Bahai Briefe/Heft 12/Text

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Vor 50 Jahren ‘Abdu’l-Bahás Besuch in Deutschland

Mit dieser Zeit beginnt ein neuer Zyklus.
Alle Horizonte der Welt sind erleuchtet, und
die Erde wird in der Tat ein Garten und ein Paradies werden.
Die Stunde der Einigung der Menschenkinder, der
Vereinigung aller Rassen und Klassen ist angebrochen.
Die Gabe Gottes für dieses erleuchtete Zeitalter ist die
Erkenntnis der Einheit des Menschengeschlechts und
der grundsätzlichen Einheit der Religion.
Der Krieg wird aufhören und
durch den Willen Gottes
der höchste und größte Friede kommen:
Die Welt wird als eine neue Welt erscheinen und
alle Menschen werden leben wie Brüder.
‘Abdu’l-Bahá


Bahá’í-Briefe

Heft 12

April 1963


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Freuet euch, freuet euch über die Frohen Botschaften! Ihr seid zum Licht des Königreichs gelangt! Die Herrlichkeit der Sonne der Wahrheit leuchtet überall. Ihre Strahlen verbreiten sich über die ganze Erde.
Freuet euch, freuet euch! Der Ruf Gottes ist erschallt! Die Stimme des Königreichs ist in die lauschenden Ohren des Volkes gedrungen|
Freuet euch, freuet euch! Frohe Botschaften, frohe Botschaften sende Ich euch. Die Pforten des Königreichs sind geöffnet. Das himmlische Manna ist herabgekommen.
Freuet euch, freuet euch! Es wurden viele himmlische Botschafter in die Welt gesandt, sie kamen einer nach dem andern, alle gaben den Hauch des Heiligen Geistes.
Preis sei Gott! Preis sei Gott! daß ihr eure Gesichter dem Königreich zugewandt habt. Die Strahlen der Sonne der Wahrheit erleuchten euch.
Strebet mit Herz und Seele danach, daß das göttliche Licht über alle Menschen ausgegossen wird, damit dadurch jedes Herz erleuchtet werde und die Geister der menschlichen Rasse an Seinem herrlichen Glanz teilnehmen.
Arbeitet und mühet euch, bis alle Regionen der Welt in diesem Licht erstrahlen.
Fürchtet euch nicht, wenn gewisse Trübsale über euch kommen. Ihr werdet kritisiert werden, ihr werdet verfolgt werden, ihr werdet verflucht und geschmäht werden. Erinnert euch in jenen Tagen, was Ich euch sage: Euer Triumph wird euch gewiß sein! Eure Herzen werden gefüllt sein mit der Freude der heiligen Erleuchtung, denn die himmlischen Kräfte werden euch aufrecht erhalten, und die göttliche Macht wird mit euch sein.
Dies ist Meine Botschaft an euch.
'Abdu’l-Bahá


{Botschaft an die Bahá’í in Stuttgart vom 3. Dezember 1911)


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Der Mittelpunkt des Bündnisses[Bearbeiten]

Wie ein roter Faden zieht sich durch die Religionsgeschichte der Bündnisgedanke: die Idee, daß Gott durch Seine Offenbarer einen Bund mit den Menschen schließt, um ihnen dadurch Seinen Schutz und Trost, Seine Erkenntnis, Führung, Erziehung und Erlösung zuteil werden zu lassen. Dagegen fordert Er im Rahmen dieses Bündnisses von den Menschen Gehorsam gegen die Gebote, die Er ihnen durch Seine Gesandten übermittelt hat.

Dies sind in wenigen Worten die Grundzüge der tiefsten und bedeutungsschwersten Erscheinung des religiösen Lebens.

In den verschiedenen Offenbarungen, die uns Heutigen bekannt sind, tritt diese Erscheinung mit wechselnder Deutlichkeit zutage — am stärksten bei den Zentralgestalten der von Muhammad so genannten „Buchreligionen“ Judentum, Christentum und Islam. Hier verfolgen wir auch, wenn wir uns zu einer vorurteilslosen Betrachtung durchgerungen haben, die dem Bündnisgedanken innewohnende Dynamik und Kontinuität: Jede der Manifestationen Gottes baute mit an dem „Größeren Bündnis“, dem göttlichen Erziehungs- und Heilsplan für die Menschheit, und schloß mit Ihren Anhängern ein besonderes Bündnis hinsichtlich des Gottgesandten, Der als Nächster kommen werde, wie auch im Hinblick auf die Zeit des Endes, den Abschluß dieses Offenbarungszyklus, der jetzt in unseren Tagen Wirklichkeit geworden ist. Drittens schloß jeder Gesandte Gottes ein „kleineres Bündnis“ über den Schutz und die Leitung der Gottessache in Seinem eigenen Zeitalter.

Im Qur’án und in der Genesis finden wir viele Berichte darüber, wie die Boten Gottes zu den Menschen dieser oder jener Stadt oder Landschaft kamen, keine Beachtung fanden und von Gott mit schlimmen Heimsuchungen gerächt wurden. Die Menschen waren nicht auf den ihnen angetragenen Bund mit Gott eingegangen. Das Volk Israel dagegen entwickelte eine der führenden Kulturen der Frühzeit, so lange es sich ganz der Führung Gottes und Seinen Geboten unterstellte. Als es sich später gegen dieses Bündnis verging, schwanden Macht, Einfluß und Wohlstand rasch dahin1).

Bei der ausgeprägten Gesetzesreligion, die Moses offenbarte, lag das Schwergewicht der Autorität so sehr auf dem Wort, den Moses von Gott im Sinai übermittelten Gesetzestafeln und der Niederschrift der alten Überlieferungen vom Leben und Wirken der Erzväter, daß eine langfristige Regelung der Nachfolge des Propheten nicht vonnöten schien. Auf Moses und Josua folgten zunächst Richter als Führer des Volkes; wenn wir nach unseren heutigen Begriffen urteilen dürfen, können wir sagen, daß das Gesetz so klar und umfassend war, daß es eigentlich nur der auslegenden Anwendung auf die jeweilige Lebenssituation bedurfte. Erst Jahrhunderte später kamen Könige ans Ruder: Saul, David, Salomo. Unmittelbar nach dieser Blütezeit setzte auch schon der Verfall ein.

Anders war es bei Jesus Christus. Die kurze Zeit Seines irdischen Wirkens, die fast völlig ausbleibende Resonanz Seiner Lehren in den gebildeten [Seite 287]




‘Abdu’l-Bahá



[Seite 288] Schichten des Volkes, das Fehlen schriftlicher Aufzeichnungen, die enge Verknüpfung der neuen Botschaft mit Seinem eigenen beispielhaften Leben erforderten eine persönliche Nachfolge. So fiel das Wort von Petrus, dem Felsen, auf den Er Seine Gemeinde bauen wollte, und der Auftrag, unter allen Völkern zu lehren, erging an die Apostel. Die gesetzgeberische Funktion des Gottgesandten trat in den Hintergrund vor der Gnadenfülle von Liebe und Erlösung, die aus Seiner Offenbarung strömte. Die Gemeinschaft der Gläubigen entwickelte sich als Kirche zu einer von der politischen Gewalt losgelösten Macht, einem Staat im Staate, was nach der Spaltung des römischen Weltreichs und der Ablehnung Muhammads, des verheißenen Parakleten („Herbeigerufener, Fürsprecher“), zu der verhängnisvollen Kluft zwischen Kirche und Staat führte, die die ganze abendländische Geschichte hindurch nie dauerhaft geschlossen werden konnte.

Muhammad seinerseits war wie Moses nicht nur Prophet, sondern zugleich Herrscher, nachdem Er von Mekka nach Medina ausgewandert war. Und wie das Judentum ist der Islam in erster Linie eine Gesetzesreligion. Das im Qur’án niedergeschriebene Wort Gottes ist die Grundlage des Staatslebens. Über die Nachfolge des Propheten finden sich keine geoffenbarten Äußerungen. Bei mehreren Gelegenheiten hatte Muhammad Seinen Vetter und Schwiegersohn ‘Ali vor den versammelten Gläubigen zu Seinem Nachfolger ernannt. Auf dem Sterbebett verlangte der Prophet nach Schreibzeug, um Seinen letzten Willen niederzulegen, aber ‘Umar, der spätere zweite Kalif, widersetzte sich: „Wir haben ja Gottes Buch; das ist genug“, sagte er und brachte damit sicherlich die Ansicht eines großen Teils der Gläubigen zum Ausdruck. Tatsächlich umschlossen das im Qur’án geoffenbarte Wort Gottes und die zunächst in der Erinnerung der Gefährten festgehaltenen, später aufgezeichneten Äußerungen und Entscheidungen des Propheten alle nur denkbaren Lebensprobleme der damaligen Zeit. Auch hatte das Prinzip der Beratung große Bedeutung in der Urgemeinde des Islam. So konnte der oberflächliche Eindruck entstehen, daß die Führung der Gemeinschaft am besten durch einen Kalifen, einen „Nachfolger“ wahrgenommen würde, dem durch Zuruf das Vertrauen aller Gläubigen bekundet wird. Auf diese Weise kamen Abû Bakr und ‘Umar als die beiden ersten Kalifen an die Macht.

Aber dies war nicht, was Muhammad erklärtermaßen wollte und was in gewissen Prophezeiungen des Alten Testaments schon angedeutet war. Wenn er ‘Alí zu Seinem Nachfolger bestimmte — Er selbst hatte keinen eigenen Sohn — dachte Er an das, was später als Imámat oder Viláyat (Hütertum) gekennzeichnet wurde, nämlich, daß die Glaubensgemeinschaft durch ein würdiges geistiges Oberhaupt geleitet wird, für dessen göttliche Inspiration die direkte Abstammung vom Propheten Selbst Gewähr bietet. Diesem Imám sollte insbesondere die Aufgabe der Auslegung der heiligen Schriften, der letzten Entscheidung in allen Glaubensfragen von allgemeiner Tragweite vorbehalten bleiben.

In Wirklichkeit kam ‘Alí, der sich bewußt zurückhielt, um die Einheit des Islam nicht zu stören, erst als vierter Kalif an die Macht, nachdem sich ‘Uthmán, sein Vorgänger, als unfähig erwiesen hatte und von der verärgerten Volksmenge umgebracht worden war. Aber gerade unter ‘Uthmán, [Seite 289] der alle öffentlichen Ämter mit seinen Verwandten und Freunden besetzte, hatten sich die Gegenkräfte fest eingenistet, unter der Führung der ‘Umayyaden, der herrschenden Sippe in Mekka, die einst Muhammad so bitter verfolgt und bekriegt hatte, bis sie von Ihm überwunden und durch Seine gütige Verzeihung für den neuen Glauben gewonnen worden war. ‘Alí wurde, nachdem er anfänglich siegreich gegen die Aufrührer gekämpft hatte, 661 ermordet. Daraufhin etablierte sich der ‘Umayyade Mu’áviyyih als Kalif, verlegte die Hauptstadt von Medina nach Damaskus und sorgte dafür, daß sich die Herrschaft unter seinen unwürdigen Nachkommen fortvererbte. 2)

So wurde der Islam gespalten. Die Shí‘ah, die „Partei“ ‘Alís, verehrte die Imáme als göttlich bestimmte, göttlich geführte, makellose geistige Führer der Gemeinschaft. Aber nur im persischen Raum konnte die Shí‘ah bestehen, auf dem Boden eines jahrtausendealten Kultur- und Geschichtsbewußtseins; hier entfalteten sich in der Folge auch Philosophie und Dichtung



Seine Heiligkeit Abraham — Friede sei auf Ihm — errichtete einen Bund hinsichtlich Seiner Heiligkeit Mose und gab die frohe Botschaft Seines Kommens. Seine Heiligkeit Moses errichtete ein Bündnis hinsichtlich des Verheißenen, d. i. Seiner Heiligkeit Christi, und verkündete der Welt die gute Kunde Seiner Offenbarung. Seine Heiligkeit Christus errichtete ein Bündnis hinsichtlich des „Trösters“ (des Parakleten) und gab die Botschaft Seines Kommens. Seine Heiligkeit der Prophet Muhammad errichtete ein Bündnis hinsichtlich Seiner Heiligkeit des Báb, und der Báb war der von Muhammad Verheißene; denn Muhammad gab die Botschaft Seines Kommens. Der Báb errichtete ein Bündnis hinsichtlich der Gesegneten Schönheit Bahá’u’lláh und verkündete die frohe Botschaft Seines Kommens; denn die Gesegnete Schönheit war Der, Den Seine Heiligkeit der Báb verheißen hatte, Bahá’u’lláh errichtete ein Bündnis hinsichtlich des Verheißenen, Der in tausend oder Tausenden von Jahren offenbar werden wird. Und gleicherweise errichtete Er mit Seiner Höchsten Feder ein großes Bündnis und Testament mit allen Bahá’í, durch das ihnen allen anbefohlen wurde, nach Seinem Hinscheiden dem Mittelpunkt des Bündnisses zu folgen und nicht um Haaresbreite vom Gehorsam, den sie Ihm erzeigen sollten, abzuweichen.


‘Abdu’l-Bahá
(„Bahá’í World Faith“, p. 358)


[Seite 290] zu höchster Blüte. Alle zwölf Imáme wurden ermordet, vielleicht mit Ausnahme des letzten, der als Kind 260 nach der Hijra starb. Ihm folgten 69 Jahre lang vier „Tore“, die als seine Mittelsmänner anerkannt wurden. Dann herrschte Stille im schiitischen Islam bis zum Auftreten des Báb 1260 n. d. H., 1844 n. Chr.

*

Dieser kurz Rückblick in die Religionsgeschichte ist unerläßlich, wenn wir die Stufe und die Bedeutung ‘Abdu’l-Bahás als des „Mittelpunktes des Bündnisses“ ermessen wollen. Es geht nicht nur um die Kontinuität der göttlichen Offenbarungshandlungen in der uns bekannten Menschheitsgeschichte, es geht hier um die Grundlagen dessen, was einmal von der breitesten Weltöffentlichkeit als die Ansatzpunkte des jahrtausendelang verheißenen „Reiches Gottes auf Erden“ erkannt werden muß. Insbesondere aber kommt es uns auf die Erkenntnisse an, die wir aus der bisherigen Weltgeschichte und insbesondere der Frühgeschichte des Islam sowohl wie der Bahá’í-Offenbarung ableiten müssen: Wenn wir von der — in zunehmendem Maße auch von Wissenschaftlern und Geschichtsphilosophen bestätigten — These ausgehen, daß das religiöse Offenbarungsgeschehen der Weltgeschichte die entscheidenden Impulse verleiht, kommen wir zu dem Schluß, daß dabei vor allem die Wirksamkeit der Persönlichkeiten ins Gewicht fällt, die dem Offenbarer am nächsten stehen. Ein Paulus konnte dem Christentum eine Richtung geben, die zu der jüdischen Tradition im Gegensatz stand und das Moment der Erlösung durch das Opfer Christi in den Vordergrund stellte. Das Unverständnis der meisten Gefährten Muhammads für die Stufe des Imám als des geistigen Trägers Seines Gottesbündnisses hat die Geschichte des Islam und damit die der ganzen Neuzeit aufs schwerste belastet. Wir entnehmen daraus auch für unsere ureigene Tätigkeit, daß die Verantwortung des gläubigen Menschen umso größer ist, je näher er dem Wirken einer Gottesoffenbarung steht. Wir können den Vergleich zur Biologie wagen: Es sind die ersten Zellen und die in ihnen schlummernden Kräfte, die die spätere Entwicklung eines Organismus entscheidend vorausbestimmen.

*

Der Báb hatte vorausgesagt, daß „Der, Den Gott offenbaren wird“, Sich binnen kurzem erklärte. Entsprechend hatte Er auch vor Seinem Märtyrertod keinen Nachfolger eingesetzt, sondern nur einen vorübergehenden Sachwalter, Mírzá Yahyá, einen Halbbruder Bahá’u’lláhs. Als Sich nun Bahá’u’lláh 1863 in Baghdád öffentlich als der Verheißene aller Religionen, als die „Herrlichkeit Gottes“ erklärte, konnte es nicht ausbleiben, daß einige Bábi Seinen Anspruch ablehnten; sie scharten sich um Mírzá Yahyá, der sich in den folgenden Jahren in der schlimmsten Weise gegen Bahá’u’lláh verging und Ihm sogar nach dem Leben trachtete. Bahá’u’lláh und Seine Gefährten wurden nach ‘Akká verbannt, Mírzá Yahyá nach Zypern. Seine Anhängerschaft, die „Azalí“, verlief sich allmählich, nachdem ihr Anführer ein ruhmloses Ende genommen hatte.

Bahá’u’lláh Selbst errichtete vor Seinem Hinscheiden in Seinem „Buch des Bundes“ eine feste Brücke vom Göttlichen zu jedem einzelnen Gläubigen. Dabei ernannte Er ‘Abdu’l-Bahá zum „Mittelpunkt des Bundes“, [Seite 291] zum Haupt und Vorbild der Bahá’í, zum ermächtigten Ausleger Seiner Lehren, nachdem Er ‘Abdu’l-Bahá schon früher als „das Geheimnis Gottes“ und als „eine Zuflucht für die ganze Menschheit“ bezeichnet hatte.

Es ist ohne Vorgang in der Religionsgeschichte, daß einem Offenbarer Gottes ein mit allen Gaben göttlicher Inspiration begnadeter Sohn nachfolgt, Der völlig von dem Geist und den Lehren Seines Vaters durchdrungen ist, alle menschlichen Vollkommenheiten in so hohem Maße in Sich vereinigt und in Seiner Stellung nicht nur durch jahrzehntelange Dienste an der Sache Seines Vaters, sondern auch durch eine Reihe unzweideutiger Dokumente bestätigt wird. Und doch blieb es — gerade wegen dieser Einmaligkeit Seiner Stufe — nicht aus, daß ‘Abdu’l-Bahá zunächst von dem größten Teil Seiner eigenen Verwandtschaft und von einer nicht geringen Anzahl von Gläubigen abgelehnt und angefeindet wurde. Diese Bündnisbrecher scharten sich um den neidischen und eifersüchtigen Mírzá Muhammad-‘Alí, einen Halbbruder ‘Abdu’l-Bahás, der die Frechheit besaß, ‘Abdu’l-Bahá ins Gesicht zu schleudern, er fühle genau dieselben Fähigkeiten in sich wie ‘Umar, der die Nachfolge des Propheten Muhammad an sich gerissen hatte. Erst nach etwa vier Jahren konnte Sich ‘Abdu’l-Bahá gegen die Verleumdungen und Machenschaften dieser Bündnisbrecher durchsetzen, aber noch Jahre danach wurde die Entwicklung des Glaubens durch diese schwere Krise gehemmt.

Wenn wir heute auf das Lebenswerk ‘Abdu’l-Bahás zurückblicken, kann es für uns keinen Zweifel geben, daß dieses Leben eine einzige große selbstlose Aufgabenerfüllung im Dienste Bahá’u’lláhs war. Ob es sich nun um die eigentliche Lehrarbeit handelte — die Einführung des Glaubens in Amerika, seine Verbreitung in Europa und im Rahmen des „Göttlichen Planes“ von Amerika über die ganze übrige Welt — oder um die Beantwortung der ungezählten Fragen, die schriftlich und mündlich ohne Unterlaß an Ihn gestellt wurden, ob bei Seinen mehrjährigen Reisen in den Westen oder beim Aufbau der ersten Ansatzpunkte der Verwaltungsordnung des Glaubens — es gab kein Wort, keine Entscheidung, keine Handlung, die nicht direkt aus der Offenbarung Bahá’u’lláhs geschöpft worden wäre.

Man könnte sich die heutige Bahá’í-Gemeinschaft ohne das aufopfernde Wirken ‘Abdu’l-Bahás nicht vorstellen. Was den größten Einfluß auf die ganze Zukunft der Gottessache hat, sind insbesondere „Wille und Testament“ ‘Abdu’l-Bahás, worin die von Bahá’u’lláh geschaffenen Gemeinschaftseinrichtungen zu einem göttlich verordneten administrativen System gefügt werden, welches unvergleichlich mit bisherigen Gesellschaftssystemen, „die in jedem einzelnen von ihnen zu findenden wohltätigen Bestandteile verkörpert und vereinigt“.3) Zum Beispiel gelten die Grundsätze demokratischer Wahl auf der Basis eines im Geist der Gottesliebe geläuterten Wahlbewußtseins und emporgeführt bis zu einem „Parlament“ von weltweitem Wirkungsbereich, dem „Universalen Haus der Gerechtigkeit“, [Seite 292] das die erste religiöse Menschheitsvertretung sein wird, die nicht von Regierungen oder anderen nationalen Repräsentanten, sondern durch die Mitglieder nationaler Bahá’í-Institutionen als Abgeordnete ihrer Länder gewählt wird; andererseits auch der Grundsatz, daß die gewählten Ratsmitglieder nicht den Wählenden, sondern einzig Gott verantwortlich sind, daß also die Gewalt nicht vom „Volk“ ausgeht, sondern von Gott, Der Sich bei der Ermittlung der Träger Seiner Macht des Volkes bedient; schließlich die hohe Institution des Hütertums, in dem sich das monarchische Prinzip verkörpert: das Amt des bevollmächtigten Auslegers der heiligen Schriften und Gebote und des ständigen Vorsitzenden des Universalen Hauses der Gerechtigkeit. Diese und zahllose andere Grundsätze sind im Willen und Testament ‘Abdu’l-Bahás zu einem organischen Ganzen vereint, das sehr wohl den Anspruch erheben kann, das Modell und der Keim einer neuen Weltordnung zu sein.

Uns allen bleibt die Verpflichtung, im Geiste dieses Bündnisses zu wirken — nach dem Beispiel Shoghi Effendis, des ersten Hüters der Sache Gottes — um einer zerrütteten Welt den Weg zu ihrer Errettung zu zeigen, zur Erfüllung des göttlichen Befehls, die geistige Einheit der Menschheit zu verwirklichen.

Peter Mühlschlegel


1) vgl. ‘Abdu’l-Bahá, „Das Geheimnis göttlicher Kultur“, BAHA’I-BRIEFE Heft 6/Okt. 1961, S. 133 ff.
2) vgl, Marzieh Gail, „Der Islam. Eine Einführung in sechs Kapiteln“, 19-Tage-Brief

Nr. 5/115, 5.6.58, S. 9 ff.

3) Shoghi Effendi: „Die Sendung Bahá’u’lláhs“, S. 71.



‘Abdu’l-Bahás Reisen nach Europa und Amerika[Bearbeiten]

Die Einführung der Bahá’í-Religion in der westlichen Welt zu Beginn dieses Jahrhunderts ist, wie Shoghi Effendi, der erste Hüter der Bahá’í-Religion in seinem Buch „Gott geht vorüber“ schreibt, die wichtigste Errungenschaft, die für immer mit der Zeit des Wirkens ‘Abdu’l-Bahás verbunden bleiben wird. Zum erstenmal seit der Entstehung der Bahá’í-Religion hatte ihr Oberhaupt, so lesen wir bei Shoghi Effendi, die Ketten zerbrochen, die während der gesamten Wirkungszeit des Báb und Bahá’u’lláhs Ihre Freiheit so sehr in Fesseln gelegt hatten. Nach Seiner Befreiung im Jahr 1908 genoß ‘Abdu’l-Bahá eine Handlungsfreiheit, die Ihm, mit Ausnahme der Kriegsjahre 1914—1918, bis zu Seinem Tode im Jahr 1921 verblieb. Im Mittelpunkt dieses segensreichen Wirkens standen die Reisen, die ‘Abdu’l-Bahá in den Jahren 1911—1913 nach Europa und Nordamerika unternahm. Er hatte sich nicht nur aufgemacht, um in einigen Hauptstädten Europas und in zahlreichen Zentren der USA von Kanzel und Rednerpult aus den Menschen den neuen Glauben, die Bahá’í-Religion zu verkünden und zu interpretieren, sondern Er legte immer auch den göttlichen Ursprung der früheren Propheten dar und wies auf die Art der Verbindung hin, die zwischen Ihnen und dem neuen Glauben bestand.

Im August des Jahres 1911 betrat ‘Abdu’l-Bahá in Marseille erstmals europäischen Boden. Über Thonon-les-Bains reiste Er nach London, wo Er am 4. September eintraf. Nach rund vierwöchigem Aufenthalt reiste Er weiter nach Paris; im Dezember jenes Jahres kehrte Er nach Ägypten [Seite 293] zurück. Am 25. März 1912 brach ‘Abdu’l-Bahá zu Seiner epochemachenden Reise nach den USA auf. An Bord des Dampfers „Cedric“ traf Er am 11. April in New York ein. Acht Monate währte Seine Lehrreise durch die Staaten, in deren Verlauf Er auch in Wilmette den Grundstein zum ersten Bahá’í-Tempel in der westlichen Welt legte. Am 5. Dezember 1912 verließ ‘Abdu’l-Bahá an Bord der „Celtic“ New York und fuhr nach Liverpool; von dort mit der Bahn weiter nach London. Später besuchte Er Oxford, Edinburgh und Bristol. Am 21. Januar 1913 fuhr ‘Abdu’l-Bahá nach Paris; Er reiste dort am 30. März nach Stuttgart ab. Am 9. April fuhr Er nach Budapest, neun Tage später besuchte Er Wien und kehrte über Stuttgart wieder zurück nach Paris. Am 13. Juni 1913 verließ ‘Abdu’l-Bahá an Bord der „Himalaya“ wieder Westeuropa. Nach einem längeren Aufenthalt in Ägypten beendete Er am 5. Dezember 1913 Seine historischen Reisen in Haifa,

Über die Reisen lesen wir in dem bereits erwähnten Buch von Shoghi Effendi „Gott geht vorüber“: „Im Verlauf dieser epochemachenden Reisen legte ‘Abdu’l-Bahá vor großen und bedeutsamen Versammlungen, denen zuweilen bis zu tausend Menschen beiwohnten, mit wunderbarer Einfachheit und großer Überzeugungskraft zum erstenmal seit der Übernahme Seines Amtes die grundlegenden Prinzipien der von Seinem Vater begründeten Religion dar, die zusammen mit den Gesetzen und den Verordnungen, wie sie im Kitáb-i-Aqdas niedergelegt sind, den Grundstock der neuen Offenbarung Gottes an die Menschheit bilden ... Die Darlegung der wesentlichsten Wahrheiten der Bahá’í-Religion, die Er als den ‚Geist des Zeitalters‘ bezeichnete, ergänzte Er noch durch eindringliche, wiederholte Warnungen vor einem drohenden Weltbrand, der, wenn die Staatsmänner ihn nicht abwenden würden, den ganzen europäischen Kontinent in Flammen setzen würde ...

Während dieser Reisen entfaltete ‘Abdu’l-Bahá eine Vitalität, einen Mut, eine Zielstrebigkeit und eine Hingabe, daß alle, die das Glück hatten, Ihn in Seinem täglichen Wirken aus nächster Nähe beobachten zu dürfen, Ihn darob bewunderten und verehrten. Als die Verkörperung jeglicher Bahá’í-Tugend und jeglichen Ideals rief Er drei volle Jahre lang unaufhörlich einer im Materialismus versunkenen und schon im Schatten des Krieges stehenden Welt die göttlichen Heilsbotschaften zu, welche die Offenbarung Seines Vaters enthält... Tag um Tag widmete Er Seine ganze Kraft von früh bis spät Seiner Arbeit... Er achtete dabei nicht der Angriffe, welche die wachsamen fanatischen Vertreter der Orthodoxie und der verschiedenen Sekten gegen Ihn richteten. Es war wundervoll, wie Er... mit einer Freimütigkeit ohnegleichen den Juden die prophetische Sendung Jesu Christi bewies, wie Er in Kirchen und Synagogen den göttlichen Ursprung des Islam oder den Materialisten, Atheisten und Agnostikern die Wahrheit der göttlichen Offenbarung und die Notwendigkeit der Religion darlegte. Er sprach jederzeit auch in den Kirchen der Sekten und sonstiger Bekenntnisse unmißverständlich von der Herrlichkeit Bahá’u’lláhs ... Seine Liebe und Güte erstreckte sich auf alle, die mit Ihm im engen Kreis oder auch nur zufällig zusammenkamen ...“

Und an anderer Stelle lesen wir bei Shoghi Effendi: „... Wie die Sonne der Offenbarung Bahá’u’lláhs zur Stunde der Verkündung Seiner [Seite 294] Botschaft in Adrianopel an alle Herrscher der Welt in ihrem höchsten Glanz erstrahlte, so erreichte das Gestirn Seines Bündnisses seinen Zenit und ergoß sein strahlendstes Licht, als Er, Der sein erwählter Mittelpunkt war, Sich aufmachte, um den Völkern des Westens die Herrlichkeit und Größe der Religion Seines Vaters zu schildern. Die historischen Reisen ‘Abdu’l-Bahás nach dem Westen ... kann man wohl als den Höhepunkt Seiner Tätigkeit bezeichnen, einer Tätigkeit, deren unaussprechliche Segnungen und deren erstaunliche Erfolge erst spätere Geschlechter gebührend würdigen können.“



'Abdu’l-Bahá in Stuttgart[Bearbeiten]

Aus Tagebuchnotizen von Frau Alice Schwarz

Über die Zeit, da ‘Abdu’l-Bahá in Stuttgart weilte, hat eine der ältesten heute noch lebenden deutschen Bahá’í, Frau Alice Schwarz, ein Tagebuch angelegt. Ihren Erinnerungen an des Meisters Aufenthalt im Schwabenland hat sie den Titel: „Lausche den Worten des Erleuchteten“ gegeben. Es dürfte sich dabei um die ausführlichsten Aufzeichnungen handeln, die vom Besuch ‘Abdu’l-Bahás in Deutschland gemacht worden sind, hatten doch Frau Alice Schwarz und ihr Gatte, Konsul Albert Schwarz, während des ganzen Aufenthaltes von ‘Abdu’l-Bahá täglich engsten Kontakt mit dem Meister. Ausschnitte aus den Aufzeichnungen von Frau Alice Schwarz veröffentlichen wir nachstehend. Sie vermitteln wohl am besten die tiefen Eindrücke, die ‘Abdu’l-Bahá in Stuttgart und Eßlingen, dem Er gleichfalls einen kurzen Besuch abgestattet hatte, hinterließ.

‘Abdu’l-Bahá war Ende März 1913 in Stuttgart eingetroffen. Über die erste Begegnung schreibt Frau Alice Schwarz:

„Mit bangem Herzen, doch erwartungsvoll, hatten mein Mann, meine Tochter Olly und ich der ersten Begegnung mit dem Meister entgegengesehen. In der Empfangshalle des Hotels Marquardt erwartete uns Siyyid Mahmud Zargani, ein im besten Mannesalter stehender Bahá’í aus Persien; er war einer der Sekretäre des Meisters. Nach höflicher Begrüßung wurden wir in das Zimmer geführt.

‘Abdu’l-Bahá erhob Sich und forderte uns durch eine Handbewegung auf, in Seiner Nähe Platz zu nehmen. Meine Tochter überreichte Ihm einen großen Strauß rosafarbener Tulpen, worüber Sich der geliebte Meister sichtlich freute.

Vor uns stand ‘Abdu’l-Bahá voll Würde und majestätischer Ruhe. Sein Haupt war bedeckt mit einem weißen Turban; die silbergrauen Haare reichten bis zur Schulter herab. Blaue Augen, erfüllt von Liebe, leuchteten uns in strahlender Klarheit entgegen. Seine edel geformte Stirn zeugte von höchster Vergeistigung. Sein silberweißer Bart fiel bis auf die Brust. Die Gesichtsfarbe war hell, mit leichter Tönung. Seine Stimme klang weich, [Seite 295] voll und tief. Er trug eine hellbraune Abá - den wollenen persischen Mantel.

Diese erste Begegnung wirkte gewaltig auf mich!

Während dieses ersten Zusammenseins mit dem Meister war ich bis zu unserem Weggehen so sehr erschüttert, daß es mir nicht möglich war, auch nur ein Wort an Ihn zu richten. Ich fühlte in meinem Innersten: Er wird das zu uns sprechen, was gut für uns ist...



Frau Alice Schwarz


Am ersten Tag Seines Aufenthalts in Stuttgart machte ‘Abdu’l-Bahá gegen Abend eine Fahrt im Auto zu den Anhöhen der Stadt. Als sich der Abend herabsenkte, bot sich Ihm auf der Heimfahrt ein zauberhafter Anblick; es schien von der Anhöhe aus, als ob die Lichter der Stadt sich mit den Sternen des Himmels vereinten — als ob der Himmel sich auf die Erde gesenkt hätte.

Abends hielt ‘Abdu’l-Bahá eine Ansprache an die Gläubigen in kleinem Kreis. Er reichte jedem die Hand und sprach in inniger Liebe die ersten Willkommensworte.“

Durch den Aufenthalt von ‘Abdu’l-Bahá im Hotel Marquardt war dieses Haus zu einem „Wallfahrtsort“ der Bahá’í geworden. Frau Alice Schwarz erinnert sich hier:

„Die Hotelgäste konnten sich nicht erklären, wie es kommt, daß dieser orientalische Greis so viele deutsche Freunde hat. Seine ehrwürdige Erscheinung hinterließ überall den tiefsten Eindruck. So empfing mancher Fernstehende, wenn auch nur flüchtig, Kunde von der weltweiten Lehre von Bahá’u’lláh ...“

Am 4. April 1913 besuchte ‘Abdu’l-Bahá die Bahá’í-Gemeinde in Eßlingen, wo schon seit langem Fräulein Anna Köstlin die Bahá’í-Kinder mit der Heiligen Lehre vertraut gemacht hatte. Der Meister hatte am Nachmittag dieses Tages Stuttgart mit dem Wagen verlassen. Um Ihm eine Freude zu bereiten, nahm man den Weg nach Eßlingen durch das blühende Land über das Jägerhaus, einen Ausflugsort am Waldrand auf den Höhen um Eßlingen. Der Frühling war mit aller Pracht ins Land gezogen, die Kirschen standen in üppiger Blüte. Auf dem hoheitsvollen Antlitz des Meisters, so schreibt Frau Schwarz, lag ein Ausdruck stillen Glücks. Folgende Tagebuchnotizen über den Eßlinger Besuch ‘Abdu’l-Bahás entnehmen wir wieder wörtlich den Erinnerungen:

„Am 4. April 1913 war nun der langersehnte Nachmittag gekommen. Gegen 16 Uhr traf ‘Abdu’l-Bahá in Eßlingen ein. Voll Erwartung standen die Kinder am Eingang des festlich geschmückten Saals des „Museums“ (des heutigen Hotels „Reichsstadt“. D. Red.), als Er dem Auto entstieg.


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Auch Schloß Bebenhausen stattete ‘Abdu’l-Bahá einen Besuch ab.




Anzeige in einer Stuttgarter Zeitung.




Mehrere Gläubige geleiteten Ihn in den Saal. Voll Zutrauen und Liebe scharten sich die Kinder um den Meister und reichten Ihm Blumen. Hierbei berührte ‘Abdu’l-Bahá die Ihm entgegengestreckten Händchen, liebkoste die Ihm Zunächststehenden und beschenkte alle Kinder mit Süßigkeiten. Folgenden Segen sprach Er:

Ich bete zu Gott, daß Er diese Kinder segnen möge, daß sie aufblühende Blumen im Reiche Abhás werden, frisch und prangend in herrlichem Blühen, und daß jedes von ihnen von dem Licht Gottes und Seiner Liebe erleuchtet werde. Sie sind Knospen, ihre Herzen sind rein und ihre Seelen von lieblichster Klarheit. Ich hoffe, daß sie sich in der Liebe Gottes entwickeln werden wie Perlen in der Schale.

Hierauf betrat ‘Abdu’l-Bahá den Festsaal und nahm Seinen reich mit [Seite 297]




‘Abdu’l-Bahá bei Seinem Besuch in Eßlingen am 4. April 1913.



Blumen geschmückten Ehrenplatz ein. Nach dankerfüllten Begrüßungsworten richtete Er an die Freunde eine Ansprache.“

Wie Frau Schwarz schreibt, betonte der Meister unter anderem, Er sei den Freunden in Eßlingen sehr dankbar, daß sie Ihn zu sich gebeten hätten. „In Ihren strahlenden Gesichtern erkenne Ich Mein Antlitz wieder. Ich bin hochbeglückt, so viele leuchtende Gesichter zu sehen. Dieses Beisammensein wird weiterleben in Meiner Erinnerung — in Gedanken wird es Mir stets gegenwärtig sein.“ Dies waren, nach den Aufzeichnungen von Frau Schwarz, die Worte, die der Meister am Schluß Seiner Ansprache an die Eßlinger Freunde richtete.

Wann immer die Freunde ‘Abdu’l-Bahá in Seinem Hotel aufsuchten, fand Er liebevolle und erklärende Worte über die Sendung Bahá’u’lláhs. Er ging dabei auch stets auf die vielen kleinen Nöte und Fragen der



Im Garten der Villa Wagenburg ließ sich der Meister u.a. im Kreise der männlichen Gläubigen fotografieren (links). — Im Kurpark von Bad Mergentheim wurde dieser Gedenkstein errichtet (rechts).


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Auch das Haus der Fam. Schweizer in Zuffenhausen besuchte der Meister.


einzelnen Besucher ein. Nichts schien Ihm unbedeutend zu sein. Frau Schwarz schreibt in diesem Zusammenhang unter anderem:

„Die Anwesenden nahmen andächtig Seine Worte auf. Sie waren still versunken oder tief bewegt von dem seelischen Erleben, das sich in ihnen vollzog — ergriffen von dem gewaltigen Einfluß der Persönlichkeit des Meisters, die erhaben, in großer Einfachheit und Klarheit über allem Geschehen steht. In Ihm ist Allwissen, Er ist zeitlos...“

Zu einer der zahlreichen Besuchergruppen sprach ‘Abdu’l-Bahá einmal:

„Ich heiße euch willkommen! Seid ihr glücklich? Die Umgebung von Stuttgart ist sehr lieblich. Stuttgart ist wirklich ein sehr schöner, ansprechender Ort. Im Frühling, zur schönsten Jahreszeit, sind Wir gekommen ... Ich bitte Gott, daß auch eure Herzen aufblühen mögen ... Gott sei gepriesen, daß die geistige Frühlingszeit angebrochen ist. Aus den Wolken der Vorsehung Gottes kommt der Segen hernieder, die Sonne der Wirklichkeit strahlt ... Die Menschheit wird erwachen, denn der Geist Gottes weht, und die höchsten Wünsche der heiligen Seelen gehen in Erfüllung. Alle Menschen werden liebevoll und gütig zueinander sein ... Sie werden zu höherer Erkenntnis gelangen. Und dies wird in nicht allzu ferner Zeit geschehen.“

Während Seines Aufenthalts besuchte ‘Abdu’l-Bahá auch die „Wilhelma“ in Stuttgart-Bad Cannstatt. Frau Schwarz machte darüber unter anderem folgende Aufzeichnungen:

„Eines Nachmittags fragten wir den Meister, ob Er Sich die ‚Wilhelma‘ ansehen möchte. Auf der Fahrt im offenen Auto fiel leichter Frühlingsregen; ich drückte dem Meister mein Bedauern darüber aus, daß sich die Sonne für kurze Zeit hinter den Wolken verberge. Er aber sagte: ‚Sehet, wie wohltuend und erquickend der Regen auf die Blätter der Bäume [Seite 299] wirkt.‘ Wieder lehrte Er uns, nur das Gute zu sehen. Der leichte Regenschauer war auch bald vorüber.

Der Meister betrat die schönen Parkanlagen. Er schritt an den Wasserbecken entlang dem Hauptgebäude zu ... Ungehindert wandelten wir durch die in rein orientalischem Stil gehaltenen Räume (des maurischen Schlößchen der ‚Wilhelma‘) ... Hinter dem Schloß führt ein abgesperrter, wohlgepflegter Fußweg zu einem erhöht gelegenen Tempelchen. Dienstbeflissen öffnete der Parkwächter die Sperrkette, und der Meister begab Sich in den einzigen Raum. Er erging Sich in Betrachtungen über die Schönheit des vor Ihm liegenden Neckartales mit seinen lieblichen Höhenzügen. Er sagte, Er fühle Sich hier sehr wohl... .“

Eines Abends hielt ‘Abdu’l-Bahá eine Ansprache vor den Esperantisten Stuttgarts, in der Er auf die Bedeutung der von Bahá’u’lláh geforderten universalen Hilfssprache neben der Muttersprache hinwies. Ein andermal trafen sich die Bahá’í im Garten der Villa Wagenburg — ein alter Besitz der Familie Schwarz — damit dort mit dem Meister zusammen eine Gruppenaufnahme gemacht werden konnte. An jenem Nachmittag hatte ‘Abdu’l-Bahá auch das Heim der Familie Schweizer in Stuttgart-Zuffenhausen besucht. Auch das Schloß Solitude wurde aufgesucht. Am Abend des 6. April war im „oberen Museum“ in Stuttgart eine öffentliche Versammlung, an der mehrere hundert Menschen teilnahmen. ‘Abdu’l-Bahá sprach über die göttliche Religion, das Kommen der göttlichen Offenbarer und die Prinzipien der Bahá’í-Religion.

Tags darauf, einen Tag vor der Abreise des Meisters nach Budapest, besuchte Er auf Vorschlag von Konsul Schwarz Bad Mergentheim. Hierüber finden wir bei Frau Schwarz unter anderem folgende Tagebucheintragungen:





Wenig verändert hat sich das Hotel Marquardt in Stuttgart, in dem ‘Abdu’l-Bahá 1913 zweimal wohnte. Fotos: Archiv Schwarz, Schubert

[Seite 300]

„Mit zwei Autos wurde die Reise angetreten; ich hatte die große Ehre, zu Seiner Rechten zu sitzen. Es war ein frischer Morgen, die Fahrt führte uns durch das Schwabenland. Ein längerer Aufenthalt wurde in der alten Freien Reichsstadt Schwäbisch Hall gemacht. Während der Fahrt war der Meister viel in Meditation versunken; dann wieder erfreute Er Sich der abwechslungsreichen Landschaft, die an Seinen Augen vorüberzog ... Endlich sahen wir von Ferne die Türme von Bad Mergentheim ...

Nach kurzer Rast im Kurhaus machte der geliebte Meister einen Rundgang, besichtigte mit Interesse das Badehaus und die medizinischen Einrichtungen, ging durch die Wohngebäude und kehrte in den Empfangsraum des Kurhauses zurück.

In Windeseile war in Bad Mergentheim bekannt geworden, daß ein hoher orientalischer Gast im Kurhaus abgestiegen sei. So war ich auch nicht überrascht, daß eine Anzahl Menschen dort Seines Kommens harrte. Er sprach über die Entwicklung des Bades, über die vorzüglichen Einrichtungen des Badehauses, die Er mit den mangelhaften Einrichtungen im Orient verglich ... Nachdem die Besucher weggegangen waren, versenkte Er Sich im Gebet. Von Seinem Antlitz ging ein Leuchten und Strahlen, aus dem wir erkennen durften, wie mächtig Ihn die Ströme des Ewigen verklärten. Leise flüsterte mir einer Seiner Sekretäre zu: ‚Haben Sie ‘Abdu’l-Bahá jemals so überirdisch schön gesehen‘?

Später, an der festlich geschmückten Abendtafel, erzählte der geliebte Meister persische Sagen und heitere Anekdoten, die Ihn wie uns zu herzlichem Lachen brachten.

Vor Seiner Abfahrt nach Stuttgart anderntags ließ Er die Ärzte und Direktoren des Bades zu Sich rufen und ermahnte sie zu äußerster Pflichterfüllung und Gewissenhaftigkeit in ihrer großen Verantwortung. Er wurde höflich gebeten, Sich in das Gästebuch des Kurhauses einzuschreiben. Bereitwillig erfüllte Er diesen Wunsch:

‚O Du Allmächtiger! ‘Abdu’l-Bahá kam in dieses Kurhaus und gewahrte allerorts die größte Achtsamkeit. Eine Nacht verweilte Er hier. O Gott, segne dieses Kurhaus und schenke ihm Erfolg!”

Auf der Rückfahrt wurde in Weinsberg eine kurze Rast gemacht ... In Stuttgart geleitete mein Mann den Meister zur Bahn. Es hatten sich viele Bahá’í eingefunden, um Ihm Lebewohl zu sagen.“


Zum zweitenmal in Stuttgart

Nach Seinem rund 14-tägigen Aufenthalt in Budapest und Wien traf ‘Abdu’l-Bahá auf Seiner Reise nach Paris in den frühen Morgenstunden des 25. April 1913 zum zweitenmal in Stuttgart ein. Frau Alice Schwarz erinnert sich:

„Mit Seinem Kommen ging in unseren Herzen die Sonne wieder auf, denn die Tage, die Er ferne von uns geweilt, waren uns endlos erschienen ... So zog es auch mich in den frühen Vormittagsstunden unwiderstehlich in Seine heilige Nähe. Wohl ging ich lange unentschlossen vor dem Hotel Marquardt — Sein Fenster im Auge behaltend — auf und ab und fragte mich, ob ich nach der langen, ermüdenden Reise schon so frühzeitig den Meister aufsuchen könne. Ich entschloß mich, wenigstens nach Seinem Befinden zu fragen. In der Erwartung, dies von einem Seiner [Seite 301] Begleiter erfahren zu können, stand ich vor Seiner Türe, als sie vom Meister Selbst geöffnet wurde. Mit wundervollem Lächeln, offenen Armen und mit der Begrüßung: ‚Marhaba‘ (‚Sehr gut‘) lud Er mich ein, das Zimmer zu betreten. Wie sehr hatte ich mich getäuscht, als ich annahm, der Meister würde ruhen. Schon hatte Er mehrere Tablets diktiert, Besuche empfangen und war — wenn auch schwer erkältet — nicht müde, zu den Freunden vom Reiche Gottes zu sprechen.“

‘Abdu’l-Bahá war aus Budapest und Wien krank nach Stuttgart gekommen. Sein Gesundheitszustand hatte sich nach der Ankunft so sehr verschlechtert, daß Er am Nachmittag einer Versammlung in privatem Kreis nicht beiwohnen konnte. Der behandelnde Arzt, Dr. med. Faber, hatte gebeten, Er solle das Zimmer nicht verlassen.

Für diesen Abend war jedoch eine große öffentliche Versammlung vorgesehen und in den Zeitungen angekündigt worden. Wie Frau Schwarz berichtet, hatte ‘Abdu’l-Bahá kurz vor diesem Vortrag am Abend Seine Sekretäre gebeten, an Seiner statt zu sprechen. Über diesen Abend selbst finden wir in dem Tagebuch dann die folgenden Aufzeichnungen:

„Im Saal des Bürgermuseums hatten sich inzwischen mehrere hundert Menschen eingefunden; sie sahen erwartungsvoll der Ansprache des hohen Besuches entgegen. Als die Sekretäre des Meisters den überfüllten Saal betraten, fühlten sie sich verpflichtet, ‘Abdu’l-Bahá von dem großen Interesse, das Ihm und Seinem Vortrag galt, zu berichten. Sie wollten Ihn bitten, Sich — wenn auch nur kurz — zu zeigen... Mein Mann übernahm


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Die Ansprache ‘Abdu’l-Bahás am 25. April 1913 im Großen Saal des Stuttgarter Bürgermuseums hatte auch in der Öffentlichkeit großes Echo gefunden. In einem Bericht, der am 26. April in einer Stuttgarter Tageszeitung erschienen ist, lesen wir unter anderem:
„Ein würdevoller betagter Greis mit langem weißem Bart, mit hoher Stirn und mit den scharf geschnittenen edlen Zügen eines vornehmen Orientalen, wie man sich etwa einen Abraham ... denkt, so saß ‘Abdu’l-Bahá, gebeugt von der Last seiner 70 Jahre und den Strapazen einer eben zurückgelegten längeren Reise, gestern abend in einem Fauteuil im Bürgermuseum und ließ eine kurze Ansprache an die zahlreichen Zuhörer durch seine Dolmetscher verdeutschen ...
‘Abdu’l-Bahá sprach vom Völkerfrieden, von der Solidarität aller Menschen, von dem Unsegen und der Gottwidrigkeit des Krieges ... Es waren lapidare Sätze in orientalischer Stilisierung, erfüllt von dem humanen Geist eines erfahrenen, warmfühlenden Weisen aus dem Morgenland ...“
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[Seite 302] es, diese Bitte dem Meister vorzutragen, und er begab sich unverzüglich zum Hotel. ‘Abdu’l-Bahá erhob Sich und sprach:

‘Dem Arzt habe Ich versprochen, Mich zu schonen. Aber gerne gebe Ich Meine Gesundheit hin für die heilige Lehre im Dienst für die Freunde von Bahá’u’lláh.’

Im Saal wurde den Anwesenden mitgeteilt, daß ‘Abdu’l-Bahá leider erkrankt sei und nicht in Seiner heiligen Mission sprechen könne. Dies rief eine große Enttäuschung unter den Anwesenden hervor.

Da öffneten sich zu aller Überraschung die Flügeltüren, und herein trat ‘Abdu’l-Bahá, begleitet von einem Sekretär und meinem Mann. Eine Bewegung tiefer Ergriffenheit ging durch die Reihen; die Anwesenden erhoben sich, um Ihm ihre Ehrerbietung und Sympathie zu zeigen. Vielen war es Erfüllung ihres Wunsches, ‘Abdu’l-Bahá zu sehen. Ganz unerwartet betrat der Meister die Rednertribüne und hielt eine längere Ansprache.“

Auch hier wies Er vor allem auf die Aufgabe der Propheten Gottes als Künder des Friedens und der Freundschaft unter den Menschen hin. Er sprach von der fortschreitenden Gottesoffenbarung, dem göttlichen Plan seit Anbeginn der Schöpfung und der Einheit der Menschheit. Mit dem Kommen Bahá’u’lláhs sei das Jahrhundert des Lichts angebrochen. Das Zeitalter der Veredelung der Menschheit stehe bevor.

„Als ‘Abdu’l-Bahá Seine Ansprache beendet hatte“, so lesen wir im Tagebuch von Frau Schwarz, „erhoben sich wieder alle Anwesenden, um ihren Dank auszudrücken. Jeder war bemüht, Ihm erschüttert die Hand zu drücken. Allein, der Meister hatte rasch den Saal verlassen, begleitet von Seinen Getreuen, die Ihm nicht genug für das große Opfer danken konnten, daß Er gekommen war und diese herrlichen Worte gesprochen hatte. Zum Ansporn aller Freunde hatte der Meister durch Seine aufopfernde Hingabe wieder bewiesen, daß es für Ihn keine Ruhe und Schonung gab, wenn Er der heiligen Lehre dienen konnte — gestützt und getragen durch die Geistesnähe der Gesegneten Vollkommenheit ... Alle ergebenen Freunde in Stuttgart wußten wohl, wie groß das Opfer war, das der Meister mit Seiner Ansprache gebracht hatte. Am folgenden Tag waren alle voll der Sorge, wie Ihm der Abend bekommen sei. Von einer großen Last waren wir befreit, als wir den Meister etwas besser antrafen ...“

In den folgenden Tagen empfing ‘Abdu’l-Bahá zahlreiche Gläubige bei Sich. Auch im Hause der Familie Schwarz verkehrte Er in jenen Tagen; auf kleinen Fahrten lernte Er die Umgebung Stuttgarts kennen, wobei es auch wieder zum Schloß Solitude ging. Eines Nachmittags sprach Er in einem Frauenclub. Am 28. April wurde dem Meister von Seinem Arzt geraten, Seines angegriffenen Gesundheitszustandes wegen noch zwei Ruhetage in Stuttgart zu verbringen, ehe Er nach Paris weiterreisen wolle.

Einen Tag vor Seiner Abreise besuchte ‘Abdu’l-Bahá noch das Schloß in Bebenhausen bei Tübingen. Wie es dazu kam, lesen wir bei Frau Schwarz:

„Mein Mann war sehr bemüht gewesen, ein Zusammentreffen zwischen dem König von Württemberg, Wilhelm II., und ‘Abdu’l-Bahá zustande zu bringen. Er hatte sich aus diesem Grunde mit dem ihm sehr befreundeten Kabinettchef des Königs in Verbindung gesetzt. Von diesem war meinem Mann versprochen worden, daß eine Begegnung ermöglicht werde. Zu unserem größten Bedauern fand dieses Zusammentreffen jedoch nicht [Seite 303] statt, da der König eine geplante Reise vorverlegen mußte. So hatten wir ‘Abdu’l-Bahá den Vorschlag gemacht, Ihm einen der schönsten Sitze des Königs zu zeigen. Wir erzählten Ihm von dem Jagdschloß Bebenhausen bei Tübingen, in dem die hohen Herrschaften mehrere Monate im Jahr verbringen ...

Der Meister ging auf unseren Wunsch ein, und am Nachmittag erreichten wir die stillen Wälder des Schönbuchs. Unterwegs entstieg ‘Abdu’l-Bahá in Steinenbronn im Kreis Böblingen dem Wagen, um Sich etwas Bewegung zu verschaffen. Er verteilte in einer Dorfgasse unter den Kindern Gebäck und Obst. Das Gerücht war aufgekommen, ein orientalischer König sei da, und Kinder und Erwachsene drängten um Ihn.

Nachdem der Meister in Bebenhausen mit viel Interesse die Räume des ehemaligen Klosters aufgesucht hatte, schrieb Er in persischen Lettern in das Fremdenbuch:

‘Der königliche Hof ist öde, weil Ich das Angesicht des Königs nicht sehen kann; die grüne Wiese ist wie abgemäht, da sie nicht geschmückt ist mit der herrlichen Gestalt der Königin.’

Später wurde mir gesagt, daß diese Worte in Persien die größte Form der Höflichkeit bedeuten.

Mir unvergeßliche Worte des Abschieds sprach der Meister auf der Rückfahrt:

‚Gelobt sei Gott, daß Ich nach Stuttgart gekommen bin und zum Königreich Abhás gerufen habe. Ich bin glücklich, daß Mir Gott beigestanden ist. Edle Seelen wie ihr haben den Ruf des Königreiches vernommen. Nun müßt ihr euch mit Begeisterung und Mut erheben, um zu lehren und die




Die Eintragung ‘Abdu’l-Bahás ins Fremdenbuch des Klosters Bebenhausen.


[Seite 304] frohen Botschaften Gottes zu verbreiten. Ich setze das größte Vertrauen in euch ... Mein Herz ist bei euch! Mein Geist ist bei euch! Ich habe Mein Werk vollbracht, Ich muß euch nun verlassen. Immer werde Ich bei euch sein! Stuttgart ist wirklich fähig, ein Zentrum der göttlichen Lehre in Europa zu werden!‘

In der kurzen Zeit Seines Hierseins waren unsere Seelen Ihm zugewandt. Die ganze Welt war um uns versunken, so sehr waren wir


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„Die Augen erstrahlten, die Ohren lauschten. . ."

Von Paris aus, wohin ‘Abdu’l-Bahá am 1. Mai 1913 von Stuttgart gefahren war, sandte Er am 6. Mai an die „Gläubigen Gottes und an die Dienerinnen des Gnadenreichen“ in Stuttgart und Eßlingen folgendes Tablet:

„Er ist Gott!
O ihr Söhne und Töchter des Königreiches!
Die Tage in Stuttgart — wie glücklich waren sie! Die Versammlungen — wie erleuchtet waren sie! Der Hauch des Heiligen Geistes — wie war er in Schwingung gebracht! Der Ruf des Reiches Abhás — wie erhob er sich zu den höchsten Höhen der erhabenen Heerscharen!
Wenn Mir die in Stuttgart verbrachten Tage in Erinnerung kommen, sind Herz und Seele beglückt!
Gelobt sei der Herr der Heerscharen, der in diesem Land den Ruf zum Königreich erhob, die Herzen mit geistigen Gefühlen bewegte, die Seelen beglückte und das Gemüt durch die göttlichen frohen Botschaften erhob. Ich hoffe, daß die Bestätigungen Bahá’u’lláhs ununterbrochen auf euch herabkommen, daß ihr jeden Augenblick neuen Geist empfangt, damit sich das Reich Gottes rasch verbreite und die Kunde vom Kommen Bahá’u’lláhs alle Länder neu belebe.
Die in eurer Mitte verbrachten Tage waren durchgeistigt und erleuchtet. Das himmlische Manna kam herab, die ewige Schenkung war enthüllt, die seelischen Regungen waren ohne Ende. Die Augen erstrahlten, und die Ohren lauschten mit der höchsten Wonne dem himmlischen Gesang. Ich flehe zu Gott, Er möge euch diese himmlische Gabe in Ewigkeit verleihen und euch von der Richtigkeit der Lehre Seiner Herrlichkeit Bahá’u’lláh überzeugen und sie euch so tief in das Herz schreiben, daß eure Seelen durch den Odem des Heiligen Geistes neu belebt werden! Über euch sei Bahá Al Abhá!
’Abdu’l-Bahá Abbás.“
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[Seite 305] beglückt im Bewußtsein Seines heiligen Schutzes. Wir waren von Seiner Liebe durchglüht.“

In der Frühe des 1. Mai verließ ‘Abdu’l-Bahá Stuttgart endgültig. Zu Seiner Verabschiedung auf dem Bahnhof, früher noch direkt neben dem Hotel Marquardt, hatten sich wieder ungezählte Bahá’í-Freunde eingefunden, „um noch ein letztes Mal in Sein geheiligtes Antlitz blicken zu dürfen, um noch einmal Seinen Segen zu empfangen“, wie Frau Schwarz in ihren Aufzeichnungen festgehalten hat. Alle, die gekommen waren, ermahnte der Meister, standhaft im Glauben zu bleiben und Treue und Ausdauer an den Tag zu legen.

„Ein unsagbarer Schmerz legte sich auf meine Brust, als ich Ihn am Fenster Seines Abteils stehen sah“, schließt Frau Schwarz ihren Bericht über den Stuttgarter Aufenthalt des Meisters. „In tiefer Rührung hob Er segnend die Hände und nickte uns zu, bis Seine Gestalt unseren Augen entschwand ...“


Besuche in Budapest und Wien

Über die Aufenthalte ‘Abdu’l-Bahás in Budapest und Wien im Frühjahr des Jahres 1913 liegen gleichfalls Tagebuch-Erinnerungen vor. In Paris weilten Konsul Albert Schwarz und Frau Schwarz mehrere Tage bei ‘Abdu’l-Bahá. In ihrem Tagebuch über des Meisters Stuttgarter Besuche im April 1913 hat Frau Schwarz auch Berichte über den Aufenthalt ‘Abdu’l-Bahás in Budapest und Wien aufgeführt, die bereits im März 1924 in der „Sonne der Wahrheit“ (Jahrgang IV) erschienen sind, und denen wir nachfolgend einige wesentliche Punkte entnehmen.

*

In Budapest wohnte ‘Abdu’l-Bahá im Hotel Ritz. Höhepunkt des Aufenthalts war dabei eine Veranstaltung im alten Parlament, die zu Ehren des Meisters von der Friedensgesellschaft, dem Esperantoclub, dem Frauenverein und der orientalischen Handelsakademie anberaumt worden war. Wir lesen darüber in den Tagebuch-Aufzeichnungen:

„Gegen 500 Personen waren anwesend, darunter hohe Offiziere. Die Versammlung wurde durch den Reichstagsabgeordneten Domherr Dr. Alexander Giesswein eröffnet. Während ‘Abdu’l-Bahá länger über die Einheit der Menschheit, über die internationale Welthilfssprache, universalen Frieden und die Einheit von West und Ost durch die moralische Kraft der göttlichen Lehre sprach, wurde Er wiederholt durch stürmische Beifallskundgebungen unterbrochen. Nach Beendigung der Ansprache dankte der Domherr mit beredten Worten. Während nun Dr. Giesswein zur Linken von ‘Abdu’l-Bahá stand, bestieg der bekannte, ehrwürdige Orientalist Professor Goldzieher die Rednertribüne und stellte sich zur Rechten des Meisters. Es war ein ergreifender Anblick, Vertreter von zwei Religionen, einen hohen katholischen Priester und einen jüdischen Professor, Hand in Hand mit ‘Abdu’l-Bahá vereint stehen zu sehen.“

In Budapest traf ‘Abdu’l-Bahá verschiedene Male mit Mitgliedern der Theosophischen Gesellschaft zusammen und hielt in diesem Kreis auch verschiedentlich Ansprachen. Wie in Stuttgart herrschte auch in Seinem Budapester Hotel ein ständiges Kommen und Gehen, wobei Philosophen [Seite 306] und Wissenschaftler wie auch einfache Menschen gleichermaßen zu Seinen Gästen zählten.

Am Morgen des 18. April verließ ‘Abdu’l-Bahá Budapest und begab Sich nach Wien. Sein körperliches Befinden, das zuletzt schon in Budapest sehr zu wünschen übrig gelassen hatte, verschlechterte sich noch. Trotzdem besuchte Er kurze Zeit nach Seiner Ankunft den türkischen Gesandten und sprach mit diesem über die letzten Jahre Seiner Gefangenschaft in ‘Akká und Seine Reise durch die Vereinigten Staaten von Amerika. Auch in Wien gehörten die Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft zum ständigen Kreis Seiner Besucher, und ‘Abdu’l-Bahá unterhielt Sich sehr gerne gerade mit ihnen. Am 23. April besuchte Baronin Berta von Suttner, die bekannte Exponentin der Friedensbewegung, den Meister. Er empfing sie überaus herzlich, und mit größtem Interesse folgte sie Seinen Worten. Die Baronin, so wird berichtet, war sichtlich ergriffen und dankte Ihm unter Tränen für die geistigen Impulse, die sie von Ihm hatte empfangen dürfen.

Einen Tag später reiste ‘Abdu’l-Bahá nach Stuttgart weiter.



„Dies ist der größte Tag...”[Bearbeiten]

‘Abdu’l-Bahás Ansprache in Stuttgart am 3. April 1913

Aus fernen Landen komme Ich zu euch. Zwanzigtausend Meilen bin Ich gereist, bis Ich bei euch war. Vierzig Jahre war Ich eingekerkert. Ich war noch ein junger Mann, als man Mich in Ketten legte, und Meine Haare sind weiß geworden, ehe sich die Gefängnistüren vor Mir öffneten.

Nach diesen harten Leiden des Gefängnisses nahm Ich willig alle Mühsal einer langen Reise auf Mich und bin nun hier, um Mich mit euch zu vereinen und euch zu begegnen. Meine Absicht ist, die Menschheit zu erleuchten und alle Menschen in vollkommener Liebe und Freundschaft zu vereinigen. Religiöse und nationale Vorurteile sowie die Rassenunterschiede müssen beseitigt werden; die Menschheit muß frei davon werden, denn die Grundlage der Religion Gottes ist die Liebe, das Gemeinschaftsgefühl, die Solidarität, die die Menschen verbindet. Aber heute ist diese Grundlage der Religion verlassen; alle Religionen bestehen in Dogmen. Weil nun diese Dogmen voneinander abweichen, sind Uneinigkeit und Haß entstanden. Die Grundlage allen guten Einvernehmens muß die Religion sein.

Betrachtet die Wirren auf dem Balkan. Wieviel Blut wird dort vergossen. Wieviele tausend Mütter haben ihre Söhne verloren, wieviele Kinder sind Waisen geworden! Wieviele Häuser wurden vernichtet, wieviele Dörfer zerstört und wieviele Städte verwüstet! Aus dem Balkan ist ein Vulkan geworden. Alle diese Ruinen — woher rühren sie? Teilweise von den gegenseitigen Vorurteilen der Religionen. Sie werden hervorgerufen durch Aberglauben und Rassendünkel. Das Wesen der Religion Gottes ist die Liebe und die Erleuchtung der Menschheit; alle heiligen Bücher legen Zeugnis davon ab. Aber die Menschen haben heute vergessen, was das wahre Wesen der Religion ist. Jede Nation, jede Gemeinschaft hält sich an ein bestimmtes Dogma. [Seite 307]

Alle Dinge in der Welt des Daseins unterliegen aber dem Wandel. Dieser Wechsel, diese Veränderungen sind Erfordernisse des Lebens. Seht zum Beispiel die Blumen vor uns. Sie kamen aus dem Samenkorn hervor. Nachdem sie zur jetzigen Entwicklungsstufe gelangt sind, haben sie den Zustand der Vollkommenheit erreicht; nun bilden sie sich wieder zurück. Das ist das unveränderliche Gesetz der Schöpfung. In gleicher Weise entwickelt sich der Mensch von seiner Jugend bis zu seiner Reife; sobald dieser Zustand der Reife erlangt ist, beginnt er wieder abwärts zu steigen. Demselben Gesetz sind auch alle Religionen und Kirchen unterworfen. Sie werden gegründet, damit sie aufblühen und sich entwickeln, um nach Erfüllung ihrer Sendung wieder zurückzugehen. So erschien Seine Heiligkeit Moses vor einigen tausend Jahren, um das Gesetz Gottes zu begründen und die zehn Gebote zu verkünden. Nachdem diese Gesetze aufgestellt waren, wurden sie später wieder geändert, und diese Änderung wurde so vollständig durchgeführt, daß von dem Ursprünglichen wenig mehr vorhanden ist. Dann sandte Gott die Römer und ließ das heilige Land verwüsten, weil das Volk Israel die Religion Gottes verlassen hatte. Die Juden besaßen in ihrer Religion am Ende nur noch ein großes Bündel von Überlieferungen und Aberglauben.

Als diese Religion zu solchem Tiefstand gekommen war, sandte Gott Seine Heiligkeit Christus. Er erschien als das Licht der Sonne und begründete die Religion Gottes wieder neu. Auch belebte Er das von Moses gegebene Gesetz und erfüllte es. Dies soll euch zeigen, daß die Religion einem Wechsel unterworfen ist. Auch die heutige Religion ist voll von Aberglauben, und sie besteht weitgehend nur noch in Überlieferungen und Dogmen gleich tönenden Schellen. Die wahren Lehren Gottes dagegen gleichen dem Kern in der Schale. Wir müssen das Innere, den Kern, von der Schale lösen. Die Menschheit tappt im Dunkeln. Unser Ziel ist, die Menschheit zu erleuchten. Auf jede dunkle Nacht muß ein heller Tag folgen. Es ist unsere Hoffnung, daß dieses Dunkel zerstreut wird und die Strahlen der Sonne der Wirklichkeit wieder leuchten. Wir haben das Vertrauen, daß auf die Dunkelheit ein heller Tag folgt, wie es unsere Hoffnung ist, daß nach dem kalten Winter wieder ein neuer Frühling erscheint, der die Natur erfrischt und belebt, so daß die Bäume sprossen, grünen und Blätter, Blüten und Früchte hervorbringen.

Preis sei Gott! Das erleuchtete Jahrhundert hat begonnen. Preis sei Gott, denn dieser Frühling ist angebrochen. Preis sei Gott! Die Wirklichkeit aller Dinge ist enthüllt worden. Dies ist das Jahrhundert des Lichtes. Dies ist die Periode der Wissenschaft. Dies ist der Zyklus der Wirklichkeit. Dies ist das Zeitalter des Fortschritts und der Gedankenfreiheit. Dies ist der größte Tag, an dem der Heilige Geist weht. Dies ist das Zeitalter, welches alles zu neuem Leben erweckt. Deshalb hoffe Ich, daß alle Menschen in Harmonie geeinigt werden. Bemühet euch, wirket dafür, daß die Fahne der Menschlichkeit und Einigkeit aufgerichtet werde, daß das Licht des universalen Friedens scheine, daß der Westen und der Osten sich umarmen und daß so die stoffliche Welt der Spiegel des Reiches Gottes werde. Ewiges Licht möge erstrahlen, und jener Tag möge kommen, auf den keine Nacht mehr folgt. [Seite 308]

In diesem Zeitalter muß jeder sein Angesicht Gott zuwenden, so daß die himmlische Erneuerung mit stofflicher Verfeinerung Hand in Hand geht. Materielle, äußerliche Zivilisation allein vermag die Welt nicht glücklich zu machen. Göttliche, innere Erneuerung muß die materielle Zivilisation stützen. Die Männer der Wissenschaft und der Philosophie sind die Begründer der materiellen Zivilisation und der geistigen Kultur, aber Seine Heiligkeit Christus war der Gründer der göttlichen Zivilisation. Die materielle Zivilisation dient dem äußerlichen Leben des Menschen, aber die göttliche Zivilisation begründet die Welt des Sittlichen. Beide Zivilisationen müssen Hand in Hand gehen. Die materielle Zivilisation gleicht einer Lampe, die göttliche Zivilisation hingegen dem Licht in der Lampe. Die Lampe ohne Licht ist nutzlos. Wir leben jetzt an dem Tag, da unsere Wissenschaft mit der geistigen Zivilisation Hand in Hand gehen muß. Innere Zivilisation gleicht dem Geist, der den Körper belebt. Solange der Geist im Körper weilt, haben wir ein lebendiges Wesen vor uns, aber ein Körper ohne Geist ist tot. Es ist Meine Hoffnung und Mein Wunsch, daß alle die Stufe geistiger Zivilisation erreichen mögen. Gleichwie ihr große Fortschritte in den materiellen Wissenschaften gemacht habt, möget ihr auch voranschreiten in der geistigen Welt. Dann wird das Licht des Reiches Gottes in aller Welt erstrahlen. Möge die Sonne der Wirklichkeit den Osten und den Westen erleuchten!

O du freundlicher, gütiger Herr!

Diese Versammlung ist Deine Herde und Du bist der wahre Hirte. All diese Menschen sind Deine Kinder und Du bist ihr gütiger Vater. O Gott! Sende Deine Segnungen auf sie herab und öffne ihnen die Tore Deiner Führung! O Herr, stehe ihnen bei mit Deinen göttlichen Heerscharen! Mache ihre Augen sehend und ihre Ohren hörend! Erquicke ihre Herzen und erfreue ihren Geist, so daß alle einen reichen Anteil Deiner göttlichen, unendlichen Offenbarung bekommen. Sei ihr Schutz und Obdach in Deinem Reich!

O Gott, wir sind arm. Öffne uns die Schatzkammern Deines Himmels! O Gott, wir sind unwürdig, mache uns zu Liebenden Deines Reiches! O Gott, richte die Gemeinschaft auf zwischen den Herzen der Menschen und vereinige unsere Seelen! Gewähre allen Einlaß in Dein Heiligtum, so daß aller Krieg und Streit aufhöre und die Menschheit zum höchsten Frieden gelangen möge.

Wahrlich, Du bist der Gebende, der Gütige und der Großmütige!

(Quelle: „Sonne der Wahrheit“, 1. Jgg. 1921, S. 108 ff.)



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