Tempora/Nummer 9/Text

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TEMPORA

Nr. 9





Menschenrechte


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INHALT


Betroffenheit ist nicht genug................. . . . 4

Peter Amsler
Einführung

Das Bekenntnis zur “falschen” Religion kann gefährlich sein . . . . . . . . 6

Walter Flick
Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM)

Nach der direkten Gewalt soll die Gemeinde jetzt langsam ausbluten . . . . . . . . 8

Diane ‘Alá’í
Die Verfolgung der Bahá’í im Iran

Läßt sich aus dem Völkerrecht eine individuelle Religionsfreiheit ableiten? . . . . . . . . 12

Hale Enayati
Buchbesprechung

Vom seelischen Leiden am Unrecht . . . . . . . . 13

Gunther Hübner
Eine psychotherapeutische Betrachtung

Der Einsatz für Religionsfreiheit soll zu einem deutschen Markenzeichen werden . . . . . . . . 18

Hermann Gröhe
Gastbeitrag von Hermann Gröhe, MdB

Menschenrecht . . . . . . . . 20

Roland Greis
Reflexion

Intermezzo . . . . . . . . 21

Künstlerische Beiträge

Wie sät man Frieden? . . . . . . . . 25

Diana Khadem
Das Landegg-Projekt in Bosnien

Kinderwelt — Weltkinder . . . . . . . . 28

Peter Amsler
Vorstellung DVD

Toleranz lernen —- Toleranz verstehen . . . . . . . . 29

Katrin Uhl und Michael Seberich
Toleranztraining der Bertelsmann Stiftung

Nicht nur die Bücherausgabestelle der Nation . . . . . . . . 33

Interview mit Thomas Krüger
50 Jahre Bundeszentrale für politische Bildung

Großes erreichen mit kleinem Budget . . . . . . . . 38

Peter Amsler
Über die Aktivitäten des BIC

Ach, wenn doch . . . . . . . . 41

Reimar Kanis
Glosse, Show-Prozess


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Editorial:


Liebe Leserinnen und Leser,


in einer globalisierten Welt werden allgemeingültige Regeln immer wichtiger, denn ohne eine gemeinsame Auffassung über Rechte, Pflichten und Freiheiten für jedes Individuum wird es keinen Frieden geben. Die internationale Anerkennung und Garantie der Menschenrechte wäre eine tragfähige Basis für ein solches Regelwerk.

Die Menschenrechte sind das Thema der Ihnen vorliegenden 9. TEMPORA-Ausgabe, sie zeigt den mühevollen Weg zur Akzeptanz von Grundrechten wie der Religionsfreiheit bis zu hoffnungsvollen Initiativen, mit denen das Bewusstsein von Menschen für die Bedürfnisse der anderen sensibilisiert wird. Dieser Bogen spiegelt sich im Layout wider.

Die Redaktion, verstärkt durch zwei neue Mitglieder, hat Künstler ermuntert, das Thema umzusetzen. Ihre Werke bereichern das Heft und sollen auch künftige Ausgaben zieren. Dafür bedanken wir uns bei den Künstlern, ebenso bei Peter Amsler, der das Konzept für diese Ausgabe entwickelt und viele Autoren dafür gewonnen hat.

Aus redaktionellen Gründen kann TEMPORA auf absehbare Zeit leider nur noch einmal im Jahr erscheinen. Die Abonnements laufen auch weiterhin über vier Ausgaben.

Wir hoffen, Sie finden den Zusammenklang von schriftlichen und künstlerischen Beiträgen anregend und wünschen Ihnen erkenntnisreiche Lektüre.


Die Redaktion


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Einführung


Betroffenheit ist nicht genug[Bearbeiten]

Es mangelt noch an Koordination zwischen den Akteuren der Menschenrechtspolitik.


Es ist noch nicht lange her, da war der Einsatz für Menschenrechte etwas für Idealisten und Weltverbesserer. Das Engagement speist sich aus dar Betroffenheit über eklatante Menschenrechtsverletzungen vor allem in den Ländern der südlichen Hemisphäre, über die nur wenige Zeitungen, Fachpublikationen und Menschenrechtsorganisationen berichteten: Folternde Polzisten in Chile und Argentinien, außergerichtliche Hinrichtungen in Mittelamerika, Menschenraub und Sklaverei im Sudan oder Unterdrückung der Meinungs- und Glaubensfreiheit im Iran. Das war nur wenigen bekannt, und es waren noch weniger, die daraus in bürgerschaftliches Engagement ableiteten


Die Lage der Menschenrechte ist immer noch ernst. Zwar hat es in einigen Staaten Systemwechsel hin zu Demokratie und Rechtstaatlichkeit gegeben wie in Chile und Südafrika, wo man beginnt, das Unrecht aufzuarbeiten, doch sind neue Länder in das Blickfeld der internationalen Staatengemeinschaft und der Nichtregierungsorganisationen gerückt, Zum Beispiel Nepal.


In Afghanistan gab es bereits lange vor dem 11. September 2001 eklatante Menschenrechtsverletzungen vor allem gegen Frauen, doch bedurfte es erst eines medialen Großereignisses, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf dieses geschundene Land zu lenken.


Der Jahresbericht von amnesty international für das Jahr 2001 dokumentiert immer noch Menschenrechtsverletzungen in 152 Ländern der Welt. Außergerichtliche Hinrichtungen sind für 47 Länder aktenkundig. In 111 Staaten kam es zu staatlicher Folter und Misshandlungen. Das "Verschwindenlassen” von Menschen ist für 35 Länder belegt. Gewaltlose politische Gefangene befinden sich in mindestens 56 Ländern in Haft. Diese Angaben spiegeln nur die von amnesty international dokumentierten Fälle wider.


Die tatsächlichen Verletzungen müssen deutlich höher veranschlagt werden. Diesen ernüchternden Zahlen zum Trotz hat sich gerade in den neunziger Jahren nach der UN-Menschenrechtskonferenz in Wien (1993) viel getan, so dass die Menschenrechtspolitik mehr als zuvor eine Heimat und öffentliche Aufmerksamkeit bekam. International sind hier die Errichtung eines UN-Hochkommissariats für Menschenrechte (1994) und der Internationale Strafgerichtshof (2002) zu nennen.


Menschenrechte wurden damit nicht mehr nur moralisch, sondern auch politisch und rechtlich diskutierbar, was für die Politik besser zu handhaben ist.


In Deutschland kam es 1998 zu einer Aufwertung der Menschenrechtspolitik, als der Deutsche Bundestag einen Menschenrechtsausschuss einsetzte, im Auswärtigen Amt einen Beauftragten für Menschenrechtsfragen und Humanitäre Hilfe der Bundesregierung ansiedelte und darüber hinaus im vergangenen Jahr ein unabhängiges Deutsches Institut für Menschenrechte gegründet wurde.


Die Nichtregierungsorganisationen haben sich seitdem qualitativ und quantitativ verändert. Sie arbeiten immer effektiver auf immer mehr Gebieten, oftmals im direkten Kontakt mit Parlament und Regierung, die auf ihre Expertisen nicht verzichten wollen. Vergleicht man die Menschenrechtsarbeit in Deutschland jedoch mit dem Umwelt- und Naturschutz und der Entwicklungszusammenarbeit, dann Zeigen sich in der staatlichen wie in der nicht-staatlichen Arbeit strukturelle Mängel.


So vagabundiert die Menschenrechtspolitik der Bundesregierung durch verschiedene Ministerien, mit oft konkurrierenden Aktivitäten. Sowohl das Auswärtige Amt als auch das Entwicklungshilfeministerium, das Innen-, Arbeits-, Wirtschafts- und Justizministerium befassen sich mit einzelnen Fragen.


Hier wird nicht koordiniert, das Amt des Beauftragten hat zu wenig Kompetenzen. Aber auch die Nichtregierungsorganisationen haben [Seite 5] Schwierigkeiten, sich über ihre Arbeit abzustimmen, zu unterschiedlich scheinen die Interessenlagen zu sein.

Zu dieser strukturellen Unübersichtlichkeit kommt hinzu, dass Menschenrechte in vielfältiger Weise verletzt werden können.


Unrecht geschieht nicht nur bei bürgerlichen und politischen Freiheitsrechten, sondern auch bei wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Gleichheitsrechten. Zu diesen ersten beiden Generationen von Menschenrechten gesellt sich heute eine dritte, die Solidaritätsrechte wie das Recht auf Entwicklung umfasst, so dass es heute kein Politikfeld gibt, auf dem die Beachtung der Menschenrechte nicht relevant wäre.

Vieles, was in der Vergangenheit gar nicht in Beziehung zu den Menschenrechten diskutiert wurde, kann nun begründet werden mit rechtlich gestützten Zusammenhängen.


Das gilt vor allem für die Entwicklungszusammenarbeit, wo nicht mehr Almosen verteilt werden, sondern geholfen wird, dass Menschen zu ihrem Recht kommen. In der Innenpolitik zeigt sich das dort, wo Fragen der Migration und des Flüchtlingsschutzes nach internationalen Standards bewertet werden müssen und das bisherige nationale Selbstverständnis in Frage gestellt ist.


Daher fordern viele zivilgesellschaftliche Akteure, Menschenrechte als Leitlinie für jegliches staatliche Handeln zu betrachten.


Und weil das so ist, ist Menschenrechtspolitik heute nicht ein Politikfeld wie jedes andere.


1995 riefen die Vereinten Nationen die Staaten dazu auf, die nächsten zehn Jahre für die Förderung einer „Kultur der Menschenrechte“ zu nutzen, indem sie vor allem die Menschenrechtserziehung verstärken sollten. In der Forderung nach dieser Kultur der Menschenrechte kommt zum Ausdruck, dass Menschenrechtspolitik einerseits institutionalisiert sein muss, damit die Rechte einklagbar und überprüfbar sind und gegebenenfalls Sanktionen ausgesprochen werden können.


Andererseits ist ein Mentalitätswechsel erforderlich, der weit über das Politische hinausgeht und in die gesamte Kultur eines Landes sowie in den Wertehaushalt seiner Bürgerinnen und Bürger reicht. Menschenrechte sind dabei eng mit demokratischen Werten wie Rechtsstaatlichkeit oder Gewaltenteilung verknüpft, aber auch mit individualethischen Werten wie Toleranz und Konfliktfähigkeit.


Individuelle Betroffenheit über Menschenrechtsverletzungen reicht als Motivation jedoch nicht aus, um den Opfern zu helfen und die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Notwendig sind Institutionen, Gesetze und Normen und der politische Wille, Menschenrechte mit diesen Instrumentarien durchzusetzen.


Peter Amsler ist Referent für Menschenrechtsfragen in der Berliner Vertretung des Nationalen Geistigen Rates der Bahá’í in Deutschland e.V.


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Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM)


Das Bekenntnis zur „falschen“ Religion kann gefährlich sein[Bearbeiten]

Menschen in vielen Ländern werden noch heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, wegen ihres Glaubens diskriminiert oder verfolgt. Wo Religionsfreiheit unterdrückt wird, werden meist auch andere Menschenrechte verletzt.


Religionsfreiheit ist ein grundlegendes Menschenrecht.


Die Religionsfreiheit gehört zu den zentralen Menschenrechten und wird manchmal als "Herz der Menschenrechte” bezeichnet, so zum Beispiel in der Weltfriedensbotschaft von Papst Johannes Paul II. am 1. Januar 1999. In Artikel 18 der Charta der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 und erweitert in internationalen UN-Folgepakten wird jedermann das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit zuerkannt einschließlich des Rechtes, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln und das "allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Unterricht, Ausübung, Gottesdienst und Beachtung religiöser Bräuche zu bekunden”. Kernpunkte dieses Rechtes sind die freie Wahl und öffentliche Ausübung der Religion und die Gleichberechtigung der Staatsbürger unabhängig von ihrer Religion (vgl. UN-Erklärung vom 10. Dezember 1948 Art.1 und Art.2).


Diskriminierung und Verfolgung heute

Vor dem Hintergrund dieser Kernpunkte sind Verstöße gegen Religionsfreiheit vielfältig. Der Staat diskriminiert oder verfolgt die Angehörigen der Minderheitenreligion oder häretische Abweichler von der Mehrheitsreligion, oder er überwacht in seinem Totalitätsanspruch die Religion seiner Bürger. So gibt es in islamischen Länder eine Tendenz zur rechtlichen und gesellschaftlichen Benachteiligung der Nichtmuslime als "Staatsbürger zweiter Klasse” und eine Repolitisierung des Islam mit der Ausrufung der Scharia wie in 13 Staaten Nigerias. Manchmal steht sogar dem "Menschenrecht auf Religionswechsel” wie in Mauretanien, Sudan, Saudi Arabien und Iran die staatlich sanktionierte Todesstrafe entgegen, Ahmadi-Muslime gelten in Pakistan und Bahá’í im Iran als Ketzer. Wahrscheinlich werden die Bahá’í pro Kopf der Anhänger gerechnet weltweit am schlimmsten verfolgt, etwa 200 Millionen der rund zwei Milliarden Christen in über 60 Ländern bedrängt. Die nichtstaatliche Verfolgung durch religiöse Extremisten nimmt zu, wie die Zerstörung ganzer christlicher Dörfer mit tausenden Opfern seit 1999 auf den Molukken zeigt. Auch an Muslimen wurden hier Massaker verübt. In Indien hat es seit 1998 mehrere hundert Übergriffe durch Hindu-Extremisten bis hin zur Ermordung von christlichen Missionaren gegeben. Mission und Glaubenswechsel werden als Bedrohung der eigenen Kultur empfunden und nicht nur im Islam, sondern auch im Hinduismus, zum Beispiel in Nepal, sowie im Buddhismus (Bhutan) verboten und sanktioniert. Staatliche Nichtregistrierung wird zu einem Verfolgungsdelikt, wie etwa in der Volksrepublik China, wo sich die Mehrheit der geschätzten 80 Millionen Christen und zahlreiche tibetanische Mönche sowie muslimische Uiguren der staatlichen Unterdrückung zu entziehen versuchen. Zu den Ländern, die in einem möglichen "Verfolgungsindex” die Religionsfreiheit am meisten unterdrücken, gehören nach übereinstimmender Einschätzung von Menschenrechtsorganisationen Nordkorea, Saudi Arabien, Laos, Vietnam, Malediven, Bhutan, Turkmenistan, Iran und die VR China neben Dutzenden weiteren Staaten.

Das Bewusstsein für weltweite Religionsfreiheit ist in den vergangenen Jahren gewachsen, wie etwa Gesetze in den Vereinigten Staaten ("religious freedom act”), die Einrichtung eines UN-Sonderberichterstatters für religiöse Diskriminierung und Initiativen von Parteien und Kirchen in Deutschland zeigen. Es gilt: "Ohne Religionsfrieden kein Weltfrieden” Die Religionen können durch ihre ethischen und spirituellen Ressourcen wesentlich zum Weltfrieden beitragen.


Walter Flick ist Referent für Religionsfreiheit/verfolgte Christen bei der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte.

Kontakt:

Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM)

Borsigallee 9

60388 Frankfurt am Main

Tel.: (069) 420 10 80

http://www.igfm.de



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Allgemeine Erklärung der Menschenrechte[Bearbeiten]

Präambel

Die UNO-Resolution 217 A {II} wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 angenommen und proklamiert. (Originaler Name “The Universal Declaration of the Human Rihgts” United Nations, General Assembly, Official Records third Session (part I) Resolutions.

Document A/810)



Artikel 1 Menschenwürde und Rechte

Artikel 2 Universalität

Artikel 3 Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit

Artikel 4 Verbot der Sklaverei...

Artikel 5 Verbot der Folter...

Artikel 6 Rechtsperson

Artikel 7 Gleichheit vor dem Gesetz

Artikel 8 Rechtschutz

Artikel 9 Schutz vor willkürlicher Festnahme, Haft, Ausweisung

Artikel 10 Recht auf öffentliches Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht

Artikel 11 Unschuldsvermutung

Artikel 12 Schutz des Privatlebens und der Familie...

Artikel 13 Recht auf Freizügigkeit

Artikel 14 Recht auf Asyl

Artikel 15 Recht auf eine Staatsangehörigkeit

Artikel 16 Schutz der Ehe

Artikel 17 Recht auf Eigentum

Artikel 18 Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit ...

Artikel 19 Recht auf Meinungsfreiheit

Artikel 20 Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit

Artikel 21 Recht auf freie und geheime Wahlen

Artikel 22 Recht auf soziale Sicherheit

Artikel 23 Recht auf Arbeit

Artikel 24 Recht auf Erholung und Freizeit

Artikel 25 Recht auf Kleidung, Nahrung, Wohnung und Kinderschutz...

Artikel 26 Recht auf Bildung

Artikel 27 Recht auf Kultur

Artikel 28 Recht auf eine soziale und internationale Ordnung zur Verwirklichung der Menschenrechte

Artikel 29 Pflichten

Artikel 30 Verbot der willkürlichen Auslegung der Menschenrechte


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Die Verfolgung der Bahá’í im Iran

Nach der direkten Gewalt soll die Gemeinde jetzt langsam ausbluten[Bearbeiten]

Seit 23 Jahren werden die Bahá’í in Iran von Staats wegen systematisch verfolgt. Wie sich ihre aktuelle Lage darstellt, schilderte Diane ’Alá’í am 30. September 2001 in einem Vortrag im Rahmen des Forum Langenhain. Sie ist seit 1992 Vertreterin der Bahá’í International Community im Büro der Vereinten Nationen in Genf, wo sie als Koordinatorin für Menschenrechte tätig ist. Die Übersetzung besorgte Roland Greis.



Diane ’Alá’í


Es ist höchst bedauerlich, dass es solcher Katastrophen wie der vom 11. September bedarf, um deutlich zu machen, was wirklich zählt und von welchen Leiden die Welt geheilt werden muss. Eines davon ist der religiöse Hass.

Die Situation der Bahá’í im Iran ist eine sehr spezielle, obwohl sie nicht der einzige Fall von religiöser Intoleranz und Menschenrechtsverletzung ist. Sie ist es, weil es sich hier eindeutig um rein religiös bedingte Intoleranz handelt.

Wir bei den Vereinten Nationen sehen, dass es eine ganze Reihe anderer Gruppen, Minderheiten und Glaubensrichtungen oder Angehörige von Religionen gibt, die ebenfalls der Verfolgung und religiösen Diskriminierung ausgesetzt sind. In den meisten Fällen ist das verbunden mit einer Form bewaffneter Rebellion, einem Anspruch auf politische Selbstbestimmung oder einem Gebietsanspruch. Demgegenüber besteht der einzige Anspruch, den die Bahá’í im Iran erheben, darin, dass sie das Recht haben wollen, Bahá’í zu sein.

Die Bahá’í beanspruchen das Recht, sich zu ihrer Religion zu bekennen wie andere Menschen auch, das Recht zu glauben und diesen Glauben mit ihren Mitgläubigen zu teilen.

Das ist das Grundrecht jedes Menschen in seiner Beziehung zu Gott, und deshalb handelt es sich hier um einen typischen Fall reiner, auf Glauben oder Religion bezogener Intoleranz, wie er in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte definiert und von Fachleuten anerkannt wird. Die Verfolgung der Bahá’í begann bereits mit der Entstehung des Bahá’í-Glaubens. Das geschieht vermutlich bei jeder neuen Offenbarungsreligion. Eine neue Botschaft und ein radikaler Wandel im Glauben, wie sie jede Gottesoffenbarung mit sich bringt, ruft auch Opposition hervor. In einem Land wie Iran in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts galt das in besonderem Maße.

Viele Verbrechen wurden damals begangen, viele Menschen getötet und gefoltert. Mit dem Sturz verschiedener Regierungen, ob nun im Iran oder im Osmanischen Reich, veränderte sich die Situation für die Bahá’í geringfügig zum Besseren. Aber es gab niemals Freiheit für sie. Selbst zur Zeit des Schah wurden die Bahá’í als Sündenböcke missbraucht, wenn es den politischen Zielen der herrschenden Macht nützte, wenn diese zum Beispiel eine islamische Legitimierung für ihre Regierung benötigte. Aber zu dieser Zeit wurden die Bahá’í nicht systematisch verfolgt, sie erfreuten sich einiger weniger Rechte, waren aber niemals völlig gleichgestellt. Die Revolution im Iran und die Proklamation der Islamischen Republik im Jahr 1979 brachten eine Regierungsform, die auf dem islamischen Glauben beruhte. Unglücklicherweise war es keine Regierung, die anderen Religionen gegenüber tolerant war. In der Verfassung der Islamischen Republik Iran ist der Islam als Staatsreligion festgelegt. Sie nennt darüber hinaus einige religiöse Minderheiten, und zwar die sogenannten Buchreligionen, die vom Islam als ebenfalls göttlich inspiriert anerkannt werden: das Judentum und das Christentum. Sie werden unter dem islamischen Recht als „Dhimmis” behandelt. Ebenso werden die Zoroastrier anerkannt, weil diese alte iranische Religion bereits vor der Invasion der Araber und der Islamisierung des Landes bestand.

Der Bahá’í-Glaube wird in der Verfassung nicht erwähnt, obwohl seine Anhänger zahlreicher sind als alle im Iran lebenden Christen, Juden und Zoroastrier zusammen. Deshalb sahen sich die Bahá’í in der neuen Republik plötzlich als eine nicht anerkannte und damit außerhalb des Gesetzes stehende Gruppe.

Sie wurden bezichtigt, Spione der CIA und des KGB zu sein oder Muslime ermorden zu wollen. Natürlich erkennt jeder, [Seite 9] der sich mit dem Bahá’í-Glauben auseinandersetzt, dass diese Anschuldigungen keinerlei Grundlage haben. Dennoch leiteten sie eine Phase unglaublicher Verfolgungen ein, die bis heute anhalten. Zwischen 1980 und heute kann man zwei Perioden der Verfolgung unterscheiden. Die erste dauerte von 1980 bis 1991 und war die Phase der gewalttätigen Unterdrückung. Etwa 200 Bahá’í wurden in dieser Zeit hingerichtet, heimlich getötet, entführt und danach vermutlich ermordet. Die meisten der Hingerichteten wurden gefoltert, außerdem viele andere, die später das Land verlassen konnten. Zu dieser Zeit waren die Bahá’í bereits aller bürgerlichen Rechte beraubt.

Menschen wurden aus ihren beruflichen Positionen vertrieben, Pensionäre bekamen keine Ruhegelder mehr und wurden sogar aufgefordert, bereits empfangene Pensionen zurückzuzahlen. Die heiligen Stätten der Bahá’í wurden konfisziert und zerstört, und das ausgerechnet in dem Land, das die Geburtsstätte dieser neuen Religion ist. Bahá’í-Besitztümer wurden ebenso beschlagnahmt wie das persönliche Eigentum einzelner Gläubiger. Das ganze Spektrum solcher und anderer Menschenrechtsverletzungen traf die iranischen Bahá’í, sie waren in diesem Land grundsätzlich ohne jeden Schutz. Jeder Nachbar, Polizist, Chef oder Untergebene, wirklich ein jeder konnte eine beliebige Anklage erheben, woraufhin der Betroffene inhaftiert und mit allen möglichen Beschuldigungen konfrontiert wurde.

Tatsächlich geschieht das bis heute. Zuerst ging die iranische Regierung ganz offen damit um. Man konnte es bei Gerichtsverhandlungen unverhüllt erleben.

Es gab Urteile, in denen stand: „Er ist zum Tode verurteilt, weil er ein Bahá’í ist!" Die Presse veröffentlichte Listen von Menschen, die den Bahá’í irgendetwas angetan hatten, nur weil sie Bahá’í waren. Hinter all dem steckte ein Plan der iranischen Regierung. Und der gilt noch immer, obwohl er inzwischen eine andere Form angenommen hat, wie wir in der zweiten Phase erkennen werden. Der Plan bestand und besteht darin, die Bahá’í-Gemeinde im Iran völlig auszulöschen. In der ersten Phase von 1980 bis 1991 dachte die iranische Regierung, dass sie die Gemeinde vernichten könnte, indem sie ihr den Kopf nahm. Was heißt das? Für uns, die wir in einem Land mit christlichem Hintergrund leben, würde es bedeuten, alle Kardinäle, Bischöfe und Priester zu töten. Dann wären die Gläubigen verloren, weil sie nicht wüssten, an wen sie sich wenden sollten. Da es in der Bahá’í-Religion keinen Klerus gibt, richteten sich die Aktionen gegen die Bahá’í-Institutionen. Der komplette Nationale Geistige Rat von Iran wurde entführt und verschwand spurlos, die Mitglieder eines daraufhin gewählten neuen Nationalen Geistigen Rates wurden getötet. Eine Reihe von Mitgliedern Örtlicher Geistiger Räte, denen die Verwaltung der Gemeinden obliegt, wurde ebenfalls ermordet.

Das zeigt, dass man den Bahá’í-Glauben als eine Religion des alten Typus ansah. Der Bahá’í-Glaube hat aber keinen Kopf, der von einem einzelnen Menschen repräsentiert wird. Seine Führung besteht aus einer gewählten Körperschaft. Nach der Ermordung der Mitglieder des Nationalen Geistigen Rates verbot die iranische Regierung offiziell die Bahá’í-Institutionen. Da es ein Grundsatz des Glaubens ist, der Regierung zu gehorchen, wählten die Bahá’í keine neuen Institutionen mehr. So blieb die Gemeinde ohne verwaltende Körperschaften auf lokaler und nationaler Ebene.

Das war die erste Periode. Was die internationale Gemeinschaft während dieser elf Jahre unternommen hat, soll im Folgenden dargestellt werden. Die bei den Vereinten Nationen akkreditierte Internationale Bahá’í-Gemeinschaft trat in Aktion. Sie nutzte die Mittel der Vereinten Nationen, um die Situation ihrer Brüder im Iran in der Welt bekannt zu machen. Bahá’í in vielen Ländern wandten sich eindringlich an ihre jeweiligen Regierungen mit der Bitte um Intervention. Die EU und Amerika unterstützten die Internationale Bahá’í-Gemeinde aufgrund der Initiative der dort lebenden Mitglieder. Einige pazifische Inselstaaten sowie Staaten in Lateinamerika haben eine wichtige Rolle beim Schutz der Bahá’í gespielt, wenn es auch nicht die gleiche Wirkung hatte, ob die Marschall-Inseln oder die USA bei der iranischen Regierung Protest einlegten. Die Organe der Vereinten Nationen, die für Menschenrechtsverletzungen [Seite 10] zuständig sind, verfassten Resolutionen, die zuständige Unterkommission bereits im Jahr 1980. Wenige Jahre später gab es auch eine Resolution von der übergeordneten Menschenrechtskommission. Diese schuf damit ein Instrument, um die Vorgänge im Iran zu überwachen. Sie ernannte einen Sonderbeauftragten, der alle Menschenrechtsverletzungen untersucht, einschließlich der Vorgänge um die Bahá’í im Iran. Diese sind in seinem Mandat ausdrücklich erwähnt, und er berichtet jedes Jahr der Kommission seine Ergebnisse. Der Sonderbeauftragte für den Iran ist Maurice Copithorne, ein kanadischer Staatsbürger. In seinem aktuellen Bericht an die Generalversammlung widmete er einen speziellen Abschnitt der Situation der Bahá’í in Iran.

Ein weiteres Instrument ist der Sonderbeauftragte für religiöse Intoleranz. Er beschäftigt sich nicht mit einzelnen Ländern, sondern untersucht überall in der Welt die Frage der religiösen Intoleranz. Im Augenblick ist das Abdelfattah Amor, ein muslimischer Professor für Recht aus Tunesien. Im Jahre 1996 wurde er in den Iran eingeladen, um die Religionsfreiheit dort zu begutachten. Er war erst anderthalb Jahre zuvor ernannt worden und es ist zu vermuten, dass die iranische Regierung glaubte, mit einem Muslim einen Mann auf Ihrer Seite zu haben. Professor Amor reiste im Land umher und schrieb einen Bericht. Darin hielt er nicht nur die Fakten fest, sondern er gab der Regierung auch Empfehlungen, und zwar sehr deutliche. Zehn Abschnitte widmete er allein der Frage, was die iranische Regierung tun müßte, um die Freiheit für die Bahá’í zu gewährleisten. Er erwähnte das Recht, die Religion zu wählen, sie auszuüben, er schrieb über das Recht auf Arbeit, auf Ausbildung, über alles, was hier bereits genannt wurde. Er führte aus, dass nicht die iranische Regierung zu entscheiden habe, was eine religiöse Minderheit ist, und er ging so weit, zu verlangen, dass die konfiszierten Bahá’í-Besitztümer zurückgegeben und Entschädigung für die zerstörten gezahlt werden sollte. Und natürlich setzte er sich für die Wiedereinsetzung der Bahá’í-Institutionen ein. Seit diesem Zeitpunkt verlangen die Resolutionen der Vereinten Nationen die volle Umsetzung der Empfehlungen des Sonderbeauftragten für religiöse Intoleranz bis hin zur vollen Gleichberechtigung für die Bahá’í. Das bedeutet die vollständige Wiedererrichtung der Bahá’í-Institutionen und die Möglichkeit für die Bahá’í, Ihren Glauben wie Angehörige jeder anderen Religion auszuüben.

Diese Vorstöße verdanken wir den Vereinten Nationen. Die iranische Regierung reagierte auf all diese Resolutionen und die weltweite Aufmerksamkeit, die Artikel in der Presse, den von den Regierungen ausgeübten Druck und entschloss sich, ihr Verhalten zu ändern und nicht mehr ganz so offen und öffentlich gegen die Bahá’í vorzugehen.

Im Jahre 1993 entdeckte der Spezialbeauftragte für den Iran, Galindo Pohl aus El Salvador, ein Dokument, das auf den 25. Februar 1991 datiert war. Es stammte vom Obersten Revolutionären Kulturrat, trug die Unterschrift von Staatspräsident Khamenei und legte besondere Richtlinien fest für die Behandlung der „Bahá’í-Frage, so dass der Fortschritt der Bahá’í und ihre Entwicklung unterbunden wird“. Das Ganze ist ein Plan zur langsamen Strangulierung der Bahá’í-Gemeinde. Jetzt, im Jahre 2001, sind 22 Jahre seit dem Beginn der islamischen Revolution vergangen. Das bedeutet, dass die Gläubigen bereits seit 22 Jahren keinen Zugang mehr zu höherer Bildung haben. Seit 22 Jahren dürfen die Bahá’í ihre Berufe nicht mehr ausüben, denn aus dem öffentlichen Dienst werden sie entlassen, wenn sie als Bahá’í erkannt werden, und in der Privatwirtschaft wird Druck auf die Arbeitgeber ausgeübt. Geschäftslizenzen werden nicht vergeben, Bauern haben keinen Zugang zu Kooperativen. Die Älteren erhalten ihre Pensionen [Seite 11] nicht, außerdem herrscht eine ständige Angst vor willkürlichen Verhaftungen, die dauernd stattfinden. Jederzeit können die Vertreter der Staatsgewalt an die Tür klopfen, Menschen mitnehmen und sie für ein oder zwei Tage inhaftieren. Das geschieht immer öfter und überall im Land. Sieben Bahá’í befinden sich derzeit noch im Gefängnis. Zwei sind zum Tode verurteilt wegen angeblicher zionistischer Aktivitäten. Zwei weitere verbüßen eine lebenslange Haft wegen Abfall vom Glauben - weil sie ihre Religion gewechselt haben. Und schließlich hat die Gemeinde nicht das Recht, als religiöse Gemeinschaft zu existieren. Was bedeutet das? Es heißt, dass die Phase der direkten Ausrottung durch eine der langsamen Erstickung und Auslöschung abgelöst wurde.

Es stellt sich die Frage, ob die iranische Regierung Erfolg hatte. Die Nachrichten, die wir von Bahá’í im Iran erhalten, die Zeugnisse der Menschen, die das Land verlassen können, zeigen, dass die Gemeinde eine bemerkenswert hohe Moral an den Tag legt und dass sie Mittel und Wege gefunden hat, um ihre Probleme zu lösen. Zum Beispiel haben die Bahá’í-Jugendlichen keinen Zugang zu höherer Bildung. Universitätsprofessoren dürfen nicht lehren.

Also schreiben sich Bahá’í-Studenten zum Fernstudium bei ausländischen Universitäten ein und die Professoren, die nicht mehr lehren dürfen, helfen ihnen. Einige Tische und Bänke wurden angeschafft, einige Computer, Fotokopierer, etwas Laborausrüstung und schon hat man ein Bahá’í-Institut für Höhere Bildung. Allerdings: Wenn es gut funktioniert, kommen nicht selten die Revolutionswächter, beschlagnahmen die Ausrüstung und sperren die Professoren ins Gefängnis. Nach Interventionen der Bahá’í werden die Professoren dann meistens wieder frei gelassen und bemühen sich um einen neuen Anfang.

Natürlich werden die iranischen Freunde dabei durch die Bemühungen der Internationalen Gemeinde ermutigt, denn es ist eine Sache, allein zu kämpfen und sich isoliert zu fühlen, und eine andere, zu wissen, dass die ganze Welt Druck auf die Regierung ausübt und sie auffordert, die Bahá’í ihre Religion ausüben zu lassen und sie nicht deswegen zu verfolgen. Schließlich führte der internationale Druck zumindest zu Versprechungen der iranischen Regierung Förderlich war, dass es hier einen Wechsel gegeben hatte: Der neue Präsident Khatami sprach von Reformen. Aber lassen wir uns von diesen Versprechen nicht täuschen. Er sprach vom Recht auf Staatsangehörigkeit und davon, dass Iraner ungeachtet ihres Glaubens einige gesetzlich verankerte Grundrechte (welche, weiss leider niemand) hätten. Und schließlich hat er jüngst über die Schaffung eines „Nationalen Komitees für die Förderung der Rechte der religiösen Minderheiten" gesprochen. Hier ist daran zu erinnern, dass die Bahá’í nicht als religiöse Minderheit anerkannt sind.

Wir wissen nicht, ob diese Versprechungen ernst gemeint sind. Aber da die Situation der Bahá’í im Iran ein exemplarischer Fall von religiöser Intoleranz ist, wird seine Behandlung ein Test dafür sein, ob dieses Land sich tatsächlich dem Wandel verpflichtet fühlt.


Die Autorin hat als Repräsentantin der Bahá’í International Community an zahlreichen Sitzungen verschiedenster Organe der Vereinten Nationen teilgenommen, wie der Generalversammlung, der Kommission für Menschenrechte, der Unterkommission zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte und anderen Körperschaften, die die Einhaltung der Menschenrechte überwachen, ebenso am Exekutivkomitee des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge. Zunächst Mitglied der Delegation der Bahá’í International Community bei der Weltkonferenz für Menschenrechte in Wien (1993), leitete sie die Delegation bei der Dritten Weltkonferenz gegen Rassismus in Durban (2001).

Diane ’Alá’í hat auch mit Nichtregierungsorganisationen gearbeitet, die bei den Vereinten Nationen akkreditiert sind.

Zur Zeit ist sie stellvertretende Vorsitzende des Komitees gegen Rassismus und rassische Diskriminierung und arbeitet aktiv im Unterkomitee für Religions- und Glaubensfreiheit. Auch hat sie mit den Vereinten Nationen als Beraterin des Büros des Beauftragten für Menschenrechte und technische Zusammenarbeit in Armenien im November 1997 gearbeitet.


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Buchvorstellung

Läßt sich aus dem Völkerrecht eine individuelle Religionsfreiheit ableiten?[Bearbeiten]

Seit seiner Entstehung wird der Bahá’í-Glaube in seinem Ursprungsland, dem Iran, verfolgt. Schon der Vorläufer der Bahá’í-Religion, der Báb, wurde als Häretiker verurteilt und hingerichtet. Mehr als 20.000 Anhänger des Báb verloren ihr Leben allein wegen ihres Glaubens. Bahá’u’lláh, der Stifter der Bahá’í-Religion, verbrachte 40 Jahre seines Lebens in Verbannung und Gefangenschaft. Keine Regierungsform des Iran ließ davon ab, die Bahá’í zu verfolgen. Die islamische Revolution im Februar des Jahres 1979 eröffnete ein weiteres grausames Kapitel in der Geschichte der Verfolgungen. Unmittelbar mit dem Ausbruch der Revolution begannen verstärkt tätliche Angriffe gegen die Bahá’í. In den darauffolgenden Jahren wurde die Bahá’í-Gemeinde auf allen Ebenen systematisch verfolgt: Morde, Entführungen, Hinrichtungen, Enteignungen und Zerstörungen von Heiligen Stätten, Friedhöfen und Gemeindezentren waren an der Tagesordnung.

Mag das Ausmaß der Verfolgungen seit Beginn der 80er Jahre aufgrund wiederholter internationaler Reaktionen seitens vieler Regierungen, der Vereinten Nationen und anderer Internationaler Organisationen auch zeitweise abgenommen haben, so leiden die Bahá’í im Iran nach wie vor unter starkem Druck und Diskriminierung. Das Buch versucht eine Antwort auf die Frage, welche Rechte das Völkerrecht derzeit Anhängern einer Religion einräumt.

Völkerrechtliche Bestimmungen über die individuelle Religionsfreiheit wären für die Stellung der Bahá’í deshalb sehr wichtig, weil es heute überall auf der Welt Bahá’í gibt. Deswegen stellt sich die Frage umso dringender, ob Staaten, die derzeit durch ihre nationale Gesetzgebung keinen ausreichenden Schutz für die Angehörigen einer Religionsgemeinschaft gewähren, nicht zumindest durch völkerrechtliche Bestimmungen angehalten werden könnten, diesen Gruppen Rechte und Freiheiten einzuräumen. Den weitreichendsten Schutz bieten der Art. 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) sowie der Art 18 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPEPR). Als Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen genießt die AEMR bloßen Empfehlungscharakter, während der IPBPR nur für jene Staaten verbindlich ist, die den Vertrag unterzeichnet und ratifiziert haben.

Einer fast weltweiten Geltung erfreut sich dagegen die Charta der Vereinten Nationen. Sie enthält zwar keinen Menschenrechtskatalog und keine spezielle Bestimmung zur Religionsfreiheit, das in ihr normierte religiöse Diskriminierungsverbot kann aber als ein völkerrechtliches Mindestmaß gesehen werden, das alle Staaten gewähren müssen. Neben dem universellen Völkerrecht werden die wichtigsten regionalen Menschenrechtsabkommen untersucht.

Vorrangig wird der Frage nachgegangen, welche Rechte dem einzelnen Gläubigen zustehen. Im Überblick wird aber auch aufgeführt, welche Rechte einer Religionsgemeinschaft gewährt werden.

Ein zweiter thematischer Schwerpunkt ist, ob die traditionell islamische Auffassung zur Religionsfreiheit regionales Völkerrecht darstellt oder nicht. Das ist nicht zuletzt deswegen von Bedeutung, weil diese traditionelle Sichtweise der Hauptgrund für die Verfolgungen der Bahá’í ist. Die Autorin legt dar, dass die untersuchte Auffassung nicht als regionales Völkerrecht angesehen werden kann


Die Garantie der individuellen Religionsfreiheit im Völkerrecht unter besonderer Berücksichtigung der Stellung der Bahá’í. Von Hale Enayati.

Promotionsarbeit an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, erschienen 2002 im Weißensee Verlag, Berlin.


Weißensee Verlag
Berlin, 2002
ISBN 3-934479-82-0
Preis EUR 34,00


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Eine psychotherapeutische Betrachtung


Vom seelischen Leiden am Unrecht[Bearbeiten]

Jeder Mensch kann beurteilen, ob eine Situation oder ein Erlebnis ungerecht oder gerecht ist. Und so, wie er ein Ereignis beurteilt, so erlebt er es auch. Diese Fähigkeit ist gerade in extremen Lebenssituationen von entscheidender Bedeutung, weil sie Auswirkungen für das weitere individuelle Leben und Konsequenzen für dessen Qualität hat.

Mit diesen Ausführungen soll aus psychotherapeutischer Sicht ein erstes Verständnis für Zusammenhänge und Abhängigkeiten von seelischen Leiden an Unrechtssituationen vermittelt werden. Dazu werden erst die Thematik Gerechtigkeit im individuellen Kontext betrachtet und anschließend gesellschaftliche Wechselwirkungen berücksichtigt. Dafür bietet sich ein Blick auf Grenzverletzungen in Mobbing-Situationen an.

Abschließend sollen einige Vorschläge angedeutet werden, die Gerechtigkeit, Menschenrechte und gesellschaftliche Realitäten betreffen.


1. Szene:

Zwei Jungen sitzen zusammen im Schulbus. Sie schubsen und kabbeln sich. Es ist nicht eindeutig festzustellen, ob sie spielen oder schon streiten. Wenn einer den anderen schubst oder schon fast schlägt, schubst oder schlägt dieser wieder zurück. Das kann sich steigern und zu einer ernsthaften Auseinandersetzung führen, oder es verebbt so schnell, wie es begann. Warum schubst oder schlägt die betroffene Person zurück? Wie reagieren Sie, wenn Sie geschubst werden? Würden Sie sich in dieser Situation anders verhalten?


2. Szene:

Eine Freundin hat in ihrem Garten große Büsche gepflanzt, teilweise sehr nahe an der Grenze zum Nachbarn. Von dem erhält sie eines Tages einen Brief, in dem er ihr mitteilt, dass das nicht gehe, untermauert durch gesetzliche Regeln. Außerdem setzt er ihr eine Frist, um einen Teil der Büsche umzupflanzen, andernfalls werde er die Polizei einschalten. Ihre Freundin ist über den Brief sehr verärgert.

Sie erzählt, dass der Nachbar ohne Baugenehmigung eine Garage gebaut hat. Die Freundin fragt Sie, was sie tun soll.

Stellen Sie sich vor, Sie raten Ihrer Freundin, dem Nachbarn einen gleich lautenden Brief zurück zu schicken, in dem es statt um die Büsche um die Garage geht. Sie amüsieren sich, wenn Sie sich vorstellen, was der Nachbar dazu sagen wird.


Geht es hier um eine gerechte Revanche?

Diese beiden Szenen sind beliebig und mühelos zu vervielfachen. Um einen Vorfall bewerten zu können, greift jeder Mensch auf ein individuelles Wertesystem zurück. Dieses System hat er im Sozialisationsraum Familie gelernt, es trägt zu seiner individuellen Weltsicht bei, die seine Lebenswirklichkeit abbildet. Darin sind Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsorientierungen auf einem bestimmten Niveau eingespielt - gleichsam als Horizont einer individuellen Lebenswelt — die als Erfahrungswerte im Alltagauftreten.1

Für den Leser der oben beschriebenen Szenen heißt das, dass er, um urteilen zu können, auf ein bisher für gültig erachtetes Wertesystem zurückgreift, ohne sich dessen unbedingt bewusst zu sein.

[Seite 14] Darin steckt neben den rationalen Aspekten eine Fülle von unbewussten emotionalen Anteilen. Aus dieser individuellen Mischung an Erfahrungswerten bekommen die Szenen erst ihre spezifische Bedeutung. In beiden geht es um das Thema Gerechtigkeit. Mit ihr wird ein Maßstab an die zwischenmenschliche Dynamik angelegt, der entscheidend zur Emotionalisierung beiträgt.

Obwohl Gerechtigkeit dem Menschen als Fähigkeit angeboren ist, erfährt sie ihre individuelle Bedeutung in Abhängigkeit vom Bezugssystem, in dem das Individuum aufwächst. Aufgrund dieser subjektiven Prägung und Einzigartigkeit hat jeder Mensch ein Gefühl von gerecht und ungerecht, was wiederum in subjektive Erwartungen mündet.

Warum und wie Gerechtigkeit Erfahrungswerte fokussiert, erläutert Peseschkian2:

(Gerechtigkeit ist)... . die Fähigkeit, im Verhältnis zu sich selbst und anderen gegenüber Interessen abzuwägen.
Als ungerecht empfindet man dabei eine Behandlung, die von persönlicher Zu- und Abneigung oder Parteinahme statt von sachlichen Überlegungen diktiert wird... Jeder Mensch besitzt einen Gerechtigkeitssinn. Die Art, wie Bezugspersonen ein Kind behandeln, wie gerecht sie zu ihm, zu seinen Geschwistern und zueinander sind, prägt das individuelle Bezugssystem für die Gerechtigkeit.

Das heißt, dass mit Gerechtigkeit individuelle Erwartungen in Bezug auf sachliche Verhältnisse taxiert und optimal nach allgemeingültigen (kulturabhängige Normierung) Kriterien, die auch in der Gesetzgebung verankert sind, beurteilt werden. Würde Gerechtigkeit sich nur auf einen sachlichen Kontext konzentrieren, könnte sie eine eher harte {und emotionslose) Werthaltung sein, die dann recht stabil wirkt. In Wechselwirkung mit dem individuellen Erleben, Erwarten und den emotionalen Aspekten zwischenmenschlicher Auseinandersetzung ist Gerechtigkeit aber eher das Gegenteil, nämlich recht instabil.

Wie instabil Gerechtigkeit im subjektiven Erleben sein kann, soll an folgendem sozialpsychologischen Versuch veranschaulicht werden:


Die Versuchspersonen wurden Zeuge, wie eine Gruppe von Halbwüchsigen einen Jungen hänselte und quälte, der ihnen allem Anschein nach nichts getan hatte. Der Junge weinte, konnte sich aber nicht befreien. Die Zuschauer hatten keine Möglichkeit, in diese Szene einzugreifen. In dem Konflikt zwischen Mitleid und der Unfähigkeit zu helfen lösten die Versuchspersonen diese Situation auf ihre Art. Sie begannen, ohne dass es ihnen bewusst wurde, das Opfer mit anderen Augen zu sehen. Wenn sie ihn am Anfang noch als sympathischen Jungen einstuften, der ungerecht behandelt wurde, fanden sie mit der Zeit immer mehr unsympathische Züge an ihm. Schließlich waren sie davon überzeugt, dass es ihm schon ganz recht geschehe und er selbst daran schuld sei. Die Versuchspersonen hielten sich am Ende des Versuchs für genauso gerecht wie zu Beginn. Der offenkundige Widerspruch ihres Gesinnungswandels kam ihnen nicht zu Bewusstsein. Diese Wandlung hat eine Schutzfunktion. Mit dem tatenlosen Zusehen, zu dem die Versuchspersonen verurteilt waren, konnten sie das Mitleid nicht vereinbaren - andernfalls hätten sie eingreifen müssen. Um die Situation für sich erträglich zu gestalten, das Ich zu schonen und weitere Schuldgefühle zu vermeiden, stellt man einfach die Situation um:

Der Angegriffene, so sagt man, war selbst schuld.3


Grenzverletzung persönlicher Rechte = Ungerechtigkeit?


Wenn man Gerechtigkeit als eine menschliche Grundfähigkeit versteht, verdient die Schnittstelle zur Gesellschaft besondere Beachtung. Die individuelle Wertetradition vollzieht sich in einer Gesellschaft, deren Komplexität ständig zunimmt und in einer Pluralität, in der a) gesellschaftliche Verantwortlichkeit zur Beliebigkeit für die Bedürfnisse von einzelnen machtvollen Interessengruppen tendiert und b) die individuelle Freiheit höher eingestuft wird als das gesellschaftliche Wohl. Gesamtgesellschaftlich gesehen fehlen Werte, die einen allgemeingültig sinnstiftenden und einenden Charakter haben, der sowohl die Individuen aller Rassen dieser Erde als auch gesellschaftliche Interessengruppen auf verbindliche ethische Maximen im Umgang miteinander festlegt. Gerade das Fehlen dieser Maximen erschwert die Beurteilung von gerechter und ungerechter Behandlung, da die Kriterien jeweils aus dem spezifischen Kontext abgeleitet werden.

[Seite 15] So bleibt es dem Individuum überlassen, seine Grenzen und seinen Handlungsspielraum zu beschreiben. In diesem Zusammenhang lassen sich Ungerechtigkeiten als Grenzverletzungen übersetzen. Im Erleben heißt das, jemand oder etwas wirkt auf ein Individuum von außen ein und überschreitet eine subjektive Grenze, die dann als Grundlage für das Gefühl der Verletzung interpretiert wird. Voraussetzung dieser Verletzung von Grenzen ist das Erleben von Einschränkung in der persönlichen Entscheidungsfreiheit.


Grenzverletzung versus Freiheit und Gerechtigkeit


Beispiel

Ein gut aussehender Mann spricht auf der Straße eine Frau an und macht ihr Komplimente.


Möglichkeit 1:

Die Frau genießt die Komplimente. Da sie den Mann nett und freundlich empfindet, fällt es ihr leicht.


Möglichkeit 2:

Die Frau fühlt sich genötigt und erlebt die Handlung des Mannes als Übergriff.


Obwohl der Mann sich freundlich verhält, weiß er nicht, ob sein Verhalten auf Zustimmung oder Ablehnung stößt. Die Frau wird es - abhängig von ihrer persönlichen Deutung - bewerten, und, wenn sie es als unangenehm empfindet, dann auch als Grenzverletzung. Hätte sie darüber selbständig entscheiden können, dass der Mann sie anspricht, hätte sie subjektiv das Gefühl, immer noch die Kontrolle über ihre Grenzen zu haben, und es käme ihr nicht in den Sinn, das als Grenzverletzung zu interpretieren. Mit anderen Worten: Ob eine Situation als Grenzverletzung erlebt wird oder nicht, hängt hauptsächlich davon ab, wie selbständig ein Mensch über die individuelle Unfreiheit bestimmen kann. Das trifft auch für Partnerschaften zu, die normalerweise aufgrund von eigenen Entscheidungen eingegangen werden und somit eine selbstentschiedene Unfreiheit darstellen. Gerade weil man sich selbst für die Unfreiheit (Abhängigkeit) entscheidet, wird sie nicht als solche wahrgenommen.


Grenzen des individuellen Gerechtigkeitssinns am Beispiel von Mobbing als Grenzverletzung

Am Beispiel von. Mobbing, das bevorzugt in komplexen Systemen (Unternehmen, Verein, Gesellschaft) auftritt, soll die Grenze im Umgang individueller Gerechtigkeit an einem Fall verdeutlicht werden.

Ein leitender Angestellter klagte vor Gericht gegen seinen Vorgesetzten wegen Mobbings. In der Entscheidung faßte der Richter4 wichtige Erläuterungen zusammen:

". . . . bejaht das Arbeitsgericht die Erfüllung dieser tatbestandlichen Voraussetzungen und führt aus, dass der Kläger als Bankdirektor eine gewisse Reputation in der Gesellschaft und auch im innerbetrieblichen Bereich Statusmerkmale für sich in Anspruch nehmen könne.
. . . Das Selbstverständnis des Klägers sei auch durch die Anordnung des Beklagten mit dem Abfordern der täglichen Tätigkeitsnachweise im Halbstundentakt sowie die Benennung der Gesprächspartner unter Angabe des Gesprächsgrunds schwerwiegend infragegestellt worden. Der Beklagte... habe dabei nicht bedacht, dass der Kläger aufgrund seiner vertragsgemäß abgesicherten Position kein Mitarbeiter sei, der wie ein Berufsanfänger unter ständiger Kontrolle und Beobachtung stehen müsste.
Der Kläger sei leitender Angestellten gewesen und habe deshalb auch Anspruch auf eine angemessene Behandlung.”


Hier wird vom Gericht bestätigt, dass der Kläger vom Vorgesetzten in schwerwiegender Weise infrage gestellt worden ist, was man als systematische Grenzverletzung seitens des Vorgesetzten bezeichnen kann.

Dieses andauernde Verhalten erlebte der Kläger als Mobbing. Durch die Erläuterung des Richters wird nicht nur der Tatbestand des Mobbings klar, sondern er spricht dem Kläger einen Rechtsanspruch auf berufliche Entscheidungsfreiheit zu.

[Seite 16] Hier wird deutlich, dass die individuelle Freiheit, Situationen in Systemen als gerecht und ungerecht zu beurteilen, noch von der Macht abhängt und damit auch von der Frage, wer definiert wen und / oder was?


Deswegen gibt es beim Mobbing wesentliche Besonderheiten, die sich von der individuellen Entscheidungsfreiheit unterscheiden:

Individuen, die Mobbing praktizieren, entziehen sich verbindlichen zwischenmenschlichen Regeln, dazu noch der Kontrolle und der Verantwortlichkeit ihres Handelns. Da das meist unterschwellig, heimlich und verdeckt abläuft, wird eine offene und faire Auseinandersetzung nicht möglich. Die Angriffe erfolgen zum Beispiel durch üble Nachrede, mit Halbwahrheiten oder gezielter Desinformation. Für die Opfer ist das Unerträgliche und Krankmachende, dass sie in eine hilflose Rolle gedrängt werden, in der sie Unrecht erfahren, ohne dass es offiziell als solches geoutet wird 5 und sie sich nicht wehren können.

Dies wird besonders von Popp6 beklagt und er verlangt:

Ein System, das Mitmenschen frustriert, anstatt sie zu motivieren, das auffallend häufig Minderheiten und unbequeme Zeitgenossen beleidigt, anstatt sich argumentativ auseinanderzusetzen, muss als Hauptursache krankmachender Bewusstseinsstörung mit all den fatalen Folgen lokaler Störungen der Mitmenschen erkannt und „geoutet” werden, bevor aus der Diagnose die rechte Therapie abgeleitet werden kann.

Mangelt es daher an Transparenz oder Kontrolle über Beziehungen, in denen gemobbt wird, gelingt es kaum, zwischen gerecht und ungerecht zu unterscheiden. Daher erleben sich Mobbing-Opfer in einem Machtgefälle, dem sie zunehmend hilflos ausgeliefert sind.

Um Mobbing-Opfer zu verstehen und ihnen zu helfen - sie übernehmen in der Regel die Sündenbock-Rolle, bedarf es - wie von Popp gefordert - das „Outens" des Systems, in dem Mobbing auftritt.


Gerechtigkeit, Menschenrechte und gesellschaftliche Realitäten

Aufgrund individueller und sozialer Kompetenz kann das Individuum zwar seinen Spielraum gestalten. Doch sobald die Frage nach gerecht oder ungerecht im Kontext von machtabhängigen Strukturen steht, wird die individuelle Entscheidungsfreiheit wesentlich eingeschränkt,

Das hängt damit zusammen, dass Bewertungen von gerecht oder ungerecht individuell motiviert und im Erleben von der subjektiven Wertetradition des Individuums abhängig sind. Im gesellschaftlichen Kontext muss deswegen die Machtkomponente von Systemen berücksichtigt werden.

Diese Macht ist als Definitionsmacht über Situationen und Deutungsmuster zu verstehen.

Hier ist für das Individuum schnell die Grenze seines individuellen Gestaltungsspielraumes erreicht, das heißt, es ist auf einen verbindlichen und gerechten Kontext angewiesen, der sowohl als Maßstab einer ordnenden und gerechten Kraft dient als auch für alle am Kommunikationsprozess Beteiligten eine Art Kompass ist. Erst dann entsteht eine ordnende Gerechtigkeit und entfaltet sich Freiheit als positiver Faktor, der Persönlichkeitsentwicklungen fördern kann und gleichzeitig Grenzen berücksichtigt (Freiheit ohne Ordnung führt schnell zum Recht des Stärkeren).

Für Menschenrechte und Gerechtigkeit bedeutet das, dass man sich auf gesamtgesellschaftliche Werte einigen muß, die allgemeingültig und sinnstiftend sind und einenden Charakter haben. Erst dann können die Menschenrechte von Individuen wie von Rassen gerecht behandelt werden. Das erfordert zusätzlich, dass sich einzelne Menschen und gesellschaftliche Gruppen auf verbindliche ethische Maximen im Umgang untereinander festlegen müssen, die dann nicht der Beliebigkeit einer machtabhängigen Struktur unterliegen dürfen.


1 vgl. Heinze, Thomas (1992): Qualitative Sozialforschung. Opladen, Westdeutscher Verlag, S.18)
2 Peseschkian, Nossrat (1977): Positive Psychotherapie. Fischer Taschenbuchverlag. S. 417
3 Lerner, M.J.,C.H. Simmons (1966); Observer's Reaction to the Innocent Victim. In: Compassioner Rejection P.J. Pers. Soc. Psych. 4, S. 203-210; vgl. Auch Peseschkian (1977): Psychotherapie des Alltagslebens. Fischer Taschenbuch, S. 154.
4 Landesarbeitsgericht Thüringen: 1. Musterentscheidung vom 10.04.2001, Az. 5Sa 403/2000
5 Die Opfer werden (und fühlen sich) systematisch in ihrer Rolle und Situation allein gelassen, isoliert und bleiben auch mit dem subjektiven Empfinden für die ungerechte Behandlung alleine, die objektiv geleugnet, bagatellisiert oder nicht wahrgenommen wird. Dies führt in einen „verrückt-machenden-Kreislauf”.
6 F.A. Popp (1998): Bewusstsein über Bewusstsein. In: CO'med, Nr. 5, Juni 1998, S.8


Dipl.-Päd. Gunther Hübner, Psychotherapeut, tätig in eigener Praxis und Dozent bei WIAP* u.a. Managementtrainings und Coaching

*Wiesbadener Akademie für Psychotherapie, www.wiap.de

[Seite 17]



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Gastbeitrag von Hermann Gröhe, MdB

Der Einsatz für Religionsfreiheit soll zu einem deutschen Markenzeichen werden[Bearbeiten]

Hermann Gröhe


Vor dem Hintergrund der Anschläge vom 11. September 2001 haben die Themen des interreligiösen Dialogs und des Kulturaustauschs in der Politik an Bedeutung gewonnen. In der Außenpolitik zeigt sich, dass besonders die Glaubens- und Meinungsfreiheit der Gradmesser für die Dialogbereitschaft in einem Land ist.

Im Auswärtigen Amt wurde eigens eine Abteilung für den Dialog mit dem Islam eingerichtet, und sowohl in Regierungsreden als auch im sechsten Menschenrechtsbericht der Bundesregierung von Juni 2002 fanden Passagen zur Religionsfreiheit Eingang. Hermann Gröhe, Obmann der CDU/CSU-Fraktion im Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestages, machte noch vor dem 11. September 2001 mit einer Großen Anfrage an die Bundesregierung auf die fehlende Religionsfreiheit vor allem für Christen in vielen Teilen der Welt aufmerksam.

Sein Beitrag ist der erste einer Reihe, in der die Redaktion Stimmen aus Politik und Öffentlichkeit einlädt, zu den Themenschwerpunkten von TEMPORA Stellung zu beziehen.


„Jedermann hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“ (Artikel 18, Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966).

Obwohl 148 Staaten diese grundlegende internationale Menschenrechtskonvention unterzeichnet haben, werden in vielen Staaten die darin enthaltenen Freiheitsrechte eingeschränkt, wenn nicht sogar ganz verwehrt.

Aus diesem Grund hat die Arbeitsgruppe Menschenrechte und Humanitäre Hilfe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu Beginn dieser Legislaturperiode die Religionsfreiheit zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit gemacht. Im Sommer 1999 stellte sie eine Große Anfrage an die Bundesregierung mit dem Titel “Verfolgung von Christen in aller Welt”. Wenngleich die weltweite Diskriminierung von Christen im Mittelpunkt dieser Initiative stand, so ging es doch auch grundsätzlich um die freie Ausübung des Glaubens für alle religiösen Gemeinschaften.

Auf der Grundlage der Antwort der Bundesregierung wurde dieses Thema im Februar 2000 erstmals Gegenstand einer Debatte im Deutschen Bundestag.

Ohne uns auf den Streit über eine mögliche Rangfolge von Menschenrechten und Menschenrechtsverletzungen einlassen zu wollen, kann zum Recht auf Religionsfreiheit gesagt werden: Wo ein Regime das Leben der Gläubigen beherrschen will, ihre Gottesdienste, ihr Gemeindeleben oder die religiöse Unterweisung ihrer Kinder zu kontrollieren versucht, wird die Totalität seines Herrschaftsanspruchs besonders deutlich.

Es ist kein Zufall, dass sich totalitäre Regime gerade durch religiöse Überzeugungen gleichsam “herausgefordert” sehen. Wo Menschen sich einer transzendentalen Macht gegenüber verantwortlich fühlen, an einen Schöpfer, Gesetzgeber, Richter oder barmherzigen Vater glauben, erfährt der Herrschaftsanspruch der “Herren dieser Welt” eine Begrenzung.

Für die Union ist und bleibt es selbstverständlich, für verfolgte Anhänger gleich welcher religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung einzutreten. Angesichts der christlichen Prägung unserer politischen Kultur fühlen wir uns aber verfolgten Christen in besonderer Weise verbunden und zur Solidarität verpflichtet. Christen in islamischen Staaten, wie in Pakistan, Indonesien oder im Sudan, sind erheblichen Diskriminierungen ausgesetzt, die bis zu Verurteilung zum Tod wegen angeblicher Blasphemie und Beleidigung des Propheten Mohammed reichen.

Aber auch in kommunistischen Staaten, wie in der Volksrepublik China und in Vietnam, sind katholische Priester und Mitglieder protestantischer Hauskirchen gezwungen, ihren Glauben im Untergrund zu leben, oder sie werden schikaniert und ihre Gemeindeleiter und Prediger willkürlich verhaftet. Immer wieder kommt es in China zu Rückfällen in eine kommunistisch geprägte Religionspolitik. Davon betroffen sind auch Muslime in der Autonomen Uigurischen Region Xinjiang und tibetische Buddhisten in der Autonomen Region Tibet. Tausende von tibetischen Nonnen und Mönche wurden in den vergangenen Jahren aus Tibet ausgewiesen oder festgenommen und zwei Dutzend religiöse Einrichtungen geschlossen. Die Vertreibung der Montagnards aus ihren angestammten Gebieten im Zentralen Hochland Vietnams haben wir ebenso angeprangert wie die Verfolgung von Mitgliedern der Vereinigten Buddhistischen Kirche Vietnams.

Wir verurteilen entschieden die brutale Verfolgung der Bahá’í im Iran.

Die Verkündigung und Bestätigung von Todesurteilen gegen Bahá’í kann nicht hingenommen werden. Der Reformkurs im Iran ist nur dann glaubwürdig, wenn dieser unerträglichen Verfolgung ein Ende gemacht wird.

Auch die rot-grüne Bundesregierung scheint mittlerweile dem Thema Religionsfreiheit eine größere Bedeutung beizumessen. In ihrem neuesten Menschenrechtsbericht vom 6.Juni 2002 wird dieses Thema zu einem festen und wichtigen Bestandteil ihrer Menschenrechtspolitik erklärt. Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt diese Aussage, die sie gerade auf ihr Engagement, aber auch auf die Aktivitäten verschiedener Menschenrechtsgruppen, von Hilfs- und Missionswerken zurückführt. Insgesamt muss es unser Ziel sein, den Einsatz für Religionsfreiheit zu einem deutschen Markenzeichen zu machen.


[Seite 20]


Menschenrecht[Bearbeiten]

Einst sicherte Körperkraft

die Rechte des Stärkeren

über die Schwachen.

Mit Viehzucht und Ackerbau

trat Besitz

an die Stelle der Kraft —

und blieb es bis heute.

Seitdem ist der Fortschritt der Menschheit

abgerungen im Kampf

gegen das Vorrecht der Reichen:

Ein jeder Schritt

zu mehr Gerechtigkeit

eine Antwort

auf den sich wandelnden Missbrauch der Macht.


So gebaren die Zeiten,

als nur das Wort des Herrschers galt,

die Freiheit des Wortes.

Wo Religion die Macht sicherte

und die Macht die Herrschaft der Religion,

wurde Glaubensfreiheit

ein unverzichtbares Gut.

Zeitalter der Selbstherrschaft,

des Absolutismus,

erzeugten den Willen zur Mitbestimmung durch

Wahlen.

Der Missbrauch der territorialen Rechte

auf Abgaben und Zölle

brachte den Freihandel hervor,

und eine Industrie,

die Arbeit zum Mordwerkzeug machte,

ließ den Ruf nach Arbeitsrechten entstehen.


Was nützt aber

das Recht auf Freiheit des Wortes

dem Dürstenden,

dem der Zugang zum Wasser

verwehrt bleibt?


Was bedeutet Glaubensfreiheit

ohne das Recht auf Bildung,

die den Glauben davor bewahrt,

zum Aberglauben zu werden

und Feindbilder der Ausgrenzung zu schaffen?

Was bedeutet das Wahlrecht,

wenn die Kontrolle

über Arbeitsbedingungen,

Arbeitsplätze

und Löhne

und damit über Gesundheit,

Würde,

Leben und Sterben

von denen ausgeübt wird,

die sich jeder Kontrolle entziehen?

Wohin führt das Recht auf freien Handel,

wenn es die Freiheit der Mächtigen

auf Vergewaltigung der Umwelt,

der Selbstbestimmung

und der Lebensrechte der Armen einschließt,

wenn die Spekulation auf den Geldmärkten

die Früchte der Arbeit

von Milliarden von Menschen

vernichten darf

und Rohstoffe dem Meistbietenden,

dem Monopolisten,

und nicht dem Bedürftigen zustehen?

Was nützt schließlich

das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit,

wenn noch immer

das Recht des Stärkeren

über Krieg und Frieden entscheidet?


Aber:

Immer wenn

der Missbrauch des Rechts

unerträglich wurde,

war es Zeit,

den nächsten Schritt

in die Zukunft zu tun.



Roland Greis


[Seite 21]


Intermezzo[Bearbeiten]

Nur, um die Herrschaft über ein Stück Erde zu gewinnen!

Selbst die Tiere haben beim Kampf einen unmittelbareren und vernünftigeren Anlass für den Angriff!

Wie schrecklich ist es, dass sich Menschen, die dem höheren Reiche angehören, so erniedrigen, dass sie ihre Mitgeschöpfe um den Besitz eines Landstriches erschlagen und mit Elend überziehen!


'Abdu'l-Bahá

Ansprachen in Paris

21. Oktober 1911








„Jugoslavia”

Malerei auf Seide

1993/94

Brigitte Schirren



[Seite 22]



O Sohn des Geistes!

Von allem das Meistgeliebte ist Mir die Gerechtigkeit.

Wende dich nicht ab von ihr, wenn du nach Mir verlangst, und vergiss sie nicht, damit Ich dir vertrauen kann. Mit ihrer Hilfe sollst du mit eigenen Augen sehen, nicht mit denen anderer, und durch eigene Erkenntnis Wissen erlangen, nicht durch die deines Nächsten. Bedenke im Herzen, wie du sein solltest.

Wahrlich, Gerechtigkeit ist Meine Gabe und das Zeichen Meiner Gnade. So halt sie dir vor Augen.


Bahá’u’lláh


Die Verborgenen Worte







„Die neu erblühte Justitia”

Acryl auf Leinwand

Sille Schneider-Uher









„Der Geringere Friede"

gewidmet Nelson Mandela

Bronze 60 x 60 x 60

1998

Günter Sprengart



Die Skulptur steht heute

vor dem Union Buildings

in Pretoria.


Das Zitat oben steht

in englischer Sprache

auf einer Schautafel

neben der Skulptur



[Seite 23] [Seite 24]


Ich hoffe für euch, dass ihr immer Gewalt und Unterdrückung meiden und unablässig arbeiten werdet, bis Gerechtigkeit in jedem Lande herrscht, und dass ihr eure Herzen rein, und eure Hände frei von Unrecht haltet.


'Abdu'l-Bahá, Ansprachen in Paris





[Seite 25]


Das Landegg-Projekt in Bosnien

Wie sät man Frieden?[Bearbeiten]

„JEDES KIND KÖNNTE DAS LICHT DER WELT SEIN - ODER IHRE FINSTERNIS.

DESHALB MUSS DER FRAGE DER ERZIEHUNG GRÖSSTE BEDEUTUNG BEIGEMESSEN WERDEN.“ 1








Diana Khadem


Kinder sind die Zukunft. Eines Tages werden sie die Führungspositionen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Religion einnehmen. Doch welche Zukunft können sie gestalten, wenn sie nur Krieg und Konflikt kennen? Martin Luther King Jr. gab diese Antwort:

„Die ultimative Schwäche der Gewalt ist, dass sie eine absteigende Spirale bildet, die genau das erzeugt, was sie zu zerstören trachtet. Statt ein Übel zu begrenzen, multipliziert sie es. Durch Gewalt mögt ihr einen Lügner ermorden, doch die Lüge selbst könnt ihr nicht morden, noch könnt ihr auf diese Weise Wahrheit schaffen. Durch Gewalt mögt ihr den Hasser ermorden, doch den Hass selbst könnt ihr nicht morden. Gewalt mit Gewalt zu beantworten, vervielfältigt diese, indem weitere Dunkelheit einer Nacht hinzugefügt wird, die bereits sternenlos ist.”2

Dieser furchtbare Teufelskreis versperrt den Weg zu einer friedlicheren Gesellschaft. Deshalb müssen neue Strategien entwickelt werden, um die Spirale der Gewalt zu durchbrechen: „Dunkelheit kann Dunkelheit nicht vertreiben; das vermag nur das Licht. Hass kann Hass nicht vertreiben; das vermag nur die Liebe.“ 3)


Professor Hossein Danesh, Psychologe und Berater für Konfliktlösung, ist ein Pionier auf diesem Gebiet. In seinem Buch „Einheit: Die kreative Grundlage für den Frieden“ erklärt er:

„Wenn ein Opfer der Gewalt mit Liebe, Mut und Güte reagiert, spricht es die Menschlichkeit seines Unterdrückers an... und durchbricht die vielen Schranken, die zwischen ihnen existieren.“ 4

Er beschreibt die Dynamik von Angst und Zorn, die durch die leiseste Provokation allzu leicht in Gewalt umschlagen kann. „Wenn potentielle Gewalttäter und potentielle Opfer sich begegnen, ist es sehr wahrscheinlich, dass dieses Aufeinandertreffen dann zu Gewalt führt, wenn beide einander durch die Brille der Angst, des Zorns, des Misstrauens und der Abneigung wahrnehmen. Doch wenn einer von beiden mutig, ruhig, vertrauensvoll und mit dem ehrlichen Gefühl der Zuneigung für die andere Person zu agieren beginnt, entsteht eine ganz andere Dynamik. Offensichtlich sind es unter diesen Umständen allerdings eher die Opfer, die den Mut aufbringen müssen (und können!), mit erlebter Gewalt auf andere Art umzugehen.“ 4


Mit dieser Betrachtungsweise realisierte Professor Danesh im Jahr 2000 in Bosnien das Projekt „Erziehung zum Frieden“ (Education for Peace). Sein Ziel ist, Opfer des Krieges so zu stärken, dass sie eine aktive und konstruktive Rolle beim Neuaufbau des Gemeinwesens übernehmen können, indem sie die Abgründe der Vergangenheit hinter sich lassen und so für die Zukunft des Landes zu liebenswürdigen und schöpferischen Führungspersönlichkeiten reifen können. Anstatt Schmerz zu unterdrücken oder durch Rache zu verarbeiten, hilft das Projekt besonders den Kindern, die Welt mit neuen Augen zu sehen und eine Sichtweise zu erwerben, die allen Menschen ihre unveräußerliche Würde zuerkennt und der Gerechtigkeit und der Einheit in der Vielfalt hohe Priorität einräumt.

Anlässlich der 40. Generalversammlung der Vereinten Nationen und der Proklamation des Jahres 1986 zum Internationalen Jahr des Friedens, sagte der damalige Generalsekretär Perez de Cuellar: „Dieses besondere Jahr des Friedens ist eine Antwort auf die größte Sehnsucht des Menschen. Natürlich können die Voraussetzungen zur Errichtung des Friedens nicht in einem Jahr geschaffen werden, aber es soll der Beginn sein für ein neues und wirkungsvolleres Bemühen um den Frieden.“

[Seite 26] Wenn wir diese Bemühungen mit der Erziehung der Kinder verbinden, wird schnell klar, wie weitreichend dieses Projekt ist. “Die Verschiedenheit der Charaktere aber, die durch Erziehung entsteht, ist sehr bedeutsam, denn die Erziehung hat großen Einfluss. Durch sie wird der Unwissende gelehrt, der Feige mutig; durch Zucht wird der verwachsene Zweig gerade, die sauren, bitteren Früchte der Berge und Wälder werden süß und köstlich, und die fünfblättrige Blume wird hundertblättrig. Durch Erziehung werden wilde Völker kultiviert, und sogar die Tiere werden ans häusliche Leben gewöhnt, Erziehung muss als außerordentlich wichtig angesehen werden; denn wie Krankheiten in der körperlichen Welt sehr ansteckend sind, genauso sind Eigenschaften des Geistes und der Seele äußerst ansteckend. Erziehung hat einen allumfassenden Einfluss, und die durch sie verursachten Unterschiede sind sehr groß“. 5

Das Projekt begann im Sommer 2000, als Lehrer aus den drei ethnischen Gruppen Bosniens (serbisch, kroatisch und bosnisch) zu einem Trainingsseminar auf die Landegg Academy6 kamen. Menschen, die sich in Ihrem Land als Feinde betrachteten, erlebten, was es bedeutet, einfach mit Menschen zusammenzuarbeiten, nicht mit Kroaten, Serben oder Bosniern,

Obwohl die Vielfalt der ethnischen Gruppen anerkannt wurde und jeder einen gewissen Raum hatte, um seine Identität auszudrücken, war das gemeinsame Ziel, die Kinder des Landes so zu erziehen, dass sie eine bessere Zukunft gestalten können.

Nach intensivem Training kehrten die Lehrer in ihre Heimat zurück, wo sie anderen Kolleginnen und Kollegen dieses Konzept („Einheit in der Vielfalt ist die Grundlage für den Frieden") vermittelten. In den Städten Banja Luka, Sarajevo und Travnik waren jeweils eine Mittelschule und eine Hochschule an diesem Prozess, Kindern Erziehung für den Frieden anzubieten, beteiligt. Was das Projekt zusätzlich auszeichnete, war die deutlich spürbare Transformation aller Beteiligten: Nicht nur Lehrerinnen, Lehrer und Kinder, sondern auch viele Eitern und weiteres Schulpersonal (Reinigungskräfte, Kantinenhilfen) sahen sich zunehmend mit anderen Augen. Insgesamt waren 18.000 Menschen in den Prozess der Friedensbildung integriert.

Obwohl in jeder der genannten Städte zwei Programmassistenten bereit standen, blieb die Hauptverantwortung bei den einzelnen Lehrerinnen und Lehrern, die das Curriculum („Einheit in der Vielfalt“) zu gestalten hatten. Kleineren Kindern wurde dieser Gedanke durch Beispiele aus der Natur nahegebracht: Zwar ist es eine Wiese, Ihre Schönheit entsteht jedoch durch die Vielfalt der Pflanzen und Tiere, die darauf leben. Älteren Schülerinnen und Schülern erklärte man das Konzept am Beispiel der Organe unseres Körpers: Obwohl jedes eine eigene Aufgabe und unterschiedliche Eigenschaften hat, bedarf es der innigen Kooperation aller, damit der Mensch gesund bleibt! Die Vermittlung dieser neuen Sichtweise war die Hauptaufgabe in jeder Schule, die sich dem Projekt angeschlossen hatte. Die Auswirkungen blieben indessen keineswegs auf die Schulgemeinschaft begrenzt.

Die Schülerinnen und Schüler hatten Projekte zu entwickeln, die das Konzept der Einheit in der Vielfalt kommunizierten. Anschließend gab es mehrere Treffen zwischen den serbischen, kroatischen und bosnischen Gemeinden. Anfangs waren Eltern und Lehrer/innen ängstlich und skeptisch. Das schlug sich in der Unsicherheit der Kinder nieder, die oft noch beeinflusst waren von den Geschichten und Gerüchten, die sie von den Erwachsenen gehört hatten. Doch bereits nach wenigen Treffen bemerkten viele, wie Ihre neue Sichtweise, ihr neues Weltbild die Kooperation miteinander - alle sind Mitglieder der einen „Familie Menschheit" - verstärkte. Auch verstandesmäßig stellten sie mehr und mehr fest, dass sie trotz mancher Unterschiede vieles gemeinsam haben, zum Beispiel den Wunsch, fröhlich, gesund, erfolgreich und friedlich zu leben.

Im Laufe des Jahres 2001 wurde immer deutlicher, dass der Prozess des Umdenkens nicht nur intellektuell, sondern noch stärker emotional unterbaut werden musste. Verstand und Gefühle mussten mehr in Balance gebracht werden, weil (unterdrückte) Emotionen den Verstand dominieren und daher ungesteuerte, impulsive Handlungen programmiert sind. Diese provozieren in aller Regel den Wunsch nach Rache, wodurch der Zyklus der Gewalt weitergeht.

Auch seelische Wunden müssen die Möglichkeit zur Heilung haben. Die Traumata der Vergangenheit - das zeigte sich während der Projektarbeit - dürfen nicht ignoriert werden. Viele Frauen waren missbraucht worden, Tausende verletzt [Seite 27] und verkrüppelt, zahllose waren obdachlos. Ungezählte Kinder hatten ein Elternteil oder beide verloren, viele Familien Söhne, Brüder, Väter, Onkel. Die Kriegs-Wunden in Bosnien waren (wie in jedem Krieg) gewaltig und haben unglaubliche Schäden - nicht nur materielle - hinterlassen.

Das „Bosnia-Team“ war sich bewusst, dass durch Erziehung immens viel erreicht werden kann. Es wurde jedoch auch deutlich, dass eine nur intellektuelle Transformation keine dauerhaften Resultate bringen würde. Für eine nachhaltige Lösung mussten Kopf und Herz in Übereinstimmung gebracht werden. Der Prozess der Heilung ist nicht nur abhängig von der intellektuellen Wandlung durch Erziehung, auch die Gefühle der Menschen mussten sich auf eine positive Erlebensweise hin verändern. Die emotionalen Narben, die solche dramatischen Konflikte hinterlassen, brauchen Heilungsprozesse, die moralische und ethische Werte integrieren (Respekt, Vertrauen, Ehrlichkeit). Nur so können Rückfälle in Hass und Gewalt reduziert werden. Durch die Integration von universell anerkannten Prinzipien wie Liebe, Einheit, Gerechtigkeit und Frieden hat das Projekt dazu beigetragen, geistige Brücken zwischen den Beteiligten aufzubauen.

Es gibt viele Projekte auf der Welt, die dabei helfen sollen, mit Konflikten umzugehen, indem Menschen anderen Menschen sagen, was sie tun sollen. Im Gegensatz dazu wurde beim Bosnien-Projekt von Anfang an mit den Betroffenen selbst „gelebt, mitempfunden, beraten und gehandelt“. Leitmotive dieser Zusammenarbeit waren:


1. der Gedanke der Einheit in der Vielfalt;
2. der Einzelne ist überaus wichtig, aber nicht minder die „Heilung“ der Gemeinschaft (Gesellschaft);
3. materieller und/oder psychologischer Neuaufbau sind dringend erforderlich, aber ebenso bedeutsam ist eine emotionale und geistige Wiederbelebung - unabhängig vom ethnischen oder religiösen Hintergrund.


Im Mai 2002 fand auf der Landegg eine Konferenz mit einer Reihe von Offiziellen (Assistenz-Außenminister von Bosnien-Herzegowina Željko Jerić, Botschafter Jugoslav Joviĉi und der Erziehungsminister der Republika Sprska, Stevan Pašalić) statt, die das Projekt analysierten und besprachen. Die Begeisterung über den positiven Verlauf war bei allen Teilnehmern groß. Ein privater Spender sagte einen Betrag von einer Million Euro fest zu. Weitere realistische Angebote für eine finanzielle Unterstützung in Höhe von 14 Millionen Euro zeichneten sich ab.

In der Presseerklärung vom 17. Mai 2002 hieß es: „Bei allen Teilnehmern herrschte Konsens über die positiven Erfahrungen mit dem Projekt... Künftige Generationen von Führungspersonen werden darauf vorbereitet, nicht nur Gewalt zu vermeiden und Toleranz zu lernen, sondern die Auswirkungen des Krieges von 1992 bis 1995 zu überwinden und nachhaltig zum Frieden beizutragen.“ In New York hat Ruth Engo, leitende Wirtschaftsberaterin des Wirtschafts- und Sozialrats der Vereinten Nationen (ECOSOC), die Wirkung des Projekts angesprochen:

„Das ist das erste Mal, dass ich von einem Projekt höre, das mit Zahlen und Statistiken aufzeigt, dass wir uns auf Frieden vorbereiten können, genauso wie wir uns auf den Krieg vorbereitet haben.“

Die Erfolge der intensiven Bemühungen der Projektgruppe, die Opfer des Bosnienkrieges (vorwiegend die Kinder) darauf vorzubereiten, in Zukunft „Führungspersönlichkeiten in Sachen Menschlichkeit“ zu werden, haben in anderen Krisengebieten dieser Welt Aufsehen erregt. „Derzeit gibt es dringliche Anfragen zur Umsetzung des Programms in anderen Konfliktzonen, wie etwa Irland, Eritrea oder Südafrika.“

(Presseerklärung vom 17. Mai 2002)


Diana Khadem, M.A. in Consultation and Conflict Resolution

1 'Abdu'l-Bahá in: Ziele der Kindererziehung. Aus den Schriften Bahá’u’lláhs, 'Abdu'l-Bahás und Shoghi Effendis zusammengestellt vom Universalen Haus der Gerechtigkeit, August 1976. Bahá’í-Verlag 2002, 3. Auflage, S. 48
2 Zitat von Martin Luther King Jr. Übersetzt auf Deutsch. http: /www.das-gibts-doch-nicht.de/seite406.htm
3 a.a.O.
4 Unity the Creative Foundation of Peace. Hossein Danesh. Published by the Bahá’í Studies Publications and Fitzhenry & Whiteside, Ottawa, Canada, 1986. pp. 98 & 99 (nicht autorisierte Übersetzung)
5 'Abdu'l-Bahá in: Ziele der Kindererziehung. Aus den Schriften Bahá’u’lláhs, 'Abdu'l-Bahás und Shoghi Effendis zusammengestellt vom Universalen Haus der Gerechtigkeit, August 1976, Bahá’í-Verlag 2002, 3. Auflage, S. 31f
6 jetzt bekannt als Landegg International University.


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Vorstellung DVD

Kinderwelt — Weltkinder[Bearbeiten]

Acht Filme zum globalen Lernen


Kinderalltag in Afrika, Asien und Lateinamerika









Cover: Kinderwelt — Weltkinder


Zezé rennt mit einem Pfannendeckel in der Hand aus der Hütte. Ehe es die Mutter bemerkt, ist der Junge schon in den Gassen der Favela verschwunden. Da hilft weder ihr lautes Zetern noch die Verfolgung durch die große Schwester. Unterwegs stibitzt der Junge einen weiteren Deckel, wodurch sich die Schar seiner Verfolger vermehrt, schießt ganz nebenbei auf dem Fußballplatz ein Tor und kommt erst auf einer Bühne zum Stehen. Von hier erklingt die rhythmische Musik, die den Jungen bereits bei seinem Lauf durch die Favela begleitet hat. Verschmitzt verwandelt Zezé die Pfannendeckel in Schlaginstrumente, gerade noch rechtzeitig zu seinem musikalischen Einsatz in der Band und zur Überraschung seiner Verfolger.

Der Film „Zezé - der Junge, die Topfdeckel und die Favela“ ist nicht nur der kürzeste von den acht Filmen der DVD „Kinderwelt — Weltkinder“, sondern wohl auch der charmanteste. Nicht allein deshalb, weil ganz nebenbei die ärmliche Welt der Favela gezeigt wird, sondern vor allem, wie sie gezeigt wird. Denn der Junge und die anderen Menschen sind weder Statisten noch Opfer, sondern handelnde Subjekte, die uns Einblicke in ihr Leben gewähren.

Wie dieser kleine Film zeigen auch die sieben anderen Werke auf der Scheibe eine Welt, die dem Zuschauer erst dann nahe kommt, wenn Nachrichtenbilder und Betroffenheitsreden vergessen sind. Die acht Filme liefern Bilder, die uns weltweite Zusammenhänge verstehen lassen, da sie Gemeinsamkeiten mit unserem Leben aufzeigen und Bezüge dazu herstellen. Munna, Sili, Roger, Elena, Eric, Zezé, Esmeralda, Dalal und Osvaldo sind zwar Kinder aus fernen Ländern, aber den unseren doch sehr ähnlich.

Die DVD „Kinderwelt - Weltkinder“ kann uns und unseren Kindern die Augen öffnen für andere Kontinente und Kulturen. Neugier und Interesse wecken, Sympathie und Betroffenheit auslösen, Toleranz und Verständnis für Fremdes fördern - für diese Formen der Emotionalität sind Filme besonders gut geeignet, denn sie vermitteln in erster Linie Gefühle und Stimmungen.

Das umfangreiche Begleitmaterial mit Hintergrundinformationen, konkreten Vorschlägen für die Umsetzung im Unterricht und Arbeitsblättern zum Ausdrucken erleichtert die Reflexion über das Gesehene in der Kinder- und Jugendarbeit.

„Kinderwelt - Weltkinder“ ist das Produkt einer länderübergreifenden Zusammenarbeit dreier Organisationen. Für die Herausgabe zeichnen das Evangelisches Zentrum für entwicklungsbezogene Filmarbeit aus Deutschland, die Fachstelle „Filme für eine Welt“ aus der Schweiz und Baobab aus Österreich verantwortlich.

Die Begleitmaterialien und Unterrichtshilfen wurden im Auftrag der Bildungsstelle der Arbeitsgemeinschaft der Hilfswerke erarbeitet.


Kinderwelt - Weltkinder
Kinderalltag in Afrika, Asien
und Lateinamerika

DVD / CD-ROM mit 8 Filmen und integrierten Begleitmaterialien in deutsch und französisch

Hrsg, Fachstelle «Filme für eine Welt» / EZEF/Baobab, CH/D/A 2002


Die DVD kann für eine nichtgewerbliche öffentliche Vorführung zum Preis von 40 Euro unter folgender Anschrift bestellt werden:

Evangelisches Zentrum für
entwicklungsbezogene Filmarbeit
Kniebisstraße 29
70188 Stuttgart
Tel.: 0711 - 28 47 243
Fax: 0711-28 46 936
Mail: info@ezef.de
www.ezef.de


[Seite 29]


Toleranztraining der Bertelsmann Stiftung

Toleranz lernen — Toleranz verstehen[Bearbeiten]

Auf der Suche nach der Einheit in der Vielfalt stößt man unweigerlich auf eine Haltung, die das Miteinander unterschiedlicher Kulturen und Lebensstile in einer Gesellschaft erst möglich macht: die Toleranz. Aber was ist Toleranz? Die Bertelsmann Stiftung beschäftigt sich seit Jahren theoretisch wie praktisch mit diesem Schlüsselbegriff der Menschenrechtserziehung. Michael Seberich und Katrin Uhl beschreiben die verschiedenen Bildungsprogramme der Stiftung, bei denen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Toleranz praxisnah und alltagstauglich näher kommen.


Typisch deutsch - was ist das?

Fußball? Mülltrennung? Goethe? Die Frage wird von Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmern meist mit einem Lächeln aufgenommen, das sich langsam in einen nachdenklichen Gesichtsausruck verwandelt. Im folgenden Gruppengespräch zeigt sich stets, dass für viele Schüler, Auszubildende oder Erwachsene der Umgang mit der deutschen Identität schwierig ist. Ein plakatives Verständnis des „Deutschseins” wird nur ungern akzeptiert. In der Diskussion wird auf die Komplexität und Vielfalt der Kultur verwiesen. Wie werden Deutsche von anderen wahrgenommen? Wie nehmen Deutsche Angehörige anderer Kulturen wahr?

Das sind Fragen, die sich aus einer Übung des Trainings-Programms Achtung (+) Toleranz der Bertelsmann Stiftung und des Centrums für Angewandte Politikforschung (CAP) an der Universität München ergeben. Die Auseinandersetzung mit der eigenen kulturellen Identität ist der erste Schritt zur Akzeptanz der Anderen, des Fremden. Dass sich unsere Gesellschaft solchen Fragen stellen muss, wird derzeit verstärkt an Krisenphänomenen erkennbar: Rechtsextreme Parteien haben heute wieder Konjunktur bei den Wählern. Besonders beunruhigend sind der stete Anstieg rechtsextremer Gewalttaten und die Erkenntnis, dass Fremdenfeindlichkeit und Rassismus Erscheinungen sind, die ihren Ursprung „in der Mitte der Gesellschaft” haben.

Als Reaktion darauf wurde Mitte der 90er Jahre das Projekt „Erziehung zu Demokratie und Toleranz“ der Bertelsmann Stiftung ins Leben gerufen. Die Grundidee war, Bildungsprogramme zu entwickeln, zu erproben und zu implementieren, die mit Hilfe neuer pädagogischer Methoden dem Einzelnen einen aktiven Zugang zu den Themen Demokratie und Toleranz erlauben.

[Seite 30] Die Zielgruppe der Programme ist Im Laufe der Jahre ständig gewachsen und umfasst mittlerweile Schulen, Unternehmen, die außerschulische politische Bildung, die öffentliche Verwaltung und die Polizei.

Die Bertelsmann Stiftung und Ihr Projektpartner CAP vertreten in Deutschland Adaptionen des israelischen Programms „Miteinander - Erfahrungen mit Betzavta”, des amerikanischen Programms „Eine Welt der Vielfalt“ und das selbst entwickelte Programm „Achtung (+) Toleranz". Alle drei basieren auf einem Methodenmix, der ein hohes Maß an Abwechslung und einen reizvollen Lernraum schafft.

Miteinander - Erfahrungen mit Betzavta ist in den 80er Jahren vom Adam-Institut in Jerusalem entwickelt worden.

Seine Grundidee ist, dass alle Menschen das gleiche Recht auf Freiheit haben. Mit Hilfe der Übungen werden in einer Demokratie bestehende Konflikte in eigene Dilemmata verwandelt.

Dieser Prozess soll dem Individuum ein neues Demokratie-Verständnis vermitteln. Ebenfalls in den 80er Jahren entwickelte die amerikanische Anti-Defamation League (ADL) das Programm „A World of Differerce". ADL stellt sich seit 1913 jeglicher Form von Diskriminierung in den USA entgegen und versucht mit dieser Initiative Vorurteile abzubauen und die Wertschätzung „eine(r) Welt der Vielfalt” zu verbreiten.

Das Programm ist mittlerweile in der Lehrerfortbildung als Kernelement interkultureller Bildung in vielen Bundesländern etabliert.

Die Bertelsmann Stiftung und das CAP haben die Erfahrungen mit diesen beiden Programmen genutzt, um ein eigenes zum Thema Toleranz zu entwickeln. Achtung (+) Toleranz ist das Resultat dieser Bemühungen. Sein Schwerpunkt ist die Förderung partnerschaftlicher Kommunikation in Konflikt-Situationen und das Entwickeln von Zivilcourage.

In naher Zukunft sollen die drei Programme noch durch ein Training zum Thema „Macht und Sprache" und das Begegnungskonzept „Ohne Angst verschieden sein" ergänzt werden.

Grundlage einer Erziehung zu Demokratie und Toleranz, wie sie in diesen pädagogischen Konzepten verfolgt wird, ist eine praxisnahe und alltagstaugliche Orientierung für verantwortungsbewusstes Handeln im Konfliktfall. Toleranz definiert sich dort als die Maxime, in gegenseitiger Anerkennung einen Konflikt auszuhalten oder Ihn friedlich zu regeln.


So verstanden
ist Toleranz keine Haltung,
die - einmal erworben -
als vorhanden betrachtet werden kann.


[Seite 31] Vielmehr besteht „Toleranzkompetenz" in der Bereitschaft und der Fähigkeit, in immer neuen Konfliktsituationen mit den Bedürfnissen aller Beteiligten verantwortungsbewusst umzugehen.

Ob dieses Ziel erreicht wird, hinterfragt die aktuelle Evaluation der Programme. Bereits die Entwicklung der Seminare war von einer kontinuierlichen Auswertung der Testworkshops begleitet worden, um ein ausgereiftes Programm veröffentlichen zu können.

Die Bertelsmann Stiftung und das CAP fragen bei der Auswertung nun danach, was diese Form der pädagogischen Intervention bei der Teilnehmerin oder dem Teilnehmer tatsächlich bewirkt.

Für die Programme „Miteinander - Erfahrungen mit Betzavta", „Eine Welt der Vielfalt“ und „Achtung (+) Toleranz“ haben unterschiedliche externe Partner je ein Evaluationsdesign entwickelt. Die einzelnen Designs kombinieren klassische Methoden der quantitativen und qualitativen Auswertung wie Interviews und Fragebögen mit innovativen Elementen.

Die Ergebnisse der Studien werden Ende 2002 der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Bertelsmann Stiftung wird hierzu eine Konferenz veranstalten und gemeinsam mit dem CAP die Ergebnisse in einer Publikation zusammenfassen. Neben dem prüfenden Blick auf die eigenen pädagogischen Programme sollen die Evaluationen einen Beitrag zur Diskussion um die Rollenbestimmung der Evaluation in der politischen Bildung leisten.

Traditionelle Indikatoren für den Erfolg der Programme wie die stete Nachfrage, die Verbreitung und ihre Rezeption in der Fachwelt lassen vermuten, dass Bertelsmann Stiftung und CAP in Sachen Toleranz die richtige Richtung eingeschlagen haben. Dennech: Eine Aussage über die tatsächliche Wirkung der Programme erlauben diese Kriterien noch nicht.

Ein verfrühter Optimismus wäre fehl am Platz und auch nicht gerade „typisch deutsch”, oder?


Michael Seberich
Katrin Uhl


Bertelsmann Stiftung
Carl-Bertelsmann-Str. 256
D-33311 Gütersloh
Tel.: 05241 - 81 8 12 66
Fax: 05241 - 81 68 1 267
E-Mail: Michael.Seberich@bertelsmann.de
www.bertelsmann-stiftung.de
www.tolerance-net.org


[Seite 32]


Weiterführende Literatur zum Thema Toleranz


Bastian, Till,

Zivilcourage.

Von der Banalität des Guten

Hamburg 1990


Heitmeyer, Wilhelm und Dollase, Rainer (Hrsg.)

Die bedrängte Toleranz

Frankfurt am Main 1996


Herdtle, Claudia und Leeb, Thomas (Hrsg),

Toleranz - Texte zur Theorie und politischen Praxis

Reclam Arbeitstexte für den Unterricht, Stuttgart 1987


Toleranz. Gedanken der Welt.

Zusammengestellt und kommentiert von Zaghloul Morsy,

Nürnberg 1994


„Toleranz ist eine Maxime für die individuelle und ethisch motivierte Entscheidung, einen Konflikt aus Einsicht in die prinzipielle Gleichberechtigung des anderen auszuhalten oder gewaltfrei zu regeln.“

aus: Toleranz - Grundlagen für ein demokratisches Miteinander,

Gütersloh 1999



[Seite 33]


50 Jahre Bundeszentrale für politische Bildung


Nicht nur die Bücherausgabestelle der Nation[Bearbeiten]

In diesem Jahr feierte die Bundeszentrale für politische Bildung ihren 50. Jahrestag. Als nachgeordnete Behörde des Bundesinnenministeriums galt sie nicht nur bei vielen Studierenden lange Jahre als “Bücherausgabestelle der Nation”. Unter ihrem seit 2000 amtierenden Präsidenten Thomas Krüger wandelte sie sich jedoch zu einem lebendigen und zeitgemäßen Akteur der politischen Bildungsarbeit. Sie erschloss sich neue Zielgruppen und entwickelte moderne Methoden.

Mit Thomas Krüger sprachen Aliyeh Yegane Arani und Peter Amsler über die Öffnung der Bundeszentrale, ihre Menschenrechts- und Integrationsarbeit und die Rolle der Religionen nach dem 11. September.






Thomas Kotiger


Die Dekade der Vereinten Nationen zur Menschenrechtserziehung dauert noch bis zum Jahr 2004. Inwieweit hat die Dekade Einfluss auf die Arbeit der Bundeszentrale für politische Bildung genommen?

Sie hat Einfluss genommen, aber die Menschenrechtspolitik gehört ja ohnehin zum Kernbestand an Aufgaben der Bundeszentrale. Die Bundeszentrale hat sich über Jahre hinweg sehr stark auf die Informationsvermittlung konzentriert. Das findet seinen Niederschlag darin, dass wir die Menschenrechtskonventionen publizieren, Überblickswissen bereitstellen und Unterrichtsmaterialien anbieten. Und dann gibt es natürlich einzelne Fragestellungen aus den Konventionen, zum Beispiel die Freizügigkeit von Asylbewerbern oder überhaupt die ganze Migrationsproblematik. Diese Themen gehen wir differenziert an, denn Menschenrechte müssen immer politisch konkret gemacht werden, um sie als Bildungsgegenstand besser zu vermitteln. Unser Ziel ist es, Kompetenzen zu diesen Fragen herzustellen, um einen weitergehenden, nachhaltigen politischen Effekt zu erreichen.


Mit welchen Methoden geschieht das?

Wir haben drei Produktgruppen, was es in der Vergangenheit so nicht gab, weil die Bundeszentrale lange Zeit in erster Linie Bücher, Broschüren und Unterrichtsmaterialien angeboten hat. Das ist auch weiterhin der Fall, aber wir haben unsere Produktpalette differenziert. Wir sind nicht mehr so stark enzyklopädisch unterwegs, also mit dicken Büchern, sondern eher mit Überblickswissen, weil sich das Leseverhalten verändert hat. [Seite 34] Auch haben wir bei den Schulmaterialien spezifiziert: Wir bieten jetzt Stundenmodule an. Zusätzlich haben wir Themenblätter für den Unterricht entwickelt, die jeweils in einer Startauflage von 80.000 Stück aus dem Haus gehen. Damit können wir innerhalb von vier bis sechs Wochen aktuelle relevante politische Themen für Schüler und Lehrer aufbereiten.

Die zweite Produktgruppe sind Veranstaltungen. Hier haben wir die Methodik stark aufgebrochen. Früher waren es meist Vorträge, bei denen sich jemand anderthalb Stunden vorn hingestellt hat, um eine Predigt zu einem Thema zu halten. Damit haben wir keine guten Erfahrungen gemacht. Um aktuelle Themen aufzugreifen, muss man kleinteiliger arbeiten, weswegen wir andere Methoden generiert haben, die stärker auf Interaktion setzen: Kleingruppenarbeit, Workshops, Open Space. Damit hat sich die Bundeszentrale selbst auf Vordermann gebracht. Zum Thema Menschenrechte und Dialog der Kulturen werden wir einen großen Kongress Im Jahr 2003 organisieren, gemeinsam mit der Deutschen Vereinigung für politische Bildung.

Außerdem bieten wir drittens unsere Online-Produkte an. Da ist gänzlich von vorne angefangen worden. Wir haben den bestehenden Webauftritt (www.bpb.de) völlig neu gestaltet und zusätzliche Online-Produkte bereitgestellt mit jeweils zeitgeschichtlichem und themenspezifischem Wissen. Das wird sehr stark von jungen Erwachsenen genutzt. Mit dem Goethe Institut Inter Nationes, der Deutschen Welle und dem Institut für Auslandsbeziehungen arbeiten wir außerdem an einem großen Internetprojekt, das im nächsten Jahr an den Start gehen wird. Es nennt sich “Islam-Portal”, es werden Basismaterial und Überblickswissen über den islamischen Kulturkreis zusammengestellt.


Sie sind ja aber auch mit einem LKW durch Deutschland unterwegs.

Dahinter steckt die Philosophie, dass wir als Behörde nicht warten wollen, bis die Leute zu uns kommen. Wir sind über ganze Generationen hinweg bekannt. Viele wissen aber nicht, wer wir sind und was wir alles unternehmen. Es ist schade, dass die Schätze, die in der Bundeszentrale verborgen liegen, vielen unbekannt sind. Dieser Truck hat Im fünfzigsten Jahr unseres Bestehens die Möglichkeit geschaffen, uns bundesweit bekannter zu machen. Wir sind an 27 Orten gewesen, nicht nur in großen Städten, sondern auch in kleinen Städten und Gemeinden, um Präsenz am Ort zu zeigen.


Die Öffnung der Bundeszentrale zeigt, dass die Zielgruppe, vielleicht Hauptzielgruppe, Jugendliche und junge Erwachsene sind. Stimmt dieser Eindruck?

Die direkte Zielgruppe waren lange Zeit Multiplikatoren. Es herrschte die Philosophie vor, über Lehrer, Hochschullehrer, Dozenten der Erwachsenenbildung und Sozialpädagogen an Schüler und Studenten heranzukommen. Durchaus ein erfolgreicher, aber eben nicht der einzige Weg. Wenn man sich den Wandel in der Gesellschaft ansieht, wird man feststellen, dass es dort ganz bestimmt Milieus gibt, die sich von diesen Multiplikatoren nichts sagen lassen. Gerade bei auf Konsum ausgerichteten jungen Erwachsenen gibt es viele, die sich weniger an Lehrern orientieren, sondern an Sportlern oder Popstars. Vor allem sind die Hauptmultiplikatoren junger Erwachsener heute junge Erwachsene selbst. Das Interessante bei dieser Zielgruppe ist, dass sie Politik, auch den Politikbetrieb, ziemlich entschieden ablehnen, aber in ihren eigenen Wertesetzungen politisch-moralische Kategorien wie [Seite 35] Glaubwürdigkeit oder Ehrlichkeit sehr stark betonen. Die Kunst der politischen Bildung ist es, aus diesen Selbstsetzungen politische Kompetenz herzustellen. Dazu muss man Partnerschaften begründen, nicht den Lehrer herauskehren. Das erfordert neben der erfolgreichen Multiplikatorenarbeit jetzt ein methodisches Umstellen, das Entwickeln von neuen Formaten und zielgruppenspezifischeres Zugehen. Wir sind in jugendkulturellen Szenen unterwegs. Zum Beispiel haben wir uns der Hip-Hop-Szene angenähert, indem wir mit den Hip Hop-Pionieren in Deutschland eine Sommeruniversität in Essen und einen großen Graffiti-Brakedance-Contest in Braunschweig organisiert haben, wo zehntausend deutsche und europäische Hip-Hoper zusammenkamen. Im Onlinebereich haben wir ein neues Format unter www.fluter.de entwickelt.


Wenn nun die alten wertevermittelnden Instanzen an Bedeutung verlieren, stellt sich die Frage, was für eine Rolle dann die Kirchen und Religionsgemeinschaften einnehmen.

Die sind genauso in einer Legitimationskrise wie die staatlichen Institutionen, weil sie nämlich nur einem Teil der Menschen als Autorität und Instanz gegenüber treten, nämlich denen, die sich ihnen zugehörig fühlen oder mit ihnen sympathisieren. Religiöse Menschen sind natürlich eine nicht zu vernachlässigende Größe, weil jeder von ihnen per se multiplikatorische Effekte in die Gesellschaft erzielt. Aber man kann nicht mehr davon ausgehen, dass es sich bei Kirchen und Religionsgemeinschaften um einen geschlossenen Kosmos handelt, und ebenso wenig, dass sie eine eigene Größe in der Gesellschaft sind, die nicht hinterfragt werden darf.

Wir sind dabei, von Subgesellschaften in eine Netzwerkgesellschaft überzugehen. Das bringt für alle eine andere Rolle mit sich, für Religionsgemeinschaften, für Parteien oder für staatliche Institutionen gleichermaßen. Man muss als Organisation lernen, sich anders aufzustellen, zu organisieren, zu kommunizieren. Denn es gibt eine viel verbindlichere Kommunikation. Man interessiert und bindet Menschen nicht mehr, indem man einfach eine Broschüre verteilt oder ein Plakat aufhängt, sondern indem verdichtete Kommunikation betrieben wird und gesellschaftliche Interventionen ausprobiert werden. Dies sind andere Formen, die Bindungen erzeugen.

Insofern interessieren uns natürlich Religionsgemeinschaften sehr, weil sie als lernende Organisationen wichtige multiplikatorische und wertsetzende Funktionen in der Gesellschaft einnehmen. Als Bundeszentrale sind wir jedoch selbst zu Wertneutralität und Überparteilichkeit angehalten. Das nehmen wir sehr ernst und schätzen es als großen Wert. Damit sind wir nicht von der einen oder anderen Partei oder der Regierung steuerbar, sondern haben eine Authentizität, die über Partikularinteressen hinweg Wirkkraft entfaltet.

Die Kirchen und Religionsgemeinschaften sind nach dem 11. September öffentlich wieder wichtiger geworden. In Deutschland wurde eine Debatte losgetreten über den Dialog der Religionen und den Dialog der Kulturen. Der Anschlag war wie ein Schock, der zeigte, dass religiöser Fundamentalismus und Terrorismus eine neue Allianz bilden, die in das klassische Abendland als Herausforderung eingefallen ist. Es stellt sich nun aber nicht so sehr die Frage, wie sich die Religionen besser verständigen können.

[Seite 36] Das machen sie zum Teil schon seit Jahrzehnten. Sondern es geht darum, ob innerhalb der Religionen eine profilierte Auseinandersetzung um so etwas wie Menschenrechte stattfindet. Im Islam ist es die Auseinandersetzung zwischen der islamischen Moderne und dem Fundamentalismus. Was die politischen Lernprozesse anbelangt, sehen wir eine sehr wichtige Aufgabe für die politische Bildung, diesen Differenzierungsprozess zu unterstützen


Sie haben den Islam angesprochen. Sehen Sie die Notwendigkeit für diesen Differenzierungsprozess auch in der deutschen Mehrheitsgesellschaft?

Ja, selbstverständlich ist Fundamentalismus kein spezifisch islamisches Thema. Fundamentalismen begegnet man genauso in den christlichen Kirchen, aber auch in den Parteien. Fundamentalismus ist eine generelle Herausforderung für die Demokratie. Der Soziologe Helmut Dubiel hat einen sehr schönen Aufsatz geschrieben zum Thema Demokratie und Fundamentalismus. Danach ist Fundamentalismus in letzter Konsequenz ein Infragestellen von Demokratie. Die Demokratie muss nicht nur von ihrer institutionellen Verfasstheit her auf Fundamentalismen reagieren, sondern diese vielmehr als diskursive Aufgabe verstehen. Ziel sollte es daher sein, die Kontroverse als Wert anzusehen und fundamentalistischen Modellen schlichtweg etwas attraktiveres entgegenzusetzen. Ich finde das eine sehr schlüssige Argumentation. In der postmodernen Gesellschaft, in der die Religionen sich medial, aber auch in Wirklichkeit zeitgleich begegnen - sei es durch Wanderungsbewegungen oder aufgrund ihrer Ablösung aus ihren kulturellen Milieus - sind alle Religionen global geworden. Und da stellt sich die Herausforderung, sich mehr miteinander auseinanderzusetzen als es bisher der Fall war.


Kann die Bundeszentrale für diese Diskurse ein Forum sein?

Die Bundeszentrale versteht sich als Wissensfabrik, als Wissensplattform und als digitale Bibliothek, weniger als Forum selber. Das würde sonst eine Hypostasierung der Bundeszentrale bedeuten. Es wäre auch ein wenig vorlaut, wenn man sich selbst als das Forum präsentieren würde. Wenn, dann wären wir eher ein Forum unter vielen. Aber parteinahe Stiftungen können das genauso für sich reklamieren. Wir wollen uns auch nicht in jedes Thema einarbeiten, sondern uns auf unsere Kernkompetenzen konzentrieren. Aber da, wo es um interessante Vernetzungen geht, natürlich Unterstützung bieten, durchaus auch Durchlauferhitzer sein.


Wie weit sind Ihre Vernetzungen ins migrationspolitische Spektrum?

Die Bundeszentrale hatte bis vor etwa einem Jahr eine Rechtsverordnung als Arbeitsgrundlage, die nur die deutsche Bevölkerung als Zielgruppe politischer Bildung definiert hatte. Das hat mit der Tradition nach dem Zweiten Weltkrieg zu tun, als im Zuge der Reeducation die Alliierten gesagt haben, es müsse auch in das demokratische Wissen der Deutschen investiert werden. Da ist die Gruppe der Migranten überhaupt nicht im Blickfeld gewesen. Über die gesamten Jahrzehnte ist das nie problematisiert worden, weder in der sozial-liberalen Regierung und auch nicht in der Kohl-Ära. Erst durch die rotgrüne Koalition sind Zuwanderer als Zielgruppe für politische Bildung entdeckt worden, was von uns sofort aufgegriffen [Seite 37] worden ist. Wir haben eine eigene Projektgruppe gegründet, die zur Zeit dabei ist, Migration und Integration als Thema der politischen Bildung aufzustellen. Das Ziel ist es, Anbieter und Träger politischer Bildung aus dem Migrantenbereich zu generieren, also nicht nur die Europäische oder Katholische Akademie Angebote unterbreiten zu lassen, sondern auch aus dem Migrationsbereich selber Angebote politischer Bildung anzubieten. Im Publikationsbereich haben wir den Migrationsreport von Münz und Bade veröffentlicht. Es gibt eine aktuelle Publikation, die derzeit in Arbeit ist:

“Normalfall Migration” wird das Buch von Professor Bade heißen, um deutlich zu machen, dass Migration in den vergangenen Jahren kein singuläres Thema war, sondern kontinuierlich stattgefunden hat.

Mit dem Interkulturellen Rat gibt es eine Veranstaltungsreihe, die sich auf den Dialog der Religionen konzentriert. Sie wird sich der Abrahamitische Dialog nennen, und es werden dazu wahrscheinlich über hundert Veranstaltungen in Deutschland stattfinden, um den Diskurs zwischen den Religionen zu fördern - natürlich nicht allein theologisch, sondern mit all den denkbaren gesellschaftspolitischen Implikationen. Ein anderes Thema, was wir uns auf die Fahnen geschrieben haben, ist die interkulturelle Öffnung von Verwaltungen.

Dazu gab es eine große Veranstaltung in Berlin in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Ebert-Stiftung. Weitergehend haben wir daraus für die nächsten Jahre spezielle Workshops gefiltert, wo wir mit Netzwerken die interkulturelle Verwaltung versuchen voranzubringen. Natürlich werden wir uns selbst auch interkulturell öffnen. Normalerweise sind ja Behörden exterritoriale, rein deutsche Zonen. Das muss sich im Sinne eines mainstreaming-Prozesses ändern, wenn wir mit Integration ernst machen wollen.


Und was ist mit dem anderen mainstreaming-Bereich, dem gender mainstreaming.1 Wie macht der sich in der Bundeszentrale bemerkbar?

Damit haben wir vor zwei Jahren begonnen. Gender mainstreaming ist bei uns eine Grundsatzaufgabe. Wir sind eine Modellbehörde beim Bund, sowohl im Hinblick auf die eigene Behörde als auch im Hinblick auf die Inhalte-Palette der Bundeszentrale. Aber das Thema selbst ist nicht neu. Es ist ein starkes und auch bereits positioniertes Thema, so dass wir mit dem gender mainstreaming bereits weiter sind als mit der Migrationsthematik. Wir finanzieren ein aktuelles Projekt mit der Europäischen Akademie für Frauen in Politik in Berlin. Das Projekt ist ein Mentoring-Programm, bei dem es Trainings für weibliche Führungskräfte gibt.


Herr Krüger, wir bedanken uns für das Gespräch.


1 Gender Mainstreaming bedeutet, bei allen gesellschaftlichen Vorhaben die unterschiedlichen Lebenssituationen und Interessen von Frauen und Männern von vornherein und regelmäßig zu berücksichtigen, da es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt.
Die Definition stammt von der Seite: www.gender-mainstreaming.net. Die Bundesregierung zeichnet verantwortlich für die Seite.


[Seite 38]

Über die Aktivitäten der BIC


Großes erreichen mit kleinem Budget[Bearbeiten]

Noch bis 2004 dauert die Dekade der Vereinten Nationen zur Menschenrechtserziehung. Die Bahá’í International Community (BIC) nahm das zum Anlass, sich intensiver als sonst mit Menschenrechtsfragen auseinander zu setzen. Über einzelne Aktivitäten berichtet Peter Amsler.


Viele gut gemeinte, zivilgesellschaftlich organisierte Projekte scheitern, weil ihre Finanzierung nicht gesichert ist.

Dass Kreativität fehlendes Geld ersetzen kann, zeigte die brasilianische Bahá’í-Gemeinde. Um trotz ihres geringen Budgets die Menschenrechtserziehung auf nationaler Ebene voranzutreiben, entschloss sie sich. mit anderen Nicht-Regierungsorganisationen zusammenzuarbeiten. Die Bahá’í initiierten daher das brasilianische „National Human Rights Education Forum”.

Gemeinsam organisierten sie ein dreitägiges Seminar, das 500 Experten aus dem Bildungswesen, der Justiz und der Menschenrechtsarbeit zusammenbringen sollte.

Die Veranstalter drückten dabei die Teilnahmegebühr auf nur 15 Dollar je Person, indem sie zunächst den Bedarf an Sachmitteln wie Hotelunterkünften, Konferenzausstattung, Transportmöglichkeiten, Essen und ähnlichem feststellten und anschließend jede teilnehmende Organisation und Regierungsbehörde, darunter den Justizminister, nach Sachspenden fragten. In einem Land, in dem jedes dritte Kind unterernährt ist, ist das für einen weiten Teilnehmerkreis entscheidend.

Die Wirkung der Sachspenden: Alle Teilnehmer hatten das Gefühl, es sei tatsächlich ihre Konferenz gewesen und die Verantwortung für die weitere Förderung der Menschenrechtserziehung in Brasilien läge auch in ihrer Hand.

Im Human Rights Education Newsletter der Bahá’í International Community finden sich viele Beispiele, wie Bahá’í auf der ganzen Welt die Dekade der Menschenrechtserziehung nutzen, um eine „Kultur der Menschenrechte” voranzutreiben, wie es im Aktionsplan gefordert wird. In regionalen Seminaren werden die Bahá’í über die Ziele der Dekade informiert und ermutigt, gemeinsam mit anderen Nichtregierungsorganisationen und Regierungsstellen nationale Programme zur Menschenrechtserziehung zu initiieren. Ein eigens erstelltes Handbuch klärt über die Zusammenarbeit mit Regierungsstellen auf.

[Seite 39] Im Jahr 1998 organisierte die BIC in New York ein Seminar anlässlich des 50jährigen Jubiläums der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

Die damalige UN-Hochkommissarin Mary Robinson sprach ebenso über deren Bedeutung wie ein Regierungsvertreter aus Indien.

Diese und andere Aktivitäten sind nicht neu. Denn die internationale Bahá’í-Gemeinde unterstützt seit langem die Menschenrechtsprogramme der Vereinten Nationen. Angefangen im Jahr 1947, als sie der Menschenrechtskommission eine Bahá’í-Deklaration für Menschenpflichten und Menschenrechte präsentierte, über die Übersetzungen der einschlägigen Konventionen in viele Sprachen bis zur Lobbyarbeit bei nationalen Regierungen wie der US-amerikanischen, die von den Bahá’í aufgefordert wird, die Frauenrechts-Konvention zu ratifizieren.

Motiviert werden die Bahá’í durch ihre Heiligen Schriften. Ihre Glaubensgewissheit, dass sich die Menschheitsfamilie als eine Einheit in der Vielfalt darstellt, ermutigt die internationale Bahá’í-Gemeinde seit jeher, sich für Frieden und Völkerverständigung einzusetzen. Das Toleranzgebot und die Aufforderung zur Solidarität sind wiederkehrende Themen.

Auch Aussagen zur Bedeutung der Menschenrechte finden sich in den Bahá’í-Schriften.

So ruft Bahá’u’lláh, der Stifter des Bahá’ítums, die Herrschenden dazu auf, ihre Regierungsgeschäfte mit Gerechtigkeit auszuüben und die Rechte der Unterdrückten zu sichern sowie die Gesetzlosen zu bestrafen.

'Abdu'l-Bahá, sein Sohn und autorisierter Ausleger seiner Schriften, schreibt, Bahá’u’lláh habe gelehrt, dass ein allgemeiner Standard an Menschenrechten anerkannt werden müsse. Es müsse eine Gleichheit des Rechts für alle Menschen geben.

[Seite 40] Das Aktionsprogramm der Dekade fordert die Schaffung einer „Kultur der Menschenrechte“. Dieses Anliegen reicht weit über diesen Zeitraum hinaus und greift unmittelbar in die politische Kultur eines Landes und den Wertehaushalt seiner Bürger ein.

Menschenrechtserziehung wird deshalb auch über 2004 hinaus ein dringendes Anliegen der Bahá’í bleiben.



„DER HAUPTZWECK, DER DEN GLAUBEN GOTTES UND SEINE RELIGION BESEELT, IST, DAS WOHL DES MENSCHENGESCHLECHTES ZU SICHERN, SEINE EINHEIT ZU FÖRDERN UND DEN GEIST DER LIEBE UND VERBUNDENHEIT UNTER DEN MENSCHEN ZU PFLEGEN. LASST SIE NICHT ZUR QUELLE DER UNEINIGKEIT UND DER ZWIETRACHT, DES HASSES UND DER FEINDSCHAFT WERDEN.“ 1


„DAS ZWEITE ATTRIBUT DER VOLLKOMMENHEIT IST GERECHTIGKEIT UND UNPARTEILICHKEIT...

ES BEDEUTET, DAS WOHL DER GEMEINSCHAFT ALS DAS EIGENE ZU EMPFINDEN. KURZ GESAGT HEISST DIES, DIE GANZE MENSCHHEIT ALS EIN EINZIGES LEBEWESEN, SICH SELBST ALS GLIED DIESES GROSSEN KÖRPERS ZU ERKENNEN UND IN DER GEWISSHEIT ZU WIRKEN, DASS JEDE NOT, JEDE WUNDE, DIE IRGEND EINEN TEIL DIESES KÖRPERS TRIFFT, UNWEIGERLICH ALLE ÜBRIGEN GLIEDER IN MITLEIDENSCHAFT ZIEHT.“ 2


1 Bahá’u’lláh, Ährenlese 110
2 'Abdu'l-Bahá, Das Geheimnis göttlicher Kultur, S.43


[Seite 41]


Glosse, Show-Prozess

Ach, wenn doch...[Bearbeiten]

„Ich gehe dann jetzt mal ans Gericht, ein bisschen Recht verdrehen“, sagt der Anwalt im Scherz zu seiner Freundin Ally McBeal.


In der kuriosen amerikanischen Anwalt-Serie „Ally McBeal“ werden die seltsamsten Fälle bearbeitet. Da klagt ein entlassener Fernsehsprecher gegen seinen Arbeitgeber. Der Entlassungsgrund: Der Fernsehmann hatte in seiner Sendung die Kinder darüber aufgeklärt, dass der Weihnachtsmann nur eine erfundene Geschichte sei.

Ein anderes Mal verklagt ein Tangotänzer seine ehemalige Tanzpartnerin, weil sie bei einem bevorstehenden Wettbewerb „seine” Tanzfiguren verwenden will.

In den heiteren Episoden arten die Rechtsfälle fast immer in komische und leicht philosophische Standpunktdiskussionen aus, aber am Ende wird meist ein salomonisches Urteil gesprochen.

Wie immer man dazu stehen mag, ein Körnchen Wahrheit steckt in den meisten Geschichten. Und wenn in dieser naiven, heilen Welt die Gerechtigkeit gesiegt hat, sind die Zuschauer zufrieden.

Aber Gerechtigkeit ist kein Zustand, der irgendwann erreicht ist, sondern sie muss immer neu geübt werden.

PS: Der Fernsehsprecher bekam natürlich recht und durfte wieder auf Sendung gehen.


Reimar Kanis


Glosse, Show-Prozess


Ally McBeal, www.vox.de



[Seite 42]


Bildnachweis


Titelbild: Ausschnitt aus „Exodus”


Michael Zimmermann

Öl auf Leinwand,

110 x 100 cm

1994


S. 3, 28 - 32 „different fragile constructions”


Reimar Kanis

Serie

Acryl auf Papier

50 x 70 cm

2002


S. 7 - 10 „Einschnitte”


Gotfried Deicher

Fotografische

Dokumentation

2002


S. 13 - 17 „Haut als Grenze” + S. 18 - 19 „365”


Kirsten Delrieux

Serie Körperdrucke

Acryl auf Karton

50 x 70 cm

2002


S. 38 - 40 Kinderzeichnungen


Marlene, 4 Jahre

Lou, 6 Jahre

Rachel, 9 Jahre



TEMPORA

Nr. 9 - Oktober 2002


Die Globalisierung unseres Planeten erfordert in allen Bereichen ein gänzlich neues Denken und Handeln. TEMPORA beschäftigt sich auf dem Hintergrund der Bahá’í—Lehren mit aktuellen Zeitfragen und möchte durch Gedankenimpulse die Entwicklung zu einer geeinten Welt fördern.


Herausgeber

Der Nationale Geistige Rat der Bahá’í in
Deutschland e.V., Eppsteiner Str. 89
65719 Hofheim-Langenhain


Redaktion

Wolfram Enders, Roland Greis, Reimar Kanis, Monika Schramm, Karl Türke jun.


Redaktionsanschrift

Redaktion TEMPORA
Eppsteiner Str. 89
D-65719 Hofheim
Internet:
www.tempora.org
E—Mail:
tempora@bahai.de


Layout

Reimar Kanis


Druck

Druckservice Reyhani, Darmstadt


Vertrieb und Bestellungen

Bahá’í—Verlag
Eppsteiner Str. 89
D-65719 Hofheim
Tel.: +49 (0) 61 92 / 22 92 1
Fax: +49 (0) 61 92 / 22 93 6
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TEMPORA erscheint jährlich.

Abonnementpreis für vier Ausgaben

EUR 18,00 / Einzelpreis EUR 5,00.


Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Fotos übernimmt die Redaktion keine Haftung. Die Redaktion behält sich sinnbewahrende Kürzungen und Änderungen der Beiträge vor. Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion.


© Bahá’í-Verlag GmbH 2002

ISSN 1433-2078


Gedruckt auf umweltschonendem Papier.


[Seite 43]


Aufgeregt — angeregt?

- da sieh' mal einer an...
- haben wir uns doch schon fast gedacht...
- nur keine falsche Bescheidenheit...
- nun aber raus mit der Sprache...


Das Konzept von TEMPORA sieht keine Veröffentlichung von Leserbriefen in gedruckter Form vor. Trotzdem laden wir Sie hier dazu ein, uns zu schreiben. Und zwar elektronisch. Auf unserer Internet-Seite www.tempora.org werden wir gerne lesenswerte Beiträge, konstruktive Kritiken oder Ergänzungen und Erweiterungen zum Thema dieser Ausgabe veröffentlichen.

Schreiben Sie Ihren Leserbrief per E-Mail an: tempora@bahai.de


Die nächste Tempora-Ausgabe: Lebensmut

Nr. 10 „Lebensmut“ erscheint im Mai 2003



Kinder haben ihn selbstverständlich,

den Lebensmut.

Aus seiner Quelle schöpfen Liebende.

Wer hatte ihn nicht in seinem Leben?


Im Laufe der Lebensprüfungen

geht er manchen verloren.

Fehlender Lebensmut kann ansteckend sein.

Verlorener Lebensmut ist auch

verlorenes Vertrauen in sich selbst,

den Nächsten, die Gesellschaft —

und Gott.


Manchmal kommt der Lebensmut

durch ein freundliches Lächeln,

oder aus einem fröhlichen Lied.

Der Lebensmut ist in einer Blume,

einem Kinderlachen genauso

wie in einer Liebeserklärung verborgen.


TEMPORA geht der Frage nach:

Woher kommt der Lebensmut -

und was kann Lebensmut stiften?


Wir rufen Künstler und Künstlerinnen auf:


Zeigt uns Euren Lebensmut!


Einsendeschluß 1. März 2003

Zusendungen an:

Redaktion TEMPORA

Eppsteiner Str. 89

D-65719 Hofheim



[Seite 44]



Die Bahá’í-Religion


Zentrale Lehren


Die Einheit Gottes
Es gibt nur einen Gott,
mit welchem Namen
er auch benannt oder
umschrieben wird.


Die Einheit der Religionen
Alle Offenbarungsreligionen bergen den
gleichen Kern ewiger Wahrheiten, wie
die Liebe zu Gott und den Menschen.
Bestimmte Gesetze jedoch, die zum
Beispiel die Organisation der Gemeinde,
das Sozialwesen oder die Hygiene
betreffen, müssen sich im Zuge der
Menschheitsentwicklung verändern.
In großen Zyklen offenbart Gott sich
durch seine Boten wie Krishna, Buddha,
Moses, Christus, Mohammed und
Bahá’u’lláh und erneuert diesen Teil
seiner Gebote als Antrieb für den
menschlichen Fortschritt.


Die Einheit der Menschheit
Die Menschheit ist eine einzige,
große Familie mit völlig
gleichberechtigten Mitgliedern.
Ihren Ausdruck finden diese
grundlegenden Lehren in Prinzipien wie:
▪ Selbständige Suche nach Wahrheit
▪ Gleichstellung von Frau und Mann
▪ Soziale Gerechtigkeit
▪ Entscheidungsfindung durch Beratung
▪ Abbau von Vorurteilen.
▪ Übereinstimmung von Religion und Wissenschaft


Zentrale Gestalten

Báb (1819-1850), der Vorbote
Bahá’u’lláh (1817-1892), der Stifter
'Abdu'l-Bahá (1844-1921), der Ausleger
Shoghi Effendi (1897-1957), der Hüter


Die Bahá’í-Gemeinde

organisiert sich in Gremien,
die auf örtlicher, nationaler und
internationaler Ebene von den
erwachsenen Gemeindemitgliedern
in freier, gleicher und geheimer Wahl
ohne Kandidatur oder Wahl-
kampagnen gewählt werden.
Es gibt keinen Klerus.







Europäisches Bahá’í-Haus der Andacht
in Hofheim-Langenhain/ Deutschland