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BAHÁ'I-
BRIEFE
BLÄTTER FÜR
WELTRELIGION UND
WELTBEWUSSTSEIN
AUS DEM INHALT:
Bahá’u’lláh: Tablet Ishraqat
Todesurteil gegen Bahá’í in Marokko
Die andere Zukunft
Erfolgreiche Lehrarbeit 1962
Die sieben Märtyrer von Tihrán
JANUAR 1963 HEFT 11
Postverlagsort 6 Frankfurt
- Ich bezeuge vor Gott die Größe, die unfaßbare Größe dieser Offenbarung. Wieder und wieder haben Wir in den meisten Unserer Tablets für diese Wahrheit Zeugnis abgelegt, damit die Menschheit aus ihrer Achtlosigkeit aufgerüttelt würde.
- Dies ist der Tag, an dem der Ozean des Erbarmens Gottes den Menschen kundgetan wurde, der Tag, an dem das Tagesgestirn Seiner Güte seinen Glanz über sie ausgoß, der Tag, an dem die Wolken Seiner gnadenreichen Gunst die gesamte Menschheit überschatteten.
- O ihr Völker der Welt! Wisset wahrhaftig, daß unvorhergesehenes Elend euch folgt und daß schmerzliche Vergeltung eurer harrt. Denkt nicht, daß die Taten, die ihr begangen habt, vor Meinen Augen ausgelöscht sind.
- Und wenn die festgesetzte Stunde gekommen ist, wird plötzlich erscheinen, was die Glieder der Menschheit erzittern läßt. Dann und erst dann wird das göttliche Banner entfaltet werden und die Nachtigall des Paradieses ihre Melodie singen.
- Bahá’u’lláh
(aus Shoghi Effendi. „Das Kommen göttlicher Gerechtigkeit“, S, 93 ff.)
[Seite 250]
Bahá’u’lláh
Tablet Ishráqát[Bearbeiten]
Vereinigt mit dem Sendschreiben über die größte Unfehlbarkeit
Dies ist das Sendschreiben Gottes, des Beschützers, des Selbstbestehenden!
Er ist Gott! Sein Wesen ist in Seiner Weisheit und in Seinen Äußerungen über alles erhaben!
Gelobt sei Gott, Der einzig ist in Seiner Größe, Macht und Schönheit, einzig in Seiner Herrlichkeit, Stärke und Majestät, Der zu heilig ist, um durch menschliches Nachdenken begriffen zu werden oder Gefährten und Seinesgleichen neben Sich zu haben. Sein rechter Pfad wurde durch klare und beredte Worte gewiesen. Wahrlich, Er ist der Unabhängige, der Allmächtige!
Als Er beschloß, eine neue Schöpfung erstehen zu lassen, sandte Er vom Himmel Seines Wunsches den deutlichen und leuchtenden Punkt hervor, und dieser ging auf die verschiedenste Art und Weise durch alle Zeichen 1), bis er auf Befehl Gottes, des Herrn der Menschheit, die höchste Stufe erreichte. Wahrlich, der Punkt2) ist der Mittelpunkt des Kreises der Namen, das Ende des Erscheinens der „Buchstaben“ im Reiche der Ausgießung. Durch ihn erschien, was das verborgenste Geheimnis und das schmuckvolle Sinnbild andeutete, nämlich der Geoffenbarte, Welcher den in dem strahlenden Tablet und in dem gesegneten „Weißen Sendschreiben“ enthaltenen „Größten Namen“ verkündete.
Und als der Punkt vereinigt wurde mit dem zweiten Buchstaben, welcher
am Anfang der „Missaní“ 3) verkündet wird, bewegten sich die Sphären
der Äußerungen und Bedeutungen; das ewige Licht Gottes erstrahlte, hoch
stand es am Himmel der Offenbarung, und zwei leuchtende Sonnen gingen
von ihm aus. Verherrlicht sei der Barmherzige, Der durch keine
Anspielung gedeutet, durch keinen Ausdruck beschrieben, durch keine
[Seite 251]Erklärung erkannt und durch kein Zeichen geschildert werden kann.
Wahrlich, Er ist der Gebieter, der Verleihende — im Ursprung und in der
Wiederkunft!
Und aus den Heerscharen der Kraft und Macht bestimmte Er für diese beiden leuchtenden Sonnen Beschützer und Wächter. Wahrlich, Er ist der Beschützer, der Mächtigste, der Unbezwungene.
Die „Humilí“ 4) wurde wie die „Missaní“ zweimal geoffenbart:
Preis sei Gott, Der den „Punkt“ offenbarte und aus Ihm die Kenntnis all dessen, was war und ist, hervorgehen ließ, Der Ihn in Seinem Namen zum Herold und zum Vorläufer Seiner größten Offenbarung machte, durch die die Nerven der Nationen vor Furcht erzitterten und das Licht am Horizont der Welt aufging. Wahrlich, Er ist der Punkt, Den Gott für die Aufrichtigen unter Seinen Dienern zu einem Meer des Lichts machte, Der aber für die Verleugner unter Seinen Geschöpfen und für die Gottlosen in Seinem Volke zu einem Feuerball wurde, d. h. für jene, welche in ihrer Heuchelei die Gunst Gottes verfälschten, das Himmelsbrot zurückwiesen und ihre Freunde an einen unglückseligen Ort führten. Denn dies sind Menschen, die nur Heuchelei und Mißklang aufweisen und das Bündnis verletzten an dem Tag, da der Tempel des Urseins 5) auf den höchsten Thron gesetzt wurde, Von der rechten Seite des geheiligten Tales 6) ruft der Herold: „O Schar des Bayán! Fürchte den Gütigen! Dies ist Der, auf Den Muhammad, der Bote Gottes, hinwies, und vor Ihm der Geist 7), und vor Diesem Der, Welcher Zwiesprache hielt8). Dies ist der Punkt des Bayán, Der vor dem Throne ausruft: Wahrlich, ihr wurdet erschaffen, um dieser größten Botschaft zu gedenken und dieses sichersten Pfades, welcher in dem Geiste der Offenbarer verborgen ruhte, in den Herzen der Erwählten verhüllt war und nunmehr durch die erhabene Feder in den Sendschreiben eures Herrn, des Königs der Namen, niedergelegt wurde.“
Sprich: Stirb in deinem Zorn, o Volk der Uneinigkeit! Er, vor Dessen
Erkenntnis nichts verborgen ist, über Dessen Kommen das Antlitz des
Wissens in Freude erstrahlte, und durch Den das Reich der Worte
geschmückt wurde — Er ist in der Tat erschienen. Jeder, der sich Gott, dem
König der Religionen, nähert, macht Fortschritte. Er bewirkte, daß sich
die Sitzenden erhoben und die Ruhenden zum Berg der Zuversicht eilten.
Dies ist der Tag, den Gott zu einer Gnade für die Frommen machte, zu
einem Strafgericht über die Gottlosen, zum Segen für die
Vorwärtsschreitenden und zum Zorn für die, welche leugnen und sich hinwegkehren.
Wahrlich, Er ist mit Macht aus der Gegenwart Gottes hervorgegangen und
hat geoffenbart, was weder im Himmel noch auf Erden Seinesgleichen hat.
Fürchte den Mildtätigen, o Volk des Bayán, und begehe nicht, was vom
Volk des Qur’án begangen wurde. Tag und Nacht gaben sie vor, gläubig
[Seite 252]zu sein; als aber der
Herr der Menschen kam, verleugneten und verwarfen
sie Ihn, bis sie Ihn zuletzt in derart ungerechter Weise verdammten, daß
das „Mutterbuch“ am Tag der Wiederkehr darüber klagte. Erinnert euch
dessen und blickt auf ihre Taten und Worte, auf ihre Stufe und ihre
Stellung, und besonders auf das, was von ihnen hervorging, als der
Sprecher des Berges sprach, die Posaune erschallte und — mit Ausnahme
einer Anzahl der „Buchstaben“ des erhabenen Angesichts — alle im
Himmel und auf Erden bestürzt waren...
- *
Preis sei Gott, Der in dem von Ihm hervorgegangenen Reich die „größte Unfehlbarkeit“ zu einem Panzer für den Tempel Seines Befehles 9) machte und verordnete, daß sonst niemand an diesem hohen Rang und dieser erhabenen Stufe teilhabe! Wahrlich, diese größte Unfehlbarkeit ist ein Mantel, der durch die Finger der Macht für Sein eigenes erhabenes Selbst gewoben wurde. Sie wird wahrlich nur von Dem erlangt, Der auf dem Thron des „Er tut, was Er will“ 10) sitzt. Wer anerkennt und bekennt, was in diesem Augenblick durch die erhabene Feder geschrieben wird, gehört wahrlich im Buche Gottes, des Königs des Ursprungs und der Wiederkunft, zum Volk der Einheit und der Einzigkeit.
Als Unsere Worte an diesem Punkt anlangten, wehte der Duft der Erkenntnis, und die Sonne der Einheit erstrahlte am Himmel der Äußerung. Gesegnet ist, wer von dieser Stimme zu dem erhabenen Gipfel und dem fernsten Ende hingezogen wird, wer aus den Spuren Meiner erhabenen Feder lernt, was der Herr dieser und der kommenden Welt wünscht. Wahrlich, wer nicht von Unserem versiegelten köstlichen Wein trinkt, dessen Siegel wir nunmehr in Unserem Namen, der Selbstbestehende. gebrochen haben, der ist noch nicht zum Licht der Einheit gelangt, und hat noch nicht den Sinn der Bücher Gottes, des Herrn des Himmels und der Erde, des Königs dieser und der nächsten Welt, erkannt. Ein solcher Mensch wird im Buche Gottes, des Erkennenden, des Allwissenden, zu den Götzendienern gezählt.
O du verehrter Fragender! In den Tagen, an denen die Feder am Schreiben und die Zunge an der Beantwortung der Fragen verhindert war, die du an diesen Unterdrückten über die „größte Unfehlbarkeit“ und das „mächtigste Zeichen“ gerichtet hast, zeigtest du große Geduld. Das bezeugen Wir, denn du hattest gebeten, daß dir in diesen Fragen die Schleier und Hüllen vor den Augen entfernt und ihr Geheimnis, ihre Bedeutung, ihr erhabener Rang, ihr Wesen und ihre Größe erklärt würden.
Beim Leben Gottes! Würden Wir die in den Muscheln der See der Erkenntnis
und Zuversicht verborgenen Perlen des Beweises preisgeben und
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die in den Gemächern der Äußerungen und im Paradies des Wissens
versteckten Gesichte der Bedeutungen ans Licht bringen, so würde sich das
Geschrei der Religionslehrer aus allen Richtungen erheben, und du würdest
das Volk Gottes in den Krallen jener Wölfe finden, die weder ursprünglich
noch in der Wiederkehr an Gott glaubten. Aus Weisheit, die
von der Gegenwart des Allgütigen stammte, und zum Schutze Unserer
Freunde vor jenen, die den Segen Gottes gegen ihren Unglauben vertauschten
und ihre Anhänger beredeten, am Ort des Verderbens zu verweilen, ließen Wir
deshalb die Feder für lange Zeit ruhen.
O du staunend Fragender, den die allerhöchsten Heerscharen zu dem erhabenen Wort hingezogen haben! Für die Vögel in Meinem Königreich und für die Tauben des Gartens Meiner Weisheit gibt es Lieder und Weisen, die keiner kennt außer Gott, dem König in der Welt der Herrschaft und im Reiche des Lichthimmels. Wenn von diesen auch nur der geringste Laut11) erklänge, würden sich die Ungläubigen in einer Weise darüber äußern, wie es nicht einmal von den früheren feindlichen Gemeinschaften geschah; auch würden sie begehen, was in keinem der vergangenen Zeitalter begangen wurde. In der Tat, sie leugnen die Gnade Gottes, Seine Gründe, Beweise und Zeichen. Sie irren, und da sie kein
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- Dies ist der Tag, von Gott zu sprechen, Sein Lob zu verkünden und Ihm zu dienen; entziehet euch dessen nicht. Ihr seid die Buchstaben der Worte, ihr seid die Worte des Buches. Ihr seid die Sämlinge, die die Hand der Güte in den Boden der Barmherzigkeit pflanzte, die die Schauer der Großmut zum Blühen brachten. Er hat euch behütet vor den Stürmen des Unglaubens, vor den Unwettern der Gottlosigkeit, und hat euch großgezogen mit den Händen Seiner liebenden Vorsehung. Jetzt ist es an der Zeit für euch, Blätter zu treiben und Früchte zu tragen. Die Früchte vom Baume des Menschen sind seit eh und je edle Taten und ein lobenswerter Charakter. Vorenthaltet diese Früchte den Achtlosen nicht! Werden sie angenommen, habt ihr euer Ziel erreicht und den Zweck des Lebens erfüllt. Wo nicht, da überlaßt jene ihrem Zeitvertreib, leeren Wortstreit zu führen. Strebe danach, o Volk Gottes, die Herzen der verschiedenen Nationen auf Erden mit den Wassern der Nachsicht und Güte von Haß und Feindseligkeit zu reinigen und zu läutern, auf daß sie würdig und tauglich werden, die Strahlen der Sonne der Wahrheit aufzunehmen.
- Bahá’u’lláh
- („Epistle to the Son of the Wolf“, p. 25 f.)
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Verständnis haben, führen sie auch das Volk irre. Sie beten Götzen an
und wissen es nicht. Einbildungen wählten sie sich zu Herren anstelle
Gottes und merkten es nicht. Ohne es zu begreifen, gaben sie das Größte
Meer auf und eilten einem kleinen Tümpel zu. Sich von Gott, dem Beschützer,
dem Selbstbestehenden, abwendend, folgen sie ihren eigenen Trieben.
Sprich: Der Allgütige ist wahrlich mit Kraft und Macht gekommen. Durch Ihn erzitterten die Angehörigen aller Religionen vor Furcht, und die Nachtigall des Wortes sang auf dem höchsten Zweig der Erkenntnis: Er, Der in der göttlichen Erkenntnis verborgen war und von Dem in dem heiligen Buche berichtet ist, ist wahrlich gekommen. Sprich: Dies ist der Tag, an dem der Sprecher des Berges Seinen Platz auf dem Thron der Offenbarung einnahm, an dem die Menschen vor Gott, dem Herrn der Geschöpfe, auferstanden. Dies ist der Tag, an dem die Erde Neues offenbarte und ihre Schätze entschleierte, an dem das Meer seine Perlen, der göttliche Lotosbaum seine Früchte, die Sonne ihren Glanz, die Monde ihr Licht, der Himmel seine Sterne, die „Stunde“ ihre Zeichen, die Auferstehung ihre Erhabenheit, die Federn ihre Spuren und die Geister ihre Geheimnisse enthüllten. Gesegnet ist, wer Ihn erkennt, und wehe denen, die Ihn leugnen und sich von Ihm abwenden. Ich bitte Gott, Er möge Seine Diener befähigen, zu Ihm zurückzukehren. Wahrlich, Er ist der Nachsichtige, der Vergebende, der Barmherzige!
O du, der du zum höchsten Horizont schreitest und Meinen kostbaren versiegelten Wein aus den Händen göttlicher Gaben trinkst! Bedenke, daß es in Wirklichkeit zahlreiche Bedeutungen und verschiedene Stufen der Unfehlbarkeit gibt. In gewissem Sinn ist die Bezeichnung „Unfehlbarkeit“ auf einen Menschen anwendbar, den Gott vor Irrtum schützt. Diese Bezeichnung ist ferner auf jeden Menschen anwendbar, den Gott vor Sünde, Übertretung, Unglaube, Untreue, Abgötterei und ähnlichem bewahrt. Aber die Bezeichnung „größte Unfehlbarkeit“ ist nur auf den Einen anwendbar, Dessen Stufe erhaben ist über Gebote und Verbote und heilig über Sünde und Vergeßlichkeit. Wahrlich, Er ist das Licht, dem keine Finsternis folgt, die Redlichkeit, die vor Irrtum sicher ist. Wenn Er erklärte, Wasser sei Wein, Himmel sei Erde und Licht sei Feuer, wäre dies wahr und über jeden Zweifel erhaben, und niemand hätte das Recht, Ihm zu widersprechen oder nach dem Warum und Weshalb zu fragen. Wer mit Ihm rechtet, zählt wahrlich zu den Gegnern im Buche Gottes, des Herrn der Geschöpfe. „Wahrlich, von Ihm soll über das, was Er tun wird, keine Rechenschaft verlangt werden; aber alle anderen werden für ihr Tun Rechenschaft ablegen müssen“ (Qur’án).
Wahrlich, Er kam vom Himmel des Unsichtbaren, und mit Ihm die Losung des „Er tut, was Er will“. Mit Ihm kamen die Heerscharen der Macht und Herrschaft. Allen außer Ihm ist es zur Pflicht gemacht, sich an das zu halten, was Er befohlen hat, an Seine Gesetze und Verordnungen. Wenn jemand auch nur um Haaresbreite davon abweicht, werden alle seine Taten für nichts geachtet.
Denke an die Worte, die Muhammad, der Bote Gottes, bei Seinem Erscheinen
sprach — und Sein Wort ist Wahrheit: „Für das Volk ist es eine
Pflicht vor Gott, das Haus (in Mekka) zu besuchen.“ Dasselbe galt in
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bezug auf Gebet, Fasten und die sonstigen Verordnungen, die vom Buche
Gottes, des Herrn der Welt und des Erziehers der Nationen, ausgingen. Es
wurde allen zur Pflicht gemacht, Ihm in dem, was von Gott befohlen
wurde, zu gehorchen; und wer Ihn leugnete, der glaubte nicht an Gott, an
Sein Wort, Seine Boten und Sein Buch. Wahrlich, wenn Er erklärte, eine
Tugend sei Irrtum, Unglaube sei Glaube, wäre dies die Wahrheit aus
Seiner Gegenwart. Er steht auf einer Stufe, auf der es weder Irrtum noch
Sünde gibt; von beidem kann hier nicht gesprochen werden.
Betrachte die gesegneten Worte, mit denen die Pilgerfahrt zu dem „Haus“ zur Pflicht gemacht wurde; auch denen, die sich nach Ihm in der Sache Gottes erhoben, wurde zur Pflicht gemacht, das einzuhalten, was ihnen im Buche befohlen wurde. Niemand hat das Recht, von den Verordnungen und Vorschriften Gottes abzuweichen; wer es dennoch tut, der zählt im Buche Gottes, des Herrn des großen Thrones, zu den Übertretern.
O du, der du zum Himmel der Sache Gottes aufschaust! Wisse, daß der Wunsch Gottes in Wirklichkeit niemals auf die von den Dienern errichteten Schranken beschränkt ist. Wahrlich, Er wandelt nicht in ihren Wegen; es ist allen zur Pflicht gemacht, auf Seinem geraden Pfad zu bleiben. Wahrlich, wenn Er erklären würde, rechts sei links oder Süden sei Norden, so wäre dies wahr, und es gäbe daran keinen Zweifel. Ihm gebührt Lob für Seine Taten und Gehorsam gegenüber Seinen Geboten. Er bedarf keiner Bundesgenossen in Seinen Befehlen und keiner Gehilfen bei der Ausübung Seiner Macht. „Er tut, was Er will, und befiehlt, was Ihm beliebt.“
Darum wisse: Alle außer Ihm wurden durch ein Wort, das von Ihm ausging, erschaffen, und es gibt bei allem Erschaffenen weder Bewegung noch Ruhe, die nicht auf Seinen Befehl und Seine Erlaubnis zurückgehen.
O du, der du dich in die Höhen der Liebe und Zuneigung aufgeschwungen hast, der du aufblickst zum Lichte des Angesichts deines Herrn, des Königs alles Seienden. Danke Gott, denn Er enthüllte dir, was in der göttlichen Erkenntnis verborgen und verhüllt war, auf daß alle erkennen mögen, daß Er auf der Stufe der „mächtigsten Unfehlbarkeit“ weder Gehilfen noch Berater nötig hat. Wahrlich, Er ist der Aufgangspunkt der Gebote und Verordnungen und die Quelle der Erkenntnis und Weisheit. Alle außer Ihm sind Untertanen und stehen unter dem Gebot, während Er der Herrscher, der Gebieter, der Kennende, der Allwissende ist...
- *
O Jalíl! Wir zeigten dir wahrlich das Meer und seine Wogen, die Sonne und ihren Glanz, den Himmel und seine Sterne, die Muscheln und ihre Perlen. Danke Gott für diese große Gunst und diese Segnung, welche die ganze Welt erfüllt!
O du, der du dich dem Licht des göttlichen Antlitzes zuwandtest! Aberglauben
umgibt in der Tat die Bewohner der Erde und hindert sie, sich
dem Horizont der Gewißheit und seinem strahlenden Lichte zuzuwenden.
Durch ihre Einbildungen lassen sie sich von dem Selbstbestehenden
abhalten; sie sprechen, wie es ihnen ihre Gelüste eingeben, und merken es
nicht. Etliche von ihnen fragen: „Sind die Verse geoffenbart?“ Antworte
[Seite 256]ihnen: „Ja, durch den Herrn der Himmel!“ Sie fragen: Ist die ’Stunde’
gekommen?“ Antworte ihnen: „Ja, sie ist sogar schon vorüber, bei dem
Offenbarer der Zeichen. Die Unvermeidliche12) ist wirklich gekommen, und
der Wahrhaftige erschien mit Beweisen und Gründen! Die Sahirah 13) kam
zum Vorschein, und die Menschen befinden sich in großer Furcht und
Aufregung. Die ’Erdbeben’ haben sich tatsächlich ereignet, und viele
Menschen jammerten aus Furcht vor Gott, dem Mächtigen, dem Starken.“
Sage ihnen: „Der überwältigende Schall der Posaunen ertönte, und der
Tag ist Gottes, des Weisen, des Unbeschränkten.“ Sie sagen ferner: „Ist
die 'Katastrophe‘ eingetreten?“ Antworte ihnen: „Ja, bei dem Herrn der
Herren.“ Sie fragen: „Hat die Auferstehung stattgefunden?“ Antworte
ihnen: „Ja, sogar der Selbstbestehende ist im Reich der Zeichen
erstanden.“ Sie fragen: „Hat man die Menschen ’im Staube liegend’ gefunden?
Antworte ihnen: „Ja, bei meinem Herrn, dem Erhabenen, Al-Abhá!“ Sie
fragen: „Sind die Bäume ’entwurzelt‘ worden?“ Antworte ihnen: „Nicht
nur dies, sondern selbst die Berge wurden durch den König aller
Eigenschaften gestürzt!“ 14), Ein anderer fragt: „Wo ist nun das ’Paradies‘ und
die 'Hölle'?“ Antworte ihm, das erstere sei Meine Begegnung und die
letztere, o du zweifelnder Götzendiener, dein eigenes Selbst. Sie sagen:
„Wahrlich, wir sehen die Waage15) nicht.“ Antworte ihnen: „Bei meinem
Herrn, dem Gütigen, außer den Einsichtsvollen wird sie niemand sehen.“
Sie fragen: „Sind die Sterne vom Himmel gefallen?“ Antworte ihnen: „Ja,
dies geschah, als der Urewige im ’Land der Geheimnisse‘ 16) lebte!“ Seid
deshalb gewarnt, o ihr Einsichtsvollen! In der Tat, alle Zeichen wurden
offenbar, als Wir die Hand der Macht vom Busen der Größe und Allmacht
ausstreckten. Der Rufer hat laut gerufen; denn der verheißene Tag ist
gekommen, und in der Wüste des Verweilens stehen die Bewohner des
Berges Sinai verblüfft ob der Majestät deines Herrn, des Königs von
Ewigkeit her. Alsdann fragen sie: „Wurde die Posaune geblasen?“ Antworte
ihnen: „Ja, beim König der Offenbarung! Es geschah, als Er auf
den Thron Seines Namens, der Gütige, gesetzt wurde.“ In die tiefe
Dunkelheit drang der Strahl der aufgehenden Sonne der Barmherzigkeit
deines Herrn, des Aufgangspunktes des Lichts. Die Lüfte des Barmherzigen
wehten in der Tat und erfrischten die Seelen in den Gräbern
ihrer Körper. So wurde es von seiten Gottes, des Mächtigen,
des Gabenreichen, verordnet.
Die Ungläubigen fragen: „Wann wurde der Himmel gespalten?“ Antworte ihnen:
„Während ihr euch in den Gräbern der Achtlosigkeit und des Irrtums befandet.“
Ein anderer der Ungläubigen reibt sich die Augen und blickt nach rechts
und links. Sage ihm: „Wahrlich, du bist blind
[Seite 257]geworden, aber an diesem Tag gibt es keinen Zufluchtsort für dich.“ Andere
fragen: „Sind die Seelen der Menschen auferstanden?“ Antworte: „Ja, bei
meinem Herrn; während ihr auf dem Lager des Aberglaubens ruhtet,
geschah es!“ Wieder andere fragen: „Ist das Buch durch eine schöpferische
Macht geoffenbart worden?“ Sage ihnen: „Ja, in einer Weise, daß selbst
die schöpferische Macht darüber erstaunt ist.“— Seid daher gewarnt, o ihr
Geistiggesinnten! Andere fragen: „Sind die Blinden sehend geworden?“
Antworte ihnen: „Ja, durch den, der auf den Wolken reitet. Das Paradies
ist geschmückt mit den Rosen der Bedeutungen, und die Hölle ist entfacht
durch das Feuer der Gottlosen.“ Sprich: „Das Licht ist wahrlich am
Horizont der Offenbarung aufgegangen, und die Regionen sind erleuchtet;
denn der König am Tage des Bündnisses ist gekommen.“ Wer dies bezweifelt,
ist in großem Nachteil; aber wer mit dem Licht der Überzeugung
zum Dämmerort der Gewißheit eilt, hat großen Nutzen erlangt.
Gesegnet bist du, o du Schauender, weil Wir dir dieses Tablet offenbarten, das den Seelen Aufschwung verleiht. Bewahre es gut und lies es. Bei Meinem Leben, es ist das Tor der Gnade deines Herrn: Gesegnet ist, wer es liest am Morgen und am Abend!
Wahrlich, Wir hörten, wie du diese Sache erwähntest, durch die der Berg des Wissens eingeebnet wurde und durch die schon mancher Fuß strauchelte! Bahá sei mit dem Volke Bahás, das zu dem Mächtigen, dem Gabenreichen, eilte.
- Ohne die Vermittlung des Heiligen Geistes kann niemand der Gaben Gottes teilhaftig werden. Keiner darf die unzweideutigen Wahrheiten außer Acht lassen. Es ist eine offensichtliche Tatsache, daß ein Kind nicht ohne Lehrer unterrichtet werden kann; und Wissen ist eine der Gaben Gottes. Die Erde kann nicht grünen und Gras hervorbringen, wenn die Wolken keinen Regen spenden; folglich ist die Wolke eine Mittlerin zwischen den göttlichen Gaben und dem Erdboden. Ohne die Seele wächst und entwickelt sich der Körper nicht; folglich ist die Seele eine Mittlerin des geistigen Lebens.
- ‘Abdu’l-Bahá
(„Bahá’í World Faith“, p. 370)
[Seite 258]Das Tablet ist nun wohl beendet, aber Unsere Äußerungen sind noch
nicht zu Ende. Sei geduldig, denn wahrlich, dein Herr ist der Allgeduldige!
- *
Es folgen Worte, die Wir früher, nach Unserer Ankunft in diesem „Größten Gefängnis“, offenbarten. Wir senden sie dir, damit du weißt, was die Zungen der Lügner behaupteten, als Gott mit Macht und Herrschergewalt kam. Der Grundpfeiler des Argwohns ist erschüttert, der Himmel des Aberglaubens ist zerspalten, während sich die Menschen noch im Zweifel befinden und streiten. Sie leugnen den Beweis Gottes, obwohl er vom Horizont der Macht mit dem Königreich der Zeichen zu ihnen kam. Sie verwerfen, was ihnen befohlen ward, und begehen, was im Buche Gottes verboten ist. Sie haben ihren Gott verlassen und folgen ihren Gelüsten. Sind sie nicht achtlose und irrende Menschen? Sie lesen das göttliche Wort und glauben es nicht. Sie sehen die offenbaren Zeichen und wenden sich von ihnen ab. Leiden sie nicht unter seltsamen Zweifeln?
Wahrlich, Wir ermahnen Unsere Freunde zur Gottesfurcht, welche die Quelle der guten Taten und Sitten ist! Wahrlich, in der Stadt Bahás ist die Gottesfurcht die Führerin der Heerscharen der Gerechtigkeit. Gesegnet ist, wer sich unter ihrem strahlenden Banner sammelt und sich daran festhält! Ein solcher Mensch gehört zu den Schutzbefohlenen der „Roten Arche“, von der im Qayyûmu’l-Asmá 17) die Rede ist.
O Volk Gottes! Schmücke deinen Tempel18)) mit dem Mantel der Vertrauenswürdigkeit und der Redlichkeit, alsdann hilf deinem Herrn mit den Heerscharen guter Taten und Sitten! Wahrlich, in Unseren Büchern, Sendschreiben und Tablets haben Wir euch Aufruhr und Streit verboten, und dabei hatten Wir nur eure Erhebung und Erhöhung im Auge! Dies bezeugen der Himmel und seine Sterne, die Sonne und ihr Glanz, die Bäume und ihre Blätter, die Meere und ihre Wogen, die Erde und ihre Schätze. Wir bitten Gott, Seinen Freunden beizustehen und sie in dem zu stärken, was ihrer auf dieser gesegneten, mächtigen und wunderbaren Stufe würdig ist. Wir bitten Ihn, diejenigen, die um Mich sind, zu befähigen, das auszuführen, was ihnen durch Meine erhabene Feder befohlen wurde...
Sprich: O Meine Freunde in Meinen Ländern! Höret auf den Rat Dessen, Der euch um Gottes willen aufrichtig ermahnt! Wahrlich, Er hat euch erschaffen und euch geoffenbart, was eurer Erhöhung dient, was euch nützt und mit dem rechten Pfad und der großen Botschaft bekannt macht.
O Jalíl! Ermahne die Diener zur Gottesfurcht! Die Gottesfurcht ist in Wahrheit die erste Führerin in der Streitmacht deines Herrn, und ihre Truppen sind gute Sitten und reine Taten. Durch diese werden in jedem Zeitalter und in jedem Jahrhundert die Städte der Herzen und Gemüter besiegt und die Siegesfahnen auf den höchsten Höhen aufgepflanzt.
[Seite 259]Wir erinnern dich auch an die Vertrauenswürdigkeit und an die Stelle,
die sie vor Gott, deinem Herrn und dem Herrn des größten Thrones,
einnimmt. Eines Tages begaben Wir Uns auf Unsere grüne Insel 19).
Als Wir sie betraten, sahen Wir fließende Bäche und blühende Bäume,
zwischen deren Blättern die Sonne spielte. Wir wandten Uns zur Rechten,
und an diesem Ort, dem ausgezeichnetsten, dem gesegnetsten, dem herrlichsten,
dem erhabensten, sah das Auge des Herrn der Menschheit, was
die Feder nicht zu beschreiben und zu schildern vermag. Uns im
Weitergehen nach links wendend, sahen Wir eines der Wesen des erhabenen
Paradieses, das, auf einer Lichtsäule stehend, mit erhobener Stimme
ausrief: „O ihr Scharen des Himmels und der Erde! Blickt auf meine
Schönheit, mein Licht, meine Offenbarung und meine Erscheinung! Bei
Gott, dem Einen Wahren! Ich bin die Vertrauenswürdigkeit, ihre Erscheinung
und Schönheit. Ich bin auch die Belohnung für den, der sich an die
Vertrauenswürdigkeit klammert, ihren Wert und ihre Stufe erkennt und
sich an ihrem Saume festhält. Ich bin der prächtigste Schmuck für das
Volk Bahás und ein Mantel der Ehre für alle im Reiche der Offenbarung.
Ich bin die wichtigste Ursache des Reichtums der Welt und der Horizont
der Ruhe für die Menschen dieses Seins.“
Auf diese Weise offenbarten Wir dir, was die Diener dem König des Ursprungs näher bringen wird.
Die erhabene Feder wendet sich jetzt von der beredten Sprache ab, um zu der glanzvollen Sprache 20) überzugehen, damit Jalíl die Gunst seines edlen Herrn erkenne und zu denen gehöre, die dankbar sind.
O du, der du auf den höchsten Horizont blickst! Der Ruf aus der Höhe
erschallt, aber der Gehörsinn der Menschen ist mangelhaft, ja manchmal
überhaupt nicht vorhanden. Im Schlunde eines Drachens gedenkt dieser
Unterdrückte der Freunde Gottes, In diesen Tagen wurde Uns zugefügt,
was selbst den himmlischen Heerscharen Kummer und Wehklagen verursachte.
Weder die Tyrannei der Welt noch das Unrecht der Nationen
konnten den König des Urseins hindern zu äußern, was Ihm beliebte,
und durchzuführen, was Er wollte. Als sie aber sahen, wie der Horizont
dieser Sache erstrahlte und welche Wirkung das Wort Gottes hatte,
stürmten Seelen, die jahrelang hinter Schleiern verborgen waren, mit den
Schwertern des Hasses auf Uns ein und fügten Uns zu, was weder die
Feder zu beschreiben noch die Zunge zu schildern vermag. Gerechte
Menschen bezeugen, daß Sich dieser Unterdrückte seit Beginn Seiner Sache
furchtlos und ohne Scheu vor den Augen von Königen und Untertanen,
Fürsten und Gelehrten erhob und sie alle mit lauter Stimme auf den
rechten Pfad wies. Dabei hatte Er keinen anderen Helfer als Seine Feder
und keinen Beistand außer Seinem eigenen Selbst. Achtlose Menschen,
die den Ursprung der Sache nicht kannten, traten als Gegner auf. Sie
sind die „Krächzer“, die Gott in den Büchern und Tablets erwähnte und
vor deren Verleumdungen, Geschrei und Entstellungen Er Seine Diener
warnte. Gesegnet ist, wer vor der Erwähnung des Königs des Urseins
[Seite 260]alles in der Welt als nicht bestehend und als ein Nichts betrachtet und
sich derart an den festen Griff Gottes klammert, daß weder Zweifel noch
böse Einflüsterungen, weder Schwerter noch Kanonen imstande sind,
ihn davon abzubringen und ihn dessen, was er erlangt hat, zu berauben.
Gesegnet sind die Gefestigten, die Standhaften.
Deiner Bitte gemäß beschrieb die erhabene Feder die Grade und Stufen der „größten Unfehlbarkeit“. Damit wollten Wir bezwecken, es möchten alle mit ganzer Sicherheit erkennen, daß das „Siegel der Propheten“ — möge das Leben aller ein Opfer für Ihn sein — nicht Seinesgleichen hatte und daß keiner Ihm auf Seiner Stufe ebenbürtig ist. Die Heiligen 21) — möge das Lob Gottes auf ihnen ruhen — sind alle durch Sein Wort erschaffen worden. Nach Ihm waren sie die Weisesten und Vortrefflichsten unter den Gläubigen; sie nahmen die höchste Stufe des Dienens ein.
Daß das göttliche Wesen geheiligt und erhaben über jeglicher Ähnlichkeit oder Ebenbürtigkeit steht und zu rein ist, um Genossen und Seinesgleichen zu haben, ist klar und wurde dir bereits bewiesen. Dies ist die Stufe wirklicher Einheit und vollkommener Einzigkeit; aber die Angehörigen der voraufgegangenen Gemeinschaft 22) sind dieser Erkenntnis beraubt; sie vermögen diese Stufe nicht zu erkennen, wie sie es von rechtswegen sollten. Seine Heiligkeit der „Punkt“ 23) — möge das Leben aller ein Opfer für Ihn sein — sagte: „Wenn Seine Heiligkeit ‚das Siegel‘ nicht das Wort ‚Viláyát‘ 24) geäußert hätte, so würde es keine Viláyát gegeben haben“. Die Anhänger der voraufgegangenen Gemeinschaft treiben Vielgötterei; dennoch zählen sie sich zu den Gläubigen an die göttliche Einheit. Sie sind die Unwissenden unter den Dienern, dennoch halten sie sich für allen anderen überlegen. Als Strafe für diese achtlosen Seelen wurde der Zustand ihres Glaubens und die Stufe, die sie darin einnehmen, an diesem Tag der Vergeltung für jeden denkenden und einsichtsvollen Menschen klar und offenbar. Bitte Gott, daß Er die Diener dieser Offenbarung vor den Einbildungen und dem Aberglauben der voraufgegangenen Glaubensgemeinschaft bewahre und sie nicht des Glanzes, der vom Lichte der Sonne wahrer Einheit ausgeht, beraube.
O Jalíl! Der Unterdrückte der Welt spricht: Die Sonne der Gerechtigkeit und Unparteilichkeit ist hinter den Wolken verborgen; Diebe nehmen die Stellung der Wächter und Beschützer ein, und Treulose wurden an die Stelle der Vertrauenswürdigen gesetzt. Im vergangenen Jahr war ein Tyrann Gouverneur dieser Stadt. Unter ihm erlitten Wir bei jeder Gelegenheit ein Unrecht. Beim Leben Gottes, er veranlaßte stets, was Furcht und Schrecken einflößte. Aber die Tyrannei der ganzen Welt ist nicht imstande, die erhabene Feder aufzuhalten. Aus besonderer Gnade und Barmherzigkeit für die Regenten und Berater der Welt schrieben Wir, was Schutz, Sicherheit, Wohlergehen und Ruhe der Menschheit fördert. Vielleicht werden dadurch die Diener vor der Bosheit der Tyrannen beschützt. Wahrlich, Gott ist der Beschützer, der Helfer, der Bestätiger!
[Seite 261]Die Mitglieder des Hauses der Gerechtigkeit müssen ihr Augenmerk bei
Tag und Nacht auf das richten, was von dem Himmel der erhabenen
Feder für die Erziehung der Menschen, den Aufbau der Länder, den
Schutz ihrer Bewohner und die Wahrung der menschlichen Ehre geoffenbart wurde.
DAS ERSTE ISHRÁQ
Als die Sonne der Weisheit am Horizont der göttlichen Ordnung aufging, sprach sie in folgenden erhabenen Worten:
Die Reichen, Geachteten und Mächtigen müssen der Religion die größtmögliche Ehrfurcht entgegenbringen. Die Religion ist ein strahlendes Licht und eine starke Feste für den Schutz und die Ruhe der gesamten Menschheit; denn die Gottesfurcht gebietet den Menschen zu tun, was recht ist, und verbietet ihnen, was böse ist. Wenn das Licht der Religion verborgen bliebe, würden Aufruhr und Anarchie überhandnehmen, und die Sonne der Gerechtigkeit und Unparteilichkeit, des Friedens und der Ruhe könnte kein Licht geben. Jeder einsichtsvolle Mensch wird dem hier Gesagten zustimmen.
DAS ZWEITE ISHRÁQ
Wir haben den Größten Frieden befohlen; denn er ist das beste Mittel für den Schutz der Menschheit. Die Herrscher der Welt müssen sich einhellig an diesen Befehl, die Hauptursache der Sicherheit und Ruhe in der Welt, halten. Die Regenten sind die Ausgangspunkte der Macht und der Autorität Gottes. Wir bitten Gott, ihnen in allem beizustehen, was zum Frieden der Völker führt. Die Erklärung dieses Themas wurde schon früher durch die erhabene Feder geoffenbart. Gesegnet ist, wer danach handelt.
DAS DRITTE ISHRÁQ
befiehlt die Durchführung der Strafgesetze, denn dies ist das beste Mittel für die Aufrechterhaltung der Welt. Der Himmel göttlicher Weisheit ist beleuchtet von zwei Sonnen: Beratung und Güte, und das Zelt der Ordnung der Welt ist errichtet auf zwei Pfeilern: Belohnung und Bestrafung.
DAS VIERTE ISHRÁQ
In dieser Offenbarung sind würdige Taten und gute Sitten die Heerscharen, die zum Siege führen, und ihr Führer und Befehlshaber ist göttliche Frömmigkeit. Diese umfaßt alles und beherrscht alles.
DAS FÜNFTE ISHRÁQ
bestimmt, daß die Regierungen mit den Verhältnissen der Beamten vertraut
sein müssen, und daß sie ihnen Amt und Würde ihren Verdiensten
gemäß verleihen sollen. Dieser Angelegenheit Beachtung zu schenken, ist
unbedingt bindend und jedem Regierungsoberhaupt zur Pflicht gemacht.
[Seite 262]Auf diese Weise mag vielleicht vermieden werden, daß sich Treulose die
Stellung der Vertrauenswürdigen aneignen oder Plünderer die Stellung
der Wächter einnehmen.
Unter den Beamten dieses Größten Gefängnisses gab es von jeher etliche, die sich — Gott sei Dank — durch Gerechtigkeitssinn auszeichneten, aber über das Gebaren der anderen wollen Wir schweigen und Unsere Zuflucht zu Gott nehmen. Wir bitten Ihn, daß Er sie führen möge, damit sie vielleicht nicht der Früchte des Baumes der Vertrauenswürdigkeit und Redlichkeit beraubt noch vom Lichte der Sonne der Unparteilichkeit und Gerechtigkeit ferngehalten sein mögen.
DAS SECHSTE ISHRÁQ
bezieht sich auf Eintracht und Harmonie unter den Menschen. Durch Eintracht wurden die Regionen der Welt stets mit dem Lichte der Sache Gottes erleuchtet. Sich mit der Sprache und Schrift anderer Völker bekannt zu machen, ist das beste Mittel hierzu.
Wir haben schon in früheren Sendschreiben befohlen, daß die Mitglieder des Hauses der Gerechtigkeit aus den bestehenden Sprachen eine auswählen oder eine neue Sprache als Weltsprache einführen müssen. In gleicher Weise bestimmten Wir, daß sie unter den verschiedenen Schriftarten eine auswählen und diese die Kinder in den Schulen der ganzen Welt lehren sollen, damit dadurch die ganze Welt als ein Vaterland angesehen werde.
Die köstlichste Frucht vom Baum der Erkenntnis ist dieses erhabene Wort: „Ihr seid alle die Früchte eines Baumes und die Blätter eines
- Das Kommen der Propheten und die Offenbarung der heiligen Bücher haben zum Ziel, Liebe zwischen den Menschenseelen und Freundschaft unter den Erdbewohnern zu schaffen. Es gibt keine wahre Liebe, es sei denn, der Mensch wendet sein Antlitz Gott zu und fühlt sich hingezogen zu Seiner Schönheit.
- ‘Abdu’l-Bahá
- („Bahá’í World Faith“, p. 364)
[Seite 263]Zweiges. Ruhm gebührt nicht dem, der sein Vaterland liebt, sondern dem,
der das ganze Menschengeschlecht liebt.“
In diesem Zusammenhang haben Wir schon früher geoffenbart, was das Mittel für das Wohlergehen der Welt und die Vereinigung der Nationen ist. Gesegnet ist, wer dazu gelangt und wer es in die Tat umsetzt.
DAS SIEBENTE ISHRÁQ
Die erhabene Feder macht allen zur Pflicht, die Kinder zu unterrichten und zu erziehen. Nach Unserer Ankunft im Gefängnis (‘Akká) wurden diesbezüglich im Buche Aqdas 25) folgende Worte vom Himmel des göttlichen Willens geoffenbart: „Es wird verordnet, daß jeder Vater seine Söhne und Töchter in Gelehrsamkeit und Schrifttum erzieht sowie in dem, was in dem Tablet verordnet ist. Wird dies von jemand vernachlässigt, so ist es Pflicht der Mitglieder des Hauses der Gerechtigkeit, den für die Erziehung der Kinder erforderlichen Betrag von den Eltern, sofern diese bemittelt sind, einzuziehen; sind aber die Eltern unbemittelt, dann soll die Angelegenheit dem Haus der Gerechtigkeit übertragen werden. Wahrlich, Wir machten das Haus der Gerechtigkeit zu einem Zufluchtsort für die Armen und Bedürftigen!
Wenn jemand seinen Sohn oder Kinder eines anderen erzieht, so ist es, als erziehe er Meine Kinder. Auf einem solchen seien Meine Herrlichkeit, Meine Vorsehung und Meine Barmherzigkeit, die alles auf der Welt umfaßt!
DAS ACHTE ISHRÁQ
Der folgende durch die erhabene Feder geschriebene Abschnitt ist aus dem Buch Aqdas entnommen:
Die Angelegenheiten des Volkes sind den Mitgliedern des Hauses der Gerechtigkeit unterstellt. Diese sind die Vertrauensleute Gottes unter Seinen Dienern und die Quellen der Befehlsgewalt in Seinen Ländern.
O Volk Gottes! Der Erzieher der Welt ist die Gerechtigkeit, denn sie besteht aus zwei Pfeilern: Belohnung und Bestrafung. Diese beiden Pfeiler sind zwei Brunnen des Lebens für die ganze Menschheit.
Jeder Tag und jede Zeit erfordern besondere Regelungen oder Anordnungen. Deshalb sind alle Angelegenheiten dem Haus der Gerechtigkeit anvertraut, und dieses mag ausführen, was ihm jeweils geeignet erscheint. Wer sich aufmacht, der Sache Gottes aufrichtig zu dienen, um Ihm zu gefallen, wird mit der unsichtbaren göttlichen Eingebung begnadet. Allen ist es zur Pflicht gemacht, ihnen (den Mitgliedern des Hauses der Gerechtigkeit) zu gehorchen.
Die Verwaltungsgeschäfte sind alle dem Haus der Gerechtigkeit übertragen. Andachtshandlungen müssen so gehalten werden, wie es im Buch geoffenbart ist.
[Seite 264]O Volk Bahás! Ihr seid die Aufgangsorte der Liebe und der Gunst
Gottes. Befleckt eure Zunge nicht dadurch, daß ihr irgend jemanden
verflucht oder verwünscht, und behütet eure Augen vor dem, was unwürdig
ist! Zeigt, was in euch ist! Wird es angenommen, ist das Ziel erreicht;
wird es abgelehnt, so ist es nicht erlaubt, mit denen, die es verwerten,
zu streiten. Überlaßt sie sich selbst und schreitet voran, hin zu Gott, dem
Beschützer, dem Selbstbestehenden. Seid nicht die Ursache des Kummers,
geschweige denn des Aufruhrs und des Streites! Wir hoffen, daß ihr im
Schatten des Baumes göttlicher Gunst erzogen werdet und daß ihr tätig
seid nach Gottes Willen. Ihr seid alle die Blätter eines Baumes und die
Tropfen eines Meeres.
DAS NEUNTE ISHRÁQ
Die Religion Gottes und der Glaube an Gott wurden vom Himmel des Willens des urewigen Königs geoffenbart und verkündet, um Einigkeit und Harmonie unter die Menschheit zu bringen; macht sie daher nicht zur Ursache der Uneinigkeit und des Mißklangs!
Die Religion Gottes und Sein Gesetz sind die größte Ursache und das stärkste Mittel für das Erscheinen und Erstrahlen der Sonne der Einigkeit. Die Entwicklung der Welt, die Erziehung der Nationen, die Ruhe der Menschen und die Sicherheit der Völker aller Länder waren stets den göttlichen Verordnungen und Gesetzen zuzuschreiben. Die Religion ist die Hauptursache dieser größten Gabe. Sie spendet den Kelch der Kraft, sie verleiht ewiges Leben und gewährt den Menschen unvergängliche Segnungen. Die Regenten der Erde, ganz besonders aber die Mitglieder des Hauses der Gerechtigkeit, müssen die größten Anstrengungen machen, der Religion diese Stellung zu erhalten, sie zu beschützen und zu fördern. Des weiteren ist notwendig, daß sie die Verhältnisse des Volkes untersuchen und sich mit dem Tun und den Angelegenheiten eines jeden in den Gemeinden vertraut machen.
Wir bitten die Könige und Führer des Volkes, sich als Offenbarer der göttlichen Macht zu bemühen, daß die Uneinigkeit unter den Menschen verschwinde und die Welt mit dem Licht der Eintracht erleuchtet werde. Alle müssen sich an das halten, was von der erhabenen Feder geoffenbart wurde, und müssen es verwirklichen. Der eine wahre Gott und alle Atome des Weltalls bezeugen, daß Wir in den Briefen und Tablets durch die erhabene Feder nur offenbarten, was zur Erhöhung, Hebung, Erziehung, zum Schutz und Fortschritt der Menschheit führt. Wir bitten Gott, daß Er Seine Diener stärken möge.
Was dieser Unterdrückte von allen verlangt, ist Gerechtigkeit und Unparteilichkeit. Sie sollen nicht nur hören auf das, was von diesem Unterdrückten ausging, sondern auch darüber nachdenken. Ich versichere bei der Sonne des göttlichen Wortes, die am Horizont des Reiches des Gütigen aufging, daß Wir Uns nicht zum Gegenstand des Tadels, des Spottes und der Verleumdung seitens der Menschen gemacht hätten, wenn ein anderer Erklärer oder Sprecher zu finden gewesen wäre.
Bei Unserer Ankunft im ‘Iráq befand sich die Sache Gottes in einem
Zustand des Stillstandes; die Düfte der Offenbarung hatten aufgehört zu
[Seite 265]wehen. Die meisten der Gläubigen waren welk, ja sogar geistig tot.
Deshalb erschallte die Posaune „zum zweiten Mal“, und die folgenden
gesegneten Worte strömten über die Zunge der Größe: „Wir haben die Posaune
ein zweites Mal erschallen lassen!“ Auf diese Weise belebten Wir die Welt
mit den Düften der Offenbarung und der Eingebung. Darauf tauchten aus
jedem Versteck eine Anzahl Seelen auf, die beabsichtigten, diesen
Unterdrückten zu verfolgen. Sie haben die machtvolle Wohltat gehemmt
und verworfen.
O Volk der. Gerechtigkeit! Wenn diese Sendung abzuleugnen wäre, welche Sache auf dieser Erde wäre dann der Darlegung wert oder verdiente, anerkannt zu werden? Unsere Gegner sammeln die geoffenbarten Worte dieser Manifestation, und wo sie solche bis jetzt fanden, da bemächtigten sie sich ihrer durch erheuchelte Liebe. Bei jeder Religionsgemeinschaft geben sie vor, zu den Gläubigen zu zählen. Sprich: Sterbet in eurem Zorn! Wahrlich, Er kam mit einer Sache, die keiner leugnen kann, der mit Gesicht, Gehör, Scharfsinn, Gerechtigkeit und Unparteilichkeit ausgestattet ist, Dies bezeugt die Feder des Urewigen in dieser Zeit des deutlichen Beweises.
- *
O Jalíl! Auf dir sei meine Herrlichkeit! Wir gebieten den Freunden des Einen Wahren, sich guter Taten zu befleißigen, damit es ihnen gelinge, in Übereinstimmung mit dem zu handeln, was vom Himmel des Gebots geoffenbart wurde. Der Segen aus den Äußerungen des Barmherzigen fällt denen zu, die danach leben. Wir bitten Gott, daß Er die Freunde stärke in dem, was Er liebt und billigt, daß Er sie befähige, gemäß diesem unwiderleglichen Befehl gerecht und unparteiisch zu handeln, daß Er sie mit Seinen Zeichen bekannt mache und sie auf Seinen rechten Pfad leite. Seine Heiligkeit der Vorläufer — möge das Leben aller ein Opfer für Ihn sein — hat gewisse Verordnungen gegeben, aber alle Gebote wurden von Unserer Bestätigung abhängig gemacht. Dieser Unterdrückte hat daher einige dieser Gebote bestätigt und sie mit etwas veränderten Worten im Buch Aqdas wiedergegeben, während Wir andere nicht annahmen. Dies liegt in Gottes Hand. Er tut, was Er will, und verordnet, was Ihm beliebt. Er ist der Mächtige, der Gepriesene!
Einige weitere Verordnungen wurden in Form von Gebeten geoffenbart. Gesegnet ist, wer dazu gelangt und danach handelt.
Das Volk Gottes muß sich aufs äußerste bemühen, damit das in den Herzen der Menschen verborgene Feuer der Erbitterung und des Hasses mit dem Wasser der göttlichen Unterweisungen und Ermahnungen ausgelöscht wird und die Bäume des Seins wunderbare und köstliche Früchte tragen. Wahrlich, Er ist der mitleidige und wohltätige Ermahner!
Die Herrlichkeit, die vom Himmel der göttlichen Gaben erstrahlt, ruhe auf dir, o Volk Bahás, und auf jedem, der fest, standhaft, unerschüttlich und verständig ist!
- *
Auf deine Frage bezüglich der Zinsen und der Erträgnisse von Gold und Silber antworten Wir: Vor einigen Jahren wurde vom Himmel des
- Fortsetzung Seite 268
Erfolgreiche Bahá’í-Lehrarbeit im Jahr 1962[Bearbeiten]
Außergewöhnlich reiche Früchte hat die Bahá’í-Lehrarbeit im letzten Jahr im schwarzen Erdteil gezeitigt. Insbesondere in Zentral- und Ostafrika ist die Zahl der Gläubigen und der Zentren 1962 stark gestiegen. Waren es im Jahr 1956 in diesem Bereich des afrikanischen Kontinents erst 61 Geistige Räte, so zählte man am Ende des Jahres 1962 annähernd 700 Geistige Räte. Allein in der Kongo-Republik sind bis jetzt rund 150 Geistige Räte gebildet worden. In Britisch Kamerun konnten innerhalb weniger Monate im vergangenen Jahr zwölf neue Geistige Räte ins Leben gerufen werden. Unter den neu erklärten Bahá’í befinden sich über 100 Pygmäen, die im letzten Jahr erstmals einen Abgeordneten zur zentral- und ostafrikanischen Jahrestagung entsandten. Auch in anderen Teilen der Welt wächst die Zahl der Bahá’í unaufhörlich.
Unser Bild zeigt den Besuch von Präsident Tubman (Mitte) am Schrein des Báb. Von links: Tubman, Rúhiyyih Khánum und der Oberbürgermeister von Haifa, Aba Khoushy.
Ein Bild von der letzten Jahresversammlung der Bahá’í von Zentral- und Ostafrika.
[Seite 267]In Lateinamerika haben im Verlaufe eines Jahres Tausende
den Glauben angenommen. So bestehen z.B. in Bolivien jetzt 62 Geistige Räte,
in Kolumbien konnten vier neue Räte, darunter einer, der ausschließlich aus
Indianern besteht, gebildet werden. In Mexico hat sich die Zahl der
Bahá’í verdoppelt. In Korea sind zwei weitere Räte gebildet worden, auf einer
Inselgruppe vor Sumatra haben die Einwohner von acht Dörfern den Bahá’í-Glauben
angenommen. In Indien hat die Zahl der Geistigen Räte in den letzten Monaten
300 weit überschritten. Im Zentrum des Bahá’í-Glaubens, in Haifa/Israel,
wurden im abgelaufenen Jahr wieder mehrere hochgestellte Persönlichkeiten empfangen.
Ein besonderes Ereignis war der Besuch von Präsident Tubman aus Liberia, den dieser
zusammen mit seiner Gattin dem Schrein des Báb auf dem Berge Karmel abstattete.
Vor ihm hatte bereits der israelische Staatspräsident Ben Zvi die heiligen Stätten
auf dem Karmel besucht. Außerdem konnten die Bahá’í die Kulturattachés aller in
Israel vertretenen ausländischen Botschaften begrüßen.
- Fortsetzung von Seite 265
Barmherzigen und im Namen Gottes für Zaynu’l-Muqarrabín — auf ihm sei die Herrlichkeit Gottes — folgendes geoffenbart: „Die meisten Menschen sind auf solche Dinge angewiesen; denn wenn kein Nutzen aus geliehenem Geld erlaubt wäre, würden die Geschäfte gehemmt werden und ins Stocken geraten. Es wird selten jemand zu finden sein, der in geschäftlichen Angelegenheiten derart auf seinen Nebenmenschen — sei dieser Landsmann oder Bruder — Rücksicht nimmt, daß er bereit ist, ihm nach dem Prinzip „Gharzí Hasan“ 26) Geld zu leihen. Daher haben Wir als eine Gunst für die Menschen verordnet, daß, wie bei anderen Geschäftsunternehmen, die unter den Menschen gebräuchlich sind, auch aus ausgeliehenem Geld ein Nutzen zulässig ist. Von dem Augenblick an, da diese klare Verordnung vom Himmel des göttlichen Willens herabgesandt wurde, ist es den Menschen erlaubt und gilt als gesetzmäßig und rein, Zinsen für ausgeliehenes Geld zu fordern. Dies geschah, damit die Menschen den Geliebten mit größter Freude, Glückseligkeit und Frohlocken preisen. Wahrlich, Er verordnet, was und wie Er will, und Er erklärt jetzt das Zinsnehmen für ebenso rechtmäßig, wie Er es früher für ungesetzlich erklärte 27). Das Reich des Gebots ist in Seiner Hand. Er tut und verordnet, was Er will, denn Er ist der Gebieter, der Allwissende.“
O Zaynu’l-Muqarrabín! Danke deinem Herrn für diese offenbare Gnade!
Die persischen Mullá haben häufig für ihr ausgeliehenes Geld Wucherzinsen gefordert und die Leute auf vielfache Art und Weise getäuscht und betrogen; aber äußerlich hüllten sie dies in das Gewand der Gesetzmäßigkeit. Aus den Geboten Gottes und aus Seinen Gesetzen machen sie ein Spielzeug, und sie haben kein Verständnis dafür.
Aber in dieser Angelegenheit des Zinsnehmens muß Mäßigung und Gerechtigkeit walten. Aus göttlicher Weisheit und um es den Dienern leichter zu machen, hat es die erhabene Feder unterlassen, hierin Grenzen festzusetzen. Wir ermahnen die Freunde Gottes, derart gerecht und billig zu handeln, daß dadurch die Barmherzigkeit Seiner Geliebten und ihr Mitgefühl untereinander offenbar wird. Wahrlich, Er ist der Ratgeber, der Mitleidige, der Wohltätige!
Gebe Gott, daß alle befolgen, was von der Zunge des Einen Wahren floß. Wenn sie alles befolgen, was hier erwähnt wurde, wird ihnen Gott - erhaben ist Seine Herrlichkeit! - unzweifelhaft für die einander erzeigte Barmherzigkeit das Doppelte aus dem Himmel Seiner Gnade verleihen. Wahrlich, Er ist der Gnädige, der Vergebende, der Barmherzige!
Preis sei Gott, dem Erhabenen, dem Großen!
Die Ausführung dieser Angelegenheiten aber ist den Mitgliedern des Hauses der Gerechtigkeit anbefohlen, die stets nach den Erfordernissen der Zeit und mit Weisheit handeln müssen.
Zum Schluß ermahnen Wir alle noch einmal zu Gerechtigkeit, Unparteilichkeit, Liebe und Wohlwollen. Wahrlich, ihr seid das Volk Bahás, die Gefährten der „Roten Arche“! Auf euch sei der Friede Gottes, des Herrn der Namen und des Schöpfers des Himmels!
- —————
Deutsch in Auszügen aufgrund der englischen Übersetzung von ‘Alí Kulí Khán, Chicago 1917; vgl. auch “Bahá’í World Faith, Selected Writings of Bahá’u’lláh and ‘Abdu’l-Bahá“, Wilmette/Ill., USA, 1943/1956, S. 197 ff.
Ishráqát = (arab.) Glanz, Pracht, Herrlichkeit; Einzahl: ishráq.
- 1) Das Wort „Zeichen“ ist hier im Sinne der Tierkreiszeichen zu verstehen.
- 2) Dies bezieht sich auf die „Lehre vom Punkt“. Der Punkt ist die erste Ausgießung des Unsichtbaren für eine „neue Schöpfung“; vom Punkt werden die Buchstaben hergeleitet. Die Symbolik wird verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Buchstaben des persisch-arabischen Alphabets weitgehend durch Punkte charakterisiert werden, so z. B. der Buchstabe „b“ durch einen Punkt unter der Schreiblinie. In den Tagen des Báb wurde dies erklärt, indem er als „Punkt der Offenbarung“ erschien und Seine ersten Jünger als die „18 Buchstaben des Lebendigen“ bezeichnet wurden.
- 3) Name der Súrih-al-Fatihá (die „Öffnende“), der ersten Súrih des Qur’án; auch sie beginnt mit „b“: „Bismi’lláhi’r-Rahmáni’-Rahim“, „Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Allbarmherzigen...“ Diese Súrih wird auch „Missani“ genannt, d. h. die „wiederholt zu lesende“, da ihre Verse einen Teil des täglichen Gebets der Muslim bilden.
- 4) Eine gewisse Form der Offenbarung oder eine Schrift, die dem Preis und Ruhm Gottes gilt. Dieses Sendschreiben begann mit einer „Humilí“, und nun folgt eine zweite.
- 5) Die Persönlichkeit des Offenbarers
- 6) Aus dem Qur’án: der Bericht von Moses, als er im Sinai das Feuer im Busch erblickte.
- 7) Jesus Christus
- 8) Moses
- 9) den Offenbarer
- 10) Über die „größte Unfehlbarkeit“ lehrt ‘Abdu’l-Bahá, daß die Unfehlbarkeit eines Offenbarers von den Menschen nicht aus ihrem begrenzten Gesichtskreis und ihrer subjektiven Einschätzung der Taten einer Manifestation Gottes beurteilt werden kann. Der Gottgesandte ist unfehlbar in dem Sinn, daß Er als der Tempel Gottes „tut, was Er will“. Bei allem, was Er tut, muß der Mensch erkennen, daß es auf göttliche Weisheit gegründet ist.
- 11) wörtlich: „ein Atom“
- 12) „Alhakkat“. Die „unvermeidliche“ (Stunde) sowie die vorerwähnten und nachfolgenden Zeichen sind Merkmale des Jüngsten Tags, wie sie im Qur’án, Súrih 69 und anderorts, aufgezählt werden.
- 13) wörtlich: „die Erde“ oder „das Antlitz der Erde“, d. h. die Erdoberfläche. Nach islamischer Überlieferung ist Sahirah ein Land, das Gott am Tag des Gerichts erschaffen würde. Daher gilt dieses Wort als Zeichen des Auferstehungstages.
- 14) vgl. dazu Jesaja 40, 4
- 15) die Waage, auf der am Tage des Gerichts die Taten der Menschen gewogen werden.
- 16) Adrianopel (Edirne)
- 17) Kommentar des Báb zur Súrih von Joseph (Qur’án 12), begonnen in der Nacht Seiner Erklärung am 23. Mai 1844. Der Hauptzweck dieses bedeutsamen Buches war, die Leiden vorauszusagen, die der Verheißene (Bahá’u’lláh) von Seinem fehlgeleiteten Bruder werde erdulden müssen.
- 18) d.h. Körper
- 19) der Garten Ridván bei Baghdád. Vgl. auch Tablet Tarázát, „BAHA’I-BRIEFE“ 9, S. 204.
- 20) vom Arabischen zum Persischen
- 21))d.h. die Imáme und rechtmäßigen Nachfolger Muhammads
- 22) d.h. die Muslim
- 23) d.h. der Báb
- 24) „Viláyát“ heißt Nachfolge oder Hütertum. Hier ist darunter die Stufe der zwölf Imáme und rechtmäßigen Nachfolger Muhammads zu verstehen.
- 25) Das Kitáb-i-Aqdas ist das „heiligste Buch“ Bahá’u’lláhs. Es wurde um 1873 in ‘Akká geoffenbart und ist „die Charta Seiner Weltordnung, der Hauptaufbewahrungsort Seiner Gesetze, die Ankündigung Seines Bundes und das Hauptwerk, das einige Seiner vornehmsten Ermahnungen, bedeutsamsten Erklärungen und wunderbarsten Prophezeiungen enthält“ (Shoghi Effendi, „The Promised Day is Come“, S. 24).
- 26) wörtlich: „gutes Darlehen“, d. h. ohne Zinsen ausgeliehenes Geld, das nach Gutdünken des Schuldners zurückgezahlt wird.
- 27) Zinsnehmen („Riba“) ist im Islám als Wucher verboten.
Richtbaum auf dem europäischen „Haus der Andacht"[Bearbeiten]
Im April dieses Jahres soll in Langenheim im Taunus der europäische Muttertempel der Bahá’í seiner Bestimmung übergeben werden. Rund fünf Monate vor diesem festlichen Ereignis, zu dem Bahá’í aus vielen Teilen der Welt erwartet werden, wurde am 16. November letzten Jahres das Richtfest begangen. Neben den Gemeinderäten von Langenhain, Bürgermeister Nickel, dessen Amtsvorgänger Bürgermeister a.D. Heuss, hatten sich die Bauarbeiter am „Haus der Andacht“ versammelt, wo nach der Begrüßung der Teilnehmer durch den stellvertr. Vorsitzenden des Nationalen Geistigen Rates der Bahá’í in Deutschland, Dr. E. Schmidt, namens des Bauherrn Architekt Dipl.-Ing. Teuto Rocholl den Fortgang der Bauarbeiten erläuterte. Den traditionellen Richtspruch sprach ein Arbeiter vom Dach des Umganges, das an einer Stelle mit einem Richtbaum geziert war. Bürgermeister Nickel überbrachte die Glückwünsche der Gemeinde Langenhain, und der Vorsitzende des Nationalen Geistigen Rates, Ruprecht Krüger, gab einen kurzen Überblick über die Geschichte dieses Bauwerks. Allen, die am Bau beteiligt waren, dankte er für die saubere Arbeit, die hier geleistet wurde.
Inzwischen sind die Arbeiten weitergangen. Zum Schutz gegen Schnee und Kälte ist der gesamte Umgang mit großen Zeltplanen verhängt worden. Hinter diesen „Vorhängen“ sind die Stahlrahmen für die Fenster und Windfänge eingesetzt worden. Nunmehr ist der restliche Innenausbau in vollem Gange. — Unser Bild zeigt das „Haus der Andacht“ am Tage des Richtfestes.
- Foto: Bopp
[Seite 270]
Aus der Bahá’í-Geschichte
Die sieben Märtyrer von Tihrán[Bearbeiten]
Große Unruhe beherrschte ganz Persien in der Zeit, als hierzulande Biedermeier die Mode war. Überall wurde von der Bewegung des Báb gesprochen; denn überall war die Sehnsucht nach dem Verheißenen groß. Gebildete wie Ungebildete verfolgten den Ablauf der Dinge mit Leidenschaft. Regierung und Geistlichkeit, besorgt um ihre Macht und Würden, suchten eifrig, alle Spuren des Báb, der im entlegensten Winkel des Landes gefangengesetzt war, auszutilgen.
Der Onkel des Báb, Hájí Mírzá Siyyid ‘Alí aus Shíráz, hatte den Báb in der Festung Chiríq, Ádhirbáyján, gegen Ende des Jahres 1849 besucht und machte den Rückweg über Tihrán. Der Báb hatte ihm den Märtyrertod vorausgesagt und hinzugefügt: „Ich Selbst werde dir folgen, zusammen mit einem Meiner aufrechten Schüler, und werde dich im Reich der Ewigkeit wiederfinden.“
Von allen seinen Freunden wurde der Onkel des Báb in Tihrán gewarnt und gebeten, die Stadt schnellstens wieder zu verlassen, aber er erwiderte: „Warum soll ich mich um meine Sicherheit sorgen? Auch ich trage Verlangen, an dem Festmahl teilzuhaben, das Gott Seinen Erwählten im ganzen Lande bereitet.“
Kurz darauf trat ein Verräter auf, der vorgab, sich für den Glauben des Báb zu interessieren. Er nahm an zahlreichen Studienkreisen teil und verschaffte sich auf diese Weise eine Liste von fünfzig Namen, die er Mahmud Khán, dem Bürgermeister der Stadt, aushändigte. Sofort befahl dieser, die fünfzig Gläubigen zu verhaften; vierzehn von ihnen, fast durchweg vornehme Kaufleute, darunter der Onkel des Báb, wurden ergriffen und im Haus des Bürgermeisters gefangengesetzt. Im Obergeschoß dieses Hauses hielt man auch Táhirih, die einzige Frau unter den ersten Jüngern des Báb, berühmt als Dichterin und Frauenrechtlerin, fest.
Jede nur denkbare Mißhandlung fügte man den vierzehn Gefangenen zu, um sie zu verleiten, die Namen und Anschriften von weiteren Gläubigen in der Stadt preiszugeben. Mírzá Táqí Khán, der Premierminister und einer der erbittertsten Feinde, befahl, sie alle hinzurichten, wenn sie nicht ihrem Glauben abschwörten. Sieben von den vierzehn taten dies unter dem Druck der Drohung; sie wurden sofort entlassen. Die anderen blieben standhaft und gingen als die sieben Märtyrer von Tihrán in die Geschichte ein.
Der Onkel des Báb wurde von seinen zahlreichen Geschäftsfreunden bedrängt, er möge doch seinen Glauben verleugnen und sein Leben retten. „Gott zwinkert über solche Dinge mit den Augen,“ sagte man ihm. Verschiedene reiche Kaufleute erboten sich, Lösegeld zu zahlen; aber Hájí Mírzá Siyyid ‘Alí lehnte ab. Schließlich wurde er vor den Premierminister gebracht.
„Viele vornehme Leute haben sich für dich verwandt,“ sagte der.
„Wohlhabende Handelsherren aus Shíráz und Tihrán drängen darauf,
[Seite 271]Lösegeld für dich zu zahlen. Ein Wort von dir genügt, und wir setzen dich
frei und geleiten dich in Ehren zurück in deine Vaterstadt.“
Aber der Onkel des Báb erwiderte kühn: „Eure Exzellenz, wenn ich die Wahrheit verleugnete, die in dieser Offenbarung zum Ausdruck kommt, würde ich damit die Wahrheit aller früheren Offenbarungen Gottes verleugnen. Würde ich ablehnen, die Sendung des Báb anzuerkennen, dann müßte ich den göttlichen Charakter der Botschaft abstreiten, die Muhammad, Jesus, Moses und alle Propheten der Vergangenheit gebracht haben.“ Der Premier machte keinen Hehl aus seinem Unwillen, als Hájí Mírzá Siyyid ‘Alí fortfuhr: „Gott weiß, daß ich das Vorrecht hatte, alles, was ich jemals über das Leben der früheren Gesandten Gottes gehört und gelesen habe, auch an diesem Jüngling, meinem geliebten Anverwandten, von Seiner frühesten Kindheit bis heute, zu Seinem dreißigsten Lebensjahr, mitzuerleben und bestätigt zu finden. Ich habe nur die Bitte, der erste sein zu dürfen, der das Leben auf Seinem Pfade darbringt.“
Der Premierminister war bestürzt über diese Antwort. Ohne ein Wort bedeutete er, daß der Onkel des Báb abgeführt und enthauptet werden solle. Auf dem Weg zur Richtstätte wandte sich dieser an die gaffende Menge und rief: „Über tausend Jahre lang habt ihr darum gebetet und gefleht, daß der Verheißene erscheinen möge. Jetzt, da Er gekommen ist, habt ihr ihn in eine hoffnungslose Verbannung, in den hintersten Winkel des Landes vertrieben. Mit dem letzten Hauch meines Lebens bitte ich darum, der Allmächtige möge euch befähigen, aus dem Todesschlaf eurer Nachlässigkeit aufzuwachen.“
Der Scharfrichter war erschüttert bei diesen Worten. Er gab vor, das Schwert, das er bereithielt, müsse erst noch geschliffen werden, rannte davon und kam nie wieder. Noch unzählige Male erzählte er später diese ergreifende Geschichte und bezeigte Reue über die Tat, die er beinahe verübt hätte.
- *
Mírzá Qurbán ‘Alí war hochgeachtet und beliebt im Land, eng befreundet mit vielen Patriziern von Tihrán. Als er einmal nach Karbilá reiste, war sein ganzer Weg von unzähligen Menschen gesäumt, die ihm zujubelten. Die Mutter des Sháh hielt große Stücke auf ihn und sagte zu ihrem Sohn: „Er ist bestimmt kein Anhänger des Báb. Sicherlich ist er nur verleumdet worden.“
Der Premierminister ließ Qurbán ‘Alí von der Wache in den Palast holen. Die Verhaftung hatte beinahe einen Aufruhr zur Folge; unübersehbare Massen folgten dem Gefangenen, und man fragte sich gegenseitig: „Was hat er nur getan? Welchen Fehler kann man an diesem großen Mann finden?“ In dichten Haufen standen die Leute vor den Eingängen zum Regierungssitz, um über sein Schicksal zu hören.
Zunächst behandelte man Qurbán ‘Alí mit größter Hochachtung. „Wir
wissen, daß du nicht zu diesen fehlgeleiteten Anhängern des Báb gehörst,“
sagten die Vernehmungsbeamten. „Eine falsche Anschuldigung ist gegen
dich vorgebracht worden. Du hast doch den Báb nicht als einen Propheten
angenommen!“ Qurbán ‘Alí erwiderte schlicht: „Ich weiß nicht, ob Er
[Seite 272]mich annimmt, aber ich nehme Ihn an. Ich zähle mich zu den Gläubigen
und Dienern des Báb.“
Man versuchte, ihm diese Narrheit auszureden. Er sei doch viel zu intelligent, um irgendjemandes Diener zu sein, viel zu bedeutend, um sich in den Augen seiner Mitmenschen zu erniedrigen. Man versprach ihm eine lebenslängliche Pension, wenn er hinaus auf die Straße ginge und der Öffentlichkeit erklärte, daß er seinen falschen Glauben widerrufe.
Qurbán ‘Alí wartete geduldig, bis sie zu Ende geredet hatten. Dann sprach er mit ruhiger Sicherheit: „Mein bißchen Leben und meine paar Tropfen Blut zählen nicht viel; aber wenn ich alle Schätze der Erde und tausend Leben hätte — ich würde sie aus freien Stücken dem geringsten unter den Freunden des Báb zu Füßen legen.“
Der Premier selbst suchte Qurbán ‘Alí zu überreden: „Seit gestern abend werde ich schier erdrückt von Beamten aller Klassen, die dich zu verteidigen suchen. Nach allem, was ich über deine Stellung und den Einfluß deiner Worte hörte, kann ich deine Haltung nicht verstehen. Wenn du selbst einen solchen Anspruch auf Führerschaft erhoben hättest, wäre es besser für dich gewesen, weit besser, als deine Zugehörigkeit zu erklären zu einem, der dir doch offensichtlich an Wissen unterlegen ist.“
Qurbán ‘Alí schüttelte den Kopf: „Das stimmt nicht! Alles Wissen, das ich erworben habe, hat mich dazu geführt, Ihn anzuerkennen und mich vor Ihm zu beugen. Ich habe Ihn genau geprüft und richtig beurteilt. Wenn der Báb falsch ist, sind alle Propheten seit Ewigkeit her falsch.“
Der Sháh und seine Mutter versuchten nacheinander, Qurbán ‘Alí von seinem Glauben abzubringen, aber weder Versprechungen noch Drohungen hatten Wirkung: „Ich habe tausend Bewunderer, die sich von meinen Worten beeinflussen lassen; dennoch habe ich nicht die Macht, das Herz des geringsten unter ihnen zu wandeln. Der Báb jedoch hat gezeigt, daß Er den verkommensten unter Seinen Mitmenschen aufrichten und von Grund auf ändern kann. Er hat solche Wirkung auf unsere Herzen, daß wir es als höchst unangemessenes Opfer betrachten, wenn wir unser Leben für Seine Sache hingeben.“
Noch zögerte der Premierminister: „Ich weiß nicht, ob deine Worte von Gott sind oder nicht; aber es widerstrebt mir, den Stab über einem Mann von deinem Rang und deiner Stellung zu brechen.“
„Warum zögerst du?“ brach es aus Qurbán ‘Alí hervor. „Dazu wurde ich geboren. Heute muß ich beweisen, ob ich der Erkenntnis würdig bin, die Gott mir anvertraut hat.“ Und als er sah, wie unschlüssig der Minister war, füge er hinzu: „Sei nicht unwillig darüber; sei sicher, daß ich dir niemals böse bin deswegen. Je schneller du mir den Kopf abschlägst, desto dankbarer werde ich dir sein.“
Da wurde der Premier zornig: „Nehmt ihn hinweg! Noch eine Minute, dann hat er mich ebenfalls verzaubert.“ Qurbán ‘Alí lächelte sanft: „Nein“, sagte er, „du bist immun gegen solchen Zauber. Der wirkt nur bei denen, die reinen Herzens sind.“
Der Premierminister — ein Emporkömmling, der sich durch Kabalen
und Intrigen vom Sohn eines Kochs heraufgedienert hatte — bebte vor Wut.
Er sprang auf und schrie mit fahlem Gesicht: „Nur das Schwert kann
[Seite 273]dieses irregeleitete Volk zum Schweigen bringen!“ Er wandte sich an
den Henker: „Genug! Du brauchst keinen von diesen verhaßten Leuten
mehr vorzuführen. Wer seinem Glauben abschwört, den lasse frei! Den
anderen schlag’ allen die Köpfe ab! Ich will keinen von ihnen mehr sehen!“
Qurbán ‘Alí wurde zur Richtstatt geführt. „Beeilt euch!“ rief er. „Durch diesen Tod reicht ihr mir den Kelch ewigen Lebens. Statt diesem trockenen Odem, den ihr jetzt austilgt, wird mich mein Geliebter mit einem Leben belohnen, wie kein sterbliches Herz es fassen kann.“ Eine große Menge drängte sich um ihn. Qurbán ‘Alí wandte sich ihr zu mit den Worten: „Der Verheißene hat sich in Shíráz erhoben, in der Gestalt Seiner Heiligkeit des Báb.“ Das Volk schrie ihn nieder, taub seinem Ruf. Seine Freunde hatten sich zurückgezogen; sie konnten den tragischen Anblick nicht ertragen. Aber der Mob, der einen großen Mann hatte stürzen sehen, war nun begierig auf sein Ende. „Schlagt ihn!“ schrien sie. „Schlagt den Feind Gottes!“ Qurbán ‘Alí seufzte traurig: „O, die Blindheit dieses Geschlechts! Meine Seele ist erfüllt mit Entzücken, aber ach! ich finde kein Herz, mit dem sie ihre Begeisterung teilen könnte, keinen Verstand, der ihre Herrlichkeit verstünde.“
Er kam zu der Stelle, wo der Onkel des Báb erschlagen lag. Sanft nahm er den hingestreckten Körper in die Arme und schaute auf das Meer von Haß um ihn herum. Dann rief er den Henker: „Komm’ her und führe deinen Streich! Mein gläubiger Gefährte will nicht, daß ich ihn aus den Armen lasse. Er ruft mich, mit ihm in das Reich Gottes zu eilen.“ Der Henker schlug zu. Selbst aus der feindseligen Menge hörte man Laute der Klage und des Unwillens, als die beiden, vereint für alle Zeit, am Boden lagen.
- *
Der nächste der sieben Märtyrer war Hájí Mullá Ismá’il, Wie Qurbán ‘Alí hatte er ursprünglich vor, zu der Festung Shaykh Tabarsí in Mázindarán zu ziehen, wo sich Mullá Husayn, Quddús und einige hundert Gefährten gegen eine Übermacht von Regierungstruppen verteidigten; aber Ismá’il war krank geworden, und als er sich wieder erholt hatte, hörte er, daß die Belagerung vorüber und alle seine Freunde dort umgebracht waren. Da begann er, den Glauben mit neuer Energie zu lehren, um den Verlust wettzumachen, den die Sache des Báb in Tabarsí erlitten hatte.
Mit den anderen wurde Ismá’il in Tihrán verhaftet. „Meinen Glauben verleugnen?“ rief er. „Niemals! Ich bin entschlossen, meinen Glauben öffentlich zu bekennen und mein Leben für den Báb zu geben.“ — „Wenn wir versäumen, das Kommen des Verheißenen zu verkünden“, sagte er zu seinen Mitgefangenen, „wer soll es dann tun? Wenn wir die Menschen nicht auf den rechten Pfad führen, sie nicht aus dem Todesschlaf aufwecken, wer dann? Wir sind das Werkzeug Gottes. Jeder, der dazu imstande ist, möge standhaft vortreten und mir Gesellschaft leisten.“
Als Mullá Ismá’il auf die Richtstätte kam, schrie die Menge: „Da ist
einer von ihnen, ein Anhänger des Báb!“ Ismá’il wandte sich, lachte und
sprach: „Ja, ich glaube an den Báb und gehe hin, für euch zu sterben“.
Der Mob beschimpfte ihn und warf mit Steinen. „Bei Gott, ihr Leute!“
rief er, „nur um euresgleichen zu erwecken, geben wir allen Wohlstand,
[Seite 274]Weib und Kind und unser Leben hin. Wir haben die Augen vor der Welt
und allem, was in ihr ist, verschlossen in der Hoffnung, ihr möchtet auch
nur die geringsten Anstalten machen, diesen Glauben zu prüfen. Gern
geben wir unser Leben, damit ihr versteht, daß der Gesandte Gottes
gekommen ist, und nicht länger blind seid.“
Noch auf dem Block des Scharfrichters traten einige persönliche Freunde zu ihm, um ihn zu überreden. „Dreißig Jahre lang habe ich mich nach diesem gesegneten Tag gesehnt“, erwiderte er. „Meine Sorge war, ich könnte diesen Wunsch unerfüllt mit ins Grab nehmen.“
Mullá Ismá’il hob die Augen zum Himmel: „Nimm mich auf, mein Gott, unwürdig, wie ich bin“. Der Henker schnitt sein Gebet ab.
- *
In rascher Folge fielen die anderen vier Märtyrer von Tihrán. Drei Tage und drei Nächte lagen die Körper dieser Helden preisgegeben auf dem Sabzíh- Maydán, dem „Grünen Platz“ oder Marktplatz von Tihrán am Nordausgang des großen Bazars, dort, wo heute die Grenze zwischen Alt- und Neustadt verläuft, gegenüber dem Siyáh-Chál, dem „Schwarzen Loch“, wo Bahá’u’lláh zwei Jahre später Seine Berufung erlebte und auf dessen Trümmern sich heute die Bazarfiliale der persischen Nationalbank erhebt. Auf diesem Platz, der schon damals ein Nervenzentrum des Tihráner Lebens war, scharten sich tagelang Tausende um die Leichname, traten sie mit Füßen, spuckten ihnen ins Gesicht und häuften Berge von Unrat über sie. Keine Hand hob sich, alledem Einhalt zu gebieten, im Gegenteil: Die Geistlichkeit verbot, die Leichen zu begraben. Schließlich wurden sie in ein Loch vor dem Tor der Stadt geworfen.
Durch diese Schandtat der persischen Staatsgewalt wurde zum erstenmal die breite Weltöffentlichkeit auf die Sendung des Báb aufmerksam, handelte es sich doch hier nicht mehr um namenlose Vorgänge in irgendwelchen finsteren Provinzen eines für damalige Begriffe unermeßlich großen Reiches, sonderen um Verbrechen, die an vornehmen Bürgern und Beamten der Hauptstadt verübt wurden. Selbstverständlich berichteten die europäischen Gesandten in Tihrán an ihre Regierungen, und in der Folge kamen zahlreiche Diplomaten und Gelehrte nach Iran, um die unglaublichen Vorgänge zu untersuchen.
Professor E. G. Browne, der bekannte englische Orientalist, schrieb viele Jahre später: „Dieser bedeutungsvolle Tag brachte dem Báb mehr geheime Anhänger als es viele Predigten vermocht hätten... Ich habe die Geschichte oft von Augenzeugen erzählen hören, von Leuten, die vielfach der Regierung nahe standen, teils sogar wichtige Beamte waren. Aus ihren Worten hätte man leicht entnehmen können, daß sie alle Anhänger des Báb seien, so groß war ihre Bewunderung... und ihre Achtung vor dem Gedankenreichtum, den Hoffnungen und den Erfolgsaussichten der neuen Lehre.“
- P.M.
Quellen:
William Sears, „Release the Sun“, Wilmette, Ill., USA. 1960, p. 134 ff. „The Dawn Breakers — Nabíl’s Narrative“
Shoghi Effendi, „Gott geht vorüber“, Frankfurt 1954, S. 52 f.
E.G. Browne, „A Traveller’s Narrative“, p. 216-217
Die andere Zukunft[Bearbeiten]
- „Der gespaltene Himmel“ ist der Titel einer Broschüre von Huschmand Sabet, die demnächst im Bahá’í-Verlag GmbH., Frankfurt/Main, erscheint. In einer Reihe von Aufsätzen werden darin die entscheidenden Fragen der geistigen und politischen Weltlage unter dem Aspekt der Offenbarung Bahá’u’lláhs beleuchtet. Im folgenden bringen wir einen dieser Aufsätze als Vorabdruck.
- D. Red.
Das Abendland hat — nicht nur in der Politik, sondern auch in der
Wissenschaft und Philosophie — den Satz geprägt: „Wenn Du den Frieden
willst, bereite Dich für den Krieg.“ Denken wir an Namen wie Bismarck,
Darwin und Nietzsche: Jeder hat auf seine Art und in seinem
Bereich diesen Satz für gültig erklärt. Man glaubte, den Kampf ums
Dasein als Naturgesetz erkannt zu haben, wonach der Stärkere siegt und
der Schwächere weichen und zugrunde gehen muß. Kriege wurden nicht
nur als unvermeidlich, sondern für den Fortschritt der Menschen als
notwendig erachtet. Heute sind die Meinungen über diesen Satz
allenthalben sehr geteilt.
Vor 100 Jahren erschien in Persien Bahá’u’lláh, der Begründer der Bahá’í-Religion. Er hatte keine Schule besucht, und über 40 Jahre lebte Er in Gefangenschaft und Verbannung. Er sprach von der Einheit — der Einheit Gottes, der Einheit der Religionen und der Gottgesandten, von der grundsätzlichen geistigen Einheit der Menschheit und dem allgemeinen Frieden. Er prägte Seinerseits diesen Satz: „Es rühme sich kein Mensch dessen, daß er sein Land liebt, sondern eher dessen, daß er die ganze Menschheit liebt.“ Nun mag man einwenden, daß diese und ähnliche Gedanken schon früher geäußert wurden. Zu allen Zeiten hat es edle Menschen und Idealisten gegeben, die für die höchsten menschlichen Ideale — und zu ihnen gehört die Einheit der Menschheit — eingetreten sind.
Wir müssen uns fragen, was das Besondere in der Aussage Bahá’u’lláhs
ist. Wenn wir Seine Schriften genau studieren, sind wir überrascht, wie
klar Er damals, wahrscheinlich als einziger, vorausgesehen hat, daß
Wissenschaft und Technik solche Fortschritte machen werden, daß die
Menschheit vor der Alternative steht, entweder zugrunde zu gehen oder
sich zu einigen. Bahá’u’lláh sagt: „Ein unbekanntes und wunderbares
Mittel ist in der Erde, aber es ist dem Verstand und den Seelen verborgen.
Es ist ein Mittel, das die Kraft hat, die Atmosphäre der ganzen Erde zu
wandeln, und seine Anwendung verursacht Zerstörung ...“ „Es ist unmöglich,
dieses starke, alles überwältigende Übel einzudämmen, es sei
denn, die Völker der Welt einigen sich in allen ihren Angelegenheiten,
das heißt, in einem gemeinsamen Glauben. Höret auf die Stimme dieses
Unterdrückten und haltet fest am größten Frieden ...!“ An einer anderen
Stelle betet Er darum, Gott möge verhindern, daß die Menschheit
dieses schreckliche Mittel bald findet. ‘Abdu’l-Bahá nimmt in einem
Seiner Briefe Bezug auf die oben erwähnten Worte Bahá’u’lláhs — es
war in den Anfängen der Flugzeugtechnik — und erwähnt, mit diesen
[Seite 276]Flugzeugen würde man die Mittel der Vernichtung transportieren können,
und wo sie abgeworfen würden, könnte ein ganzer Staat vernichtet werden.
Vor einiger Zeit hat ein deutsches wissenschaftliches Gremium, das mit der Prüfung der Frage des Schutzes der Zivilbevölkerung gegen den Atomtod beauftragt war, ein Gutachten ausgearbeitet, in dem festgestellt wird, daß es keinen brauchbaren Schutz gegen einen atomaren Angriff gibt, weil der Gegner mit viel geringerem Aufwand die getroffenen Maßnahmen absolut zunichte machen könne. Bahá’u’lláh hat immer wieder die Menschheit, vor allem die Völker des Westens, zur „Mäßigung in der Zivilisation“ ermahnt. Er empfahl Herrschern und Regierungen abzurüsten, denn sonst würden die Ausgaben für Rüstungszwecke ein Ausmaß erreichen, welches das geordnete Leben der Menschheit empfindlich störe. Heute geben die Regierungen in Ost und West, auch die der „Neutralen“, ja selbst der Entwicklungsländer, zwischen 25 und 60 Prozent ihrer Einnahmen für die Rüstung aus, in jeder Stunde mehr als 60 Millionen Mark. In wenigen Tagen könnte man mit diesen Geldern eine ganze Großstadt an Wohnungen bauen. Man gibt heute im „Frieden“ innerhalb weniger Stunden mehr für die Rüstung aus, als vor 100 Jahren ein ganzer Krieg gekostet hat. Sicherlich werden neuerdings auch ansehnliche Summen für Entwicklungshilfe bereitgestellt; die Weltbank und zahllose nationale Institutionen unterstützen die Entwicklungsländer. Aber auf unserem klein gewordenen Planeten, auf dem jedermann jedermanns Nachbar geworden ist, mutet diese Verhaltensweise an wie die eines Mannes, der jedes Jahr 100 Mark dafür aufbringt, Dynamit und Sprengstoff auf Vorrat zu halten, damit er notfalls das Haus seiner Nachbarn in die Luft sprengen kann, andererseits aber am Ende des Jahres 50 Pfennig für die notwendigsten Reparaturen an den Nachbarhäusern zur Verfügung stellt.
Heute haben die Waffen oft das Fabriktor noch nicht verlassen, da sind
sie bereits veraltet. Aber allem Anschein nach stehen wir nicht am Ende
dieser Entwicklung; es wird noch schlimmer kommen. Die Tatsache, daß
die Ausgaben für die Rüstung einmal schneller wachsen werden als das
Sozialprodukt der Menschheit, hat Bahá’u’lláh schon vor 100 Jahren
vorausgesehen. In Seinen zahlreichen Tablets ermahnt Er die Könige und
Regenten einzeln und insgesamt: „Vergeßt nicht die Gottesfurcht,
o Herrscher der Erde, und hütet euch, die von Gott gesetzten Grenzen zu
überschreiten .... Beendet eure Streitigkeiten und setzt eure Kriegsrüstungen
herab, damit die Last eurer Ausgaben erleichtert und eure Gemüter und
Herzen beruhigt werden. Heilt die Zwietracht, die euch spaltet, dann
werdet ihr keinerlei Kriegsrüstungen mehr nötig haben, es sei denn für
den Schutz eurer Städte und Gebiete... Wir haben erfahren, daß ihr
eure Ausgaben jedes Jahr vermehrt und die Lasten dafür euren Untertanen
auferlegt. Dies ist mehr, als sie tragen können, und eine bittere
Ungerechtigkeit.... Wenn ihr den Ratschlägen, die Wir in unvergleichlicher
und unzweideutiger Sprache in diesen Sendschreiben geoffenbart
haben, keine Beachtung schenkt, dann wird göttliche Züchtigung von
allen Seiten über euch kommen, und der Urteilsspruch Seiner Gerechtigkeit
wird gegen euch verkündet werden. An jenem Tage werdet ihr keine
Macht haben, Ihm zu widerstehen, und ihr werdet euer eigenes Unvermögen
[Seite 277]erkennen. Habt Erbarmen mit euch selbst und mit denen, die euch
untertan sind ...“ („Ährenlese“, CXVIII).
Bahá’u’lláh sagte nicht nur, daß die Menschheit eine Einheit werden soll; Er erklärt auch, wie das geschehen muß. Um die Achse der Einheit bewegen sich alle Lehren in der neuen Offenbarung. Geistig-religiöse Grundlage für diese allumfassende Einheit ist der göttliche Plan, nach welchem im Laufe der Zeiten göttliche Boten zu den Völkern gesandt wurden, um sie in der Religion Gottes zu erziehen. Dies bedeutet, daß die Bahá’í an die Einheit der Religionen und an die Wesensgleichheit der Offenbarer Gottes glauben. Man darf die Religionsstifter nicht nach menschlichen Maßstäben beurteilen und vergleichen wollen, wie dies vielleicht bei Dichtern oder Philosophen angehen mag, wo der Fachmann sagen kann, Goethe sei bedeutender als Schiller und dieser wieder größer als Mörike.
Bahá’u’lláh sagt: „Daß den verschiedenen Gemeinschaften der Erde und den mannigfachen religiösen Glaubenssystemen niemals erlaubt sein sollte, Gefühle feindseliger Gesinnung unter den Menschen zu nähren, gehört an diesem Tag zum Wesen des Glaubens Gottes und Seiner Religion. Diese Grundsätze und Gesetze, diese sicher begründeten und mächtigen Systeme sind einer Quelle entsprungen und sind die Strahlen eines Lichtes. Daß sie voneinander abweichen, ist den wechselnden Erfordernissen der Zeitalter zuzuschreiben, in denen sie verkündet wurden.“
An einer anderen Stelle sagt Er: „Betrachte mit deinem inneren Auge die Kette der aufeinanderfolgenden Offenbarungen, die die Manifestation Adams mit der des Báb verbindet. Ich bezeuge vor Gott, daß jede dieser Manifestationen durch die Wirksamkeit des göttlichen Willens und Planes herabgesandt wurde, daß jede die Trägerin einer besonderen Botschaft war, daß jede mit einem göttlich geoffenbarten Buch betraut und beauftragt wurde, die Geheimnisse einer machtvollen Tafel zu enthüllen. Das Maß der Offenbarung, das jedem von Ihnen gleichgesetzt wurde, ist genau vorherbestimmt gewesen .. .“
- *
Wenn wir diese Grundgedanken annehmen, daß nämlich die Gottgesandten eine Einheit bilden und es in Wirklichkeit — unabhängig von der geschichtlichen Entwicklung — nur eine Religion gibt, sind wir nicht mehr weit davon entfernt, die grundsätzliche geistige Einheit der Menschheit anzuerkennen. Um diese zu verwirklichen, gibt Bahá’u’lláh eine neue Weltordnung. Er bezeugt: „Das Gleichgewicht der Welt ist durch den schwingenden Einfluß dieser größten, dieser neuen Weltordnung ins Wanken geraten. Das geordnete Leben der Menschheit ist durch die Wirkung dieses einzigartigen, dieses wunderbaren Systems, dessengleichen sterbliche Augen nie bezeugt haben, umgewälzt worden ...“
Die Einzelheiten dieser Weltordnung können im Rahmen dieser Betrachtung
nicht behandelt werden. Bahá’u’lláh hat ein einzigartiges System
hinterlassen, das die Bahá’í zunächst in ihren eigenen Reihen zu verwirklichen
suchen, damit es zu gegebener Zeit in der ganzen Welt realisiert
[Seite 278]werden kann. Bahá’u’lláh offenbart auch eine Vielzahl von Gesetzen und
Lehren für die Veredelung des einzelnen und der Gemeinschaft. Viele
moderne „europäische“ Lehrmeinungen wurden vor 100 Jahren im Gefängnis
von ‘Akká durch die erhabene Feder Bahá’u’lláhs begründet.
Nun mag man fragen, welcher Zusammenhang zwischen einer Religion und einer neuen Weltordnung bestehe. Religion, wie man sie im christlichen Abendland versteht, ist gleichbedeutend mit lebendigem Glauben, der dem einzelnen Menschen hilft, seine Sünden zu überwinden und Erlösung zu erlangen. Wenn wir das Neue Testament genau lesen und vor allem die Stellen untersuchen, wo eine Begegnung zwischen Christus, den Juden und den Pharisäern stattgefunden hat — wie z.B. bei der Bergpredigt — stellen wir fest, daß Christus immer vom himmlischen Vater, von Liebe und von Gnade spricht. Und wenn Seine Ausführungen beendet sind, heißt es: „...da wunderten sie sich“ oder: „sie entsetzten sich“. Was mag der Grund für diese „Verwunderung“, dieses „Entsetzen“ gewesen sein? Wir müssen bedenken, daß für die Juden die strenge Gerechtigkeit und ein hartes göttliches Gesetz der Inbegriff der Religion waren. In diesem Rahmen suchten und erlebten sie das Religiöse. Nun war Jesus zu ihnen gekommen und sprach von Liebe und Gnade, nicht mehr von „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Die Juden konnten sich nicht vorstellen, was dies alles mit Religion zu tun haben sollte.
Mit anderen Worten: Das Angesicht der Religion änderte sich nach den Gegebenheiten und Notwendigkeiten der Zeit. Heute lehrt Bahá’u’lláh, daß die Erlösung der ganzen Menschheit wichtiger als die persönlicheErlösung und Errettung ist. Diese Erlösung der Menschheit und ihre geistige Einheit sind das, was man unter der Errichtung des „Reiches Gottes auf Erden“ versteht. Wenn wir daran denken, daß die Menschheit verschiedene Stufen der Einheit von der Familie bis zur Nation beschritten hat, kommen wir zu dem Ergebnis, daß die Einheit der Menschheit keine Illusion bleiben muß. Allerdings kann nur die Religion diese Einheit begründen, denn nichts anderes spricht das menschliche Wesen so sehr in seiner ganzen Tiefe an. Arnold Toynbee sagt, daß alle Kulturen durch Religionen entstanden sind, und daß der Einfluß der Religionen das Bedeutsamste ist, was sich in der Weltgeschichte zugetragen hat. (Propyläen-Weltgeschichte, Band II). Wer sonst könnte also die Einheit der Menschheit schaffen?
- *
Die Politiker sind Gefangene ihrer Probleme und Schwierigkeiten.
Manche von ihnen wissen nicht, was sie tun, und die anderen wissen
nicht, was sie tun sollen. Heute gibt es zwei oder drei Mächte, von denen
jede imstande ist, alle Erdenbewohner zu vernichten. In zehn Jahren
mögen fünf andere Mächte hinzukommen, deren jede ihrerseits die Mittel
besitzt, diesen Planeten unbewohnbar zu machen. Gestern hat Israel eine
Rakete in den Weltraum geschickt, heute ist es Kanada, und morgen wird
vielleicht Abessinien Atombomben haben. Die Politiker, die nicht imstande
sind, die Probleme von gestern zu lösen, werden jeden Tag in neue
Konflikte gestürzt. Jeder neue Tag wird gefährlicher, und überall wächst
die Angst. Es genügt, daß die Nerven eines verantwortlichen Politikers
[Seite 279]oder gar eines untergeordneten Funktionärs versagen, und schon ist die
Katastrophe da. Diese Tatsache ist so schrecklich und beängstigend, daß
die meisten Menschen gar nicht daran denken wollen. Aber auch wenn
alle die Nerven bewahren und nichts passiert, was können die Politiker
tun, und wie kann und soll es weitergehen? Es ist nicht vorstellbar, daß
man, auf die Dauer gesehen, einen Scheinfrieden auf die gegenseitige
Angst aufbauen kann.
Jeder einzelne von uns muß zur Begründung des Friedens beitragen, erst im eigenen Herzen und dann für die anderen. Die Begründung des Friedens und die Errichtung der Einheit ist die Aufgabe der religiösen Menschen und der Idealisten, denn die anderen können nicht die Herzen und die Gemüter der Menschen ändern. Wir dürfen nicht resignieren und sagen, daß wir wenige an der Zahl sind. Alle bedeutenden Veränderungen in der Menschheitsgeschichte sind durch einige wenige entstanden. Sofern wir gläubige Menschen sind, dürfen wir versichert sein, daß wir auf dem Pfade Gottes mächtiger als alles andere in der Welt sind. Wenn wir nicht so denken, sind wir Materialisten. Die Bahá’í sind gläubige Menschen. Sie glauben an Gott, sie glauben an die Einheit Gottes, ohne dies mit irgendwelchen religiösen oder philosophischen Spekulationen zu verbinden. Die folgenden Worte Bahá’u’lláhs zeigen uns Seinen Gottesbegriff:
„Gepriesen und verherrlicht seist Du, o Herr, mein Gott! Wie kann ich Dich erwähnen, da ich doch weiß, daß keine Zunge, und wäre ihre Weisheit noch so tief, Deinen Namen gebührend rühmen kann, und daß der Vogel des Menschenherzens, wie sehr er sich auch sehne, niemals hoffen darf, zum Himmel Deiner Erhabenheit und Kenntnis aufzusteigen. Erhaben, unermeßlich hoch erhaben bist Du über die Bemühungen der Sterblichen, Dein Geheimnis zu enträtseln, Deine Herrlichkeit zu schildern oder das Wesen Deines Geistes auch nur anzudeuten. Was immer derartige Bemühungen erreichen mögen, so können sie doch nie hoffen, die Grenzen zu überschreiten, die Deinen Geschöpfen gesetzt sind...“
Über die Einheit der Gottgesandten und der Religion sagt Bahá’u’lláh: „Hütet euch, o ihr, die ihr an die Einheit Gottes glaubt, daß ihr nicht versucht werdet, Unterschiede zwischen den Manifestationen Seiner Sache zu machen oder eines der Zeichen, die Ihre Offenbarung begleitet und verkündet haben, herabzusetzen. Dies ist in der Tat die wahre Bedeutung göttlicher Einheit, so ihr zu denen gehört, die diese Wahrheit begreifen und an sie glauben! Seid versichert, daß die Werke und Taten jeder dieser Manifestationen Gottes, ja, was auch zu Ihnen gehört und was Sie in der Zukunft verkünden mögen, alles von Gott verordnet und eine Widerspiegelung Seines Willens und Planes ist. Wer den geringsten Unterschied zwischen Ihrer Person, Ihren Worten, Ihrer Botschaft, Ihren Handlungen und Ihrer Art macht, hat wahrlich nicht an Gott geglaubt, hat Seine Zeichen zurückgewiesen und die Sache Seiner Boten verraten...“ (Ährenlese“ XXIV).
Man kann sagen, daß das erhabenste Ziel unseres Lebens die Begründung
der Einheit der Menschheit und des allgemeinen Friedens ist, und
wahre Religion kann heute keine anderen Ziele verfolgen. Wenn wir uns
eine Sekte vorstellen könnten, die es auf die Vernichtung der ganzen
Menschheit abgesehen hätte, so könnte diese Gemeinschaft ihr Ziel nicht
[Seite 280]wirksamer propagieren, als wenn sie alle glauben machte: „Wir können
doch nichts tun.“ Wir müssen acht geben, nicht so zu denken. Wir
müssen um ein neues, zukünftigses Weltbild ringen.
Die Einheit der Menschheit ist das größte Werk, das in der
Menschheitsgeschichte je in Angriff genommen wurde. Deshalb müssen wir eine
Kraftanstrengung und einen Idealismus entfalten, wie sie in den Annalen der
Geschichte ihresgleichen suchen. Bahá’u’lláh, Der unsere Sorgen und Nöte
genau kannte, gibt uns die Mittel dazu.
Todesstrafe gegen drei Bahá’í ausgesprochen[Bearbeiten]
Aufsehenerregender Prozeß in Marokko — 14 Bahá’í wegen ihres Glaubens angeklagt — Berufung eingelegt
- Vierzehn Angehörige der Baha’i-Religion waren im April des vergangenen Jahres in Marokko verhaftet worden, weil sie sich der „Auflehnung, Unruhestiftung, des Angriffs auf die öffentliche Sicherheit und des Angriffs auf den religiösen Glauben“ schuldig gemacht hätten. Nach rund achtmonatiger Untersuchungshaft wurden die 14 Angeklagten am 10. Dezember 1962 in der Stadt Nador vor Gericht gestellt, das knapp eine Woche später die Urteile fällte. Drei der Angeklagten wurden zum Tode verurteilt, fünf zu lebenslänglichem Zuchthaus, einer zu 15 Jahren Gefängnis; die übrigen wurden freigesprochen.
Diese Urteile wurden, wie aus den Berichten über die Gerichtsverhandlung hervorgeht, ausschließlich aufgrund der Tatsache gesprochen, daß die Angeklagten der Bahá’í-Religion angehören. Gegen diesen Urteilsspruch, der in Marokko zu einer ernsthaften Regierungskrise geführt und darüber hinaus ein weltweites Echo gefunden hat, ist inzwischen Berufung eingelegt worden. Zum Schutz der völlig zu Unrecht verurteilten Angeklagten — das Urteil steht auch im Widerspruch zur Charta der Vereinten Nationen, die von der marokkanischen Regierung gleichfalls unterzeichnet wurde, und verstößt gegen den Paragraphen 6 des Grundgesetzes von Marokko — haben 56 Nationale Geistige Räte der Bahá’í in aller Welt sich telegrafisch an Generalsekretär U Thant mit der Bitte gewandt, bei der marokkanischen Regierung zu intervenieren. Außerdem wurden von allen Nationalen und zahlreichen Örtlichen Geistigen Räten der Bahá’í Schreiben an die diplomatischen Vertretungen von Marokko in den jeweiligen Ländern gerichtet, in denen darum gebeten wird, die verurteilten Bahá’í zu schützen und die Menschenrechte in Marokko zu wahren. In gleichem Sinne wurde an König Hassan II von Marokko telegrafiert.
Eindeutig muß festgestellt werden, daß der Anklagepunkt, die Bahá’í
würden den Islam und somit die öffentliche Sicherheit untergraben, in
Widerspruch zu dem wahren Sachverhalt steht. Bahá’u’lláh, der Stifter
[Seite 281]der Bahá’í-Religion, die eine unabhängige Offenbarungs-Religion
ist, hat gelehrt:
- „In jedem Land, in dem Bahá’í wohnen, müssen diese ihrer Regierung gegenüber Treue, Vertrauen und Wahrhaftigkeit an den Tag legen...“
Auch der Vorwurf, die Bahá’í würden die mohammedanischen Lehren untergraben, entbehrt jeglicher Grundlage, denn Bahá’u’lláh hat bestimmt:
- „Denke an das, was auf Muhammad, den Boten Gottes, herabgesandt wurde. Das Maß der Offenbarung, deren Träger Er war, war deutlich von Ihm, dem Allmächtigen, dem Allmachtvollen, vorherbestimmt. Diejenigen, die Ihn hörten, konnten jedoch Seine Absicht nur der Größe ihrer Stufe und ihres geistigen Aufnahmevermögens entsprechend erfassen. So enthüllt Er das Angesicht der Weisheit im Verhältnis zu ihrer Fähigkeit, die Last Seiner Botschaft zu tragen.“
Aus diesen beiden Zitaten ergibt sich die volle Anerkennung jeder Regierung und die Anerkennung Muhammads als Offenbarer Gottes.
Es ist ermutigend zu erfahren, daß ein großer Teil der Bevölkerung der Stadt Nador offensichtlich kein Verständnis für dieses Gerichtsverfahren hegte, das in Presseberichten wiederholt mit dem Begriff der Inquisition identifiziert worden ist. Wie berichtet wird, hatten während der Verhandlung vor dem Gerichtsgebäude annähernd 3000 Einheimische zugunsten der Angeklagten und gegen das Gericht demonstriert. Gegen das Urteil hat sich außerdem eine dem marokkanischen Innen- und Landwirtschaftsminister Guedira gehörende Wochenzeitung gewandt.
- -rd.
Wie die Beantworteten Fragen entstanden[Bearbeiten]
In Heft 10/Oktober 1962 der „BAHÁ'Í-BRIEFE“, Seite 240, brachten wir eine kurze Besprechung der „Beantworteten Fragen“ von ‘Abdu’l-Bahá (Bahá’í-Verlag, Frankfurt/Main 1962, 306 Seiten, Leinen DM 13.20). Wie dieses bedeutsame Lehrbuch entstand, erzählt der folgende Beitrag, dem das persische Buch „Neun Jahre ‘Akká“ von Dr. Jûnis Khán Afrûkhtíh, Tihrán 1952, zugrundeliegt.
- D. Red.
‘Akká, die kleine, historisch bedeutsame Stadt an einer Bucht des Mittelmeeres gegenüber dem Berge Karmel, war bereits in den ersten Jahren unseres Jahrhunderts das Ziel mancher Besucher aus aller Welt. Die Botschaft des Bahá’í-Glaubens hatte zu dieser Zeit schon viele Punkte in Europa und Amerika erreicht; die Bahá’í hatten die Sache näher kennengelernt und bekanntgemacht, und deshalb hatten sich viele Menschen in Richtung ‘Akká aufgemacht: „...manche in dem Gedanken, einen östlichen Propheten zu sehen, der die Zukunft prophezeit, manche, um einen außergewöhnlichen Menschen kennenzulernen, der die Geheimnisse der Heiligen Schriften auslegt, und wieder andere dachten einem Philosophen zu begegnen, der die Grundlage der Religionen und Konfessionen der Welt in Erschütterung gebracht hat... .“
[Seite 282]‘Abdu’l-Bahá, der Sohn und bevollmächtigte Ausleger des Stifters des
Bahá’í-Glaubens, war das Ziel dieser Besucher. Es war nicht einfach, in
Seine Gegenwart zu gelangen. ‘Abdu’l-Bahá sagte zu fast allen: „... Wir
sind nicht befugt, mit Leuten in Kontakt zu kommen, denn Wir sind ein
Gefangener der Regierung ... .“ Menschen von vielerlei Art ließen nicht
nach mit der Bitte, von Ihm empfangen zu werden, und nicht alle von
ihnen waren wirkliche Sucher nach Wahrheit und Wissen, sondern es
waren manche darunter mit hinterhältigen, ja bösartigen Absichten.
Unter den Menschen, die in jenen kritischen Jahren, in denen der „Orkan der Bündnisbrecher“ tobte und die Welle der unrechtmäßigen Beschuldigungen gegen den Meister anschwoll, Seine Gegenwart suchten, war ein sehr junges Mädchen aus reicher und angesehener englischer Familie: Miss Laura Barney, später Madame Dreyfus, die heute als hochbetagte Dame in Paris lebt. In den Jahren 1904/5 war sie dreimal nach ‘Akká gekommen. Das dritte Mal brachte sie eine Sekretärin, Miss Rosenberg, aus London mit und hielt sich etwa ein Jahr lang in ‘Akká auf. Sie gehörte zu den wenigen, die im wahrsten Sinne „dem Meister zu Füßen saßen“ und voller Hingabe aus jenen Stunden kostbare Steine sammelten.
Dr. Júnis Khan Afrúkhtíh, der neun Jahre lang in nächster Nähe ‘Abdu’l-Bahás lebte, schrieb in seinem Erinnerungsbuch „Neun Jahre ‘Akká“:
„Das Buch ist folgendermaßen entstanden: Diese europäische Dame bekam ihre Unterweisungen, genau wie alle westlichen Freunde, während des Essens, und zwar während des Mittagessens, etwa um 13.00 Uhr. ‘Abdu’l-Bahá aß nur einmal am Tage, und während der Fastenzeit nur einmal abends ..... Er saß am oberen Ende des Tisches; an Seiner linken Seite Miss Barney, weiter Miss Rosenberg, und dann kamen etwa acht oder neun Pilger oder Ansässige aus Haifa; ich selbst saß an der rechten Seite des Meisters, gegenüber von Miss Barney. Ich übersetzte ihre Fragen vom Englischen ins Persische, und die Antwort des Meisters gab ich ihr wieder im Englischen. Und Miss Rosenberg schrieb alles auf. Aber man muß wissen, daß die Sache nicht so einfach vor sich ging, denn Miss Barney mußte zuerst ihre Frage dem Übersetzer genau verständlich machen, und der Übersetzer, nachdem er die Frage verstanden oder auch nicht ganz verstanden hatte, mußte sie für ‘Abdu’l-Bahá übersetzen, und dann wiederum die Antwort von‘Abdu’l-Bahá — verstanden oder auch nicht so gut verstanden und begriffen — ins Englische übersetzen, aber in orientalischer Ausdrucksweise und in der Terminologie der Bahá’í-Religion. Miss Rosenberg schrieb auf, was sie hörte. Zeigte sich jedoch die Fragestellerin nicht zufrieden, dann mußte der ganze Vorgang wiederholt werden. Dies führte natürlich zu erheblichem Zeitverlust, und das Essen mußte einfach aufgegeben werden...Glücklicherweise war Miss Barney eine solch gelehrige Schülerin, die ‘Abdu’l-Bahá so viel Freude machte, daß Er Sich niemals ermüdet zeigte. Außerdem war sie keine ganz neu erklärte Bahá’í, sondern schon mit manchen Ausdrücken und der Terminologie vertraut, was die Besprechung erleichterte. Miss Barney zeigte weder Unzufriedenheit mit mir, dem Übersetzer, noch fügte sie dem Gehörten ihre eigenen philosophischen Gedankengänge hinzu, wie es so manche taten...
Die Art und Weise, in der ‘Abdu’l-Bahá die Fragen auslegte, war derart,
daß sie den Zuhörer unwillkürlich anzog und begeisterte, und, wie
[Seite 283]gesagt, das Mittagessen blieb völlig Nebensache! — Manchmal kam es
vor, daß Er einen Einwand, einen Widerspruch der Fragestellerin, Selbst
voraussagte. Eines Tages — es war gerade bei der Behandlung des Problems
der Existenz des Bösen — ... es gibt das Böse nicht; das Böse
hat keine Existenz, hatte der Meister gerade ausgeführt — da sagte Er
plötzlich mit einem Lächeln zu mir: ‚Jetzt wird sie fragen: Warum hat
Gott den Skorpion geschaffen?‘ — Es war kaum eine Minute vergangen,
und schon stellte ‘Amatu’l-Bahá ganz impulsiv genau diese Frage.
Daraufhin sagte ‘Abdu’l-Bahá wieder zu mir: ‚Na, hast du gesehen, was Ich
gesagt habe? Also, sage zur Antwort: Das ist eine Angelegenheit des
Daseins. Ja, der Skorpion ist böse; aber in bezug auf uns. In der Beziehung
zu sich selber jedoch ist er nicht böse, denn dieses Gift ist seine
Waffe, und mit seinem Biß schützt er sich. Weil aber die Bestandteile
dieses Giftes nicht mit unseren Bestandteilen harmonieren, ist dieser
Gegensatz böse...
In dieser Art und Weise wurde einige Monate hindurch die Unterhaltung weitergeführt, bis eines Tages die Familie des Meisters und die Freunde über den Inhalt der Gespräche hörten und darauf aufmerksam wurden, daß, wäre Miss Barney nicht in diesen göttlichen Ozean hinabgetaucht, diese kostbaren Perlen nie aus der Tiefe des Meeres heraufgebracht worden wären. Sie fragten sich, ob diese Kostbarkeiten, nun schon vorhanden, nicht auch in persischer Sprache erscheinen und in den Annalen der Geschichte festgehalten werden sollten. Deswegen bat man den Meister, einen Schreiber zu bestellen und diese wunderbaren Erklärungen Wort für Wort in schönem, klassischem Persisch abzufassen. Dieser Bitte wurde entsprochen, und Mírzá Munír, der Sohn des verstorbenen Mírzá Ahmád Quli Kásháni, dazu bestimmt. Jeden Tag kam er von nun an, saß neben ‘Abdu’l-Bahá und schrieb... Der Meister Selbst überprüfte und verbesserte jeden Satz. Auch das bis dahin schon Besprochene wurde vom Englischen ins Persische zurückübersetzt; durch diese Anordnung wurde die Arbeit natürlich in die Länge gezogen. Miß Barney hat wahrhaftig sehr viel Mühe auf sich genommen. Als zwei Drittel des Buches niedergeschrieben waren, mußte ich nach Europa fahren, und die Arbeit der Übersetzung fiel der Tochter ‘Abdu’l-Bahás zu. Allmählich war auch ‘Amatu’l-Bahá mit der persischen Sprache vertraut geworden. Sie hat diesen Dienst an der Bahá’í-Weit wunderbar vervollständigt und eine unvergängliche Erinnerung zurückgelassen . . .“
- H.A.
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NEU AUF UNSEREM Büchertisch[Bearbeiten]
Sri Aurobindo, „Der Zyklus der menschlichen Entwicklung“, Otto-Wilhelm-Barth-Verlag, 812 Weilheim, 1955. 411 S. Lw. DM 16.80
Sri Aurobindo, der 1950 verstorbene indische Weise, übt durch seine in viele Sprachen übersetzten Schriften auch heute noch einen großen Einfluß aus. Der von ihm gegründete Aschram von Pondischerry, eine Art gnostische Universität, nimmt Studenten aus allen Ländern auf.
[Seite 284]Vom Hinduismus herkommend, sah Aurobindo das Heil in der Wandlung
des Menschen durch die Bewußtseinserweiterung. Der Mensch, der
noch nicht durch Yoga die in ihm schlummernden Kräfte geweckt hat,
verfügt im allgemeinen über drei Hauptebenen: die physische, die vitale
und die mentale; darunter liegt das Unbewußte und im Hintergrund der
drei Hauptebenen das Psychische. Durch die Verinnerlichung kann sich
der Mensch drei weitere Schichten erschließen: das Übermentale, die
Intuition und das Supramentale.
Mit seinem Buch „Zyklus der menschlichen Entwicklung“ wollte Aurobindo die Frage nach dem Woher und Wohin des Lebens beantworten. Dem deutschen Geschichtsphilosophen Lamprecht folgend, ging Aurobindo davon aus, daß die menschliche Gesellschaft durch bestimmte seelisch bedingte Stufen voranschreite, die er das symbolische, das typische, das konventionelle, das individualistische und das subjektive Zeitalter nannte. Das durch die Renaissance und nur in zweiter Linie durch die Reformation entstandene individualistische Zeitalter werde dem subjektiven Zeitalter weichen. Für den einzelnen bedeute die subjektive Stufe „den Schritt zur Selbsterkenntnis, zum Leben in und aus dem Selbst, fort von dem Leben nach dieser objektiven Idee des Daseins und des Weltalls.“
Übersetzt wurde das Buch von Ursula von Mangoldt, die den Lesern der „Bahá’í-Briefe“ als Verfasserin des Büchleins „Meditation, Heilkraft im Alltag“ (vergl. Heft 9, Juli 1962, S. 224) bekannt ist. Die Übersetzerin entschuldigt sich eingangs, für die wichtigsten Begriffe ungenaue Fremdwörter übernommen zu haben, weil der Aschram in Pondischerry dies vorgeschrieben habe. Tatsächlich liest man in diesem Buch niemals oder nur selten Ausdrücke wie Trieb, Lebenskraft, Geschlechtstrieb, Selbsterhaltung, Gemüt, Andacht, dagegen ständig Verschlüsselungen wie „das zentrale Vitale, das physische Mentale, das mechanische Mentale, das physische Vitale“. Daß die in sieben Jahrhunderten gewachsene deutsche Begriffssprache, zu welcher Mystiker von Tauler, Eckart, Mechthild über Jakob Böhme bis Rudolf Steiner und moderne Psychologen wie Freud, Jung und Adler beigetragen haben, in so auffallender Weise mißachtet wird, rührt vielleicht daher, daß der Aschram, von der Persönlichkeit Aurobindos überwältigt, neben und vor ihm keinen anderen geistigen Führer, geschweige einen Gottesoffenbarer mehr anzuerkennen scheint. Hier zeigen sich deutlich die Grenzen seiner Weltoffenheit.
Wo es dagegen um die Zusammenhänge zwischen politischen und philosophischen Strömungen geht, ist das Buch eine Fundgrube tiefer und fruchtbarer Gedanken.
- Dr. Johann Karl Teufel
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