Gesundheit
TEMPORA
Nr. 14
INHALT
4 . . . . . Gesundheit ist nicht alles: Aber ohne Gesundheit ist alles nichts
- Dr. Mina Weisser
8 . . . . . Heilung ist möglich: Ein sehr persönlicher Bericht über eine Krebserfahrung
- Walburga Löffelmann
14 . . . . . Alkohol und Haschisch: Zwei Wege der Selbstzerstörung
- Roland Greis
20 . . . . . Die ganze Welt in einer Rosine: Stressbewältigung durch Achtsamkeit
- Dr. Linda Lehrhaupt
23 . . . . . Fasten: Keine leichte Übung
- Monika Schramm
26 . . . . . Wenn selbst einfachste Dinge nicht klappen: Erfahrungen in Burkina Faso
- Dr. Valerie Diallo
29 . . . . . Aus dem Gleichgewicht geraten: Fettleibigkeit bei Kindern und Jugendlichen
- Shima Yazdani
32 . . . . . Mit Ernährung Krankheiten heilen: Eine philosophische Abhandlung über ganzheitliche Heilmethoden
- Dr. Amir Bahrinipour
37 . . . . . Hauptsache gesund? Das Menschenbild eines Gläubigen relativiert das Streben nach Gesundheit
- Thomas Schaaff
EDITORIAL
Gesundheit ist mit noch so viel Geld nicht zu kaufen. Sie ist ein Geschenk, mit dem wir sorgsam umgehen sollten. Aber wir schätzen ihren Wert meist erst dann, wenn wir sie eingebüßt haben. Manche trifft eine Krankheit, manche ruinieren sie vorsätzlich oder fahrlässig, Erst wenn der Arzt es empfiehit, ändern wir liebgewordene, aber schlechte Gewohnheiten. Dabei können wir selbst viel tun, um Leib und Seele in Balance zu halten. Schon das Einhalten religiöser Vorschriften, wie das Verbot von Drogen, würde so manche Krankheit verhindern. Der respektvolle Umgang mit dem Körper als dem Tempel der Seele ist eine wichtige Aufgabe - freilich nicht die einzige im Leben eines Menschen.
Jeweils das Richtige zu tun und zu lassen: Anregungen dafür mögen Sie, liebe Leserinnen und Leser, dieser Ausgabe entnehmen.
- Ihre Redaktion
Gesundheit ist nicht alles: Aber ohne Gesundheit ist alles nichts[Bearbeiten]
Für das Wohlbefinden müssen alle Seinsebenen des Menschen in Harmonie zueinander stehen.
Versuch einer Definition
Gesundheit nimmt eine zentrale Stellung im Leben der Menschen auf der ganzen Welt ein. Sie ist ein hohes Gut, das sie sich gegenseitig immer wieder wünschen, und von ihrer großen Bedeutung zeugen die Bemühungen der Menschen von ihren uns heute bekannten Anfängen bis in die Gegenwart: Als Beispiele lassen sich das bemerkenswerte Wissen der ägyptischen, persischen und chinesischen Ärzte anführen oder die Kenntnisse der römischen und griechischen Gelehrten und ihre medizinischen Einrichtungen. Nicht von ungefähr stammt das heutige Symbol der Heilkunst aus der Antike: Der griechische Heilsgott Äskulap (asklepios) mit seinem Stab ziert heute noch Arztpraxen und Apotheken. Eine ihm zugeschriebene Wirkungsstätte im heutigen Epidauros zeigt medizinische Infrastrukturen von Krankenhäusern, Behandlungsräumen, Bädern sowie umliegende kulturelle Einrichtungen - ein erstes Zeugnis von Medizin-Tourismus.
Doch was ist Gesundheit genau? Hier soll versucht werden, die heutigen Definitionen von Gesundheit und Krankheit aufzuzeigen und darzustellen, auf welchen Ebenen der Mensch Gesundheit erlangen muss und kann, um mit sich und der Schöpfung im Einklang zu leben und um wirkliches Wohlbefinden zu erlangen. Eine offizielle Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vom 22. Juli 1946 lautet: „Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht die bloße Abwesenheit von Krankheiten oder Gebrechen.“
Und Sigmund Freud sagt über diesen Begriff: „Gesundheit ist die Fähigkeit, lieben und arbeiten zu können.“
Beide Definitionen zeigen, dass Gesundheit die Voraussetzung für individuelles Wohlbefinden, Glücklichsein und Produktivität ist, was wiederum großen Einfluss auf den sozialen und ökonomischen Zustand der Gesellschaft, korrekter gesagt für den Fortschritt der ganzen Menschheit hat. Gesundheit ist nach diesen Definitionen auch kein statischer Zustand und ebensowenig durchschnittlich, obwohl es dafür Durchschnittswerte gibt, wie beispielsweise Blutdruck, Blutanalysewerte, Gewicht und Größe.
[Seite 5]
Gesundheit in drei Dimensionen
Um Gesundheit besser beschreiben zu können, muss man berücksichtigen, dass jedes Individuum aus drei Dimensionen besteht1). Nur wenn diese in Harmonie zueinander stehen, befindet sich das Individuum im Zustand der Gesundheit und des Wohlbefindens. Diese drei Dimensionen oder Daseinsbereiche des Menschen betreffen seine seelischen, geistigen (intellektuellen) und physischen Fähigkeiten und sollen im Folgenden skizzenhaft beschrieben werden. Die Seele ist immateriell und wird durch ihre Ausdrucksformen wahrnehmbar, wie etwa Liebe, Mitfühlen, Verstehen. Der Geist oder die vernunftbegabte Seele wirkt vor allem durch organische Strukturen (die Sinnesorgane), die Ausdrucksformen sind sowohl äußerlich (sehen, hören, sprechen) als auch innerlich (freier Wille, das Begreifen, Handeln). Die physische Ebene ist der materielle Teil und als solcher am ehesten wahrnehmbar; ebenso seine Veränderungen aufgrund verschiedener Einwirkungen.
Jeder dieser Bereiche ist ein sehr komplexes Gebilde. Um diese Zusammenhänge zu erläutern, ist es am einfachsten, sich an der physischen Ebene, der Anatomie des menschlichen Körpers, zu orientieren. Er lässt sich in Glieder, Organe, Gewebe, Zellen und Zellplasma, Kern und vieles andere unterteilen. Natürlich eröffnet diese Komplexität auch Angriffsflächen für viele Noxen (noxa = Schaden) sowie Verschleißerscheinungen. Den dadurch entstandenen Zustand bezeichnet man als Krankheit. Darunter ist eine Störung der körperlichen, kognitiven, sozialen und/oder seelischen Funktionen zu verstehen, welche die Leistungsfähigkeit oder das Wohlbefinden eines Individuums subjektiv oder wahrnehmbar negativ beeinflusst. Krankheit kann angeboren oder erworben sein, plötzlich oder langsam auftreten und verlaufen. Zu den gesundheitsstörenden oder -mindernden Ursachen gehören
- Drogen, Gifte, Alkohol, Nikotin, Hitze, Strahlung, Lärm, Fehl- oder Überernährung
- Lebende Noxen wie Bakterien, Viren, Pilze, Parasiten
- Angeborene Ursachen wie Organ-, Chromosomen- oder Gendefekte
- Erworbene Ursachen wie Organ- und Verschleißerkrankungen, Traumata
- Psychosoziale Noxen wie Einsamkeit, Bindungen, Stress, Arbeitslosigkeit, Unterdrückung
Dementsprechend sind als gesundheitsfördernde Faktoren zu nennen:
- Ernährung in richtiger Menge und Zusammensetzung
- Umwelt: Luft, Licht, Temperatur, Wasser, Sonne
- Alltag und Lebensart: Arbeit, Bewegung und Ruhe, sozialer Stand und Bildungsstand
Anhand dieser durchaus unvollständigen Liste2) ist ersichtlich, wie das physische
und psychische Wohlbefinden des Individuums zusammenwirken und durch äußere Einflüsse
beeinträchtigt werden kann. Gesundheit benötigt demnach Pflege und Vorsorge. So haben sich
immer eine ganze Reihe von naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Disziplinen, Wirtschaftszweige sowie Gesundheitssysteme um Gesundheit oder Vermeidung von Krankheiten
bemüht und zumindest in den Ländern der westlichen Welt einen äußerlichen Mindeststandard
vorgegeben. Nicht zuletzt deshalb, weil die Kosten und die Mühe für die Erhaltung der
Gesundheit wesentlich geringer sind als deren - nicht immer mögliche - Wiederherstellung.
Doch nicht nur diese drei Dimensionen des Menschen müssen in störungsfreiem Gleichgewicht und Harmonie zueinander stehen, sondern auch der Mensch mit der Schöpfung. In den Schriften der Bahá’í-Religion finden wir hierzu folgende Aussage:
„Unsere physische Gesundheit ist so mit unserer gedanklichen, sittlichen und geistigen Gesundheit und ebenso mit dem Einzel- und Gemeinwohl unserer Mitmenschen, ja selbst mit dem Leben der Tiere und Pflanzen verbunden, dass jedes von diesen in einem weit größeren Maße durch das andere beeinflusst wird, als man gewöhnlich denkt.“3)
[Seite 6]
Für die Sinngebung des Lebens und das innere Glücklichsein ist die Religion mit ihren Lehren
und Geboten zuständig. Mit den Geboten der Mäßigung, der Ruhe und Meditation, der Liebe
und Harmonie mit der Schöpfung sowie den sozialen Geboten wie Gerechtigkeit, Bildung
oder dem Erlernen eines Berufs kann inneres Gleichgewicht erreicht werden.
Die Religionen bieten zugleich bemerkenswert effektive Gebote, die eine sehr große Wirkung auf der physischen Ebene haben oder prophylaktisch wirksam sein können. Hier sind beispielsweise die Hygienegebote (Waschungen), das Meiden von Rauschmitteln, Alkohol und Drogen, die Monogamie oder Keuschheit vor der Ehe zu nennen. Hinzu kommt das Gebot eines respektvollen Umgangs mit dem Körper, da dieser die Wohnstätte der Seele ist.
Die Erhaltung der Gesundheit oder deren Wiederherstellung ist nach wie vor ein Traumziel der Menschen. Jedoch ist der Weg zu diesem Ziel gespalten: Während manche den hochtechnischen Pfad mit Gen- und Chemotherapien sowie physikalischen und chemischen Mitteln wählen, die wenig Rücksicht auf die Bedürfnisse der Seinsebenen des Menschen nehmen, versucht die andere Gruppe den alt überlieferten Weg fortzusetzen und verweigert sich mitunter den Fortschritten der Wissenschaft.
Ideal und an der Zeit wäre es, sich an dem von unserem Schöpfer vorgegebenen Weg zu orientieren und dem Weg der Wissenschaft, gepaart mit dem des Glaubens, zu folgen.
Aber bei allem Nachdenken über das Thema Gesundheit hilft vielleicht ein Zitat des Münchner Volksschauspielers Karl Valentin: „Gar nicht krank ist auch nicht gesund.“
- 1) Hiervon gehen die gängigen Lehren der Natur- und Geisteswissenschaften sowie der Weltreligionen aus
- 2) Dabei dieser Abhandlung der Schwerpunkt der Ausführungen auf der körperlichen Ebene lag, konnte die psychische und seelische Ebene hier nur erwähnt werden
- 3) Aus den Schriften Bahá’u’lláhs
- Dr. med. Mina Weisser
- Studium der Medizin in München
- nach Abschluss der Facharztausbildung
- als Mutter, Hausfrau und Kinderärztin in
- eigener Praxis tätig
Heilung ist möglich[Bearbeiten]
Ein sehr persönlicher Bericht über eine Krebserfahrung
Als ich im Juni 2005 einen Knoten in der Achselhöhle tastete, war ich viel zu beschäftigt
und angespannt in meiner Lebensumgebung, als dass ich intensiver darüber nachgedacht hätte.
War es vielleicht ein geschwollener Lymphknoten durch einen latenten Infekt? Könnte ja
sein. Scheinbar hatte ich nicht die Zeit, um inne zu halten und nachzudenken. Doch als
ich Anfang August eine knotige Veränderung in der Brust tastete, wusste ich sofort, was los
war. Ich hatte Krebs. Es gibt ein Wissen, das ist nicht untersucht oder erwiesen. Es einfach
da - und so war es jetzt bei mir. Wir hatten Besuch zu Hause (Schwägerin mit drei Kindern),
der Mann für eine Woche unterwegs, im Dienst sehr viel Arbeit, die erste Schulwoche nach den
Ferien (mit der damit verbundenen Unruhe) und ich allein mittendrin mit meiner neusten
Erkenntnis! Schon früher hatte ich öfter darüber nachgedacht: Und was machst
[Seite 9]
du, wenn du Krebs hast? (Als Krankenschwester hat man sich ja in der Ausbildung und
auch später je nach Abteilung damit beschäftigt.) Ich dachte mir immer, erst mal machst
du gar nichts. Stattdessen lieber: Ruhe bewahren, nachdenken, lesen, mit vertrauten Menschen
sprechen, ohne Hetze nachdenken, was du neben der dann anstehenden Behandlung (auf die
ich bitte Einfluss und Mitsprache ausüben wollte) zu lernen und zu ändern hast. Und so
wollte ich es auch machen. Es kam dann aber doch etwas anders.
Das normale Alltagsleben ging weiter, ich behielt meine Vermutung zunächst für mich. Ein Erlebnis in diesen Tagen ist mir besonders in Erinnerung: Mit Schwägerin und allen Kindern waren wir am Strand. Es war ein windiger und trotz Sonne eher kühler Tag. Für mich keine idealen Bedingungen zum Schwimmen, da ich sehr kälteempfindlich bin. Und trotzdem überwand ich mich und sprang in die Wellen, wusste ich doch in meinem Inneren, dass dies für mich die letzte Gelegenheit in diesem Jahr sein würde, im Meer zu baden. Mir war klar, dass sich im Laufe der nächsten Tage mein Leben verändern würde. Und während ich in der Brandung stand, dachte ich mit einem Blick nach oben:
„Bitte, wenn Du mir jetzt diese Erkrankung geschickt hast, dann schick mir auch die Hilfe dazu, dann werde ich das schon schaffen.“
Ich war nicht in Panik, aufgeregt, verängstigt oder verzweifelt. Ich war sehr ruhig. Ich wusste nur, es war sehr wichtig, zügig System in die neue Situation zu bringen.
Als erstes wartete ich auf die Rückkehr meines Mannes, um mit ihm gemeinsam zu überlegen und zu beraten. Dann besorgte ich mir einen Termin bei meiner vertrauten und tüchtigen Gynäkologin in Frankfurt. Dort war die Diagnose dann mit allen dazugehörigen Untersuchungen eindeutig. Und nachdem ich zu meiner inneren Gewissheit nun auch die medizinische erhalten hatte, war ich trotz aller Anspannung fast erleichtert und sandte viele „Danke“ nach oben.
- Gott sei Dank - ich konnte nun mindestens ein Jahr zu Hause bleiben.
- Gott sei Dank - ich war mehr bei meinen Kindern.
- Gott sei Dank - ich hatte mindestens ein Jahr jedes Wochenende frei.
- Gott sei Dank - ich wusste nun sicher, dass ich bei der Goldenen Hochzeit meiner Eltern 2006 frei haben würde (die regelmäßigen Dienstplanänderungen hielten einen in der eigenen Freizeitgestaltung in Daueranspannung).
Durch diese Gedanken merkte ich, wie viel Aufatmen und Erleichterung mich durchfuhr, für zunächst welchen Preis, das sollte ich erst später merken. Gefühle der Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit kamen nur sehr kurzzeitig auf. Dafür hatte ich zu sehr den Gedanken in mir, dass ich „etwas“ zu lernen hätte. Es ging dann alles - das heißt das normale schulmedizinische Programm - seinen Weg.
Als ich vor einigen Jahren zum ersten Mal mit der Bahá’í-Religion in Kontakt kam, geschah dies durch folgendes Zitat. „Ich wünsche, dass ihr glücklich seid, dass ihr lacht, strahlt und euch freut, damit andere durch euch glücklich werden.“
Welch wunderbare, positive und lebensbejahende Gedanken, das gefiel mir sehr gut und ich wurde aufmerksam und interessiert. Nach fünf Jahren geistigen Suchens mit Höhen und Tiefen wurde ich Bahá’í und wusste ganz sicher, dass dies eine der besten Entscheidungen meines Lebens sein würde.
Im Laufe der Jahre wuchs mir das folgende Gebet besonders an Herz: „O Gott! Erquicke und erfreue meinen Geist, läutere mein Herz, entflamme meine Kraft. Alle meine Angelegenheiten lege ich in Deine Hand. Du bist mein Geleit und meine Zuflucht. Ich will nicht länger traurig und bekümmert, sondern ein glückliches und strahlendes Wesen sein. O Gott! Angst soll mich nicht länger plagen und Sorge mich nicht quälen. Ich will nicht bei den Widrigkeiten dieses Lebens verharren. O Gott! Du meinst es besser mit mir als ich selbst. Ich weihe mich Dir, o Herr!“ ('Abdu'l-Bahá, Gebete 44)
Okay, es gibt diese Widrigkeiten, aber letztlich sind es doch Prüfungen, die Gott uns schickt. Und wenn wir uns beim Suchen von Lösungen vertrauensvoll Seiner Führung unterwerfen, so werden wir auch die Ideen und die Kraft dazu finden. Dabei war ich (fast) immer sehr zuversichtlich.
[Seite 10]
Gibt es doch die Zitate: „Wir belasten keine Seele über ihr Vermögen.“ (Koran 6:42)
„Niemals wird Er ungerecht mit irgend jemandem verfahren, noch wird Er eine Seele über ihr Vermögen belasten. Er, wahrlich, ist der Mitleidige, der Allbarmherzige.“ (Bahá’u’lláh, Ährenlese 52:2).
Natürlich erfordert das Bemühen und Arbeit. Doch ich war bereit, mich auf diese Arbeit einzulassen. Dazu gehörte in der jetzigen Situation als erste Maßnahme die Operation. Die ganzen Tage hatte ich schon viel gebetet, doch auf dem direkten Weg zur OP war ich nicht mehr in der Lage, ein weiteres Gebet zu sprechen. Einzig den Satz: „... alle meine Angelegenheiten lege ich in Deine Hand, ...” wiederholte ich, ich weiß nicht wie oft und es half mir, ruhig und zuversichtlich zu sein mit der Gewissheit, dass Gott die Hände der Operateure schon führen werde. Die Operation und der direkte Verlauf waren gut.
Daran schloss sich die Chemotherapie an. Seit Jahren schon hatte ich mich im privaten Rahmen naturheilkundlich orientiert und war damit sehr zufrieden. Wieso ich mich dann trotzdem ohne viel Nach- und Hinterfragen sehr blauäugig und brav auf diese aggressive und zerstörerische Therapie eingelassen habe, weiß ich bis heute nicht. Vielleicht war es einfach mein Weg, denn im Nachhinein haben sich diese harten Monate auch als sehr lehr- und erkenntnisreich erwiesen. Es ging mir mit der Chemotherapie sehr schlecht. Bis heute habe ich mit der Regeneration meines Körpers zu tun, weil die Nebenwirkungen so heftig sind. Und ich glaube nicht (mehr), dass sie zu meiner Heilung beigetragen hat.
Eine wichtige positive Erfahrung aus dieser Zeit aber war trotz der miserablen körperlichen Verfassung ein intensives Gefühl des Getragen- und Behütet-Seins. Meine eigene Familie hielt völlig und stark zu mir, die gemeinsame Kraft war deutlich zu spüren. Meine Eltern und Geschwister nahmen intensiven Anteil und unterstützten uns auf verschiedenen Ebenen. Viele Freunde riefen an, fragten nach und boten Hilfe an. Ich bekam unglaublich viel Post und kleine Geschenke. Und all dies wirkte auf mich, als wollten diese Aufmerksamkeiten sagen: „Hey Walburga, denke daran, das Leben ist zur Freude erschaffen.”
Geistiges Glück dagegen ist die wahre Grundlage des Menschenlebens, denn das Leben ist zum Glücklichsein erschaffen, nicht zum Trauern, zur Freude, nicht zum Gram. Glück ist Leben, Gram ist Tod. Geistiges Glück ist ewiges Leben. Auf dieses Licht folgt keine Finsternis und auf diese Ehre keine Schande. Auf dieses Leben folgt kein Tod, auf dieses Dasein kein Vergehen. Dieser große Segen, diese köstliche Gabe erreicht der Mensch nur durch göttliche Führung ... ('Abdu'l-Bahá, Star of the West, Bd. 7, S. 163).
Viele sagten mir, dass sie für mich beten würden und ich glaube, noch viele mehr haben es einfach getan, ohne dass ich davon wusste. Doch ich spürte es genau. Körperlich war ich sehr schwach. Doch innerlich fühlte ich mich wie auf einer Wolke von Liebe getragen. Und das tat so gut. Es beruhigte und half, diese Monate auszuhalten.
Dass ich Bahá’í wurde und aus der katholischen Kirche austrat, ist für meine Eltern bis heute schmerzhaft und schwer nachvollziehbar. Andererseits besteht zu meinen Eltern ein sehr herzlicher und vertrauensvoller Kontakt. So kam meine Mutter nach einer Chemotherapieeinheit zu uns, um nach mir zu sehen und mich zu versorgen. Schon vor ihrem Besuch hatte sie mitbekommen, dass unsere Freunde aus der Bahá’í-Gemeinde eine große Stütze für mich und meine Familie waren. Während ihres einige Tage währenden Besuchs bekam sie es dann selbst mit, und als sie abfuhr, sagte sie mit einem staunenden, fast ehrfurchtsvollen und sehr ehrlichen Ausdruck in der Stimme zu mir: „Walburga, ja, du bist wirklich getragen durch viele Gebete, ich spüre es richtig.“ Wie schön war es, das von meiner Mutter zu hören.
Die Zeit der Bestrahlung verging problemlos, auch dank der Unterstützung einiger Freunde, da ich während dieser Wochen bei ihnen auf dem Festland wohnen durfte (auf Sylt gibt es keine Bestrahlungsmöglichkeit) und somit nette, individuelle Begleitung und auch etwas Abwechslung hatte.
Die durch die Chemotherapie verursachte körperliche Schwäche wirkte sich auch dämpfend auf
meine geistige Regsamkeit aus. Über Monate hatte ich mich wie in einem Nebel gefühlt, ich
war zu schwach zum Denken. Inzwischen war es April geworden, ich fuhr zur
[Seite 11]
Reha und allmählich erwachte ich aus meinem Dämmerzustand. Nun stellte sich mir
immer stärker die Frage: Wofür das alles? Was habe ich zu lernen? Wie wird sich mein Leben
entwickeln?
Denn dass die Erkrankung einen Sinn, ein Ziel hatte, daran gab es für mich keinen Zweifel.
Und so näherte Ich mich nun allmählich dem Zustand, von dem ich anfangs bereits geschrieben hatte: Was hatte Ich zu verändern?
Ich wusste in mir, auf dieselbe Art und Weise zu leben wie vor der Erkrankung wollte, ja durfte ich auf gar keinen Fall. Der Krebs hatte ja eine Bedeutung, sollte mich einer Änderung meines Lebens zuführen. Ich wurde immer offener, immer neugieriger auf das, was nun kommen würde. Das Ganze hatte inzwischen einen Hauch von innerer Aufbruchstimmung. Und so begann Ich in verschiedenen Bereichen, mich auf neue Dinge einzulassen oder mich mit bereits bekannten Gebieten aus einem anderen Blickwinkel zu befassen: Ernährung, Nahrungsergänzungsmittel, Reiki, alternative Heilmethoden bei Krebs.
Die Bahá’í-Religion hat einen großen Fundus an Zitaten zum Thema Heilung und Gesundheit mit zum Teil konkreten Hinweisen (Gesundheit, Ernährung, Medizin und Heilen, Bahá’í-Verlag). Darin ist deutlich zu lesen, dass Krankheiten durch Ernährung geheilt werden können und dass die Ernährung die Medizin der Zukunft sein wird.
„Es ist daher klar, dass es möglich ist, durch Nahrung, Lebensmittel und Früchte zu heilen; da aber heute die Wissenschaft der Medizin noch unvollkommen ist, wird diese Tatsache noch nicht ganz verstanden. Sobald die medizinische Wissenschaft Vollkommenheit erreicht, wird die Behandlung mit Nahrung, Lebensmitteln, duftenden Früchten und Pflanzen sowie verschiedenen heißen und kalten Wasserkuren durchgeführt werden.“ ('Abdu'l-Bahá, Beantwortete Fragen 73:6)
Schon seit einigen Jahren hatte ich mich mit Ernährung beschäftigt. Neu inspiriert befasste ich mich nun mit gezielter Ernährung in Bezug auf Heilung von Krebs und stieß dabei im Internet neben anderen Dingen auf die Empfehlung, bittere Aprikosenkerne zu essen. Ich las mich in diese besonders interessante und überzeugende Thematik ein, setzte es zügig um und habe inzwischen sehr gute Erfahrungen damit gemacht.
Dank des Hinweises einer Freundin eröffnete sich mir noch ein weiteres, inzwischen sehr hilfreiches Gebiet: die Psycho-Onkologie nach Dr. Simonton.
Schon viele Jahre hatte ich mich gern und interessiert mit Psychologie beschäftigt. Nun
schien sich auch in diesem Bereich ein Kreis zu schließen und meine schon einige Wochen
[Seite 12]12
anhaltende Aufbruchstimmung bekam neue Nahrung.
Ich las Bücher zu diesem Thema, und diese Gedanken entsprachen so ganz meiner inneren Grundhaltung. Was sind deine primären und sekundären Krankheitsgewinne? Zu welchen Veränderungen in deinem Leben gibt dir die Erkrankung Gelegenheit? Welche Chancen eröffnen sich? Welche Botschaft will dir dein Körper mitteilen, wenn er sich dabei einen so wichtigen Boten wie den Krebs zur Hilfe holt? Diese und andere Fragen waren so ganz nach meinem Geschmack. Sie wiesen den Weg nach vorn und als gläubiger Mensch, stets der Unterstützung Gottes gewiss, weckten sie Kraft, Zuversicht und Motivation in mir, mein Leben in die Hand zu nehmen und Ideen zu entwickeln.
Die Arbeit mit Visualisierung und die Einbeziehung der geistigen Aspekte unseres Menschseins zur Gesundung schienen mir so klar und einfach. Genau das hatte ich bei den schulmedizinischen Therapien vermisst. Sind wir als Mensch nicht eine Einheit von Körper, Seele und Geist, egal ob gesund oder krank?
Zunehmend sah ich die schulmedizinische Therapie, die ich erhalten hatte, als unzureichend an. Wo blieben die geistigen Aspekte bei der Therapie? Wie kann jemand glauben, einen Menschen gesund zu machen, wenn er das Wesentliche das den Menschen ausmacht, nämlich seine Seele und seine Geistigkeit, nicht nur sträflich vernachlässigt, sondern sogar völlig ausklammert?
Bei zum Tell sehr fragwürdigem Erfolg hat die Chemotherapie einen enorm zerstörenden Anteil im menschlichen Körper, der nicht nur auf den Organismus im gesunden und im kranken Bereich, sondern auch krankmachend auf die Psyche wirkt. Ich habe im alternativen Bereich Therapien kennen gelernt, die speziell die kranken Zellen eliminieren und gleichzeitig die gesunden Bereiche stärken und kräftigen. Dabei bleibt der Geist klar und ist in der Lage, seinerseits die Gesundung auf der gedanklichen Ebene zu unterstützen.
Dadurch ergab sich bei mir immer drängender die Frage: Wie kann die Medizin es ethisch verantworten und vertreten, eine solche, in hohem Maße organisch destruktive, gleichzeitig erniedrigende und menschenverachtende Therapie anzuwenden, die den Menschen auf verschiedenen Ebenen seines Daseins so sehr leiden lässt?
All diese Erkenntnisse haben mich sehr ernüchtert und auch nachdenklich gemacht. Gleichzeitig spürte ich eine große Dankbarkeit In mir. Ich hatte mit meiner katastrophalen körperlichen Verfassung dem Tod bereits recht nahe gestanden. Doch ich hatte überlebt. Dies konnte ja nicht ohne Sinn gewesen sein. Ich sah es als meine zweite Lebenschance an. Sehr intensiv begann ich, um göttliche Führung zu beten. Wieder und wieder stellte sich mir die Frage: Was habe ich nun zu verändern? Mit welchen konkreten Schritten sollte ich beginnen?
Im körperlichen Bereich fühlte ich mich inzwischen gut versorgt. Einige Freundinnen, die Ärztinnen sind, leisten sehr gute Arbeit im alternativ-medizinischen Bereich und helfen mir, meine Entgiftung und den körperlichen Aufbau voran zu bringen.
Und dank der Information über die Psycho-Onkologie hatte ich einen guten Weg gefunden,
mich nun auch auf geistiger Ebene mit meiner Krebserfahrung zu befassen. Sie
vermittelt gute Möglichkeiten, positiv und konstruktiv das Leben zu gestalten, durch die
Erkrankung innerlich zu wachsen und durch die Visualisierung auch kreativ auf die eigene
Heilung einzuwirken. Heute, eineinhalb Jahre nach Auftreten des Krebses fühle ich mich
innerlich gestärkt. Ich habe sehr viel lernen und erfahren dürfen. Natürlich gibt es weiter
[Seite 13]
noch viel zu lernen und zu überdenken. Doch die körperliche Schwäche lässt langsam nach.
Ich habe zuversichtlich Pläne für mein Leben entwickelt und auch schon Möglichkeiten der
Umsetzung gefunden und damit begonnen.
Gebete des Dankes, für Heilung und um Führung begleiten weiter mein Leben. Hier möchte ich zwei Gebete einfügen, die mir viel bedeuten.
„Dein Name ist meine Heilung, o mein Gott, Dein Gedenken meine Arznei, Deine Nähe meine Hoffnung und die Liebe zu Dir mein Gefährte. Dein Erbarmen ist meine Heilung und Hilfe in beiden Welten, in dieser und der künftigen.
Du bist wahrlich der Allgütige, der Allwissende, der Allweise.“
(Bahá’u’lláh, Gebete Nr. 142)
„O Du gütiger Gott!
Vergib meine Sünden, schenke mir Deine Gaben, übersieh meine Fehler, behüte mich, tauche mich ein in den Quell Deiner Geduld und heile mich von allen Krankheiten und Gebrechen. Läutere und heilige mich und lass mich teilhaben an der Ausgießung der Heiligkeit, so dass Gram und Traurigkeit schwinden und Freude und Glück herniedersteigen. Gib, dass Verzagtheit und Hoffnungslosigkeit sich wandeln in Freude und Zuversicht, und dass der Mut die Angst verdränge. ...“
('Abdu'l-Bahá, Gebete Nr. 140)
Beim ersten Gebet gefällt mir so gut, dass bei der Heilung auf die geistige Verbindung zu Gott so viel Wert gelegt wird. Beim zweiten Gebet finde ich es neben den tröstlichen Aspekten der Vergebung und der Heilung so ermutigend, dass „Verzagtheit und Hoffnungslosigkeit sich wandeln in Freude und Zuversicht und dass der Mut die Angst verdränge“. Welch wunderbare Aufforderung, welch ein großartiges Unterstützungsangebot durch unseren Schöpfer, unser Leben tatkräftig und mutig in die Hand zu nehmen. Und täglich neu bin ich dankbar für die Hilfe, die mir durch meine Freunde zuteil wurde. Besonders aber bin ich für die große Unterstützung durch meine Familie dankbar, meine Töchter und meinen Mann, die ganz großartig zu mir halten und mich auf meinen neuen Wegen wunderbar begleiten. Bei allem Optimismus gibt es natürlich auch immer mal Hindernisse, die bewältigt werden wollen. Doch mit den gemachten Erfahrungen der vergangenen Monate kann ich noch ruhiger und gelöster als früher das folgende Zitat in mir schwingen lassen, mit dem ich schließen möchte:
„Fürchte dich nicht, sorge dich nicht, hetze dich nicht ab für die Dinge dieser Welt! Folge stetig der Führung Gottes. Sein Reich als Ziel hier wie dort vor Augen tragend. Bei Ihm, in Ihm, durch Ihn bist du immer und überall geborgen!“ ('Abdu'l-Bahá, Rosen der Liebe, S. 7)
- Walburga Löffelmann
- ist verheiratet, hat zwei
- Töchter und arbeitet als
- Krankenschwester
Alkohol & Haschisch[Bearbeiten]
Zwei Wege der Selbstzerstörung
Etwa zehn- bis zwölftausend Menschen in Deutschland begehen jedes Jahr Selbstmord.
Diese Zahlen sind irreführend, denn tatsächlich versuchen Millionen Menschen diesen
Weg zu gehen und mindestens 170.000 sind dabei erfolgreich. Gemeint sind die Menschen,
die von einer oder mehreren Drogen abhängig sind, Menschen, die auf mehr oder
weniger qualvolle Weise ihr Leben verkürzen und Körper, Geist und Seele ruinieren, die
dabei häufig schwerwiegende Folgeschäden für ihre Mitmenschen in Kauf nehmen und
jährlich mindestens 20 Milliarden Euro für Zigaretten, 16 Milliarden für alkoholische
Getränke und eine noch nicht ermittelte, vermutlich ähnlich hohe Summe für
Cannabisprodukte ausgeben. Die Zahl der Nikotinabhängigen beträgt in Deutschland
20 bis 22 Millionen, 9,3 Millionen Menschen haben einen gesundheitlich riskanten
Alkoholkonsum, 4,3 Millionen gelten als Alkoholiker, 70 Prozent davon sind Männer.
Die Zahl der Cannabiskonsumenten wird auf 4 Millionen geschätzt, wobei medizinische
Forscher heute davon ausgehen, dass Haschischkonsum größere bleibende Schäden
verursacht als Alkohol. (1)
Besonders gravierend, weil für die Zukunft unserer Gesellschaft von Ausschlag gebender
Bedeutung, ist die wachsende Zahl jugendlicher Konsumenten. Vor allem Alkohol und
Haschisch haben Wirkungen, die Menschen die Kontrolle über ihren Körper und Geist
verlieren lassen und damit die menschlichen Eigenschaften zerstören, die ihn vom Tier
unterscheiden. Was aber geschieht mit einer Gesellschaft,
[Seite 15]
in der mindestens jeder Zehnte durch den zunehmenden Verfall seiner körperlichen
und geistigen Fähigkeiten mehr oder weniger aus dem Arbeitsprozess ausscheidet, zum
Therapiefall und häufig zur Bedrohung wird und von den Anderen getragen werden muss?
Alkohol ist eine gesellschaftlich anerkannte Droge. Das drückt sich darin aus, dass es als normal empfunden wird, bei allen möglichen Gelegenheiten zu trinken. Die Erwachsenen wirken dabei als Vorbild für ihre Kinder, die bereits frühzeitig die Überzeugung entwickeln, dass Reife sich in Alkoholkonsum niederschlage. Je mehr man verträgt, desto erwachsener ist man, lautet die Devise, bei Jungen von der Wahnvorstellung ergänzt, dass man seine Männlichkeit am besten beweist, indem man die Kontrolle über Körper und Geist verliert. Dieses Menschenbild, von dem 85.000 Beschäftigte in der Alkoholindustrie profitieren und das jedes Jahr 42.000 Bundesbürger das Leben kostet, verursacht nach Schätzungen einen materiellen Schaden von 40 Milliarden Euro jährlich. Demgegenüber nimmt der Staat 3,5 Milliarden Euro an Alkoholsteuern ein. Ein wahrhaft glänzendes Geschäft für die Gesamtgesellschaft und ein Leuchtsignal politischer Wirtschaftskompetenz!
Abgesehen von der Vielzahl der tödlichen Krankheiten, die Alkoholismus verursacht
(vgl. Wikipedia, Alkoholkrankheit), soll hier vor allem auf Folgen für Seele und Geist
hingewiesen werden. „Alkoholkonsum beeinträchtigt Gehirn und Nervensystem. Schon bei
[Seite 16]
einzelnen Räuschen treten Gedächtnislücken auf. Langfristig bilden sich chronische
neuropsychologische Defizite in den Bereichen Aufmerksamkeit, Konzentration,
Gedächtnis, Lernfähigkeit, räumliches Vorstellungsvermögen, Zeitwahrnehmung und
Problemlösungs-Strategien.” (ebd. S.5)
Was bedeutet das konkret etwa für Jugendliche, die sich regelmäßig zunächst bei Wochenendfeten betrinken, ein Verhalten, das heute bei 14jährigen als normal gilt?
In dieser Entwicklungsphase bildet sich der Teil des Gehirns aus, der als frontaler Kortex bezeichnet wird und für die Impulskontrolle, für vernunftgesteuertes Verhalten zuständig ist (vgl. Deutsches Ärzteblatt, Jg. 98, Heft 42, Oktober 2001, Michael Soyka: Psychische und soziale Folgen chronischen Alkoholismus).
Genauer gesagt er bildet sich wenig aus, wenn er durch regelmäßige Alkoholspülungen an seiner Entwicklung gehindert wird. Das Ergebnis sind Menschen, die zunehmend unfähig sind, ihr eigenes Verhalten zu kontrollieren, was sich vor allem darin zeigt, dass sie die für den Schulerfolg maßgebliche Fähigkeit verlieren, langfristig an Zielen zu arbeiten. Anstatt die dafür nötige Frustrationstoleranz und Selbstdisziplin aufzubringen und sich erst bei erzieltem Ergebnis zu belohnen, greifen sie bei jeder Gelegenheit zu Mitteln, von denen sie sich Befriedigung erhoffen. Dies sind zunehmend solche, die sie Ihre Probleme und deren immer deutlicher werdende Folgen verdrängen lassen, nämlich erneut Alkohol oder andere betäubende Drogen.
Da das Gehirn den Schaden, der ihm in dieser abschließenden Entwicklungsphase (etwa vom 14. bis 18. Lebensjahr) zugefügt wird, kaum reparieren kann, bleibt für solche Menschen nur beschränkt erreichbar, was den Erwachsenen ausmacht: ein selbstbestimmtes Leben.
Stattdessen setzen sie häufig fort, womit sie bereits ihre Jugend vergeudet haben: In einem Teufelskreis von Frustration und Ersatzbefriedigung ihre geistigen und seelischen Fähigkeiten weiter zu ruinieren, bis sie schließlich am Rande der Gesellschaft ihrem verfrühten Ende entgegen vegetieren.
Kognitive Defizite wie die oben im Zitat beschriebenen lassen sich zunehmend im Unterricht feststellen, und wenn man nachfragt, welchen Anteil Alkohol an der Freizeitgestaltung hat, findet man bei den Betroffenen meist auch diesen Hintergrund. Alkoholmissbrauch führt darüber hinaus zu einem statistisch signifikanten Anstieg psychischer Störungen wie Angst- und Panikattacken, Phobien, Depressionen bis hin zu einem vierfach höheren Risiko, an Schizophrenie zu erkranken.
Die gesteigerte Aggressionsbereitschaft zeigt sich auch in der Kriminalstatistik.
Bei Gewaltkriminalität geschehen 24,3 Prozent der Delikte unter Alkoholeinfluss, bei Totschlag sind es 40,8, bei Raubmord 30,2, bei Vergewaltigung 28,7 Prozent. (Zahlen von 1997, vgl. Michael Soyka ebd.)
[Seite 17]
Alkoholismus in der Familie
Die Auswirkungen des Alkoholmissbrauchs auf die Familien werden erkennbar, wenn man weiß, dass 75 Prozent der weiblichen und 45 Prozent der männlichen Alkoholiker ein oder mehrere Kinder haben, die in 45 und 30 Prozent der Fälle im Haushalt der Betroffenen leben. Was es für ein Kind bedeutet, Eltern zum Vorbild zu haben, die in der Regel beschränkt zurechnungsfähig sind, deren Interesse eher dem Drogennachschub als dem Wohl der Kinder gilt, die ihren Kindern niemals das Gefühl von Verlässlichkeit vermitteln, kann man daran erkennen, dass solche Kinder meist unter generalisierten Beziehungsstörungen leiden. Untersuchungen ergaben, dass 60 Prozent starke bis schwere Persönlichkeitsstörungen aufweisen, bis zu 90 Prozent überdurchschnittlich depressiv sind und bis zu 65 Prozent als ungesellig, zurückhaltend, irritierbar und unsicher auffielen. Das Risiko, selbst zu Drogen zu greifen, ist bei Alkoholikerkindern mehr als doppelt so hoch (vgl. Birgit Mamood: Kinder aus Alkoholikerfamilien - eine soziale Risikogruppe?).
Welche Rolle Gewalt in solchen Familien spielt, geht daraus hervor, dass 50 Prozent der Frauen von Alkoholikern angaben, von ihren Männern geschlagen zu werden und etwa ein Viertel der Kinder. (ebd.)
Cannabiskonsum in Deutschland
Während Alkoholismus in Europa eine lange Tradition hat und in allen Altersgruppen auftritt, hat Cannabiskonsum noch eine relativ kurze Geschichte in Deutschland. Erst in den 60er Jahren beginnen Jugendliche und dann auch zunehmend Erwachsene Haschisch und Marihuana zu konsumieren.
Spätestens seit die Karlsruher Verfassungsrichter 1994 Straffreiheit für die Weitergabe von Haschisch in geringen Mengen verkündeten, erlebt Cannabis einen Siegeszug als Genussdroge. Nach dem Motto, was nicht verboten ist, kann nicht gefährlich sein, greifen immer mehr Jugendliche zum Joint.
In der Schweiz gaben 27 Prozent der 15jährigen an, Haschisch und Marihuana konsumiert zu haben (Neue Zürcher Zeitung vom 2.März 1999). Für Deutschland gibt es keine vergleichbaren Zahlen, aber bereits 1984 ergab eine anonyme Umfrage an einem Düsseldorfer Gymnasium, dass 80 Prozent der Oberstufenschüler Erfahrungen mit Cannabis hatten.
Vor allem von Forschern in den USA wurden schon in den 70er und 80er Jahren Ergebnisse veröffentlicht, die hätten aufhorchen lassen müssen. Sie wurden 1987 in deutscher Übersetzung von der Autorin Peggy Mann (Hasch - Zerstörung einer Legende) publiziert. Demnach ist Haschisch die Droge, deren 421 Wirkstoffe (wie sonst nur bei DDT) am längsten im Körper verbleiben und jedes wichtige Organ des Körpers, jedes System und jede einzelne Zelle angreifen (Dr. Carlton Turner). Der Grund: Die 61 Substanzen, die nur in Cannabis vorkommen, sind fettlöslich und können daher nicht mit dem Urin ausgeschieden werden.
Sie nisten sich vor allem im Gehirn und in den Geschlechtsorganen ein. Dr. Austin Fitzjarrell, ein Zellbiologe, fand heraus, dass der Cannabis-Rauschstoff THC vor allem die Teile des Gehirns schädigt, die für Kreativität und höhere Denkvorgänge zuständig sind. Am schlimmsten aber wird das limbische System, das Stimmungen, Sexualverhalten, Hunger, Aggressionen steuert, angegriffen. Die untersuchten Hirne zeigten Veränderungen wie sie bei alten Menschen mit Senilitäts-Symptomen zu beobachten sind.
Dr. Robert Heath, ein Neurologe, fand bei Rhesus-Affen, die THC in einer Dosis erhalten
hatten, die zwei Joints am Tag beim Menschen entspricht, ein apathisches Verhalten und
[Seite 18]
stellte bei Hirnuntersuchungen fest, dass das Zentrum für Freude und Motivation zerstört
worden war. Das erklärt die Antriebslosigkeit und Gleichgültigkeit, aber auch die übermäßigen
Wutausbrüche, die Haschisch rauchende Jugendliche oft an den Tag legen. Eine dauerhafte
Schädigung bedeutet, dass solche Menschen ihr natürliches Belohnungssystem zerstören,
das dafür sorgt, dass erreichte Ziele und erbrachte Leistungen zur Ausschüttung des
Glückshormons Endorphin führen.
Beim fortgeschrittenen Cannabiskonsumenten ist dies nur noch durch zunehmende Mengen von Haschisch möglich. Mit der wachsenden Schädigung der Angst und Aggressionen kontrollierenden Teile des Stirnlappens (frontaler Kortex) hat Haschisch eine dem Alkohol ähnliche Wirkung. Angstgefühle, Verfolgungswahn und Schizophrenie lassen sich selbst bei ehemaligen Potrauchern doppelt so häufig finden wie bei Nichtkonsumenten. Dr. Susan Dalterio fand bei Mäusen, die mit THC behandelt worden waren, ein völlig abnormes Sexualverhalten. Die Hälfte der Tiere war zeugungsunfähig, und die Nachkommen der übrigen zeigten schwerste vererbbare Missbildungen, verursacht durch Chromosomen-Abnormitäten.
Dr. Akira Morishima sagte 1974 bei einer Pressekonferenz, dass er bei Leuten, die vier Jahre zwischen zwei Joints pro Woche und einem Joint täglich geraucht hatten, in einem Drittel der Zellen weniger als die normale Chromosomenzahl fand und zwar reduziert von 46 auf 20 bis 30 bei der Gruppe der wöchentlichen Raucher und sogar nur 5 bis 12 bei den täglich Rauchenden.
„In den 20 Jahren, in denen ich menschliche Zellen untersucht habe, habe ich niemals irgendeine andere Droge erlebt, einschließlich Heroin, die ähnlich schlimme DNS-Schäden hervorgerufen hat wie Marihuana“ (Dr. A. Morishima).
Eine indische Studie mit 1238 männlichen Cannabis-Konsumenten ergab, dass der Rauschstoff THC die Produktion von Testosteron und anderen Hormonen auf das Niveau von Kastraten reduzierte. Das Zentrum der amerikanischen Bundesregierung zur Überwachung von Krankheiten stellte eine dramatische Zunahme von Herzschäden bei Neugeborenen fest, die exakt mit der Wachstumsrate des Cannabis-Konsums in den verschiedenen Teilen des Landes korrelierte.
Haschisch schädigt aber auch das Immunsystem. Dr. Gabriel Nahas fand heraus, dass die T-Lymphozyten, die 70 Prozent des Immunsystems ausmachen, sich bei Haschischrauchern deutlich träger teilten und zu 44 Prozent weniger in der Lage waren, Krankheitskeime zu bekämpfen. Die untersuchten 22jährigen Männer hatten eine Immunität vergleichbar der alter Männer.
Dr. Forest S. Tennant untersuchte 20jährige Pot-Raucher und verglich sie mit solchen, die zusätzlich Zigaretten rauchten. Bei 91 Prozent der Doppelraucher stellte er squamöse Metaplasie, ein Vorkrebsstadium fest. Er schloss daraus, dass dieser Gruppe bereits nach zehn bis zwanzig Jahren das Risiko des Lungenkrebses drohte, statt nach 30 bis 40 Jahren wie bei Zigarettenkonsum.
Es ist aufschlussreich, dass diese bereits vor Jahrzehnten veröffentlichten Entdeckungen
weitgehend ignoriert wurden und heute auf der Website der Befürworter einer Legalisierung
von Cannabis als „veraltet“ abgetan werden. Noch aufschlussreicher ist aber der Umstand,
dass in Ländern, die bereits Jahrhunderte lang Erfahrungen mit Haschischkonsum
haben - Taiwan, Iran, Algerien oder die Türkei -, der Schmuggel mit Cannabisprodukten mit
bis zu 30 Jahren Gefängnis bestraft wird. Offensichtlich hat man dort genügend Beweise
für den Schaden, den eine Gesellschaft erleidet,
[Seite 19]
die es zulässt, dass Menschen sich der Fähigkeiten berauben, die sie erst zum Menschen machen.
Auf dem Hintergrund der dargestellten Forschungsergebnisse wird verständlich, warum in der Bahá’í-Religion neben anderen schädlichen Drogen Alkohol, Haschisch und Opium strikt untersagt sind. Als 'Abdu'l-Bahá das Verbot dieser Drogen vor etwa hundert Jahren begründete, wählte er Worte, die sich wie eine Zusammenfassung der erst viel später wissenschaftlich nachgewiesenen Schäden lesen:
„Alkohol verzehrt den Verstand und lässt Menschen sinnlose Taten begehen, doch Opium, diese faule Frucht des Höllenbaums, und das elende Haschisch lassen den Verstand erlöschen, den Geist erstarren, die Seele versteinern, den Leib verkümmern und den Menschen empfindungslos zuschanden werden.“
('Abdu'l-Bahá, Erläuterung 170 zum Kitáb-i-Aqdas S. 279f.)
(1) Zahlen von Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V., Berlin/Hamm, 12. Januar 2005
- Roland Greis
- seit 30 Jahren
- Gymnasiallehrer,
- davon 6 Jahre an
- einer Waldorfschule.
- Bildhauer und Buchautor.
DIE GANZE WELT IN EINER ROSINE[Bearbeiten]
STRESSBEWÄLTIGUNG DURCH ACHTSAMKEIT
Achtsamkeit wird an vielen Orten und in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen praktiziert.
Seit Jahren wird sie auch erfolgreich in Kursen zur Stressbewältigung eingesetzt.
Wer zum ersten Abend eines Kurses in „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“ (Mindfulness-Based Stress Reduction, kurz MBSR) kommt, ist oft überrascht:
Was er tun soll, nachdem er sich vorgestellt hat, ist, eine Rosine zu essen. Und nicht nur zu essen. Er wird gebeten, das kleine, dunkle Objekt auf seiner Handfläche anzufassen, zu riechen und genau zu betrachten. Der Kursleiter wird vielleicht einige Fragestellungen vorschlagen, um die Erfahrung noch zu vertiefen. Wie viele Farben reflektiert die Haut der Rosine? Wie viele Menschen waren an ihrem Produktionsprozess beteiligt (Bauern, Pflücker, Packer, Lastwagenfahrer)? Nach einiger Zeit werden die TeilnehmerInnen aufgefordert, die Rosine in den Mund zu stecken - aber nicht darauf zu beißen. Dann werden sie gebeten, darauf zu achten, wie ihr Mund auf die Rosine reagiert, wie sie sich auf der Zunge anfühlt, wie stark der Impuls ist, sie zu zerkauen und die Sache einfach zu erledigen. Schließlich kommt der Moment, auf die getrocknete Frucht zu beißen und sehr langsam zu kauen, bis keine Faser mehr übrig ist.
Der anschließende Austausch ist lebhaft. „Ich habe nicht gewusst, dass eine Rosine so süß ist“, sagt eine Frau erstaunt.
Irgendjemand macht gewöhnlich die folgende Aussage, bei der viele in der Klasse nicken:
„Wenn ich so viel verpasse, indem ich eine Rosine nicht achtsam esse, wie viel verpasse ich
dann von meinem Leben?“ Und das genau ist es, was die Teilnehmenden in den folgenden
acht Wochen untersuchen. Ein MBSR-Kurs ist eine aktive, reiche und sehr persönliche
Möglichkeit, um zu verstehen, wie die Praxis der Achtsamkeit Bezug hat zu allen Aspekten
des Lebens. In einem typischen Kurs finden sich Menschen aus allen Lebenskreisen und
Altersstufen, manche mit einer Krankheit, andere, die Stress in der Arbeit, in ihrer
Partnerschaft
[Seite 21]
oder Familie erleben, bei manchen treffen alle diese Punkte zusammen. Viele haben nie in
ihrem Leben meditiert und sind auch nicht besonders daran interessiert, das in Zukunft zu
tun. Aber sie „leiden“ im wahrsten Sinne des Wortes und sie suchen nach einer Erleichterung.
Aufmerksamkeit auf den Moment
Das MBSR-Programm und sein Schlüsselelement — die Achtsamkeitspraxis - fordert die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wieder und wieder auf, sich mit ihrem eigenen Leben zu befassen und das mit Aufmerksamkeit, Engagement und einer tiefen inneren Bereitschaft zu tun, auch wenn sie mit Enttäuschung konfrontiert sind oder sich das erhoffte Ergebnis nicht einstellt. Viele verstehen irgendwann, dass Achtsamkeit keine schnelle Methode oder Technik ist, sondern die Fähigkeit, wach und bewusst zu sein, in der Lage, wie Jon Kabat-Zinn, der Gründer von MBSR, sagt, „dem Moment absichtlich Aufmerksamkeit zu schenken, und das ohne Bewertung".
Stressbewältigung durch Achtsamkeit begann 1980 In der Stressreduktionsklinik des University of Massachusetts Medical Center in Worcester, USA. Seither haben Zehntausende von Menschen an Kursen teilgenommen: in Krankenhäusern, psychosomatischen Kliniken, Schulen, Gefängnissen, Hospizen und Einrichtungen für Palliativmedizin, in Programmen zur Suchtüberwindung, Volkshochschulen, in Geburtshäusern, Onkologiezentren und Unternehmen. Allein in Deutschland, Österreich und der Schweiz wird es bald mehr als 100 deutschsprachige MBSR KursleiterInnen geben. Eine Flut wissenschaftlicher Untersuchungen hat während der vergangenen 20 Jahre gezeigt, dass MBSR und andere achtsamkeitsbasierte Bemühungen einen tiefen Einfluss auf das rasch wachsende Gebiet der Körper-Geist-Medizin haben.
Der größte Lehrer: Das Leben selbst
Während eines Kurses in Stressbewältigung durch Achtsamkeit lernen die TeilnehmerInnen drei „formelle“ Praktiken: einen Körper-Scan, achtsame Körperbewusstseinsübungen und Sitzmeditation. Während des achtwöchigen Kurses verpflichten sie sich, an sechs Tagen der Woche mindestens eine Stunde zu praktizieren. Dabei werden vor allem Hörkassetten mit den Übungen verwendet. Doch es sind besonders die „informellen“ Übungen, während derer die Teilnehmenden lernen, Achtsamkeit zu praktizieren. Da ist etwa die Hausaufgabe nach dem ersten Abend des Achtwochenkurses. Die Teilnehmenden werden gebeten, an sechs Tagen der Woche einen Körper-Scan zu machen, also mit Ihrer Aufmerksamkeit Schritt für Schritt durch den ganzen Körper zu wandern, und darüber hinaus eine Aktivität zu wählen, die sie täglich verrichten, und diese als Tätigkeit achtsam zu praktizieren. Häufig wird das Zähneputzen gewählt. Andere Aktivitäten sind beispielsweise das Schuhe anziehen, Betten machen, Windeln wechseln, den Müll wegbringen. Wenn sich die TeilnehmerInnen am zweiten Abend über ihre Erfahrungen austauschen, berichten viele von den Einsichten, die sie während der Übung gewonnen haben, ähnlich denen nach dem Essen der Rosine.
Die informellen Übungen ermöglichen es den Teilnehmenden, Studenten und Studentinnen des Lebens zu werden, indem sie Ihnen erlauben, sich dem Leben als dem größten Lehrer zu öffnen.
Während der zweiten und dritten Woche sollen die TeilnehmerInnen ein Tagebuch führen, in dem sie einmal täglich angenehme oder unangenehme Erlebnisse notieren, Es werden verschiedene Fragen zu diesen Erlebnissen gestellt, zum Beispiel, wo die Erfahrung im Körper zu spüren war. Vielen wird klar, dass sie vor allem Schmerzliches, Dunkles und Unangenehmes im Blick haben und dass angenehme Erlebnisse zu bemerken eine der tiefsten Freuden der Achtsamkeitspraxis ist.
In einer anderen Übung, Sehmeditation genannt, lädt der MBSR-Anleitende den Lernenden ein, auf verschiedene Arten aus einem Fenster oder auf eine bestimmte Szene zu blicken, etwa wie mit einem Zoom ganz nah an die Details heranzufahren und dann wieder „wegzuzoomen‘, bis der Blick einem Weitwinkelobjektiv gleicht. Die anschließende Diskussion hilft, ein Schlüsselthema der Stressbewältigung durch Achtsamkeit zu verstehen: Es ist nicht die Situation selbst, die Stress verursacht, sondern unsere Art, darauf zu reagieren.
[Seite 22]
Wenn wir lernen können, unsere Perspektive zu verändern, kann die Art und Weise, wie wir
etwas betrachten, sich öffnen, sie kann sich weiten oder sogar verengen.
In seinem Buch „Gesund durch Meditation“ (O.W. Barth Verlag), nennt Jon Kabat-Zinn sieben Faktoren der Achtsamkeitspraxis. Man soll sie üben, sie verkörpern, sich mit Ihnen konfrontieren: Nicht-Beurteilen, Geduld, den Geist des Anfängers bewahren, Vertrauen, Nicht-Greifen, Akzeptanz und Loslassen. Viele Übende erleben während der acht Wochen, wie sich diese Faktoren von äußeren Lehren zu persönlichen Wahrheiten verändern. Dabei entwickelt jeder Mensch ein Verständnis davon, das in seinem eigenen Leben wurzelt. Eine solche Art des Lernens reicht tief und ermöglicht Veränderung.
Eine Frau, bei der erneut Krebs ausgebrochen ist, drückt es so aus: „Ich dachte immer, dass ich weiß, wie Rosinen schmecken. Nun weiß ich, dass da viele verschiedene Geschmacksrichtungen sind. So wie die Momente meines Lebens. Wie wundervoll!“
- Dr. phil. Linda Lehrhaupt,
- geboren in New York,
- arbeitet seit 35 Jahren als
- Pädagogin. Gründerin des
- Instituts für Achtsamkeit
- und Stressbewältigung.
TEMPORA
- Nr. 14 - 2007
Die Globalisierung unseres Planeten erfordert in allen Bereichen ein
gänzlich neues Denken und Handeln. TEMPORA beschäftigt sich auf
dem Hintergrund der Bahá’í—Lehren mit aktuellen Zeitfragen und möchte
durch Gedankenimpulse die Entwicklung zu einer geeinten Welt fördern.
Herausgeber
- Der Nationale Geistige Rat der Bahá’í in
- Deutschland e.V., Eppsteiner Str. 89
- 65719 Hofheim-Langenhain
Redaktion
- Roland Greis, Mitra Pommer-Mahmoudi,
- Thomas Schaaff, Monika Schramm,
- Karl Türke jun., Shirin Weisser
Redaktionsanschrift
- Redaktion TEMPORA
- Eppsteiner Str. 89
- D-65719 Hofheim
- Internet:
- www.tempora.org
- tempora@bahai.de
Layout und Illustration
Mitra Pommer-Mahmoudi
Fotos
Saman Rahmanian S.14/15, 17
Mitra Pommer-Mahmoudi S.8, 11, 12, 13, 37
Dr.Valerie Diallo S.26, 27, 28
restliche Bilder von stockexchange
Druck
Druckservice Reyhani, Darmstadt
Vertrieb und Bestellungen
- Bahá’í—Vertrieb
- Benzweg 4
- D-64293 Darmstadt
- Tel.: 061 92 / 2 29 21
- Fax: 06151 / 9517299
- www.bahai-verlag.de
TEMPORA erscheint einmal jährlich.
Abonnementpreis für
4 Ausgaben EUR 18,00 EUR
Einzelpreis EUR 5,00 EUR
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die
Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder. Für unverlangt
eingesandte Manuskripte und Fotos übernimmt die Redaktion keine
Haftung. Die Redaktion behält sich sinnbewahrende Kürzungen
und Änderungen der Beiträge vor. Die Zeitschrift und alle in
ihr enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt.
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit
schriftlicher Genehmigung der Redaktion.
Gedruckt auf umweltschonendem Papier
© Bahá’í-Verlag GmbH 2007 ISSN 1433-2078
FASTEN[Bearbeiten]
KEINE LEICHTE ÜBUNG
IN JEDER RELIGION SPIELT FASTEN EINE WICHTIGE ROLLE
Fasten ist in. In jeder besseren Reisezeitung stehen die Angebote von Fastenkuren,
Fastenwanderungen, Saftfasten unter Gleichgesinnten und ähnliches. Viele haben es schon
probiert, die meisten waren davon angetan und wären bereit, es wieder zu versuchen, oder sie
sind gleich so begeistert, dass sie es jedes Jahr tun. Andere wiederum graust es bei der
Vorstellung, dass sie zwei Wochen nichts zu essen kriegen und nur von Wasser, Luft und
Liebe leben sollen.
Es gibt die verschiedensten Gründe. Heute am weitesten verbreitet: Fasten aus medizinischer Indikation. Damit werden Verdauungs- und Ausscheidungsorgane entlastet und der ganze Stoffwechsel mal etwas anders gepolt. Meistens tut man es, um abzuspecken. Es ist keine Frage, dass eine Fastenkur einen positiven Effekt auf die körperliche Verfassung des Menschen ausübt. Manche fasten aus Überzeugung, weil sie darin eine geistige Komponente sehen, und manche fasten aus religiösen Gründen.
Fasten ist „die freiwillige Einschränkung oder gänzliche Enthaltung der Nahrung aus medizinischen oder religiösen Gründen.“
In den Religionen hat Fasten eine uralte Tradition:
- als Askese,
- als Übung der Selbstverleugnung und Enthaltsamkeit,
- als Förderungsmittel der Andacht,
- als Vorbereitung zu wichtigen Entschlüssen oder Taten,
- als Reinigungsritual zum Beispiel vor bestimmten Zeremonien,
- als Zeichen der Trauer
- als Sühne und persönliches Opfer, etwa nach einer schlimmen Tat,
- zur Sammlung von Willenskräften, etwa um im Krieg oder auf der Jagd Glück zu haben,
- als Reinigung in Vorbereitung auf wichtige Dinge,
- als Mittel, um in Ekstase zu geraten oder Visionen hervorzurufen,
- um der Welt zu entsagen,
- um seinem Karma zu entgehen, in der Yogapraxis zusammen mit anderen Reinigungsritualen
- zur Schulung geistiger Aktivitäten (Pythagoräer, kontemplative Gemeinschaften),
- um Naturkatastrophen abzuwehren, die als besonders schlimm angesehen wurden: Sonnenfinsternis, Dürreperiode etc.
- und auch ganz einfach als sittliches und gutes Werk an sich.
Das Fasten zieht sich durch die Geschichte wie ein roter Faden, und all diese
Anwendungsbereiche haben mit der transzendenten Ebene
[Seite 24]
zu tun, überall wurde es als Verbindung hin zum Göttlichen, zum Übermenschlichen angesehen,
sowohl in den Hoch- wie den Naturreligionen. Beim religiösen Aspekt unterscheidet man noch
zwischen dem Fasten als völlige Enthaltsamkeit von Nahrung und dem Vermeiden bestimmter
Nahrungsmittel. Auf Speisen wie Fleisch und Getränke wie Wein oder ganz allgemein berauschender
Getränke zu verzichten, war früher offenbar eine besondere Leistung, denn die Enthaltung gerade
von diesen beiden findet sich in so gut wie allen Religionen als geistige Übung.
In den Hochreligionen ist das Fasten meist an bestimmte Tage oder Ereignisse gebunden. Im Islam ist der 9. Monat des Jahres der Ramadan, der Fastenmonat.
Die Vorschrift lautet, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang nichts zu essen und nichts zu trinken.
Da das moslemische Jahr dem Mondjahr folgt, wandert dieser Monat im Jahreslauf mit, und so kommt es vor, dass der Ramadan in den Sommer fällt. Das führt in den meist in südlichen Breitengraden liegenden islamischen Gesellschaften zu Problemen im täglichen Ablauf. Sich bei 40 Grad Celsius der Nahrung und besonders des Trinkens zu enthalten, lähmt so gut wie alle körperlichen Kräfte und Aktivitäten.
Vor allem findet sich das Fasten im Alten Testament, und zwar oft als Akt der Demut und Buße, um den Zorn Gottes abzuwenden. Man fastete bei schweren Heimsuchungen. Als Verordnung findet es sich zunächst nur für den Versöhnungstag, später enthielt der jüdische Kalender fünf Fastentage zum Gedenken an besondere Begebenheiten. Bibellesern sind vor allem die Stellen bekannt, wo es von den Propheten hieß, dass sie in die Wüste gingen und fasteten. Man kann sagen, dass Fasten ein Mittel ist, um in einen Zustand gesteigerter geistiger Sensibilität zu gelangen.
Fest steht, dass es die Sinne schärft und neue Sphären der Erkenntnisfähigkeit schafft. Es fördert daher die Vergeistigung. Der Mensch reduziert seine körperlichen Vorgänge, Automatismen wie die regelmäßige oder unsystematische Nahrungsaufnahme werden abgebaut. Man reagiert bewusster. Man kann feststellen, dass das Hungergefühl tatsächlich nach etwa drei Tagen verschwindet. Es folgt, wie es von vielen, die es versucht haben, beschrieben wird, die schöne Zeit ohne äußeres Nahrungsbedürfnis, die Befreiung von der irdischen Gebundenheit an Magen und Körper. Der Geist „erhebt“ sich über die Materie.
Hier liegt auch der Unterschied zwischen bewusstem Fasten und erzwungenem Hunger: Gefastet wird aus klarer Einsicht, aus freiem Willen, überlegenem Humor und für religiöse Menschen aus Liebe zu Gott und seiner Manifestation, die dieses Gebot gebracht hat. Gehungert wird dagegen aus äußerem Zwang und in blinder, zehrender Angst.
Im Christentum gibt es die Fastenzeit vom Aschermittwoch bis Ostern. Man trifft nicht selten Menschen, die zwar der Kirche fernstehen, sich aber für die Fastenzeit bestimmte Ziele gesetzt haben: nicht fernsehen, nicht rauchen oder Verzicht auf Alkohol (damit kann man jedes Jahr prüfen, ob es noch ohne geht).
Das Fastengebot in den Religionen hat von seiner ursprünglichen Absicht her sicherlich zwei Funktionen, eine soziokulturelle oder hygienische und die zweite, nämlich die vergeistigende, die geforderte Loslösung von der Materie. Viele Menschen wehren verächtlich ab, wenn sie hören, dass ihnen eine Religion Fasten vorschreibt. Sie können und wollen diesen Verzicht nicht üben. Dabei ist Fasten eine überaus eindrucksvolle Übung in Sachen Selbstdisziplin.
Die Baha’i-Religion schreibt ebenfalls eine Fastenzeit vor. Sie dauert 19 Tage, und auch
hier gilt, sich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang jeglicher Speisen und Getränke
zu enthalten. Daher ist es kein Fasten in medizinischem Sinn. Dagegen opponieren viele
Außenstehende, weil sie das für medizinisch falsch halten oder sogar gefährlich. Aber ein
gesunder Mensch hat keine echten Probleme zu erwarten, außerdem ist der Baha‘i-Fastenmonat
immer zur gleichen Jahreszeit, und zwar Anfang März bis zum Bahá’í-Neujahr am 21. März.
Dann herrscht überall auf der Welt eine Tag- und Nachtgleiche, außerdem sind klimatische
Extreme in dieser Zeit nirgends zu befürchten. Der Hauptunterschied zwischen medizinischem
Fasten und Bahá’í-Fasten liegt in folgender Wirkung: Beim Fasten verschwindet
[Seite 25]
nach etwa drei Tagen das Hungergefühl. Der Körper hat sich umgestellt und hält Ruhe.
Beim Bahá’í-Fasten dagegen tritt dieser Effekt nicht auf, denn man isst und trinkt ja morgens und abends, und so knurrt einem der Magen während dieser ganzen 19 Tage. Hier ist unschwer zu erkennen, dass es sich um eine geistige Übung handelt.
Manche Menschen, die unbedingt abnehmen wollen und daher notgedrungen fasten (müssen), sind für Ihre Umgebung eine wahre Zumutung in ihrer schlechten Laune und ihrem Missmut. Hier wird der Unterschied zwischen dem materiellen, persönlichen Wunsch und dem religiösen Gebot besonders deutlich, an das sich zu halten dem Gläubigen viel leichter fällt. Voraussetzung dafür ist freilich die Anerkennung dieser höheren Autorität, die Erkenntnis Gottes, denn vor uns selbst haben wir oft genug eher zu wenig Achtung, das sieht man an der inkonsequenten Einhaltung der eigenen guten Vorsätze.
Ein gläubiger Mensch, der fastet, schielt eben nicht missmutig nach dem kalten Buffet und bedauert sich, er kann vielmehr leichten Herzens darauf verzichten.
Mit dem Fasten als Gebot der Religion ist es wie mit der Religion als Ganzes: Sie muss gelebt werden, nur dann ist sie glaubwürdig. Und so wird auch das Fasten, wenn es im Sinn Bahá’u’lláhs gehalten wird, die Wirkung entfalten, die Er uns zugesagt hat:
„Jede Stunde dieser Tage hast Du mit einer besonderen Wirkkraft ausgestattet, unerforschlich allen außer Dir, Dessen Wissen alles Erschaffene umfaßt. Auch hast Du jede Seele an dieser Wirkkraft teilhaben lassen gemäß der Tafel Deines Ratschlusses und den Schriften Deines unwiderruflichen Urteils.“
- Monika Schramm
- arbeitet als Redakteurin
- bei einer großen
- Tageszeitung
WENN SELBST DIE EINFACHSTEN DINGE NICHT KLAPPEN:
Erfahrungen in Burkina Faso[Bearbeiten]
- In den entlegenen Dörfern stehen den Einwohnern nur traditionelle Heilmethoden zur Verfügung. Die Transportkosten in eine größere Stadt mit Krankenhaus sind für viele zu hoch.
Anti-Aging, Delfin-Therapie oder therapeutisches Reiten: All das ist hierzulande als Heilmethode anerkannt. Aber es gibt immer noch Länder, in denen nicht einmal der Luxus erlaubt ist, über Gesundheit nachzudenken. Daher hat die Tempora-Redaktion entschieden, die Leser mit einem Bericht aus dem „Land der Aufrechten“, aus Burkina Faso, zu konfrontieren, einem der ärmsten Länder dieser Welt. Es rangiert laut einer UN-Studie auf Platz 174 von 177 Ländern. Mehr als 45 Prozent der 13 Millionen Einwohner leben unter der nationalen Armutsgrenze, die Analphabetenquote der Erwachsenen beträgt 78,2 Prozent. Knapp 40 Prozent der Kinder unter fünf Jahren sind mangelernährt. Auf die Frage, was die meist bäuerlichen Einwohner mit dem Thema „Gesundheit“ assoziieren, antwortete die Autorin: „Gesundheit ist hier einfach die Abwesenheit von Krankheit, und was die Burknabé tun für Ihre Gesundheit? Nichts, sie müssen sehen, wie sie über die Runden kommen, dass sie genug zu essen haben. Von gesunder Ernährung hat hier niemand Ahnung, selbst wenn genug Geld da wäre, ernähren sich die Leute nicht gesund. Gemüse wird in Afrika grundsätzlich verkocht, Öl wird als Luxusprodukt oft zu üppig verwendet, um den Wert der Nahrung zu erhöhen. Sport machen nur wenige Leute bewusst; die meisten unfreiwillig in Form harter körperlicher Arbeit, und das ist der Gesundheit auch nicht unbedingt zuträglich. An den medizinischen Einrichtungen dürfte sich kurzfristig kaum etwas ändern. Solche Projekte könnten höchstens von Internationalen Geldgebern gesponsert werden. Und die Arztmisere ist groß.
Wir hatten schon unsere Geschenktüte gepackt: Anziehsachen und Spielzeug für das
Neugeborene. Die Cousine meines burkinischen Mannes sollte diesen Monat ein Kind
bekommen. Da klopft es eines Morgens an unsere Türe: Soumaï1) hatte vor
zwei Tagen ihr Kind geboren, aber nun ist es tot. Was war passiert? Schließlich
befinden wir uns in Ouagadougou, der Hauptstadt Burkina Fasos, wo es die besten
Kliniken des Landes gibt. Früher sagte man hier von einer Schwangeren: Sie hat ein
Bein im Grab. Lebte Soumaï immer noch in ihrem Dorf, dann hätte Ihr Mann sie
bestenfalls auf dem Gepäckträger seines Fahrrads in das nächste Dispensaire2)
gebracht. Und im schlechtesten Fall hätte sie ihr Baby allein im Busch bekommen.
Die Frauen der Fulbe, deren Ethnie die Familie meines Mannes angehört, sind sehr stolz.
- Die wenigsten Menschen mit Gehbehinderung in Burkina Faso haben einen Rollstuhl
Traditionellerweise gebären sie ihre Kinder in stiller Abgeschiedenheit, weil sie nicht
wollen, dass jemand ihre Schreie hört. Sie wählen lieber das Risiko zu sterben als die Scham.
Bis heute bestehen manche der Fulbefrauen auf dieser Intimität. Im Gegensatz dazu gibt es in
Europa Ehemänner, die ihre gebärende Frau filmen, im Privatfernsehen kann man sogar
regelmäßig Geburten verfolgen. Ein Paradox! Der Tod ist den Menschen hier näher als den
Europäern. Auf meinem Weg zur Arbeit sehe ich bei jedem Ampelhalt Menschen, die Opfer
verschiedener Krankheiten sind. Sie sind alte Bekannte für mich: Da gibt es den überaus
höflichen Mann, der sich aufgrund von Kinderlähmung mehr schlecht als recht in der Hocke
fortbewegt - trotzdem scheint er immer gut gelaunt zu sein, er lächelt immer freundlich.
Ein anderer mit Lepra hat Mühe, das erhaltene Kleingeld in seine Tasche zu stecken, weil
er nur noch Fingerstummel hat. Die Frau mit den Zwillingen, von denen ich dachte,
sie seien neugeboren, weil sie so winzig sind — bis ich sie eines Tages stehen sah! Sie sind
schlichtweg mangelernährt. So stehen sie jeden Tag an ihrer Ampel, der Sonne und den
Abgasen ausgesetzt, nur darauf wartend, dass ihnen ein Autofahrer ein bisschen von seinem
Wohlstand abgibt. Solche Krankheiten oder Unterernährung kann man in Europa nicht
beobachten. In Deutschland beklagen sich die Leute darüber, dass sie jetzt im Quartal zehn
Euro für die Krankenkasse zuzahlen müssen.
- Fulbefrau beim Hirsestampfen
Natürlich ist eine Geburt immer ein Risiko, doch die Nachricht traf uns völlig unerwartet.
Soumaï ist doch so eine junge und gesunde Frau, die hier unter den bestmöglichen Bedingungen
ihr Kind bekommen hatte. Nach dem ersten Schock versammeln sich die in der Nähe
wohnenden Cousins, darunter mein Mann, und fahren gemeinsam ins Krankenhaus. Ich
selbst bleibe mit meiner vier Monate alten Tochter zu Hause und bin nochmals dankbar,
dass ich sie in Deutschland bekommen habe. Wir waren in den besten Händen gewesen.
In Burkina dagegen gibt es viel zu wenig Ärzte und vor allem viel zu wenig gute. Diejenigen,
die eine ordentliche Ausbildung in Europa erhalten haben, ziehen es meist vor auszuwandern. Die Verdienstmöglichkeiten in Burkina sind schlecht, die Patienten können nicht viel
bezahlen. In den staatlichen Krankenhäusern kostet eine Konsultation etwa 1,50 Euro - und
meist ist sie auch nicht mehr wert. Ein Besuch bei den Spitzenärzten in Ouagadougou kostet
etwa 15 Euro. Für den Betrag würden europäische
[Seite 28]
Ärzte nicht einmal den Telefonhörer abheben. Diese Situation führt dazu, dass man in
Burkina gar nicht Medizin studieren kann. Denn es gibt - aus dem gleichen Grund - keine
Professoren.
Als mein Mann zurückkommt, erklärt er mir, was passiert ist. Das Kind war übertragen, das heißt, es war einfach zu lange im Bauch geblieben. Die Ärzte sagten, sie seien überrascht gewesen, dass es überhaupt zwei Tage überlebt habe. Ich bin schockiert: Ein so simples Problem und sie haben Soumaï nicht geholfen? Auch einfache Kliniken hier beherrschen den Kaiserschnitt. Davon abgesehen gibt es auch Hausmittel, um eine Geburt einzuleiten. Die Reaktion der ebenfalls schockierten Cousins und Cousinen: Gott hat es so gewollt. Aha, Gott hat also mal wieder zugeschlagen. Der einzige Gedanke, der Trost spenden kann. Somit klagt niemand die Ärzte an - das Leben muss weitergehen.
- Traditionelles Haus der nomadisierenden Fulbe aus Strohmatten
Ich kann die Unfähigkeit dieser Ärzte nicht begreifen. Meine bisherigen Erfahrungen mit
den medizinischen Einrichtungen des Landes waren ebenfalls ziemlich schlecht. Es gibt
nur eine Klinik, die ich empfehlen würde. Sie wird von einem burkinisch-französischen Paar
geleitet, beide Ärzte haben in Frankreich studiert. Beide sind sehr engagiert und nehmen
sich sehr viel Zeit für ihre Patienten, obwohl sie total überlastet sind: Sie arbeiten selbst
am Wochenende und an Feiertagen. Damit auch weniger betuchte Kranke Zugang haben,
gibt es drei verschiedene Tarife: für Patienten ohne, mit und mit internationaler Versicherung.
Doch bei all meiner Bewunderung für ihren Einsatz frage Ich mich, wann die Kinder
dieses Ärztepaars ihre Eltern überhaupt zu Gesicht bekommen.
Einen Monat später kommt Soumaï uns besuchen. Man sieht ihr den Verlust nicht an. Sie ist so tapfer, nimmt unsere Tochter in die Arme und macht Scherze.
- 1) Name geändert
- 2) Frz. Bezeichnung der einfachen Dorfkrankenhäuser im frankophonen Afrika, die oft nur von einem Pfleger betreut werden, der Arzt kommt nur ein oder zwei Mal in der Woche vorbei
- Dr. Valerie Diallo,
- Agraringenieurin,
- arbeitet seit Mai 2005
- für den Deutschen
- Entwicklungsdienst
- in Burkina Faso
Basisdaten:
Einwohnerzahl: 13.228.000
BIP pro Kopf (2003): 1,262 US - Dollar
Lebenserwartung M/F: 47/48 Jahre
Kindersterblichkeit J/M (auf 1000): 193/191
Müttersterblichkeit: (auf 100 000 Lebendgeburten, 2000): 1000
Gesundheitsausgaben pro Einwohner (2003): 68 US-Dollar
Anzahl der Ärzte für 1000 Einwohner: 0,06
Anzahl der Krankenpfleger für 1000 Einwohner: 0,41
Quelle : Datenbank der WHO,
Bericht über die weltweite Aidsepidemie 2006,
Bericht über die menschliche Entwicklung UNDP
Aus dem Gleichgewicht geraten[Bearbeiten]
Fettleibigkeit bei Kindern und Jugendlichen nimmt dramatisch zu
Eine Betrachtung aus Schweizer Sicht
Kinder sind das Potenzial der Zukunft. Wir tragen die Verantwortung dafür, dass sie gesund
sind und es auch bleiben. Kinder und Jugendliche bedürfen unseres ganz besonderen
Schutzes. Sie wachsen unter den Rahmenbedingungen heran, die ihnen unsere Gesellschaft
und unsere kulturellen Vorstellungen vorgeben und vorleben. International ist eine
Zunahme von übergewichtigen Kindern und Jugendlichen zu verzeichnen. Die
Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte bereits 1997 die Fettleibigkeit als ein großes
Problem der öffentlichen Gesundheit bezeichnet und spricht mittlerweile von einer weltweiten
Epidemie. Daher wurden auf verschiedenen Ebenen Anstrengungen unternommen, die
Ursachen hierfür zu untersuchen, geeignete Behandlungsstrategien zu entwickeln sowie
präventive Maßnahmen einzuleiten, um dieser Entwicklung sowie den damit verbundenen
Begleit- und Folgeerkrankungen gegenzusteuern.
Definition
Als übergewichtig gilt jeder, der mehr wiegt als die Norm. Zur Bestimmung von Übergewicht und Adipositas (Fettleibigkeit) im Kindes- und Jugendalter werden entsprechende Berechnungen angestellt. Eine davon ist der Body Mass Index (BMI), er wird für jedes Kind entsprechend seinem Alter bestimmt. Liegt es mit seinem BMI jenseits seiner Maßgabe, ist es adipös und sollte behandelt werden.
Ursachen
Hinsichtlich der Ursachen und der Aufrechterhaltung der Adipositas werden heute vielfältige biologische, psychische und soziokulturelle Faktoren diskutiert. Übergewicht resultiert aus einem Ungleichgewicht zwischen Kalorienzufuhr und -verbrauch, die Ursachen dafür können einerseits auf die genetische Disposition zurückgeführt werden und sind anderseits im Lebensstil gegründet.
Übergewichtige Kinder leiden körperlich und seelisch
Ein Übermaß an Fettreserven ist nicht in jedem Fall direkt gesundheitsschädigend, wohl
aber dann, wenn Risikofaktoren damit einhergehen. Die körperlichen Folgen der Adipositas
[Seite 30]
bei Kindern gleichen mit zunehmender Krankheitsdauer denjenigen von Erwachsenen und
umfassen ein erhöhtes Risiko unter anderem für Herzkreislauferkrankungen, Diabetes mellitus,
orthopädische Beschwerden und Leberverfettung.
Außer von körperlichen Risikofaktoren sind adipöse Kinder auch von psychosozialen Auswirkungen betroffen. Sie werden früh mit negativen Einstellungen gegenüber ihrem Aussehen konfrontiert. Bereits Sechsjährige beurteilen ein übergewichtiges Kind nur aufgrund seiner Erscheinung als „faul, schmutzig, dumm und unattraktiv”. Adipöse Kinder entwickeln häufiger als Normalgewichtige ein negativ gefärbtes Körperbild sowie Schulprobleme und Kontaktschwierigkeiten. Aktuelle Befunde weisen darauf hin, dass psychische Störungen zwar nicht deutlich gehäuft auftreten. Bleibt die Adipositas jedoch bestehen, so scheint sie das Risiko zu erhöhen, im Erwachsenenalter affektive und Angststörungen zu entwickeln.
Die Kostenlawine rollt
Mit den gewichtigen Zahlen sind auch enorme Kosten verbunden. Der WHO-Report 2000 geht davon aus, dass etwa zwei bis sieben Prozent der Kosten im Gesundheitswesen direkt der Adipositas zugeschrieben werden können. In der Schweiz werden bis zum heutigen Zeitpunkt die Kosten für die Ernährungstherapie bei übergewichtigen und adipösen Kindern und Jugendlichen nicht übernommen. Erst die Folgeerscheinungen werden von der jewelligen Krankenkasse bezahlt.
Verantwortung der Gesellschaft
Der Mensch, seit jeher erfinderisch, wenn es darum geht, sich das Leben so bequem wie möglich zu gestalten, hat sich im 20. Jahrhundert an Fortschritt selbst übertroffen. Bisher wurde viel Aufwand betrieben, einzelne Sündenböcke für das Adipositasproblem zu finden. Nährstoffe, Nahrungsfaktoren, einzelne Lebensmittel, die Mahlzeitenfrequenzen und die Portionengröße - kaum etwas, was nicht im Einzelnen bereits untersucht wurde. Im Zuge der Betrachtung sorgen immer wieder Berichte über die Softdrink-, Fastfood- und Snackfood-Industrie für Schlagzeilen. Ansatzpunkte für Kritik gibt es genügend. Der Konsum dieser Dinge steigt sowohl in den Industrie- als auch in den Entwicklungsländern; zu fett, zu süß, zu energiedicht, zu groß sind die angebotenen - und verzehrten - Mengen. Auch die Werbung der Lebensmittelindustrie und ihr Einfluss auf die Kinder wurden untersucht. Allein in den Vereinigten Staaten gibt die einschlägige Industrie jährlich 10 Milliarden Dollar für Werbung aus, die sich an Schulkinder richtet. Auch bei uns sind an Schulen Automaten mit zuckerreichen Softdrinks und hochkalorischen Snacks zu finden.
Gleichgewicht des Körpers
Die Energiebilanz ist aber nicht nur aufgrund eines Nahrungsüberangebots aus dem Gleichgewicht geraten, eine ebenso wichtige Rolle spielt der zunehmende Bewegungsmangel unserer Gesellschaft. Der sich weltweit ausbreitende „Fernsehvirus“ gilt ebenso wie der „Computervirus“ als einer der wichtigsten Gründe für Inaktivität. Vielseher sind eindeutig dicker, nicht nur infolge eingeschränkter Bewegung, sondern auch infolge exzessiv betriebenen Snacking währenddessen. Jeden Tag sitzen wir durchschnittlich etwa zweieinhalb Stunden vor dem Fernsehgerät, Kinder zwischen 3 und 14 Jahren durchschnittlich etwa eineinhalb Stunden. Noch höher sind die Zahlen bei Kindern, die ein Gerät in ihrem Zimmer haben.
Therapieangebote
Grundsätzlich gilt: Je früher, desto erfolgreicher und langfristiger können Ernährungsgewohnheiten umgestellt werden. Das bedarf einer engen Zusammenarbeit mit Experten, beiden Eltern sowie weiteren Bezugspersonen.
[Seite 31]
Angesichts des hohen Stellenwerts der Ernährung für die öffentliche Gesundheit ist
eine objektive und transparente Information der Öffentlichkeit von zentraler Bedeutung.
Ebenso wichtig ist es jedoch, dass sich die Verbraucher vermehrt Gedanken über den
Zusammenhang zwischen Ernährung und Gesundheit machen und sich Rechenschaft ablegen über
ihr tatsächliches Essverhalten. Denn der Fünfte schweizerische Ernährungsbericht zeigt es
klar: Beim Essverhalten besteht ein großes Verbesserungspotenzial für die Volksgesundheit.
Allgemein gilt: Der Gesundheit förderlich ist die Ernährung dann, wenn sie dem jeweiligen Energiebedarf angepasst ist, abwechslungsreich und ausgewogen zusammengestellt wird und einen hohen Anteil an Früchten und Gemüse aufweist. Functional Food kann eine bewusste Ernährung im besten Fall sinnvoll ergänzen. Eine einseitige Ernährung kann auch mit einem erhöhten Konsum solcher Produkte nicht ausgeglichen werden. Keinesfalls können damit gravierende Ernährungsfehler behoben werden.
„Die Erziehung und Ausbildung der Kinder gehört zu den verdienstvollsten Taten der Menschheit. Sie zieht die Gnade und den Segen des Allbarmherzigen auf sich; denn Erziehung ist die unentbehrliche Grundlage jeder herausragenden menschlichen Leistung und erlaubt dem Menschen, sich seinen Weg zu den Höhen immerwährender Herrlichkeit zu bahnen.“
'Abdu'l-Bahá
- Shima Yazdani
- Dipl. Ernährungsberaterin
- am Universitäts-Kinderspital
- in Basel, Abteilung
- Ernährungsberatung Pädiatrie
DURCH GEZIELTE ERNÄHRUNG KRANKHEITEN HEILEN[Bearbeiten]
Eine philosophische Abhandlung über ganzheitliche Heilmethoden
Was bedeuten Gesundheit, Krankheit, Ernährung? Wie können wir mit Nahrung die
ursprüngliche Gesundheit sowie die Harmonie im Körper wiederherstellen? Die
ganzheitlichen, auf Ernährung basierenden Heilmethoden sind eine logisch-systematische,
mit den Naturgesetzen im Einklang stehende Wissenschaft. Sie sind in ihren Grundzügen
Jahrtausende alt, wurden jedoch zu unterschiedlichen Zeiten immer wieder aufgegriffen
und weiterentwickelt.
Der letzte außergewöhnlich fähige Arzt und Philosoph, der diese Wissenschaft erneuert und auf das Wesentliche konzentriert hat, war Saber Moltanie, der vor etwa 100 Jahren in Pakistan lebte und wirkte. Er veröffentlichte seine wissenschaftlichen Forschungen und Abhandlungen unter dem Titel „Elementare Organtheorie“.
Dabei handelt es sich um die Lehre von den einzelnen Zellen in den drei Hauptsystemen des Organismus: Des Nervensystems mit dem Gehirn als Zentrum, des Muskelsystems mit dem Herz und des Epithelsystems mit der Leber als Mittelpunkt, die durch den Blutkreislauf miteinander verbunden sind, einen selbstständigen Kreislauf bilden und so die gesamte Funktion des Körpers beherrschen und koordinieren. Zuvor sollen aber das Wesen des angeborenen Wissens und die fundamentale Frage über die Grundwahrheiten der Schöpfung Gottes betont werden, etwa die Frage nach der Entstehung der Elemente. Wir müssen verstehen, dass in der Natur immer und jederzeit alles als Möglichkeit vorhanden ist, wenn auch verborgen. Das Wesen der Krankheit ist immer da, wenn auch unsichtbar.
Krankheit ist demnach nur die Abwesenheit von Gesundheit, so wie Dunkelheit nur die Abwesenheit des Lichtes ist.
Außerdem müssen wir uns bewusst werden, dass alles in diesem unendlichen Kosmos nach
bestimmten Gesetzmäßigkeiten verläuft. Und diese Gesetze sind durch die Allmacht Gottes
[Seite 33]
ins Leben gerufen worden. Sie ist die Kraft, mit der sich der Schöpfer alles in seiner Schöpfung
unterworfen hat. Für die Umsetzung dieser Kraft hat Er bestimmte allumfassende Gesetzmäßigkeiten
geschaffen, die als „das Gesetz“ (das Festgeschriebene) bezeichnet werden.
Die Natur ist die Kraft, durch die alles sichtbar wird und alles Leben ständig Verwandlung
und Entwicklung erfährt. Sie spiegelt das Gesetz der Allmacht wider, wie ein Spiegel das Bild
der Sonne widerspiegelt. Damit entspricht die Natur dem Gesetz und dem Willen Gottes. Infolge
dessen ist die Gesundheit ebenfalls den Gesetzen der Allmacht Gottes unterworfen.
Voraussetzung für Gesundheit ist das Suchen, Erkennen, Verstehen und Einhalten dieser Gesetze. Es ist wahr und einleuchtend, dass der Schöpfer Seine Schöpfung nach seinem eigenen Willen erschaffen hat, dass alle Bewegungen und Entwicklungen im Mikro- und Makrokosmos miteinander verknüpft sind und von Seinem Willen abhängen. Oberflächlich betrachtet scheint es, als ob alles in der Schöpfung zwangsläufig so und nicht anders funktioniert. Geht man aber in die Tiefe, wird das Prinzip von Aktion und Reaktion als Konsequenz von Handlungen sichtbar. Das bedeutet, dass alles aufeinander wirkt und in Beziehung zueinander steht. Jede Aktion bedingt eine Reaktion, aus der Konsequenzen folgen. Diese drei Komponenten sind eng miteinander verbunden und Ausdruck der Naturgesetze. Hierin wird die absolute Weisheit des Schöpfers und Seines Willens deutlich, indem alles in der Schöpfung nach Gesetzmäßigkeiten erschaffen ist, die wir als Naturgesetze bezeichnen.
Die Naturgesetze sind logische Wahrheiten und entsprechen dem Willen Gottes. Die Anerkennung und Einhaltung von Gottes Willen ist die Voraussetzung für inneren Frieden, Ausgewogenheit und wahre Freiheit. Das alles setzt wiederum voraus, dass wir die Wahrheit, die nur eine ist, erkennen, sie lieben und ihr dienen. Wenn man die Wahrheit missachtet, dann stellt man sich gegen den Willen Gottes und das führt meist zur Missachtung der Naturgesetze.
Die Konsequenzen daraus werden in drei Bereichen sichtbar: im persönlichen, im gesellschaftlichen sowie im kosmischen Bereich. Sie bringen die Abläufe im Mikro- und Makrokosmos aus dem Gleichgewicht. Die alltäglichen Beziehungen und Abläufe im Leben und die Funktionen der Systeme im Körper werden gestört. Daraus folgt ein Zustand der Krankheit.
Normalerweise merkt der Mensch, wenn seine Lebensfunktionen durcheinander geraten und dadurch Krankheiten entstehen. Aber nur wenigen Menschen ist bewusst, dass wegen des schlechten Umgangs mit der Natur die Harmonie des Kosmos aus dem Gleichgewicht gerät und daraus Katastrophen entstehen.
In der gesamten Schöpfung sind alle Teilchen eng miteinander verbunden, so wie die Zellen eines menschlichen Körpers. Hier verbindet der Blutkreislauf die einzelnen Zellen und gewährleistet den Informationsfluss und die Ernährung, da im Blut alle lebenswichtigen Dinge kreisen, wie Wärme, Flüssigkeit, chemische Verbindungen und andere Stoffe. So wie das Blut im Körper verbindet das Medium oder die Atmosphäre in der Natur alle Teilchen miteinander. Das bedeutet, dass die Erde ein lebendiger Organismus ist und dementsprechend funktioniert. In der Atmosphäre kreisen ebenfalls Wärme, Flüssigkeit/Feuchtigkeit, chemische Stoffe und Verbindungen sowie verschiedene Gase und Wellen, die sich selbst regulieren.
Ein Nadelstich löst im menschlichen Körper Schmerzen, Reiz und Schwellung aus. Dieser Zustand führt zu Veränderungen verschiedener Art im Körper und veranlasst die Kräfte des Körpers, sich auf diese Stelle zu konzentrieren, um sie zu heilen. Genauso ist es, wenn der Natur Störungen und Reize zugefügt werden. Es entstehen an dieser Stelle Ansammlungen verschiedener Kräfte, die durch das Medium oder die Atmosphäre an einer anderen Stelle zu einer Katastrophe führen.
Hier muss die Wahrhaftigkeit als Grundstein aller Tugenden hervorgehoben werden. Wenn man sich ihr verpflichtet, dann gehen daraus liebevolle, gerechte Taten hervor - was dem Willen Gottes entspricht. Das ist der Zustand der Freude, des Friedens, der inneren Freiheit und der wahren Gesundheit. Das Gegenteil davon ist der Zustand der Rebellion, des Leides, der Katastrophen und der Krankheit.
Die kleinsten nicht mehr teilbaren in der Natur vorkommenden Teilchen bezeichnet man
als Elemente, aus denen alle Daseinsstufen in
[Seite 34]
der Schöpfung Gottes - ob Mineral, Pflanze, Tier oder Mensch - zusammengesetzt sind.
Diese sind Feuer, Wasser, Erde und Luft. Jedes Element hat ein unveränderbares Wesen, das
zu den Grundwahrheiten gezählt und als dessen Temperament bezeichnet werden kann.
Das Wesen des Feuers ist heiß und das des Wassers feucht - Feuer erwärmt Wasser und
Wasser löscht Feuer! Das ist eine unumstößliche Grundwahrheit der Natur.
Wenn jetzt diese Elemente aufeinander wirken, dann entsteht ein angenommenes neues Temperament, das nie einzeln in der Natur vorkommt, als kombinierte Form, wie feuchtwarm oder feucht-kalt. Der Schöpfer hat für alle Daseinsstufen eine spezifische Aufgabe bestimmt und zu deren Erfüllung ein geeignetes Temperament erschaffen. Beim Menschen können diese angenommenen Temperamente durch Ernährung, das Alter, Klimawechsel, Krankheiten, Angst, Stress, psychische und physische Traumata verändert werden.
Alle in der Schöpfung vorhandenen Temperamente sind „angenommene (relative) Temperamente“. Folglich muss in der Schöpfung auch ein echtes (absolutes), unerreichbares Temperament existieren. Ein Temperament, das dem „echten“ am nächsten steht, ist am ehesten im Gleichgewicht.
Verglichen mit den anderen Daseinsstufen steht der Mensch diesem „echten“ Temperament am nächsten. Daher wurde er als Krone der Schöpfung bestimmt.
Durch das Aufeinanderwirken der kombinierten Temperamente entstehen bestimmte Substanzen mit spezifischen Säften. Diese enthalten feste und flüssige Bestandteile. Aus den festen Bestandteilen der jeweiligen Säfte entstehen spezifische Zellen (Nerven, Muskeln, Epithel), die sich durch weitere Entwicklungsprozesse zu spezifischem Gewebe organisieren, und daraus werden komplexe Systeme, wie das Nerven-, das Epithel- und das Muskelsystem mit ihren spezifischen Säften (Schleim, Soda und Safra/Galle). Sie sind die Hauptorgane oder Hauptsysteme im Körper und anteilig aus allen drei Hauptsystemen aufgebaut. Daher muss auch klar sein, dass die Zellen der Hauptorgane ein spezifisch kombiniertes Temperament haben (beispielsweise ist das Temperament von Nervenzellen feucht-warm oder feucht-kalt; von Muskelzellen trocken-warm oder trocken-kalt; von Epithelzellen warm-trocken oder warm-feucht).
Diese Zellen müssen sich ihrem Temperament entsprechend ernähren, damit sie am Leben bleiben, sich vermehren und ihre spezifischen Funktionen erfüllen können. Sie nehmen nur die Säfte oder die Nahrung aus dem Blut auf, die für ihr Temperament bestimmt sind. Alle komplexen Organismen haben diese drei Hauptorgane oder -systeme, die zusammen mit der Seele, dem Blut und dem Skelett einen funktionierenden Organismus ausmachen.
Alles Lebendige muss ernährt werden, und das Geheimnis der Nahrungsaufnahme und
der damit verbundenen Veränderungen ist folgendes: Die Nahrung passiert nach einiger
Zeit den Magen und landet im Darm. Hier wird sie ihre endgültige Form erreichen, die
einer milchähnlichen homogenen Flüssigkeit entspricht. Je nachdem, wie das Temperament
unserer Nahrung zusammengesetzt ist, verändern sich Zusammensetzung und
Temperament dieser Flüssigkeit. Sie enthält mehr oder weniger die Vorstufen aller
Säfte. Die feinsten Stoffe diffundieren durch die Dünndarmwand, durchlaufen die
Pfortader und erreichen die Leber. In der Leber werden sie durch deren Wärmeeinwirkung
in Ihre einzelnen Bestandteile zerlegt und gereift. Der
[Seite 35]
Rest bleibt im Darm und wird als Abfall ausgeschieden.
Um den Vorgang in der Leber sowie die Wichtigkeit und Wirkung von Wärme und Kälte im Körper zu verdeutlichen, soll folgendes Beispiel dienen: Kalte Milch ist homogen. Wird sie erwärmt, teilt sie sich in vier Bestandteile:
- Haut,
- sandförmige Kügelchen,
- Bodensatz,
- die eigentliche, alle Bestandteile zusammenhaltende Flüssigkeit.
Die Säfte, die durch die Wärme in der Leber entstehen und reifen, werden als natürliche (Schleim, Soda, Safra/Galle) bezeichnet. Sie kreisen im Blut und werden je nach Bedarf den jeweiligen Organen hinzugefügt. Im Krankheitszustand entstehen außerhalb der Leber unnatürliche Säfte, die miteinander vermischt werden und die Organe beschädigen können. Das natürliche Blut kann sich ganz nach Bedarf in verschiedenen Hauptorganen in unterschiedliche Formen verwandeln, um die spezifischen Aufgaben zu erfüllen.
Wie erwähnt haben die Hauptorgane ihre spezifischen Säfte, die einerseits das jeweilige Hauptorgan ernähren und andererseits nach Verwandlung durch dieses für das nächste Hauptorgan in diesem Kreislauf zur Verfügung stehen. Diese Säfte haben sichtbare und unsichtbare Bestandteile, wobei man letztere als Gase bezeichnen kann, die wir „Seele der Säfte“ oder „Vitale Kräfte“ nennen. Das bedeutet, dass jedes Hauptorgan eine spezifische Seele hat. Diese erzeugt durch ihre Einwirkung eine spezifische Kraft, die im Wesen der Menschen sichtbar wird und zur Geltung kommt. Die drei Seelen zusammen erzeugen die „Urkraft“. Die ist zu vergleichen mit der Explosion in einem Verbrennungsmotor, der die entstandene Kraft gebündelt auf das Getriebe weiterleitet und so alles in Bewegung setzt.
Und so exakt funktioniert dieses auf Ernährung basierende System in der Praxis: Alle Speisen mit Ihren verschiedenen Bestandteilen haben ein bestimmtes Temperament und reizen oder ernähren ein bestimmtes Hauptorgan im Körper. So erklärt sich das Geheimnis der Nahrung als Heilmittel. Wenn der Körper gesund und im relativen Gleichgewicht ist, sind die ursprüngliche Wärme, Feuchtigkeit und alle anderen Parameter ebenfalls relativ im Gleichgewicht.
Wenn aber durch einen übermäßigen Reiz (Brennen), also durch falsche Ernährung oder einen beliebigen anderen (Krankheits-) Verursacher, in einem System des Körpers Kälte und Trockenheit sowie erhöhte Kohlendioxid-Werte zustande kommen und der Körper dadurch aus dem Gleichgewicht gerät, veranlasst das Immunsystem den Kreislauf, vermehrt Blut zu dieser Stelle zu transportieren. So wird sie mit Wärme, Feuchtigkeit und anderen notwendigen Stoffen versorgt, bis der ursprüngliche Zustand wieder hergestellt ist.
[Seite 36]36
An dieser Stelle soll betont werden, dass in einem System, in dem ein Reiz ist, auch Kälte
und Trockenheit sind, es muss daher mit Wärme und Feuchtigkeit behandelt werden. Ein
Körper im relativen Gleichgewicht kann alles selbständig regulieren. Wenn ein Mensch sich
falsch ernährt und falsch verhält, so dass das Immunsystem seines Körpers irritiert wird und
er durch Medikation und verschiedene andere Maßnahmen lange Zeit symptomfrei gehalten wird
(Symptomfreiheit bedeutet nicht Gesundheit!), dann kann aus einer ursprünglich simplen
Temperamentveränderung eine Saftveränderung werden, die wiederum eine Organveränderung nach
sich zieht. Aus diesem langwierigen Prozess resultiert eine chronische Erkrankung.
Würde dieser Mensch durch Pulsdiagnose und Urinschau typisiert und zum Beispiel nach ayurvedischen Grundsätzen behandelt, so könnte er durch gezielte Ernährung und geänderte Verhaltensweisen zu seinem ursprünglichen gewünschten Temperament und Gleichgewicht zurückkehren und echte Gesundheit erlangen.
Fazit:
Die ganzheitliche Heilkunst im Sinne der oben genannten Prinzipien hilft dem Körper im Einklang mit den Naturgesetzen und Grundwahrheiten zu agieren. Sie hilft, das, was im Körper zu viel ist, auszuscheiden und andererseits das, was ihm fehlt, durch gezielte Ernährung wieder zuzuführen. Die Ernährung ist der Mittelpunkt der Therapie, weil die Nahrung durch den Prozess der Verdauung selbst ein Teil des Körpers wird und somit die Biochemie des Körpers verändert.
Die vielfältigen anderen Therapiemöglichkeiten, ob medikamentös, physiotherapeutisch oder durch Akupunktur, die nicht die oben beschriebene gezielte Ernährung in den Mittelpunkt stellen, werden bei dieser Betrachtung der Dinge nicht als selbständige Methode angesehen, da sie auf Dauer keine „wirkliche“ Heilung bewirken können. Sie dienen jedoch als sehr hilfreiche Unterstützung, die nicht unterschätzt werden darf.
- Dr. med. Amir Bahrinipour
- ist praktizierender
- Ayurveda-Arzt
Hauptsache gesund?[Bearbeiten]
Das Menschenbild eines Gläubigen relativiert das Streben nach Gesundheit. Wie kann man herausfinden, was einem Menschen besonders wichtig ist?
Die direkte Frage führt nicht wirklich zum Erfolg. Sie löst einen Denkprozess aus, an
dessen Ende, wenn überhaupt, eine mehr oder weniger differenzierte, auf jeden Fall aber
kontrollierte Antwort steht, die durchaus unterschiedlich ausfallen kann, je nach dem, wer
gefragt hat. So wird die Antwort bei einem Bewerbungsgespräch anders lauten als am
Stammtisch. Erfolgversprechender scheint es da zu sein, Standarddialoge in einer
Standardsituation unter die Lupe zu nehmen. Zum Beispiel eine Geburtstagsgratulation. Er:
„Ich wünsche Dir für das neue Lebensjahr alles Gute und vor allem Gesundheit.” Sie darauf:
„Ja, das ist das Allerwichtigste. Was wären wir ohne Gesundheit.” Da sich diese Redewendung
jederzeit reproduzieren lässt und immer wieder so oder so ähnlich abläuft, kann man
davon ausgehen, dass sehr viele Menschen davon überzeugt sind, Gesundheit sei das
Wichtigste im Leben. Und in dem Augenblick, in dem es gesagt wird, sind auch alle
Beteiligten davon überzeugt, dass es stimmt. Hauptsache, man ist gesund.
Aber hält diese Meinung einer Überprüfung stand? Das kann man am ehesten herausfinden, indem man die Worte mit den Handlungen vergleicht. Ist Gesundheit wirklich der höchste Wert, dann müssten sich Menschen dementsprechend verhalten oder bestimmte Verhaltensweisen als Fehler erkennen und korrigieren. Ist das so?
Viele Menschen arbeiten zu viel. Für Ihren Beruf schaden sie ihrer Gesundheit. Und sie wissen das auch. Eltern opfern sich auf für ihre Kinder und Kinder für Ihre Eltern. Und das ganz bewusst. Für den Sport, das Hobby, ein Abenteuer nehmen viele ein hohes Risiko auf sich. Wie viele Menschen hungern sich krank, um einem bestimmten Schönheitsideal zu genügen oder greifen zu Mitteln, die nicht frei von Nebenwirkungen sind. Spätestens bei der nächsten Tüte Pommes ist die Frage erlaubt, ob Gesundheit wirklich das Größte ist. Und was ist mit denen, die sich unter Einsatz ihres Lebens für eine gute oder gerechte Sache einsetzen? Wie viel ärmer wäre unsere Welt ohne sie?
Offensichtlich gibt es noch andere Werte, die mit der Gesundheit in Wettstreit um Platz
1 treten. Der Versuch, die Meinung aus einer Standardsituation als Grundlage für die
Frage nach dem Wert der Gesundheit zu nehmen, greift zu kurz. Auf die Frage: Was ist für
dich das höchste Gut? gibt es offensichtlich verschiedene Antworten: Freiheit, Schönheit,
Gesundheit, Genuss, Entspannung, aber auch Gerechtigkeit, Frieden, Liebe, Treue und vieles
mehr. Lässt sich bei so unterschiedlichen Werten eine Gemeinsamkeit finden? Ein verbindendes
Glied oder so etwas wie ein kleinster gemeinsamer Nenner? Es gibt eine Wurzelfrage, aus der
alle anderen entspringen: Was ist der Mensch? Von der Antwort auf diese Frage
[Seite 38]
hängt die Entscheidung für das höchste Gut oder der Stellenwert der Gesundheit ab. Was
würde ein Bahá’í antworten, fragte man ihn, was ist der Mensch? Er würde vielleicht aus
einem Gebet zitieren, das Bahá’í überall auf der Welt einmal am Tag beten und in dem es
heißt: „Ich bezeuge, o mein Gott, dass Du mich erschaffen hast, Dich zu erkennen und
anzubeten.“
Zwei Wesensaussagen lassen sich hier erkennen:
- 1. Der Mensch ist ein Geschöpf Gottes.
- 2. Sinn und Ziel des menschlichen Lebens
sind, dass der Mensch seinen Schöpfer erkennt und ihn anbetet. Mit dieser Antwort befindet sich der Bahá’í in bester Gesellschaft. Der heilige Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, schreibt 1548 in seinem berühmten Exerzitienbuch: „Der Mensch ist erschaffen, um Gott, unseren Herrn zu loben, ihm Ehrfurcht zu erweisen und ihm zu dienen und mittels dessen seine Seele zu retten.“
Und wer jemals in früheren Zeiten Katechismusfragen auswendig lernen musste, wird sich an ganz ähnliche Formulierungen erinnern. Festzuhalten ist die Antwort unseres Bahá’í auf die Frage nach dem Menschsein: Gott hat mich erschaffen, Ihn zu erkennen und anzubeten. Von diesem Satz leiten sich alle anderen Sätze ab, auch die über den Stellenwert der Gesundheit. Das soll nun im Folgenden näher beleuchtet werden. Hilfreich kann es hier sein, noch einmal bei Ignatius nachzuschlagen, denn bereits er zieht weitreichende Konsequenzen aus dem Wurzelsatz: „Und die übrigen Dinge auf dem Angesicht der Erde sind für den Menschen geschaffen und damit sie ihm bei der Verfolgung des Ziels helfen, zu dem er geschaffen ist. Daraus folgt, dass der Mensch sie so weit gebrauchen soll, als sie ihm für sein Ziel helfen und sich soweit von ihnen lösen soll, als sie ihn dafür hindern.“ Das bedeutet, der Wurzelsatz relativiert alles, auch den Stellenwert der Gesundheit. Um das zu verstehen, muss man die Aussagen des Gebets genau betrachten. Die erste lautet, dass Gott den Menschen erschaffen hat - mit Leib, Geist und Seele.
In einem Menschen kommen wie in einem Schmelztiegel drei Welten zusammen: Leib, Seele und Geist bilden eine Einheit und müssen das rechte Maß zueinander finden. Allen gemeinsam ist, dass sie der Pflege und Fürsorge bedürfen, um sich entwickeln zu können und dass sie verkümmern, werden ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigt. Dem Leib zugeordnet ist die Gesundheitspflege, dem Geist die Psychohygiene und der Seele die Spiritualität. Erleiden eine oder mehrere einen dauerhaften Mangel, dann nehmen sie Schaden, unser Wohlbefinden verschlechtert sich, der Mensch wird krank.
Die zweite Aussage, dass Gott der Schöpfer ist und wir Seine Geschöpfe sind, ist nicht nur eine Wesensbestimmung, sondern damit werden eine Stufe und eine Rangfolge festgelegt. Als Schöpfer bestimmt Er Sinn und Ziel Seiner Schöpfung. Diese sind uns bekannt und werden in den Religionen der Welt mehr oder weniger gleich beantwortet: Lernen, Ihn zu erkennen und anzubeten. Da wird in Worte gefasst, was jeder Mensch am eigenen Leib erfährt: Wir sind prozesshaft angelegt. Das Leben fängt klein an und entwickelt sich, wächst, nimmt zu an Alter und Weisheit und ist - folgt man gedanklich der von der Religion vorgelegten Wesensbestimmung - zu einem Ziel hin unterwegs. Da Gott uns aber offensichtlich nicht nur auf ein Ziel hin erschaffen, sondern auch mit Freiheit ausgestattet hat, können wir unseren Weg zielstrebig verfolgen oder auch nicht. Wir können Umwege und Abwege einbauen, ja uns sogar ganz davon verabschieden und eigene Wege gehen. Was wir nicht ändern können ist, dass wir unterwegs sind und uns täglich entwickeln. Selbst der Tod beendet nach dem Bahá’í-Glauben diesen Prozess nicht.
Wenn es - dritte Aussage - das Ziel des Prozesses ist, Gott zu erkennen und anzubeten, dann
ist es die Seele, die das Wesen des Menschen auszeichnet. Nach Bahá’í-Verständnis ist die
Seele göttlich und letztlich unbegreiflich, so wie Gott unbegreiflich ist. Was weiß ein
Geschöpf über das Wesen seines Schöpfers? Die
[Seite 39]
Seele lebt ewig und befindet sich auf einer endlosen Reise zu Gott, während der Körper
schließlich wieder in seine Elemente zerfällt. In diesem seinem irdischen Leben soll der
Mensch nach Entwicklung, Geistigkeit und Vervollkommnung streben, um Gott näher zu
kommen. Auf diesem Weg braucht die Seele Ausdrucksformen. In einer stofflichen Welt
braucht sie stofflich leibliches Leben, um sich zu gestalten und zu entfalten. Wie sollte
sie auf der Erde unterwegs sein ohne Füße? Wie sollte sie sehen ohne Augen? Lieben lernen
ohne Geist, Phantasie, Sprache, Bewegung, Zärtlichkeit?
Die Seele gestaltet sich im menschlichen Geist und in seinem Körper. Darum kommt beiden eine so große Bedeutung zu. Der Geist entwickelt die sozialen, emotionalen, zwischenmenschlichen und intellektuellen Seiten des Lebens, und er tut dies In einem Körper. Der Geist braucht Verstand und der Verstand ein Gehirn, ein Nervensystem, Muskeln, Knochen, Gelenke, Blut, Herz, kurz, er braucht einen Körper. Und werden nicht auch die elementarsten Emotionen wie Liebe und Geborgenheit durch den Körper vermittelt, durch Berührung, Mienenspiel, eine Umarmung, einen Kuss? Um sich wirklich ausdrücken zu können, um weiter zu kommen auf dem Weg zu ihrer Wesensbestimmung, braucht die göttliche Seele im Menschen einen Körper und einen Geist. Und man mag ergänzen: einen gesunden Körper und einen gesunden Geist.
Was ist Gesundheit? Das irdische Leben ist, so haben wir gesehen, die Raum-Zeit-Komponente, in der ein Mensch sich entfalten und entwickeln kann. Ist der Körper nun das Instrument, auf dem Geist und Seele die Melodie des Leben spielen, so muss, um im Bild zu bleiben, das Instrument gestimmt sein, um Wohlklang zu erzeugen. Nur auf einem gestimmten Instrument kann ein Musiker wirklich spielen. Stimmen bedeutet ins Gleichgewicht kommen. Alle Komponenten müssen so aufeinander abgestimmt sein, dass sie zueinander passen, ineinander greifen und miteinander harmonieren. Kann das nicht exakt eine Definition von Gesundheit sein? Sich Im Gleichgewicht zu befinden. Und Krankheit wäre dann, das Gleichgewicht verloren zu haben.
Krankheiten bringen Schmerzen und Leid mit sich, das Leben kann zur Qual werden. Schon deshalb bedarf der Mensch der Heilung, auch und gerade, weil Krankheiten unausweichliche Erscheinungen im Leben sind. Im Sinne eines gläubigen Bahá’í verfolgt Heilung das Ziel, den Menschen in Ansätzen von Leid und Krankheit zu erlösen und ihm folglich eine Hilfestellung zu geben, sich im Leben wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren, unterwegs zu sein zu seinem Schöpfer. Zugleich gilt, dass die Seele nach dem Verständnis der Bahá’í nicht abhängig ist von Gesundheit. Mag der Geist von einer Krankheit beeinträchtigt und im Falle einer Ohnmacht sogar zeitweilig ausgeschaltet sein, so trifft das die Seele nicht. Sie geht jenseits von Krankheit und Behinderung ihren Weg, sie selbst kann nicht krank werden!
Das ist ein dialektischer Spagat, der nicht ganz einfach auszuhalten ist. Auf der einen Seite bedient sich die Seele der Körper-Geist-Einheit, um sich in der Welt auszudrücken und zu entfalten und bedarf so gesehen körperlicher und geistiger Harmonie. Das macht das Streben nach Heilung und Gesundheit auch jenseits eines Körperkultes zu einem hohen Wert. Auf der anderen Seite ist sie nicht abhängig davon und weiß, selbst unsterblich, um die Vergänglichkeit der Körpers. Das wiederum relativiert das Streben nach Gesundheit. Das Leben zu bejahen und sich daran zu erfreuen und gleichzeitig nicht an ihm zu hängen: Das ist die hohe Kunst, welche die Seele lernen muss. So zumindest will es ihr Schöpfer.
„Ich bezeuge, o mein Gott, dass Du mich erschaffen hast, Dich zu erkennen und anzubeten. Ich bezeuge in diesem Augenblick meine Ohnmacht und Deine Macht, meine Armut und Deinen Reichtum. Es gibt keinen Gott außer Dir, dem Helfer in Gefahr, dem Selbstbestehenden.“ (Bahá’u’lláh)
- Thomas Schaaff
- Dipl. Theologe und Pädagoge,
- verheiratet,
- seit dem Jahr 2000 Bahá’í
- Arbeitet als Meditationslehrer