte hört.
- —————
Ungekürzte deutsche Fassung aufgrund der englischen Übersetzung von ‘Alí Kuli Khán, Chicago 1917; vgl. „Bahá’í World Faith, Selected Writings of Bahá’u’lláh and ‘Abdu’l-Bahá“, Wilmette /Ill. 1943/1956, S. 186 ff.
Tajallíyát = (arab.) Glanz, Strahlenglanz; Einzahl: tajallí.
- 1) Alí-Kabli-Akbar ist Hajf Mulla ‘Alí Akbar von Sháh-mirzad in Persien, der den Bahá’í unter dem Titel Hájí Akund bekannt ist. Er lebte in Tihrán und war einer der alten Gläubigen, ein großer Lehrer, der durch langes Leiden, wiederholte Einkerkerung und vor allem durch seine profunde Erkenntnis der Sache Bahá’u’lláhs große Dienste erwies.
- 2) Kawthar = „Fülle, Überfluß“. Im Islám Name eines Flusses oder Sees im Paradies; vgl. Qur’an 108.
- 3) Bis hierher wurde das Tablet in arabischer Sprache geoffenbart; vom nächsten Abschnitt an ist es in Persisch geschrieben.
- 4) Dies sind die Worte des Báb in bezug auf „Den, Welchen Gott offenbaren werde“. Unter „Verleugnern“ sind hier die Anhänger Mírzá Yahyás, der sich Subh-i-Azal nannte, zu verstehen.
- 5) In diesem Fall ist die Offenbarung des Báb gemeint.
- 6) An dieser Stelle soll gesagt sein, daß Bahá’u’lláhs Erklärung, „göttlich“ zu sein, die Erfüllung dessen ist, was der Báb in bezug auf Ihn prophezeit hatte.
- 7) Sadrat, Sadratu’l-Muntahá = Baum, den die Araber früher an das Ende der Wege als Markierung pflanzten. Symbolisch der „göttliche Lotosbaum, über den hinaus niemand gehen kann“, d. h. der Offenbarer Gottes. vgl. Qur’án 53 :16 und „Gott geht vorüber“, S. 105.
Gedächtnis-Ausstellung: ‘Abdu’l-Bahá in Europa[Bearbeiten]
Aus Anlaß der 50. Wiederkehr jener Tage, da ‘Abdu’l-Bahá während seiner ausgedehnten und historischen Lehrreisen in den Westen im Jahr 1913 in Europa weilte, hatten die deutschen Bahá’í-Gemeinden im April dieses Jahres zu Gedenk-Veranstaltungen eingeladen. Die größte dieser Art fand am 7. April in Stuttgart statt; ‘Abdu’l-Bahá hatte Stuttgart im Jahr 1913 zweimal besucht (vgl. „Bahá’í-Briefe“ Nr. 12). In einer sehr gut besuchten Feier im Stuttgarter Gustav-Siegle-Haus sprach Dr. Eugen Schmidt über das Thema: „Befriedung der Erde durch die Liebe
- Fortsetzung auf Seite 332
330
- Dr. Eugen Schmidt während seiner Ansprache im Stuttgarter Gustav-Siegle-Haus. Der Saal konnte die Zuhörer nicht alle aufnehmen.
- Blick in einen Teil der Gedächtnis-Ausstellung. Besonderer Anziehungspunkt war überall das Modell des Tempels bei Langenhain.
- Immer wieder durften die Bahá’í Auskünfte erteilen. 3 Fotos: Schubert
- Fortsetzung von Seite 330
Gottes“. Dr. Parviz Mehrain entwarf vor den Zuhörern ein Bild über „‘Abdu’l-Bahá im Dienste der Menschheit“. Am gleichen Tage wurde in Stuttgart eine Ausstellung eröffnet unter dem Titel: „100 Jahre Bahá’í-Weltreligion — Vor 50 Jahren ‘Abdu’l-Bahá in Deutschland“. Sie vermittelte anhand von zahlreichen Fotos, von Dokumenten und anderem historischem Material einen Überblick über die Entwicklung und die stete Ausbreitung des Bahá’í-Glaubens seit dem Jahr 1863, und sie führte auch in die Tage zurück, da ‘Abdu’l-Bahá in Stuttgart und Eßlingen weilte. Die Ausstellung war eine Woche lang zu sehen; anschließend ging sie in verschiedene andere westdeutsche Städte. Allgemein fanden die öffentlichen Gedächtnis-Veranstaltungen in der Presse ein gutes Echo. Zahlreiche deutsche Zeitungen berichteten über die Jubiläumstage der Bahá’í, wobei fast durchweg auch auf den Weltkongreß in London eingegangen wurde.
Die „BAHA’I-BRIEFE“ werden vierteljährlich herausgegeben vom Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í in Deutschland e. V., 6 Frankfurt, Westendstraße 24. Alle namentlich gezeichneten Beiträge stellen nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers oder der Redaktion dar.
Redaktion: Dipl.-Volksw. Peter A. Mühlschlegel, 7022 Leinfelden, Jahnstraße 8, Telefon (07 11) 79 16 74, und Dieter Schubert, 7022 Leinfelden, Fliederweg 3, Telefon (07 11) 79 35 35.
Druck: Buchdruckerei Karl Scharr, 7 Stuttgart-Vaihingen, Scharrstraße 13.
Vertrieb: Ulrich Peter Rommel, 73 Eßlingen, Hindenburgstraße 161; Telefon (07 11) 35 91 08.
Preis: DM —.80 je Heft, einschließlich Versandkosten, im Abonnement DM 3.20 jährlich. Zahlungen erbeten an Bahá’í-Verlag GmbH., 6 Frankfurt, Westendstr. 24, Postscheckkonto Stuttgart 35 768, mit dem Vermerk „BAHA’I-BRIEFE“.
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