One Country/1995 Nummer 4/Text

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Heft 4/ 1995 Magazin der Bahá’í International Community

tzv Erdc is! mu cm Land, mid al/c Almmlwn smd svinc Btiljgvrmv — Bahiu‘lldh





Statement >>Menschheit am Wendepunkt<< — Aufruf zu Weltgipfel über Global Governance






i 8

Hearing in Berlin über >>Globa1 Governance<< —Auftakt einer weltweiten Diskussion

4 3'1 9 14

Weltfrauenkonferenz: Agenda fiir die neue Macht der Frauen







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Interview mit Farah Dustdar: >>Abschied von der Macht<<

















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Frauen—NGO—Forum in China: »Ein Fest der Frauem












‘21

Rezension: H.B. Danesh: >>Die Psychologie der Geistigkeit<<










Schwerpunkflhemen: Ilene Macht der Frauen Unterwegs zu Weltgipfel


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wird vierteljéhrlich herausgegeben von der »Bahá’í International Community«, die ais Nicht- -Regierungs- Organisation bei den Vereinten Nationen die weltweite Bahá" 1-Gemeinde reprasentiert FIJI weitere Informationen zu den einzeinen Beitrégen dieser Zeitschrift oder zur Arbeit der Bahá’í international Community wenden Sie sich bitte an die deutsche Redaktion oder an:

ONE COUNTRY, Office of Public Information - Baha'l international Community ~ Suite 120, 866 United Nations Plaza, New York, New York 10017 U SI A E—mail:1country@bIcIorg

Chefredakteur: Brad Pokorny. Chef vom Dienst: Ann Boyles. Auslandsredaktionen: Nancy Ackerman (Moskau), Christine Samandari-Hakim (Paris), Kong Siew Huar (Macau). Guilda Walker (London) Redaktion der deutschsprachigen Ausgabe: Walter Fritzsche, Saba Khabirpour Stephan Pernau, Jens- Uwe Rahe, Ellen Skupin, Peter Spiegel. Übersetzer: Peter Hoerster Heide Otto Gamer Maltz, Margit Mares, Gitta Schumann, Stephanie ThomsI Redaktionsanschrift: ONE COUNTRY Deut sche Redaktion, Efipsteiner Str. 89, D 65719 Hofheim- Lang an an Germany,Te1efon _49 6192- 99290, Fax “196192992999. Herausgeber der deutschsprachigen Ausgabe: Der Nationale Geistige Rat der Bahá’í in Deutschland e.V.

Einzelheft: DM 4,-/5Fr 4,465 28,-, Jahresahonnement (4 Ausgaben): DM 15,-/SFI 15,/6$ 100,» (inklusive MWSt und Portokosten). Die Zeitschrift ONE COUNTRY kann direkt bei der Redaktion bestelit werden. Copyright 1995 by Bahá’í International Community ISSN 0945-7062.

Gedruckt auf chlorfreiem Papier.

ONEL OUNTRY O 4/1995

Editorial


Aufruf zu einem Weltgipfel über Global Governance

D35 20.}ahrhundert is: durch Umwiilzungen,Revolut10ncn sowic die radikalc Abkehr V011 deerrgangenheit gckennzeichnct. Angefangen 1111t dem Zusammenbruch des K01011ialsystems und der grOBen Reiche dc‘s 19.];1hrhunderts bis zum Aufsticg und Zusammenbruch katastrophaler Experimente n'1itTotalitaris111us, Faschismus und K011111111nismus waren einige dieser Umwiilzungen besenders zerstérerisch.

Anders Bewegungen und Trends waren offensichtlich positiver. Wissenschaftliche Entdeckungen und neue soziale Einsichten haben V1616 fortschrittliche sozialeavirtschaftliche und kulturelchandlungen vorangetrieben. DicWege 31nd geebnet worden für neue Definitionen von Menschenrechten und die Sicherung der persönlichen Wtirde, für ausgedehnte Möglichkeiten zu individuellen und kollektiven Leistungcn und mutige neue Möglichkeiten für die Erweiterung des menschlichen Wissens und Bewußtseins.

Diese beiden Prozesse, der Zusammenbruch alter Institutionen einerseits und das Aufbliihcn neuer Denkweisen andererseits, 51nd Hinweise auf 611161] einzigen Trend, der in den letztcn 100 jahren an Schwung gewonnen hat: demTrend nach stiindig zunehmender Interdependenz und Integration der Menschheit.

Wfihrend diese Zwillingsprozesse V011 Zusammenbruch und Erneuerung derzeit kulminiercn, bot der 51).];ihrestag der UNO die Gelegcnhcit, innezuhalten und darüber nachzudenkcn,wie die Mcnschheit ihrer Zukunft genwinsam entgegenschen k6m1tc Die Pcrspektive der Bahá’í International C 011111111111ty basiert auf drei GrundvoraussetzuI1gen:

Erstens 1111155611 Diskussionen über die Zukunft der UNO innerhalb des umfilssenden Komextes der Entwicklung einer internationalen Ordnung und ihrer Zielrichtung

stattfinden. Die UNO hat sich gemeinsam mit :mderen großen Institutionen des endemden 20.jahrhunderts entwickelt. Innerhalb dieser Gesamtheit werden diese Institutionen die Entwicklung der internationalen Ordnung definieren und selber dadurch geformt warden. Deshalb sollten Aufgabe, Rolls, Funktionsprinzipien und sogarAktivitiiten der Vereimen Nationen cinzig danach untersucht werden, wie sie mit den umfassenden Zielsetzungen der internationalen Ordnung übereinstimmen.

Zu einer evolutioniiren Einstcllung gehört die Fiihigkeit, sich eine Institution vorzustellen, die ihre grundlegenden EntwickIungsprinzipien definieren, Cine langfi'istige Strategie formulieren und wirkungsvoll durchführen kann und dabei zugleich radikale Diskontinuitfiten aufihrem Ifad bewiltigen kannI

Zweitens istjeder Mensch in dieWelt 2115 6111 Pfand des Ganzen geboren, weil die Menschhcit eins und untcilbar ist. Diese Beziehung zwischen Individuum und Gemeinschaft bestimmt die moralische Grundlage der meisten Menschenrechte, welche dicVereinten Nationen zu definieren versuchen.

Die Mcnschheit hat als eine organische EinheitEntwicklungsstufh1 durchlautEILana10g zu den Phasen der Sliuglingszcit und Kindheit 1m Leben 1hrcr cinzelnen Mitglieder. Sie befindct sich 111111 auf dem H6116punkt ihrer bewegtenAdoleszenz und 11;"ihert sich ihrer langersehnten M1111digkeit. Der PFOZC‘B globaler Integration — in den Bcrcichen Wirtschaft, Finanzen und Kommunikation schon Realitét — beginnt nun auch 111 der politischen Arena sichtbar 211 werden.

D3 die Souveriiniteit 1111 Augenblick bci den Nationalstaaten liegt, sind die Staatsobcrhiiuptcr und Regierungen zu der Aufgabe vcrpflichtet, die gonaue Struktur der autkmn


Scitc 2

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menden internationalen Ordnung zu bestimmen. Die Bahá’í International Community (BIC) rufi die politischen Entscheidungstréger aufallen Ebenen dazu auf, eineVersammlung der Staatsoberhiiupter vor Ende dieses jahrhunderts zu unterstützen. Diese Weltversammlung sollte beschließen, wie die internationals Ordnung neudefiniert und neustrukturiert werden könnte, um den Heraus{orderungen der einen Welt zu begegnen. Es ist bereits vergeschlagen werden, daß diese Versammlung >>We|tgipfe| fUr Global Governance<< genannt werden kdrmte.

Drittens muß die Diskussion über die Zukunft der internationalen Ordnung die gesamte Menschheit einbeziehen und begeistern. Diese Diskussion ist von solcher Bedeutung, daß sie nicht auf die Entscheidungstréger beschr’énkt werden kann, seien sie aus Regierung, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion Oder Organisationen der Zivilgesellschaft. Im Gegenteil, an dieser Beratung müssen sich Frauen und Männer der Basis aktiv beteiligen. Umfassende Beteiligung Wird durch das Wachsen eines Weltbürgerbewufitseins Rückkopplungen erzeugen und die Unterstiitzung für eine erweiterte, gefestigte und demokratische globale Ordnung verstiirken.

Beim Entwurf eines spezifischen Rahmens für diese zukünftige internationale Ordnung sollten die Entscheidungstrfiger eine große Bandbreite von Möglichkeiten für eine globale Ordnungspolitik imAuge haben. Statt nach einem einzigen der bereits bestehenden Systeme geformt zu sein, könnten innerhalb eines abgesteckten Rahmens wertvolle Elements, die sich injedem einzelnen der Regierungssystcme finden, miteinander in Einklang gebracht und aneinander angepaßt werden.

Eines der historisch erprobten Regierungsn10delle,das dieVerschiedenartigkeit der Welt innerhalb eines einigenden Rahmens einpassen könnte, ist das fdderative System. Féderalismus hat sich bei der Dezentralisierung der Autoritait und der Entscheidungsfindung in großen, komplexen und heterogenen Staaten als effektiv erwiesen,während es einen unverzichtbaren Grad aflgemeiner Einheit und Stabilitét beibehailt. Ein weite Menschhtei > am Wendepunkt

myrder Vereinten Nationen - , , und einem “ gypfel fUr G-Iobai Governance

Statgment der" , tematxonal Commumty ,


Die vollstcmdigc deutsche Ausgabe dieses Statements emheint Anfang 1996

res, der Untersuchung wertes Modell, ist das C0mmonwealth,das aufeiner globalen Ebene das Interesse des Ganzen vor das Interesse irgendeiner einzelnen Nation setzt.

Bei dem Entwurf der Struktur der internationalen Ordnung muß besondere Sorgfalt darauf verwendet werden, daß sie nicht im Laufe der Zeit zu irgendeiner Form des Despotismus, der Oligarchie Oder der Demagogie entartet und so das Leben und dieVerfahrensweise der einzelnen politischen Institutionen korrumpiert.

Als man im Jahre 1955 nach dem ersten Jahrzehnt einen Riickblick aufdie Charta der UNO hielt, bot die Bahá’í International Community den Vereinten Nationen ein

Statement an, das auf den von Bahá’u’lláh,

dem Stifter der Bahá’iReligion, vor fast einemjahrhundert ge'éluBerten Gedanken basierte. »Das Bahá’í. Konzept einerWeltordmung wird in diesen ' Worten definiert: ein Welt—Überstaat, an den alle Nationen der Erde freiwillig den Anspruch, Krieg zu führen, gewisse Rechte der Erhebung von Steuern und 3116 Rechte auf Kriegsriistung außer zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung in ihren Gebieten abtreten. Dieser Staat wird Cine internationale Exekutive einschließen müssen, deren demokratisch legitimierte Beschlfisse Bindekraft für alle Glieder der Weltgemeinschaft besitzen, ein Weltparlament, dessen Mitglieder durch das Volk aller Lander gewfihlt werden und deren Wahl von den jeweiligen Regierungen bestzitigt wird; ein Ob€rster Gerichtshof, dessen Urteilsspruch selbst in jenen Féllen bindend sein wird, in denen die Parteien ihren Streit nicht freiwillig seiner Rechtsprechung unterwerfen. Wdhrend die Bahá’í einerseits überzeugt sind, c138 diese Formulierung einer Weltregierung gleichzeitig den besten Schutz und das Ziel der Menschheit darstellt, anerkennen sic, daß dies dieWeltgesellschaft erst längerfristig erreichen wird.Wegen der Dringlichkeit der gegenwértigen Weltprobleme braucht die Welt jedoch bereits jetzt kfihne, praktische und durchfijhrbare Strategien fijr cine Global Governance, die über ZukunftsVisionen hinausgehen. CI


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»Die Bahá’í International Community ruft die politischen Entscheidungstréger auf allen Ebenen dazu auf, eine Versammlung der Staatsoberhéupter vor Ende dieses Jahrhunderts zu unterstUtzen. Diese Weltversammlung sollte beschließen, wie die internationale Ordnung neudeflniert und neustrukturiert werden könnte, um Herausforderungen der einen Welt zu begegnen. [Seite 4]


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»Menschheit am Wendepunkt<<, ein I Statement der Bahá‘l International

Community anlaßlich des 50‘ ,)

Jahrestages der UNO, wird der

Vize—Generalsekretérin der

Vereinten Nationen, Gillian Sorensen (Bildmitte), am 50. e e “n (‘ GrUndungstag Überreicht. Links:

Bani Gujral Dugal, Représentantin

der Bahá’í International

Community. Rechts: Techeste

Ahderom, derLeiterdesgumsder Übergabe eines Statements der Bahá’í International gfnhmggfigjgotggvvgflfiu“„y Community 20 einer systematischen Reform der Vereinten Nationen an die politischen Entscheidungstrager - Vorschlag zur konkreten Umsetzung: ein >>We|tgipfe| Über Global Governance<< noch vor dem Jahre 2000

New York — ln ihrem neuen Statement Welt auf, kiihne Schritte zu unternchmen, >>Mcnschheit am Wendepunkm erklzirt die um den Vereinten Nationen die unumgzingInternationale Bahá’í—Gemeinde,da8 dieVer- liche globale Koordination besser zu ermögeinten Nationen neu definicrt und struktu— lichen.

riert werden müßten, um die Problems der Dss Dokument wurde anliiBlich des 50. Welt nach dem Ende des Kalten Krieges bes- jahrestages der UNO herausgegeben und forscr zu bewfiltigen. Sic fordert die Führer der dert die Staatsoberhfiupter auf, einen Welt


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gipfel über »Global Governance<< noch vor dem Ende desjahrhunderts einzuberufen. Ein solcher Gipfel sollte es 315 sein Ziel betrachten, auf breiter Grundlage die internationale politische Struktur so zu gestalten, daß sie den Bedürfnissen einer zunehmend integrierten und gegenseitig abhéingigen Weltgesellschaft Rechnung trägt.

Warum nur nach Katastrophen Iernen?


»Die Internationale Bahá’í—Gemeinde betrachtet die gegenwértige Verwirrung in der Welt und den beklagenswerten Zustand der Menschheit als einen natürlichenVorgang in einem organischen Prozeß, der schließlich und unaufhaltsam zur Vereinigung der Menschheit in einer einzigen Sozialordnung führen wird, deren Grenzen mit denen des Planeten zusammenfallem, heißt 65 im 22seitigen Statement mit dem Titel »Menschheit am Wendepunkw.

Waiter heißt 65: »ES waren die Schrecken des Ersten und des Zweiten Weltkrieges, die denVölkerbund und dieVereinten Nationen entstehen ließen. Ob die weitere Entwicklung erst nach ähnlichen unvorstellbaren Schrecken erreicht werden wird Oder als ein Willensakt der Beratung erfolgt, ist dieWahl, V0r der alle Erdenbewohner stehen. Es Weire gewissenlos und unverantwortlich, wenn wir beim entschiedenen Handeln versagen 5011term

Das Statement nennt eine Reihe ziigig umsetzbarer Schritte, die die Staatschefs der W€lt ergreifen könnten, um in einem ersten Schritt die Vcreinten Nationen zu stärken. Dazu gehören die Begrenzung desVetoreChtes im Sicherheitsrat sowie die Möglichkeit, den Beschlfissen derVollversammlung Gesetzeskraft zu geben. Gleichzeitig. wird ein behutsames Vorgehen bei den Überlegungen empfohlen, wie die internationale Ordnung abngauer effektiver strukturiert werden kénn[6.

Die Entscheidungstréger in der Politik werden ermutigt, hierbei auch verstärkt die Biirger einzubinden. »Diskussionen über die Zukunft der internationalen Ordnung müssen die Menschheit 315 Games einbeziehen und sie auch begeisterm, heißt cs da. 516 diirften nicht allein den führenden Persönlichkeiten überlassen bleiben, seien sie in den Regierungen, der Wirtschaft, der Akademikerschaft, der Religion Oder den Organisationen der Zivilgesellschaft.

»Diese Beratung muß im Gegenteil den Mann und die Frau an der Basis beschiiftigen. Eine breitgeflicherte Beteiligung würde bei diesem Prozeß einen Rückkopplungseffekt erzeugen, wodurch das Bewußtsein fijr

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die Weltbürgerschaft Wichst und die Unterstiitzung für eine erweiterte internationale Ordnung zunimmt<<, heißt es im Statement.

In nzichster Zeit wird das Statement an Regierungsmitglieder, Organisationen der Zivilgesellschaft, Institute, Bildungseinrichtungen und führende Persönlichkeiten durch ein weltweites Netz V0r1 172 nationalen Bahá’í—Gemeinden verteilt werden, sagte Techeste Ahderom, der Leiter des Bijros der Bahá’í International Community bci denVereinten Nationen:

»Bei einer möglichst breitgestreuten Verteilung des Dokumentes ist es unser Ziel, nicht nur zuf Diskussion über die Notwendigkeit von Anderungen der internationalen Ordnung und der entsprechenden Strukturen anzuregen,sondern auch über dieWerteordnung, die für die neue Weltordnung und besonders fijr ihre Führungspersbnlichkeiten notwendigerweise gelten muß. »Zwar gibt es heute zum 50.]ahr ihres Bestehens viele Aufrufe und Vorschliige zur Reform und Neustrukturierung derVereinten Nationen, man kann aber die Maßnahmen und Strukturen für eine Weltregierung nicht eigentlich in Betracht zichen, ehe man nicht Prozesse in Gang gesetzt hat, die die ganze Menschheit an der Diskussion beteiligem, meint Techeste Ahderom. »Ohne eine solche breite und aufgeklairte Beteiligung lziuft man Gefahr, auf der internationalen Ebene die ausgehéhlten und oft korrupten Strukturen zu wiederholen, die es heute aufnationaler und regionaler Ebene gibt. Als einlcitende Schritte zur Starkung der Vereinten Nationen schleigt die Bahá’í International Community vor, daß die politischen Entscheidungstrüger folgende Maßnahmen sofort einleiten:

O Anderung des Wahl- und Abstimmungsverfahrens in der Vollversammlung, damit sie die Menschen der Welt gerechter vertritt. Ihre Resolutionen sollten in einem begrenzten Bereich Gesetzeskraft erlangen, wobei sie aufanderemWege Wirksam durchgesetzt werden sollten als aufj enem VOI1 Sanktionen.

O Begrenzung des Vetorechtes der stfindigen Mitglieder des Sicherheitsrates, so daß dieses nur noch für seinen ursprünglichen Zweck genutzt werden kann, némlich den Sicherheitsrat daran zu hindern, militirische Gewalt gegen eine stindiges Mitglied zu beschließen Oder diese Gewalt gegen seinen Willem anzuwenden.

O Schaffung einer unabhängigen bewaffneten Streitmacht, die dem Sicherheitsrat verantwortlich ist und dem Befehl des

»Zwar gibt es heute zum 50. Jahr ihres Bestehens viele Aufrufe und Vorschlége zur Reform und Neustrukturierung der Vereinten Nationen, man kann aber die Maßnahmen und Strukturen fUr eine Weltregierung nicht eigentlich in Betracht ziehen, ehe man nicht Prozesse in Gang gesetzt hat, die die ganze Menschheit an der Diskussion

beteiligen.Techeste Ahderom, Bahá'l International Community


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J)

Das Gebaude der Vereinten Nationen in New York, festlich erhellt anléBlich des SO-jährigen UNO-Jubiléums

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Generalsekretérs untersteht. Si€ client zur Unterstiitzung von Friedensoperationen.

O Ausweitung der Jurisdiktion des Weltgerichtshofes als Vorbereitung für die Zeit, da die Urteile des Gerichtshofes für Staaten bindend und durchsetzbar sein werden. Ein erster Schritt wäre es,wenn auch Unterorganisationen der UNO und nicht nur Staaten ermiichtigt würden, den Gerichtshofanzurufen.

O Einberufung eines Ausschusses zum Studium von Grenzstreitigkeiten mit dem Ziel,nationale Grenzen verbindlich festzulegen, damit anstehende Forderungen von Irredentisten aufhören, eine Ursache f Lir Kriege und Konflikte zu sein.

O Konkrete Planungen zur EinfUhrung einer Welthilfssprache als Mittel verbesserter Kommunikation und zur Einsparung von Finanzmitteln, da der Prozeß der globalen Koordination inzwischen weir fortgeschritten ist.

O Beginn einer Kampagne zur Durchsetzung der Agenda 21 (des globalen Umweltpaktes, der aufdem Erdgipfel in Rio 1992 beschlossen wurde) und der Resolutionen des WeIt-Sozialgipfels vom Frühjahr 1995 in Kopenhagen. Dieser Kampagne sollte unter anderem dadurch Schwung gegeben werden, daß eine umfassende Neubewertung und Überprfifung der Bretton—Woods—Institutionen (Internationaler Wéhrungsfonds, IWF,

und Weltbank) erfolgt, was ein Anfang wäre, um die tiefliegenden Problems der globalen wirtschaftlichen Sicherheit endlich wirkungsvoll anzusprechen.

Solche Veriinderungen sind deshalb notwendig, heißt es im Statement, weil die Doppelprozesse des Zusammenbruchs und der Erneuerung der Notwendigkeit einer globalen Koordination eine neue Dringlichkeit verliehen haben.

>>Obgleich dieVereinten Nationen fraglos eine Rolle dabei gespielt haben, einen drittenWeltkrieg zu vermeiden, so sind doch die letztcn fiinfjahre von zahlreichen 6rtlichen, nationalen und regionalen Konflikten gekennzeichnet gewesen, die Millionen von Menschenleben gekostet haben. Kaum hatten die verbesserten Beziehungen zwischen den Supermichten die ideologische Motivation für Konflikte beseitigt, als auch schon lange schwelende ethnische und sektiererische Leidenschaften aufbrachen und neue Großbr'énde erzeugten.


Was die soziale Frage anbetrifft,so f'éhrt das Dokument fort, bestehen weiterhin schwerwiegende Problems. »Der sich alarmierend ausbreitende militante Rassismus und Fundamentalismus, das krebsartigeWachstum


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des Materialismus und die epidemieartigeVerbreitung von Verbrechen und organisierter Kriminalita't sprechen eine eigene Sprache. Hinzu kommen die verbreitete Zunahme sinnloser Gewalt, der sich weiter vertiefende Graben zwischen Arm und Reich, die den Frauen weiterhin zugemutete Ungleichbehandlung, der zwischen den Generationen verursachte Schadcn durch den Zerfall des Familienlebens, die unmoralischen Exzesse eines ungezfigelten Kapitalismus und die wachsende politische Korruption.« ..

Das Dokument fordert, daß jede Überpriifung derVereinten Nationen unter einem weiten, evolutionéren Blickwinkel erfolgen sollte.

»Wenn man sie isoliert von der historischpolitischen Realit'ét betrachtet, werden die Vereinten Nationen immer ineflektiv erscheinen.Wenn sie aber als ein Element eines größeren Entwicklungsprozesses auf dem Wege zu einem System der internationalen Ordnung betrachtet werden, wird sich die Analyse von den Maingeln und demVersagen der Vereinten Nationen auf ihre Siege und Erfolge richten. Unter einem evolutionéren Blickwinkel bieten die bisherigen Erfahrungen derVereinten Nationen ein reichhaltiges Lehrmaterial, um ihre zukünftige R0116 innerhalb eines internationalen Regierungssystems besser zu verstehem, heißt es im D0kument.

Weiter wird vorgeschlagen, daß Maßnahmen zur Stérkung derVereinten Nationen und der internationalen Ordnung auf einemWeltgipfel der Regierungsoberhiiupter diskutiert und angenommenen werden.Unter der mdg



lichen Bezeichnung >>Weltgipfel flit Global Governance<< sollte eine solche Zusammenkunft noch V01“ Ende des jahrhunderts abgehalten werden.

Um die Menschheit als ganzes einzubeziehen und die latent in allen Menschen vorhandene Kraft zur Beteiligung an der Errichrung einer internationalen Ordnung zu nutzen, könnten sich die Fuhrer aufvier Hauptthemen konzentrieren. Dies sollten 56in >>die Férderung der wirtschaftlichen Entwicklung, der Schutz der Menschenrechte, die Hebung des Status der Frauen und eine Betonung der moralischen Entwicklung. >>Die Aufgabe, die mit der Entwicklung einerWeltgesellschaft verbunden ist, erfordert einen Grad an Bemühungen, der jenseits dessen liegt, was die Menschheit bisher aufzubringen brauchte. Um disses Niveau zu erreichen, bedarf es eines stark erweiterten Zugangs zu Wissen fürjeden einzelnen. Die Internationale Bahá’í—Gemeinde (offiziell bei der UNO akkrcditiert als >>Bahá’í International C0mmunity<<) ist eine internationals Nicht—Regierungs—Organisation, die die fiinf Millionen Mitglieder der Bahá’iGemeinde vertritt. Diese Mitglieder bilden einen Querschnitt der ganzen Menschheit. Zu ihnen gehören Männer und Frauen praktischen jeden religiösen Ursprungs,jeder Nation, Klasse,jeden Berufs und jederVolkszugehérigkeit. Bahá’í leben in 119.000 Orten in allerWelt und die Bahá’í—Religion ist in 235 Ländern und Gebieten vertreten und damit nach regionaler Streuung die am zweitweitesten verbreitete Weltreligion nach dem Christentum. CI


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Die in der ganzen Welt verbreitete Bahá’í-Gemeinde arbeitet schon seit langem eng mit den Vereinten Nationen zusammen und unterstUtzt viele ihrer Ziele und Plane. Das Bild zeigt die Bahá’í-Abgeordneten Ugo Giachery und Mildred Mottahedeh (2. Reihe v. hinten, in die Kamera schauend) bei einer

UNO-Konferenz in Genua im Mai 1948,




menf def _ Community, 3M



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Die Schweizer Landegg Academy nahm das UNO-Jubiléum zum Anlaß fUr eine Initiative zu einer breiten gesellschaftllchen Diskussion Über »Global Governance<<. Nach dem Auftakt durch ein Offentliches Hearing am 204 September im Haus der Demokratie in Berlin folgen 1996 weitere Internationale Konferenzen zum Thema. Bild oben: Peter Spiegel, Organisator des Hearings.

Bild unten: Eine Représentantin einer Berliner NGO trägt ihr Statement vor. Links daneben die eiden Mitglieder der Hearingkommission Dr. Burkhard KOnitzer (links) und Prof. Fritz Vilmar (Mitte).




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Offentliches Hearing in Berlin

Denn sie tun nicht, was sie wi sen ,_


Hearing der Landegg Academy Über >>Global Governance<< in Berlin - Auftakt zu einer breiten öffentlichen Diskussion Über die Handlungsfähigkeit der Weltgemeinschaft

>>In den letzten jahrzehnten wurde sich die Menschheit in immer neuen Schockwellen über immer neue menschengcmachte globale Gefiihrdungen bewußt — von der Bedrohung durch dieABC—Waffen über den Raubbau der Rohstoffe bis zur Klimakatastrophe. Heute hat fastjeder Erdenbiirgcr ein GrundWissen über diese Menscbheitsprobleme soWie über nötige und grundsaitzlich mögliche

Schritte zu deren LösungAber scit dem RioUmweltgipfel 1992 breitet sich eine neue Erkenntnis au52Wir tun nicht — oder Viel zu spit und vie] zu zégerlich — was wir wissen. Dies ist der eigentlichc Kern aller menschheitlichen Bedrohungen. Mit diesenWorten begründet Peter Spiegel von der Landegg Academy die Notwendigkeit einer weltweiten Diskussion über die

















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Handlungsfaihigkeit der Weltgemeinschaft: >>Offensichtlich klaffen globaler Handlungsbedarf und globale Handlungsfähigkeit immer weiter auseinander. Diese Kluft zu schließen, ist das Hauptziel dcs von der Landegg Academy begonnenen Prozesses. Der erste Schritt in diese Richtung war das Offentliche Hearing am 20. September im symboltrichtigen Haus der Demokratie in Berlin. Das ganzteigige Hearing ging das Thema >>Global Governance —Aufder Suche nach einer globalvertrziglichen Regierungskunst Für die Hcrausforderungen des nichsten jahrtausends<< auf zwei Ebenen an.

FitneB-Programm für eine handlungsfähige Weltgemeinschaft innovative Vorscllliige der Vordenkeh Organisationen


Zunzichst stellten die Mitglieder der Hearing—Kommission die wesentlichstenVorschlzige der von ihnen reprisentierten NichtRegierungs—Organisationen (NGOs) für eine Reform der Vereinten Nationen und eine handlungsfähige Global Governance vor. Die Landegg Academy hatte hierzu in die Hearing—Kommission Reprisentanten von acht NGOS nach Berlin eingeladen, die sich im

Vorfeld des 50.]ahrestages der UNO durch

besonders innovativeVorschl‘ége zu deren Reform hervortaten.

Dr. Burkhard Kbnitzer reprisentierte als Geschäftsfijhrer der >>Stiftung Entwicklung und Friedem (SEF) thematisch die »Commission on Global Governance<<. Diese Kommission — noch von dem Gründer der SEE Willy Brandt, ins Leben gerufen, vom schwedischen Ministerprésidenten Ingvar Carlsson und Sir Shridhat Ramphal geleitet und vom derzeitigen SEF—Prfisidenten Kurt Biedenkopfmitgeschrieben — veröffentlichte vor kurzem einen umfassenden Bericht unter dem Titel >>Nachbarn in Einer Welt<<.

Kénitzer hob hervor, daß dieser Bericht neben einer Fülle sehr konkreterVorschliige vor allem eines fordert: einen >>World Summit on Global Governance<<, einenWeltgipfel fiir das jahr 1998, auf dem diese Reformvorschliige fijr globalverantwortliche Regierungsstrukturen von den Staatsoberhéuptem der UNO—Mitgliedslfinder beraten und verabschiedet werden sollen.

Konkret sieht Kénitzer insbesondere die Notwendigkeit, auch das Vor— und Umfeld der UNO zu reformieren, >>denn solange die Mitgliedslzinder der UNO nicht demokratisch sind, kann die Demokratisierung der UNO schwerlich vorangetrieben werdem. Er nannte hier u.a.

. das Erfordernis eines globalen Wertesystems von den Menschenrechten bis zu Grundanforderungen demokratischer Herrschaft, denen alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen gerecht werden müssen;

. die Notwendigkeit der Einrichtung von starken UNO—Unterorganisationen für die neuen globalen Herausforderungen auf den Gebieten der Umwelt und der globalisierten Wirtschaft sowie

. den raschen Einstieg in ein neues Finanzierungssystem,um die UNO—Organe unabhiingiger von den Mitgliedsstaaten zu machen.

Eine besondere Herausforderung sieht Kénitzer darin, die Entfaltung der Global Governance so zu gestalten, daß sie auch von den Großmichten als Plus—SummenSpiel wahrgcnommen werden kann, denn »eine UNO—Reform gegen die Weltmdchte wird nicht gelingem.

Prof. Yehezkel Dror, Mitglied des Club of Rome und Autor des 1995 erschienenen Berichtes an den Club of Rome zur Problematik einer Global Governance >>Ist die Erde noch regierbar?« (>>The Capacity to Goverm), nannte drei möglicheWege zu globalvertréiglichen Regierungsformen, die sich in der Realitait voraussichtlich wechselseitig ergfinzen und ineinandergreifen werden:

. eine Art >>globaler Ausnahmezustand<<, ausgelöst durch eine Oder mehrere der Hunderte von möglichen globalen Katastrophen;

. ein >>globaler ethischer Sprung nach vorne<<, etwa durch eine neue Religion, der zwar nach allen historischen Erfahrungen kommen muß, aber von der Menschheit weder nach Zeitpunkt noch nach Inhalt vorhersehbar sei;

. eineVerbesserung der nationalen Politik in Richtung auf Cine globalverantwortliche Politik der >>raison dhumanité«,eine Global Governance.

Yehezkel Dror, der u.a. als Berater für mehrere UN—Organisationen und Regierungen tiitig ist, sieht durch den unvermeidlichen Prozeß in Richtung auf eine Global Governance ebenso unvermeidlich die Frage einer Neuverteilung der Macht gestellt. Eine derart tiefgreifende Umstellung wird laut Dror erst dann wahrscheinlich,wenn die heutigen politischen Entscheidungstraiger eine konstante und konsequente >>Schu1ung in globalem Denkem durchlaufen. In diesem Sinne schlug Dror u.a. vor:

0 die Einrichtung von »Schools for Global Rulers<<, die Fortbildungsseminare für hochrangige Politiker und Beamte über die







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Yehezkel Dror, Professor der Politikwissenschaften an der Universitét Jerusalem, legte in diesem Jahr einen Bericht an den Club of Rome Über den Einstieg in die Global Governance (>>Ist die Erde noch regierbar?«) vor. Der Club of Rome sieht diese Diskussion, wie dessen Président Ricardo Diez-Hochleitner kUrzlich in der »Zeit« schrieb, als die wichtigste Überhaupt in den néchsten Jahren an. Prof Dror bereiste nach dem Hearing noch 14 Tage lang Metropolen in Mitteleuropa fUr eine Vortragstournee.

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Die Mitglieder der Hearingkommission von links nach rechts: Stefan M695e-Stadel (Terra e.V.), Saba Khabirpour (Bahá’í International Community), Prof, Yehezkel Dror (Club of Rome), Peter Spiegel (Landegg Academy), Dr. Burkhard Kénitzer (Stiftung Entwicklung und Frieden). Nicht auf dem Bild: Prof. Fritz VHmar (World Federalist Movement).

Vorschlége aus dem Heanng:

o schrittweiser Aus stieg aus dem Vetorecht

o starke neue UNOrgane fUr gIobale Rahmenpolitik zpr Okonomie und Oko logie o Einstieg in eine Weltsteuer

o >>Schools for Global RMem o Schulfach >>We|thrgerkunde<<

o Einrichtung eines UN-Frauemorums

o fest installierte NGOKammer

o Übertragung der Friedenssicherung ausschließlich auf die Vereinten Nationen


globalen Zusammenhiinge in 311611 Lebensbereichen anbieten sowie praktische Schritte einer Global—Governance—Politik diskutieren; die regelméBige Teilnahme (jéhrlich mindestens Vier Wochen) an derartigen Seminaren sollte nach Dror zur Pflicht gemacht werden;

. die Schaffung eines regierungsunabhé‘mgigen nationalen Instituts in jedem Land, das fortlaufend die globalen Auswirkungen der geplanten und erfolgten nationalen politischen Entscheidungen untersucht und publiziert;

. die Einrichtung eines Pflichtstudienfachs >>Globale Zusammenhéingw als begleitendes Seminarprogramm für alle Studenten, damit V0n dort das Heranwachsen einer globalverantwortlich denkenden neuen Elite gefordert wird.

An die Europaer gewandt rief er dazu auf, die höchste Konzentration aufdieVollendung und den Erfolg der Europiiischen Union zu verwenden, denn >>die EU ist das bisher ambitionierteste historische Experiment einer breitangelegten wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Integration jenseits der nationalen Politik. Gelingt Europa, so wird der Rest derWelt diesemVorbild rasch folgen. Saba Khabirpour als drittes Mitglied der Hearing—Kommission erl'éuterte die grundlegendenVorschlzige zur UNO—Reform, die kfirzlich von der Bahá’í International Community in dem Statement >>Menschheit amWendepunkt<< vorgelegt wurden.Die Diskussion über die Zukunft derVereinten Nationen müsse ihre relevante R0116 innerhalb einer sich entwickelnden globalen Ordnung im Blick haben. 1m Mittelpunkt stehe darbei »die praktische Überwindung der nationalstaatlichenAnarchie bei gleichzeitiger Sicherung der Rechte des einzelnem. Einige der Vorschléige sind:

. die Férderung eines Weltbürgerbewußtseins als unverzichtbare Grundlage

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jeglichen globalverantwortlichen Handelns, z.B. durch Entwicklung von Lehrplinen für ein >>Weltbürger—Ethos« und deren Einbeziehung in den Unterricht von der Grundschule bis zur Universitét;

. der Ausbau der UN—Organe zu einer handlungsfähigen Legislative, Exekutive und Judikative für die globalen Belange auffbderalen Oder Commonwealth—ähnlichen Prinzipien;

. die versteirkte Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Entwicklung der globalen Gesellschaft und somit die Freisetzung ihres Potentials,u.a. durch stirkere Einbindung der Frauen in die Entscheidungsprozesse auf allen Ebenen.

Ahnlich argumentierte Stefan MégleStadel, der das One—World—Network >>Terra<< vertrat: >>Wir haben deflzcto liingst einenWeltstaat, nur dejure noch nicht.« Die Folge dieser Legitimitétslficke: Die heutigen Strukturen der real existierenden Global Governance tragen derart undemokratische und willkfirliche Zfige, wie sie keine zivilisierte Gesellschaft mehr ihrer Landesregierung zubilligen würde.

>>Aus der inter—nationalen Weltunordnung muß demnach ziigig Cine fdderale, subsidiare und demokratisch legitimierte globale Weltordnung werden, damit die Weltgesellschaft die Souverlinitiit für die Steuerung derWeltprobleme erlangen kann.« Um den Prozeß dorthin zu beschleunigen, sind nach Mégle—Stadel neben der zwischenstaatlichen Diskussion ijber eine Global Governance vor allem >>kreative weltbürgerliche Initiativem gefragt wie z.B. die beiden TerraInitiativen für

. die Einfiihrung von WeltbürgeruUnterricht, der zuniichst von den NGOS auffreiwilliger Basis begonnen werden kann, sowie

. die Einfiihrung von freiwilligen 61(0sozialen Abgaben von Wirtschaftsbranchen, wie esTerra bereits in einem EU—weiten Pilotprojekt erreicht hat.


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Als letztes der anwesenden HearingKommissionsmitglieder ging der Politologe und Futurologe Prof. Fritz Vilmar für die World Federalist Movement auf die immensen Vorteile einer überzeugenden Global Governance eip. Seine Kernthesen:

. Eine Übertragung der globalen Friedenssicherung an neutrale UN—Organe béte erstmals in der Menschheitsgeschichte die Chance auf Cine wirklich erfolgreiche globale Sicherheit sowie eine radikale Abrfistung der Nationalstaaten.

. Eine globale 6ko—soziale Rahmenpolitik durch neutrale UN—Einrichtungen könnte der Wirtschaft die reale Chance zur überfailligen Wende zu mehr Gerechtigkeit und Umweltvertraiglichkeit eröffnen.

Alle drei weiteren eingeladenen NGOReprfisentanten — EX—Bundesprésident Richard von Weizszicker für die >>Unabhiingige Arbeitsgruppe über die Zukunft derVereinten Nationem, Dr. Daniel Goeudevert für >>Green Cross Internationah und Prof. Ervin

Laszlo für den >>C1ub 0f Budapest<< -, die die Einladung zum "ziuBerst kurzfristig angesetzten Hearing aus Termingründen nicht wahrnehmen könnten, sandten Grußbotschaften und sagten ihre aktive Mitwirkung bei den neichsten Schritten zu.

NGOs diskutieren den überféilligen Einstieg in eine Global Governance

Zum zweiten Teil des Berliner Hearings waren weitere rund 500 NGOS und engagierte Bürger aus den deutschsprachigen Lindern dazu aufgerufen worden, durch schriftliche und mündliche Statements zum éflentlichen MeinungsbildungsprozeB über Global Governance beizutragen. Die folgendenVorschleige können nut stellvertretend fijr die Kreativitiit der über 40 Eingaben stehen:

O >>Sustainable Germany<<. Der BUND, die größte deutsche Umweltschutzorganisation, verwies auf die Notwendigkeit, daß



Perspektiven nach 50 Jahren Vereinte Nationen

FRANKFURT STUTTGART — ST. GALLEN

Fortdauemde Uneinigkeit léhmt den Überfélligen Nord-SU’d-Ausgleich

Im Rahmen derVeranstaltungsreihe >>F0rum Langenhaim nahm am Sonntag, den 29. Oktober, die Mfinchner Politikwissenschaftlerin Dr. Sabine von Schorlemer die ersten 50 jahre UNO kritisch unter die Lupe.

Die Referentin beanstandete, daß es der Weltgemeinschafi: bis heute nicht gelungen ist, den aberwitzigen Gegensatz zwischen arm und reich auf dieser Welt zu beseitigen. Sie sieht wenig Chancen auf eine Stärkung der UNO, solange keine Bereitschaft zur echten Aufarbeitung dieser Nord—Sfid—Kluft zu erkennen ist.

Von daher könne es nicht verwundern, daß die Nationengemeinschaft auch wenig Reformwille zur Beseitigung der akuten Finanzkrise der UNO sowie zur Einrichtung einer handlungsfähigen Gerichtsbarkeit zeige.

Ihre Hoffnung setzt von Schor lemer auf eine aktive Rolle der NGOs.

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Schulen fUr politische Entscheidungstréger und der Einstieg in eine éko-soziale Weltmarktwirtschaft

Das von der Bahá’í—Gemeinde getragene >>Ku1turforum Stuttgart<< veranstaltete im Großen Sitzungssaal des Stuttgarter Rathauses einen Doppelvortrag von Club—of—Rome—Mitglied Yehezkel Dror und Huschmand Saber über >>Neue Strategien f‘fir eine zukunftsfzihige Wirtschaft und Politik<<.

Dror vertrat die These, daß die globaleVernetzung aller Probleme auch die lokalen Entscheidungen weit mehr beeinflussen, als dies den meisten Politikern bewußt ist. Er forderte daher, daß alle Entscheidungstréger auf allen Ebenen regelmziBige Fortbildungen über die die globalen Zusammenhainge und eine

globalvertriigliche Politik besuChen müßten.

Sabet stellte sein Konzept einer freiwilligen Selbstbesteuerung von Wirtschaftszweigen vor, das in den vergangenen Monaten ein sehr positives Echo erfuhr. Eine europiiische Branche führte es bereits ein und weitere zeigten Interesse daran. Sabet sieht hierin die Chance für den lfingst félligen Einstieg in eine 6ko—soziale Weltwirtschaft, die sowohl im Interesse des Sfidens wie des Nordens ist.

Bild oben: Burgermeisterin Gabriele Mdller-Trimbusrh sprarh die Gmflworte der Stadt Stuttgart. Bild unten: Huschmand Saber.


Grundwerte fUr eine reformierte UNO

Auf einer Internationalen Konferenz der Landegg Academy »Die Vereinten Nationen und die neue Weltordnung<< vom 19,—23. Oktober waren sich alle Referenten einig darüber, daß die Definition und allgemeine Annahme einer >>Ethik für die Eine Welt<< das unverzichtbare Fundament jeglichen Bemfihens um eine Verbesserung der Weltlage und ihrer Strukturen sein muß.

Dr. H.S. Grewe, Richterin am Obersten Gerichtshof Norwegens, machte dies sehr anschaulich am Beispie] der Arbeit des UN—Gerichtshofes zurAburteilung der Kriegsverbrecher im ehemaligen Jugoslawien, an dessen Einrichtung sie aktiv mitwirkte: Selbst so überaus klare Notwendigkeiten wie diese werden noch oft durch kurzsichtige egoistische Interessen unterlaufen.

Dr. H.B. Danesh, Direktor der Landegg Academy, skizzierte eine >>Ethik der neuen Weltordnung<<, die sehr viel Zustimmung fand.



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Follow-up-Veranstaltungen zum Berliner Hearing im Jahr 1996:

o NGO-Forum zur Vorbereitung eines Weltgipfels Über Global Governance (September ’96, Landegg Academy)

0 Jugend-NGO-Forum Über Global Governance (September '96, Landegg Academy)

0 Konferenz >>|nternationajher Dialog Über den Übergang zu einer globalen Gesellschaft<< zum Schwerpunkt

>>Globa| Governance<< (Oktober 96, Budapest)

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jedes Land eine Oko—Bilanz Für seine nationaleWirtschaft und Politik erstellen sollte.Auf der Grundlage, daß jedes Land das Oko—System Erde nur entsprechend seinesAnteils an der Weltbevélkerung in Anspruch nehmen darf, sollten Stufenpliine zur Realisierung einer globalvertréghchen Umwelt- und Wirtschaftspolitikjedes Landes entwickelt werden. Der BUND und >>Misereor<< legten im Oktober eine derartige Studie für ein >>Sustainable Germany<< vor.

. UN-»Erd-Charta«. Die beim Umweltgipfel in Rio entstandene >>Green Cross International<< informierte über ihre Initiative fijr eine »Earth Chartem, die die Charta der Vereinten Nationen um eine Reihe von 6kologischen Grundanforderungen ergzinzen 5011.

O UN-Frauenforum. Die feministische Publizistin Dr. Susanne Schaup schlug die feste Einrichtung eines Frauenforums bei den Vereinten Nationen vor, »das den Bedürfnissen von Frauen in allen Ländern der Erde und in allen Gesellschaftsschichten Rechnung trégw. Dessen wichtigste Aufgabe sollte die fortlaufende Koordination und Stärkung der Arbeitjener NGOs sein, die sich auflokaler und nationaler Ebene für die faktische Gleichberechtigung einsetzen.

O Représentanz der »V(jlker ohne Staaten<<. Uwe Fellbach von einer Berliner NGO verwies auf das Problem der zahlreiChen >>Völker ohne Staatem, die in einer reformierten UNO unbedingt eine angemessene Reprisentanz finden müßten.

O Eine NGO—Kammer. Einige NGORepriisentanten forderten die Einrichtung einer NGO—Kammer beziehungsweise eines Biirgerparlaments bei den Vereinten Nationen. Zur Begrfindung wurde unter anderem angefiihrt, daß sich die NGOs gerade in jenen gesellschaftlichen Feldem entwickelten, in denen die heutige Politik offensichtliche Defizite hinterließ. Für eine Wirkliche Global Governance sei daher auf absehbare Zeit cine aktive und etablierte Mitwirkung der NGOS nicht verzichtbar.

. Ein >>Rat der Weisen<<. Mehrere Teilnehmer mahnten die Notwendigkeit eines >>moralischen Sprungs<< an, »ohne den die Menschen sich wohl kaum rechtzeitig vom gruppenegoistischen Saulus zum weltbürgerlichen Paulus<< wandeln wijrden, wie cs Kurt Henseler aus Bonn formulierte. Eine NGO ausTrier forderte in diesem Sinne einen »Rat derWeisen<<, um das in allen Kulturen vorhandene geistige Potential Für den Global—Governance—Prozeß konkret nutzbar machen zu können.

Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz prisentierte der Leiter der Hearing—Kommission, Peter Spiegel,sch1ieBlich drei gemeinsame Grundforderungen der Kommissions mitglieder: dieAbhaltung eines »World Summit on Global Governance« im Jahr 1998, ein permanenter DiskussionsprozeB der weltweiten NGO—Szene bis zu diesem Ereignis sowie ein stirkeres Engagement der Medien fiir das Thema Global Governance.

Der AnstoB wurde aufgenommen

Dr. Kbnitzer meinte nach der Veranstaltung,mit diesem Hearing sei von der Landegg Academy ein äußerst wichtiger und gelungener Impuls gesetzt worden, um die bisher weitgchend nur als Fachdiskussion in kleinen Zirkeln gefiihrteAuseinandersetzung um bessere globale Regierungsstrukturen endlich in die Gesellschaft und insbesondere deren engagiertesten Teile, die NGOs, zu tragen.

Der AnstoB zu einer breiten (iffentlichen Global—Governance—Diskussion wurde sehr positiv aufgegriffen. Einerseits wurde die Landegg Academy von zahlreichen europ'éischen Instituten für Friedensforschung und Internationale Beziehungen gebeten, in einen Austausch über die Ergebnisse sowie die weiteren Entwicklungen des in Berlin begonnenen Prozesses zu treten.Andererseits wurde Landegg zur aktiven Teilnahme an iihnlichen Initiativen anderer NGOs eingeladen.

1996: NGO-Forum über Global Governance

Derzeit bereitet die LandeggAcademy die Folgeschritte nach Berlin vor. Im Mittelpunkt steht dabei ein NGO—Forum imTagungszentrum Landegg im September 1996. Disses Forum 5011 von NGO—Seite Vorbereitungen treffen zur Realisierung des Hauptanliegens: eines >>World Summit on Global Governancw im Jahr 1998. Hier $011 erstmals eine Gruppe bedeutender internationaler NGOs vor der Weltöffentlichkeit die Forderung nach der Abhaltung eines solchenWeltgipfels erheben. Unmittelbar aufdas Landegger NGO—Forum folgt am selben Orr eine Internationale jugendkonferenz zur selbenThematik, zu der insbesondere die europdischenjugend—NGOS eingeladen werden.

Der nzichste Höhepunkt wird eine Konferenz im Oktober 1996 in Budapest sein, die gemeinsam getragen wird vom Club of Budapest, der University of Maryland sowie der LandeggAcademy. Schwerpunkt des dort_1gen »Internationalen Dialogs über den Übergang zu einer globalen Gesellschafm Global Governance. Dort wird erstmals ein >>Planetary Consciousness Prize<< verliehen an Persönlichkeiten, die sich besonders Für ein vorausschauendes Zusammenwachsen der Menschheit verdient gemacht haben. CI



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[Seite 13]New York. — julius Chan, der Premierminister Papua—Neuguineas, besuchte die Bfiros der Bahá’í International Community in NewYork am 2. Oktober 1995.Am selben Tag hielt er eine Ansprache vor der Generalversammlung derVereinten Nationen.

Das Bild rechts zeigt von links nach rechts: Bani Gujral Dugal, stellvertretende Leiterin des Bfiros der Bahá’í International Community; Dorothy Lango,

MAGAZIN

Premierminister Papua-Neuguineas besucht Biiro der Bahá’í International Community in New York

dessen administrative Direktorin; Mary Power, Direktorin des Bfiros für die Gleichstellung und Entwicklung der Frauen; Lawrence Arturo, Direktor des Umwelt—Bfiros;Techeste Abderom, der offizielle Reprisentant der Bahá’í International Community bei den Vereinten Nationen; find Utula Utuco Samana, Sonderbotschafter und Stiindiges Miglied der Vertretung Papua—Neuguineas bei denVereinten Nationen.

Gyjindung eines WCRP-Ausschusses »0kumene der Weltreligionenu zur Fiirderung einer »interreligiiisen Kulturu im Baum Stuttgart

Stuttgart. — Zum Tag der Menschenrechte, 10. Dezember, lud die Stuttgarter Bahá’í—Gemeinde über 50 religiöse Gemeinschaften in das >>Ku1turforum



Stuttgart« ein. Ziel des Treffens war es,dem interreligiösen Dialog in der Region einen neuen krafivollen Impuls zu geben.

Als Gastrednerin wurde die Berliner Religionswissenschaftlerin Dr. Gabriele Yonan eingeladen, um über ihre reichhaltigen Erfahrungen beim Einsatz für den interreligiösen Dialog zu sprechen. FrauYonan verfiffentlichte u.a. in Zusammenarbeit mit der Berliner Ausleinderbeauftragten Barbarajohn einen Band >>Weltreligionen in Berlin« und initiierte gemeinsam mit der

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Ortsgruppe v01 WCRP (>>World Conference of Religions on Peace<<) die Einrichtung eines interreligiösen »Raumes der Stille« in einem der Seitenflfigel des Brandenburger

Totes (Foto: Friedens—Poster im

Raum der Stille).

Obwohl Frau Dr.Yonan den Termin kurzfristig nicht wahrnehmen konnte, entwickelte sich eine unerwartet ergiebige Tagung. Die etwa 60 Reprasentanten von etwa einem Dutzend Religionsgemeinschaften beschlossen einstimmig die Einsetzung einesArbeitskreises >>Okumene der Weltreligionen im Raum Stuttgart<<,der anWCRP angelehnt ist.

Die verabschiedetenAuftr'ége an den Arbeitskreis reichen weit über einen blofien Dialog hinaus — sie sollen die Entwicklung einer >>interreligiösen Kultum eröffnen. Konkret soll u.a. ein Buch mit Selbstdarstellungen der >>Weltreligionen in BadenWfirtternberg<< herausgegeben, ein interreligiöser Stuttgarter Raum der Stille eingerichtet, offene Begegnungsfeste aller Religionsgemeinschaften veranstaltet find interreligidse Diskussionen zu UN—Gedenktagen durchgeführt werden.



Unterausschufl der Vereinten Nationen fordert »Emanzipationder Bahá’í-Gemeinde im Iran

Genf. — Eine Kommission von Sachversténdigen für Menschenrechte der Vereinten Nationen hat die Situation in der Islamischen Republik Iran überprfifi und Maßnahmen gefordert, die die >>Emanzipatiom der unterdrückten Gemeinden der Bahá’í und Christen Sicherstellen.

Auf seinerJahrestagung im August hat der UnterausschuB zur Vermeidung von Diskriminierung und Zum Schutz von Minderheiten in geheimer Abstimmung eine Resolution verabschiedet, in der er seine >>tiefe Besorgnis über die erheblichen und fortgesetzten Verletzungen der Menschenrechte<< durch die Regierung im Iran Zum Ausdruck bringt.

Die Resolution, über die am 24. August mit 13 gegen 7 Stimmen bei 2 Enthaltungen abgestimmt wurde, nennt u.a. >>Willkfir— und Massenhinrichtungen, Folter und unmenschliche Oder erniedrigende Behandlung und Bestrafung, willkfirliche Festnahme und Gefangenschaft, ungeklfirtes Verschwinden von Personen, Fehlen von Garantien, die für ein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren unerliiBlich sind, und Mißachtung der Rede— und Religionsfreiheiten<< 315 die schwerwiegendsten Menschenrechtsverletzungen im Iran. Der UnterausschuB verlangt vom Iran, die gfiltigen internationalen Normen der Men schenrechte zu achten find fordert den Generalsekretér der Vereinten Nationen auf, den AusschuB weiterhin über die »Maßnahmen derVereinten N ationen zurVerhfitung von Menschenrechtsverletzungen« informiert zu halten und zwar auch über jene, die sich mit der Emanzipation der Gemeinden der Bahá’í und Christen im Iran befassen.

1m Vorfeld hatte die Bahá’í International Community den UnterausschuB davon unterrichtet, daß >>die Bahá’í—Gemeinde, die grbBte religiöse Minderheit im Iran, seit 1979 unter Einschfichterungen, Diskriminierung, Gewalt und Mord gelitten hat find zwar nur, weil ihr religiöser Glaube sich von dem der Machthaber unterscheidet. Dabei war es das Ziel der Machthaber,die Bahá’í als eine lebensfaihige religiöse Gemeinschaft im Iran auszulfischen. Techeste Ahderom, der Reprisentant der Bahá’í International Community bei den Vereinten Nationen, sagte, daß der Gebrauch des Wortes >>Emanzipatiom besonders beachtenswert sei, da dadurch das Fehlen von grundlegenden Freiheiten für die Bahá’í im Iran unterstrichen würde, unabhingig von Grundfreiheiten, die auch anderen religiösen Gemeinschaften verweigert würden. Die Forderung nach >>Emanzipation<< sei angemessen und begrfiBenswert.



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»Die Gleichberechtigung von Frauen und Mannem ist eine Frage der Menschenrechte und eine Vorbedingung fUr soziale Gerechtigkeit und außerdem eine notwendige und wesentliche Voraussetzung fUr Gleichberechtigung, Fort schritt und Frieden. Aktionsprogramm auf der 4. Weltfrauenkonferenz

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Weltfrauenkonferenz

I Eine Agenda für

die neue Macht der Frauen

Beijing. — Weil die Gleichberechtigung von Frauen und Méinnern eine WichtigeVOraussetzung für die Schaffung »einer friedlichen, gerechten und menschlichen Welm ist, nahmen die Teilnehmer aus 189 Nationen wiihrend d6rViertenWeltfrauenkonferenz eine weitreichende Erklärung und einAktionsprogramm an mit dem Ziel, den Frauen weltweit zu einer uneingeschränkten und gleichberechtigten Beteiligung in allen Bereichen des 6ffentlichen und privaten Lebens zu verheIfen.

>>Das Aktionsprogramm zielt aufdie Stärkung der Macht und des Stellenwerts der Frauem, heißt es in der ersten Zeile des Hauptdokuments der Konferenz. »Dies bcdeutet, daß das Prinzip der fairenTeiIung von Macht und Verantwortung zwischen Frauen und Ménnern zuhause, am Arbeitsplatz und in größeren nationalen und internationalen Gemeinschaften giiItig werden sollte. Die Gleichberechtigung von Frauen und Méinnern ist eine Frags der Menschenrechte und cine Vorbedingung für soziale Gerechtigkeit und außerdem Cine notwendige und wesentliche Voraussetzung für Gleichberechtigung, Fortschritt und Frieden. Die Konferenz, die vom 4. bis 15. September stattfand, war mic rund 17.000 Teilnehmern die größteVersamqung, die jemals unter der Schirmherrschaft der UNO einberufen wurde. Ihr Ziel war, sich über die Fortschritte in Frauenfragen seit der DrittenWeItfrauenkonferenz 1985 in Nairobi einen Überinck zu verschaffen und neue Schwerpunkte fiir die Aktivitéten der n'échsten fiinfjahre zu setzen. In dieser I-Iinsicht stimmtc man allgemein darin Liberein, daß die Endversion des Aktionsprogramms 36hr wohI einen Fortschritt darsteIIe, um die Wichtigsten Belange der Frauen rund um dieWelt zu f6rdern, neue Prioritäten zu setzen und eine Vereinbarung über Aktivitfiten zu ihrer Férderung zu treffen.

»Meine lieben Schwestern und Brfider, wir haben es geschafft!« erkIeirte Gertrude Mongella, Generalsekretérin der Konferenz in ihrer AbscthBerklärung am 15. September. >>Es ist uns gelungen, historisch und kultureIl gewachsene Ungleichgewichte zu überwinden; es ist uns gelungen, soziodkonomische Ungleichheiten und Unterschiede abzubauen; wir haben unsere gemeinsame Vision und unset Ziel der GIeichberechtigung, der Entwicklung und des Friedens wachgehaIten. In einigen Bereichen haben wir den Horizont früherer Konferenzen beachtlich erweiterm

Das Aktionsprogramm beschiiftigte sich mit zwélf kritischen BereichenzArmut, Erzichung, Gesundheit, Gewalt gegen Frauen, bewaffnete Auseinandersetzungen, Wirtschaftliche Strukturen, Machtteilung und Entscheidungsfindung,Verfahren, die den Fortschritt von Frauen Férdern, Menschenrechte, Median, Umwelt und Kindheit.

Tabuthemen wurclen angesprochen

In einigen dieser Problembereiche setzt sich das Aktionsprogramm mitThemen auseinander, die — wenigstens in der internationalen Diskussion — früher tabu waren, wie z.B. Mißbrauch in der Familie und sexueller Mißbrauch, erzwungene Schwangerschafi und die Rolls erniedrigenden und pornographischen Materials 2115 Quelle von Gewalt gegen Frauen. Diese und andere Themen im Zusammenhang mit Menschenrechten, Fragen von Fortpflanzung und Gesundheit sowie sexueller Ausrichtung waren V0r und während der Konferenz 0ft die Ursache V0n Auseinandersetzungen.Am Endejedoch erreichten die Rpgierungen derWelt einen hohen Grad an Übereinstimmung in allen diesen Fragen, so d210, wie Beobachter hoffen, ein neuer internationaler Impuls gegeben


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wurde,nicht nur diese Probleme,sondern die Frage der gleichen Rechte für Frauen insgesamt anzugehen.

»Die Dokumente sind ein großer Schritt vorwérts im Vergleich zum Dokument von Nairobi,welches seinerzeit ebenfalls weltweit fiir die Frauen einen großen Schritt nach vorn bedeutete<<,wertete Mary Power,Leiterin des Biiros der Bahá’í International Community zur Férderung von Frauen. >>Außerdem muß dieTatsache,daß 189 Regierungen nach langem Disput und grijndlicher Debatte übereinkamen, ein Dokument dieser Art anzunehmen, das eine weltweiteAgenda zur Stärkung der Frauen aufstellt, als ein historisches Ereignis betrachtet werden. Viele Schritte desAktionsprogramms haben zum Ziel, Frauen in machtvolle und einflußreiche Positionen zu bringen, aus denen sie in der Vergangenheit weitgehend ausgeschlossen waren. Das Aktionsprogramm stellt z.B. fest, daß Frauen weltweit nur mit zehn Irozent an allen gewéhlten gesetzgebenden Körperschaften beteiligt sind. Um diese Unausgewogenheit auszugleichen, riit das Aktionsprogramm den Regierungcn dringend, ein Gleichgewicht der Geschlcchter sowohl in Regierungsgremien als auch in öffentlichen Verwaltungseinrichtungen und im Gerichtswesen herzustellen. Das bedeutet unter anderem, daß bestimmte qualitative wie quantitative Ziele und überprfifbare MeBwerte festgesetzt werden, um die Anzahl der Frau Seite 15

en drastisch zu erhöhen, damit so eine Reprisentierung V0n Frauen und Ménnern in allen Positionen in Regierung und £536chcherVerwaltung erreicht wird.

IIIGOs stark beteiligt

Während der Konferenz selbst als auch in den Empfehlungen desAktionsprogramms wurde die Rolle der N icht—RegierungS-Organisationen (NGOS) stiirker alsje zuvor herVorgehoben. NGOS spielten die Schliisselrolle, um Regierungen dazu zu bewegen, bcstimmte Verpflichtungen einzugehcn. Diese Dokumente sehen wiederum die NGOS als Schlfisselfiguren bei der Durchfiihrung der Aktionen, die sie empfehlen.

In der Erkleirung der Konferenz, die eine Art Préiambel desAktionsprogramms darstellt, heißt es: >>Die Teilnahme und Mitwirkung aller in der menschlichen Gesellschaft Titigen,besonders der Frauengruppen und Netzwerke und anderer auf Gemeindeebene arbeitender Organisationen, sind — bei voller Berücksichtigung ihrer Autonomic — in Zusammenarbeit mit den Regierungen wichtig Für eine wirksame Durchfiihrung des Aktionsprogramms und die Nacharbeit der K011ferenz. Während der Konferenz begannen die NGOs - die RegierungAustraliens hatte dazu ermutigt — die Versprechen Oder >>Verpflichtungem zu notieren, die von Regierungsde




»NGOs spielen eine sehr gewichtige Rolle und haben viel EimluB bei dieser Konferenz. Die Tatsache, daß Regierungen beginnen, sorgféltig auf NGOS zu h(jren, ist ein positiver Schritt.Christabel Motsa, Mitglied der Regierungsdelegation von Swaziland

Nicht-Regierungs-Organisationen verfolgten bei der Vierten Weltfrauenkonferenz aufmerksam die Verpflichtungen, die die Regierungen eingingen. Hier wird bei einer morgendlichen Besprechung eine grafische Übersicht der bisherigen Versprechen prasentiert.


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legationen in ihren Ansprachen vor dem Konferenzplenum gemacht wurden. E111 schwarzes Brett der >>Verpflicht1111gserkleirungem wurde in der Haupteingangshalle angebracht, und cinVermerk desscn, wasjede einzehie Regierung zu tun versprach, wurde angcheftet.

Diese zuszitzlichen Verpflichtungen, die von den NGOS notiert wurden, reichen von der Zusage der Elfenbeinkiiste, bis zum Jahr 2.000 einhundert Prozent der Mfidchen in Schulen autiu11eh1116n, bis zu dem VerspreChen Indiens, dicAusgaben für Erziehung auf

Abschied vom patriarchal

6% des Bruttosozialprodukts mit dem Schwergewicht auf Fraum und Médchen zu erhöhen und eine Kommission für die Rechte der Frauen ins Leben zu rufen.

>>NGOS spielen eine sehr gewichtige R0116 und haben Viel Einfluß bei dieser Konferennsagte Christabel Motsa, ein Mitglied der Regierungsdelegation V011 Swaziland. >>Die Regierungen brauchen den Einsatz VOD Leuten, die vor Ort mit den Menschen arbeiten, und die Tatsache, daß Regierungcn beginncn, sorgfailtig auf NGOS zu hören, ist ein positiver Schritt.« CI



INTERVIEW

mit Fara Dustdar





Farah Dustdar, 1948 1m Iran geboren, lebt seit 1967 in Europa Sie studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Sozialpsychologie und hat mehrere Bacher geschriebeni Sie ist Mutter von zwei Töchtern und lebt mit ihrem Mann Farzin, Dustdar (Verleger) in EttelerCk/ Luxemburg.








Akiafiiéd vim deaf Mgcht





S. Fischer Verlag DM 16,90








Das Buch >>Abschied von der Macht<< (soeben erschienen als Originalausgabe bei Fischer— Taschenbuch) der Politelogin Farah Dustdar befaßt sich mit 21ktuellen Problemen der Demokratien,die — in einer sich schnel] entwickelnden Welt mit ihren undurchschaubaren und schwierigen Problemen — immer weniger in der Lage sind, langfristige Lösungen zu finden.Als eine der HauptursaChen hierFür sieht die feministischc Politikwissenschaftlerin dieAusrichtung der gesamten politischenTheorie an ei< 116m überholten, einseitig miinnlichen Verständnis von Macht und Politik.

DieAutorin versucht in ihrem ncuesten Buch zu zeigen, daß nicht nur P0litiker und Parteien,sondern genauso die politische Theorie dic derzeitige Krise VOI’) Politikverdrossenheit bis mangelnde Handlungslfzihigkeit mitverursachen. An dem konkreten Beispiel der Bahá'iWeltgemeinde zcigt sic, wie Dcmokratie nach Maßgabe des Verantwortungsprinzips, das das verkiirzte Machtprinzip ersetzen 5011, funktionieren karm.

One Country: Was bar 816 1115 Fran veranlq/J’t, cm B11111 [ibcr (110165 T/zcma 211 sdzreibm?

Farah Dustdar: lch habe vor zehn Jahren ein Buch geschrieben zum Thema »I)ie Frau und dcheltfrieden<<, in dem ich zu zeigcn vcrsuchte, daß die Frauen eine andere Auffassung V011 der Macht habcn und daß ihre Rollenmoral — bedingt durch ihre Lebensaufgaben vicl friedlicher ist.Wen11 mehr Frauen sich gescllschafispolitisch betatigen, so kann di€s nur fbrderlich sein für das Zustandekommen einer friedlichcren P0litik.AufiiieinenVortragsreisen hatte ich



bestimmten Machtbegriff

viele Kontaktc zu Frauen aus verschiedenen Organisationen und Gruppen. So komite ich feststellen, daß es notwendig ist, die Machtfrage griindlicher und sachgerechter zu crtorschen. Der Begriff Macht, so \vic er hcute allgemein verstanden wird, erschicn mir als das größte Hindernis für das aktive Mitwirken der Frauen auf den wirklichen Entschcidungsebenen der Gesellschaft. Dzls Thema interessierte mich so sehr, daß ich beschloß, Iolitikwissenschaft zu studieren.

One Country: Glauben 816 1111111 a11rl1, daß Vicle Wachlageflir politische Verbmserngm 111 derT/teorie stec/eenbleiben 111111

11111 gcmz Ia11g5am,fi11[s überhaupt, Eingang

111 die Praxisfinden?

Farah Dustdar: Man muß natürlich sehen, daß allen großen Veranderungen, die in der menschlichen Kultur stattfinden, eineVeränderung des Bewußtseins vorausgeht. So lange man denkt, in der Demokratie gehe es hauptsiichlich um Konkurrenz, Machtkampfi Gewinn und Verlust, so lange wird sich nichts ändern.

One Country: In I/nmn Burlz :1’1gen 516, 11115 (ICU Verantwortungsprinzip gwstcz'r/et werden mlgfi, 14111 [etzllidz das Madnprmzip 2H erxerzen. Wie 501/ (fax (qm/zc/zcn?

Farah Dustdar: 1111 letzten Kapitels V011 >>Abschied von der Machm habe ich aufpraktische Schrittc zur Bcwfiltigung disses Problems hingewiesm Am Beispiel der weltwciten Bahá’í—Institutionen, ihrenWahlen und ihrcr Imxis der konfliktfreien Entscheidungsfim dung habe ich aufgczeigt, (138 die Demokratie sehr wohl ausbau— und entwicklungsfzihig ist.


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NGO-Forum Überwindet Probleme bei Weltfrauenkonferenz amc eigene Weise

Huairo, China — Wie von den meisten Medien der Welt berichtet, war das NGOForum der Frauen ‘95 von Krisen gekennzeichnetVon Mifiverstsindnissen über Sicherheitsmaßnahmen bis hin zum regnerischen Wetter waren die Probleme, die die weltweit größte Zusammenkunft der Frauen begleiteten, Stoff für die an Streitigkeiten und Katastrophen orientierten journalisten.

Aber fijr die Mehrheit der 30.000 Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Forums waren die zehn Tage in diesem Urlaubsort der Arbeiterklasse ca. 50 Kilometer nbrdlich von Beijing etwas ganz anderesAus der Perspektive der Frauen an der Basis, die praktisch aus alien Lindern der Welt angereist waren, war das Forum eine Feier des bedeutenden, aber größtenteils ungenutzten Potentials für den Frieden, ein Zeichen für den unaufhaltsamen Machtzuwachs für die Frauen.

Es war ein Ort, an dem unmittelbar eine Gemeinschaft entstand. Es war — wie eine Teilnehmerin es ausdrückte — eine neue Universitét, in der in mud 5.000 Arbeitsgruppen, Seminaren und weiteren Veranstaltungen die umfangreichen Anliegen und das Wissen der Frauen in der Welt offengelegt wurden. Und es war ein Ort, W0 enorme Schwierigkeiten mit demWetter, dem Transport und der Politik schließlich größtentefls überwunden wurden.

>>Das N GO—Forum markiert einen Wendepunkt in der Frauen—Bewegung, vereinigt Frauen aus allen Schichten und Berufem, sagte Supatra Masdit, die das Forum einberufen hatte, auf der abschheBenden PresseKonferenz. Zwar anerkannte sic, daß es >>Zwischenfélle und unterschiedliche Meinungem auf dem Forum gegeben habe, aber sie ergzinzte: »Frieden und Freundschaft sind nun zum Hauptinhalt geworden — und das war das wahre Forum. Eine solche Einschiitzung wurde von vielen gcteilt. »Es wahr sehr gum, sagte Rukmini R30, Direktorin der Deccan—EntwicklungsGesellschaft in Sijdindien, 2115 316 die schnellen Bande der Freundschaft und Gemeinschaft beschrieb, die dadurch entstanden waren,daß 21116 die gemeinsamc Sache der Frauen voranbringen wollten. »Wclm man sieht, daß Frauen aus so vielen verschiedenen Ländern


die gleicheAnsicht vertreten,so bestätigt dies, daß das, was Wir fühlen und wofiir wir kéimpfen, richtig ist<<, sagte Frau Rao. »Wir lernen alle aus unseren jeweiligen Bemühungen.1ch arbeite in einer kleinen Stadt, und es fiihrt aus der Isolation, wenn man sieht, daß auch so Viele andere die Welt veraindern wollen. lm Brennpunkt des Interesses

Das NGO—Forum — parallel zum offiziel1enWeltfrauenkonferenz—Programm veranstaltet — markierte den Höhepunkt eines zweijährigen Prozesses von regionalen Foren für NGOsAufdiesen wurden Empfehlungen zur Vorlage an die Regierungen ausgearbeitet, wie die Sache der Frauen am besten zu flirdern sei.

Daher standen im Brennpunkt des Forums die Probleme, die in den über 5.000 Podiumsdiskussionen, Arbeitsgruppen und kulturellen Veranstaltungen — meist von den Basis—Gruppen aus der ganzen Welt organisiert — diskutiert wurden. Die Veranstaltungen kreisten um 13 HauptthemenNVirtschaft, Regierungsfähigkeit und P01itik,Menschenrechte,Frieden und Sicherheit der Menschen, Erziehung, Gesundheit, Umwelt,Vergeistigung und Religion,Wissenschaft und Technologie, Medien, Kunst und Kultur, Rassen und Volkszugehérigkeit und schließliCh Jugend.













































































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»Meines Wissens nach wurde noch nie ein Krieg von Frauen begonnen... Die Erziehung und neue Macht der Frauen in der ganzen Welt wird auf jeden Fall ein mitmenschlicheres, toleranteres, gerechteres und friedlicheres Leben zur Folge haben.Nobelpreistrégerin Aung San Suu Kyi

»Ein Raum der Stille<<, ein Zelt, das zum Meditieren und Ausruhen diente, bot die Möglichkeit, dem intensiven Leben und Treiben auf dem NGO-Forum der Frauen '95 zu entfliehen.Rebequa Getahoun (Foto), UN-Vertretein der Bahá’í International Community aus den USA, war an der Organisation des Raumes beteiligt. Bahá’ís aus der ganzen Welt unterstUtzten mehr als 25 Aktionen und Workshops auf dem Forum.







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Bahá’í-Jugendliche aller Kontinente trafen sich beim NGO-Forum der Frauen. Bild oben: Zwei junge Frauen stellen in einem Theaterstflck dar, wie Frauen in traditionellen Kulturen in der Ehe behandelt werden.

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»Es war wie eine internationale Universitét<<, sagte Maria Elena Del Valle von dem in New York angesiedelten Familien—Lernzentrum. »Nun weiß ich, wie es ist, wenn man mit der ganzen Welt zur Schule geht. Die fast gleichméiBig gut besuchten Plenarsitzungen,Arbeitsgruppen und Seminare untersuchten die schwerwiegenden Problev "w: me, denen die Frauen

weltweit gegenüberste hen, von der Diskriminierung am Arbeitsplatz bis zur Art und Weise, , wie die Last der Armut größtenteils auf den Schultern der Frauen und Médchen ruht.

>>Es ist für uns Frauen nicht akzeptabel, daß wir 70% der 1,3 Milliarden Armsten der Welt stellem, sagte Noelen Heyzer, Direktorin des Fonds für Frauen bei den Vereinten Nationen (UNIFEM), in einem Vortrag wzihrend des Forums. »Auch ist es für Frauen unzumutbar, zwei Drittel derArbeitsstunden in der Welt zu leisten, aber nur ein Zehntel des Welteinkommens zu verdienen und über weniger als ein Zehntel des Weltbesitzes zu verfiigenViele grundlegendeVeriinderungen müssen durchgefiihrt werderm

Die neue Macht der Frauen und ihre Bedeutung für einen dauerhaften Frieden

Die Veranstaltgngen untersuchten insbesondere,welche Anderungen in der Gesellschaft sich ergeben könnten, wenn Frauen mehr Macht erhielten, sich in der Arena der Weltpolitik zu betiitigenDie Notwendigkeit, Frauen mehr Macht zu geben und sie auf allen Ebenen in die inneren Kreise der Entscheidungsfindung einzubeziehen, war ein wichtiger Gegenstand vieler Diskussionen des Forums.

»Meines Wissens nach wurde noch nie ein Krieg von Frauen begonnem, sagte FriedensnobelpreistrügerinAung San Suu Kyi aus Myanmar in der Eréffnungsrede des F0rums. >>Aber gerade Frauen und Kinder haben in Konfliktsituationen immer am meisten gelitten. Nun, da wir die Kontrolle über die uns historisch aufgezwungene Hauptrol1e — die Bewahrung des Lebens im Rahmen von Heim und Familie — gewonnen haben,

ist es an der Zeit, das so erworbene Wissen und die Erfahrung in Friedensaktivititen in der Welt umzusetzen. Die Erziehung und neue Macht der Frauen in der ganzen Welt wird aufjeden Fall ein mitmenschlicheres,toleranteres, gerechteres und friedlicheres Leben zur Folge haben. In einer vom Verband der Internationalen Friedensforschung und der Bahá’í International Community veranstalteten Arbeitsgruppe wurden neue Modelle zur Konfliktlésung untersucht. Dr. Betty A. Reardon, Direktorin des Friedens—Erziehungsprogramms an der Columbia University in New York, und Dr. Hoda Mahmoudi, eine Friedensforscherin an der Kalifornischen Lutherischen Universitétforderten, daß alte Paradigmen, die zur Konfliktlésung Gewalt benutzten, neuen Auffassungen Platz machen müßten, die sich auf die gemeinsamen Bediirfnisse und Werte griindeten.

Reardon erklärte, daß das alte Paradigma auf zwei Vorstellungen basierte, die sich nun durch die zunehmende wechselseitige Abhdngigkeit als falsch erwiesen haben: Erstens, daß es möglich sei,sich parteipolitisch, ethnisch oder national abzusondern und trotzdem weiterhin >>lebensf2ihig<< zu bleibsn; und zweitens, daß >>es nicht ausreichend Ressourcen und Potentials aufderWelt<< gébe und somit Gewalt angewandt warden müsse, um sich seinen Teil zu sichern.

Es ist jedoch die Erfahrung der Frauen, daß die Sicherheitssysteme, die diese Trennungen aufrechterhalten sollen, in Wahrheit Quellen der Unsicherheit sind, sagte Dr. Reardon. >>Indem man sich aubeereinstimmungen und Zusammenarbeit konzentriert anstatt auf Konflikte, wird es möglich sein, cine nachhaltigc Entwicklung und eine >>Kultur des Friedens<< zu schaffen, die alle versorgen kann, ohne daß man Gewalt anwenden muß. Dr. Mahmoudi empfahl Beratung als eine besondere, von den Bahá’í—Gemeinden weltweit genutzte Methode einer nicht—konfrontierenden Entscheidungsfindung, die sich als ein ausgezeichnetes Model] zur VerwirkliChung von Zusammenarbeit anbiete.

Beratung beruhe auf einem schrittweisen Verfahren. Zuerst würden die Tatsachen festgestellt und gemeinsame Prinzipien erkannt, denn eine offene Diskussion gefiihrt und schließlich alle Ideen zusammengefiihrt mit dem Ziel, eine übereinstimmende Position zu erreichen. Dr. Mahmoudi wies darauf hin, daß im Aufbau einer Gemeinde von der Basis aus der Schliissel zum Frieden liege und nicht, indem sie von oben her aufgezwungen wird. >>Ihr könnt mit diesem Verfahren morgen an eurem Arbeitsplatz beginnen<<, meinte sic. D


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a enPortraits

...von den Über 400 Bahá’í-Frauen aus Über 50 Léndern, die beim NGO-Forum der Weltfrauenkonferenz teilnahmen

Margaret Elias. — Geboren wurde sic in einem Dorfim tropischen Regenwald auf einer abgelegenen Insel von Papua-Neuguinea. Heute zalhlt Margaret Elias zu den erfolgreichsten Frauen ihres Heimatlandes.

Frau Elias ist die erste Frau im Lande, die Rechtsanwiiltin geworden ist — cin Meilenstein, den sie vor fast 20 jahren hinter sich ließ, als sie ihr Examen an der Universitét von Papua—Neuguinea bestand. Bei der Regierung geniefit sie hohes Ansehen. Kfirzlich wurde sie zur Staatssekretérin der Abteilung für Industriebeziehungen ernannt. Sie steht damit an der Spitze eines der 27 Ministerien im Lande.

Frau Elias ist 42 jahre alt und Mitglied des Charamagheis—Stammes. Ihr wurde in diesem Jahr von Königin Elizabeth aufgrund ihrerVerdienste für das Gemeinwohl der Orden des British Empire verliehen. Sie ist gleichzeitig die Sekret‘érin des Nationalen Geistigen Rates der Bahá’í von Papua—Neuguinea, dem nationalenVerwaltungsgremium der Bahá’í—Gemeinde mit Sitz in der Hauptstadt Port Moresby, wo Frau Elias auch wohnt.

Doch für Frau Elias ist ihre Identita't als >>Frau aus demVolk<< noch wichtiger als diese Leistungen. Sic fiihrt bis heute an den Wochenden und in ihren freien Stunden in abgelegene Gemeinden, um den Frauen dort Mut zu machen. >>Ich bin eine Frau aus dem V01k<<, sagt sie mit Nachdruck. >>Ich gehére zu Papua—Neuguinea. >>Wir haben schon ein Z161 erreicht, das wir uns fijr den derzeitigen Drei—jahresplan gesetzt batten, und zwar haben wir regionale Konferenzen Für Frauen und über Frauenthemen in den 17 Regionalbezirken des Landes abgehalten<<, sagte Frau Elias wiihrend eines Interviews in China.

Diese Konferenzen zogenjeweils 100 bis 500Tei1nehmerinnen an, erzzihlte sie,und die behandelten Themen reichten von der Gleichwertigkeit von Frauen und Ménnern, der Notwendigkeit Für ein partnerschaftliches Mitcinander zwischen den Geschlechtern bis hin zu der R0116 der Mütter 315 die erstcn Erzieherinnen der Kinder.

Aber schon bevor sie geholfen hatte, die36 Konferenzreihe ins Leben zu rufen, verbrachte Frau Elias Viele ihrer freien

Wochenden damit, die Dérfer und Ortschaften im Lande zu bereisen, um Reden über verschiedene Bahá’í—Prinzipien zu halten natijrlich auch über die Gleichwertigkeit von Frauen und Méinnern.

Marilyn Madu Enggol. — In Sarawak, einer Provinz Malaysias, sind etwa die Hélfte der zwei Millionen Einwohner Angehérige der Iban—Stammesgruppe. Die Iban bauen Langhéuser, die eine ganze Dorfgemeinschaft von 30 bis 40 Familien aufnehmen.

Seit April 1991 arbeitet Frau Enggol an einem Projekt, das sich hauptszichlich auf die Lesefdrderung für Iban—Frauen konzentriert. Das Projekt wurde mit etwa 3.000 Malaysischen Dollar von der Hochkommission in Neuseeland ins Leben gerufen. Es wird von einem 6rtlichen Bahá’í—AusschuB verwaltet, der für die soziale und Wirtschaftliche Entwicklung zustiindig ist.

Frau Enggol, die Mitglied dieses Ausschusses ist, trigt die größte Verantwortung fiir dieses Projekt.An Wochenenden und in der Urlaubszeit fdhrt sie aufs Land, wo sie unentgeltlich Schulungen für Lesefdrderer abhält, die dann wiederum in ihren Gemeinden und D'Orfern das Lesen und Schreiben vermitteln.

Die jfingste Statistik zeigt, daß der Prozentsatz der Iban, die lesen und schreiben können,niedrig ist — er liegt bei etwa 37 Prozent. Die meisten Analphabeten sind Frauen. Diese Tatsache schrénkt ihre Selbstiindigkeit stark ein.

>>Wenn die Frauen in die Stadt fahren, um ihre Dschungelerzeugnisse zu verkaufen, können sie dem Kunden nicht das richtige Wechselgeld ausgebem, sagt Frau Enggol. >>Wenr1 $16 in die Klinik müssen, so kommen sis in Verlegenheit, weil sie nicht wissen, in welches Zimmcr sie gehen müssen. Manchmal steigen sie in den falschen Bus und sind nicht in der Lage, schnell an ihren Bestimmungsort zu gelangen. >>Aber wenn sie das Lesen erlcrnt haben, gewinnen sie an Selbstvertrauen. Sie wissen, daß sie die richtige Summe einnehmen,wenn sie ihre Erzeugnisse verkaufen. Dieses Sclbstbewußtsein geben sie an die nzichste Generation weiter.W€nn sie erst einmal Lesen und


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Etwa 400 Bahá’í-Frauen und Männer aus mehr als 50 Landern aus der ganzen Welt reisten zum NGO-Frauenforum. Viele sind in Basisprojekten engagiert, um das Fortkommen von Frauen zu fbrdern. Vier dieser Frauen werden hier mit ihren jeweiligen Projekten kurz vorgestellt.




argaret Elias



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Marilyn Médu Enggol

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Maryke

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Van Lith




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Schreiben konnen, sind sie auch imstande, ihre eigenen Kinder zu ermutigen und ihnen bei den Schulaufgaben zu helfen. Frau Enggol hat in den letzten Vier Jahren 104 Lesefdrderer in etwa 44 Gemeinden durch ihre Schulungen ausgebildet. Diese haben ihrerseits mehr als 800 Menschen,meist Frauen, dreimal in der Woche in den Dorfern Unterricht im Lesen und Schreiben erteilt.

Frau Enggol ist 44 Jahre alt und leistet diese Arbeit unter hohem persönlichen Opfer. Sie hat eine volle Stelle bei der Post in Kuching, der Provinzhauptstadt, und drei Kinder zu versorgen. >>Meine ganze Familie unterstijtzt mich jedoch. Mein Mann trägt zu den Reisekosten bei, und meine Kinder helfen mir, indem sie die Buchstaben des A]phabets ausschneidcn, die wir in den Schulungen verwenderm

Margaret Mikisi Mungonye. — Im Dorf Kakamega in Kenia geboren, arbeitet Frau Mungonye heute als Sekretiirin in der Verwaltung des Nationalen Bahá’iZentrums von Kanjan im Stadtzentrum von Nairobi. Aber wie Frau Elias hat sie ihre Hcrkunft nicht vergessen.

Da sie erkarmte, daß Viele Dorffrauen in Afrika Schwierigkeiten haben, einen Absatzmarkt für ihre Produkte zu finden, hat sic mit fiinf anderen Frauen ein kleines Unternehmen gegründet. Die Mitglieder dieser Gruppe fahren auf das Land, kaufen von den Dorffrauen Handarbeiten auf und verkaufen sie in den Städten, Oder wenn sie gelegentlich im Ausland sind, auch dort.

>>Die Frauen in den Dorfern sind schr arm und haben keine Möglichkeit,ihre lzindlichen Gebiete zu verlassen, um ihre Ware zu verkaufen<<, sagt Frau Mungonye. »Deshalb ist es für sie Cine große Hilfe, wenn wir vorbeifahren und bei ihnen einkaufen. Einige der Ergebnisse des Projekts waren aufdem Forum zu sehen. Frau Mungonye hatte Dutzende von Lederhandtaschen und Glasperlenketten nach China mitgebrachtAn vielen Tagen war Frau Mungonye auf dem Marktplatz des Forums zu schemwie sie ihre Handtaschen und Ketten aufeinemTisch ausbreitete.

„Mcine Kunden hier kommen aus der ganzen Welt<<, sagte sic. Bei der Einfuhr von Water] war es ihre Absicht, ihren Flug nach China zu bezahlen und einen kleinen Gewinn mit nach Hause zu nehmen, der als Startkapital für weiterc Projekte benutzt werden konnte.Außerdem hat sie vor, einige der Anregungen aus verschiedenen Arbeitsgruppen mit nach Hause zu nehmen, so z.B. das »Know—how«, wie man Kapital Für die Finanzierung von Entwicklungsprojekten im

kleineren Rahmen aufbringt. >>ICh sehe viele Möglichkeiten, um Gesundheit und die Entwicklung dcs Gemeinwohls zu f(jrderm, sagt Frau Mungonye.

In Nairobi ist Frau Mungonye außerdem Mitglied im drtlichen Bahá’í—FrauenausschuB. DieserAusschuB arbeitet eng mit dem nationalenAusschuB für Frauenfragen zusammen, der insbesondere Dorffraucn bei der Entwicklung von Projekten hilft, die ein Einkommen sicherstellen.

>>Zu uns z'éhlen Frauen, die einfache Fairbund Knfipfiechniken kennen, und andere, die Handarbeiten machem, sagtejosephine Lutta, ein Mitglied im nationalen AusschuB für Frauen. >>Und wenn sie für diese Proj ekte kein Geld haben, so ermutigen wir sie, sogenannte Kfichengérten einzurichten, weil die moisten von ihnen kleine Hofe haben, in denen sie etwas anbauen und ihre Produkte dann verkaufen konnen, um sich über Wasser zu halten. Maryke Van Lith. — Maryke Van Liths Bemühungen, Frauen mehr Fzihigkeiten zu vermitteln, setzt am anderen Ende des wirtschaftlichen Spektrums an. »Die westlicheWelt braucht nicht so Viel materielle Hilfe<<, sagt sie bei einem Interview in Huairou. >>Aber sie braucht psychologische und seelische Unterstfitzung. Die Median sind beispielsweise so voll von gewaltt'étigen und erniedrigenden Bildern, daß die Menschen und insbesondere die Frauen das Gefühl bekommen müssen, daß sie keinen Wert haben. A15 Teil ihrer eigenen Bemijhung, diesen Trends entgegenzuwirken, hat Frau Van Lith in letzter Zeit angefangen, Ermutigungsseminars in ihrer neuen Heimat Leiderdorp in den Niederlanden abzuhalten. Hierher ist sie gezogen, nachdem 516 17 jahre 12mg in Surinam bei der Lescfdrderung, der Hygieneerziehung und an anderen Entwicklungsprojekten im kleineren Rahmen in Bahá’í—Gemeinden mitwirkte. Das Ziel der LeiderdorpSeminare besteht in der Forderung des Selbstwertgefijhls, der Selbsterkenntnis und der verstiirkten Fzihigkeit, liebevoll mit allen Mitmenschen umzugchen.

>>Diese Art Training ist besonders bei der Ermutigung von Frauen von Nutzem, sagte FrauVan Lith, die 71 Jahre alt ist. »Allzu heiufig sind die Schulen und die Arbeitsplzitze eigentlich die ganze Gesellschafi — voller Schuldzuweisungen und Kritik. Die Kurse konzentrieren sich darauf, das Positive in anderen zu sehen, zu ermutigen und für Ermutigung empfénglich zu werden. Sie sind bestrebt, die weiblichen Eigenschaftcn der Zusammenarbeit und Liebe und Fürsorge ans Tageslicht zu heben,was in der heutigen Gesellschaft so nötig ist.« CI


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Buchbesprechung

Die Psychologie der Geistigkeit

H.B. Daneshs Versuch einer Synthese von Psychologie und Ethik

Arthur Koestler schrieb einmal, daß ein

großer Durchbruch in Wissenschaft und Kunst immer vom plötzlichen Zusammenwirken zweier bis dahin in keinerVerbindung stehenden Fertigkeiten Oder Denksystemen herriihrte. Er definiert diesen Prozeß als den >>Schöpfungsakt<< und wcist darauf hin, daß die meisten grOBen ncuenTheorien und Erfindungen aus diesem >>bisoziativen Muster schöpferischcr Synthese<< geboren wurden.

Drl H.B. Dancsh ist es möglicherweise gelungen, in seinem neuen Buch >>The Psychology ofSpirituality<< eine solche schbpferische Synthese zu erreichen, denn er hat nichts weniger unternommen, 2115 den bahnbrechendenVersuch einer neuenTheorie des Bewußtseins und der Psychologie des Mann schen zu umreißen.

In Übereinstimmung mit Koestlers Aussage gelangt das Buch zu dieser neuen Erkenntnis, indcm es zwei angebhch widerstreitends Denkbereiche verbindet: Psychologie und Geistigkeit. Das Ergebnis nennt Danesh die >>PsyChologie der Geistigkeim. Ihre zentrale Absicht ist es, die >>biologischen, psychosozialen und geistigen Aspekte unserer Wirklichkeit in ein vollstandigeres und ausgeglicheneres Verstiindnis der menschlichen Natur und der menschlichen Bediirfnisse zu integrieretm

Danesh, ein kanadischer Psychiater, der mehr als dreiBig Jahre praktizierte und lehrte, beginnt damit,

Elementare menschliche Bezugspunkte

Menschliche Außenbeziehungen

materialistisch—mechanistische Sicht der menschhchen Realitiit beschränkt haben. Er schreibt1>>Diese Sichtweise der menschlichen Natur hält daran fest, daß wir im Grunde Tiers sind, den Instinkten ausgeliefert und in unserem Leben dazu getrieben, uns Vergntigen zu verschaffen und den Schmcrz umjcden Preis zu meiden. Wiihrend Vicle dicser Theorien einen Fortschritt gegenüber althcrgcbrachten Vorstellungen von der Psychologie des Menschen darstcllcn, 1116th cr, daß die modernen materialistischenAuslegungcn nun in eine Sackgasse geraten sind. >>Die matcrialistischc Philosophie<<, so schreibt er, >>1eugnetjeglichen Sinn des Lebens und ermutigt die Menschen, nach ihren eigenenWünschen, Gefühlen und Instinktcn zu leben. Dicse Einstcllung Stellt alle menschlichen Fähigkeiten in den Dienst der Befricdigung und der Überhéhung des Selbstes. A15 Ergebnis dessen werden Habgicr, Ungercchtigkeit, Extreme von Wohl Wissen

- Selbsterfahrung - Selbstentdeckung — Selbsterkenntnis

- Gleichwertigkeit aller Menschen

- Einzigartigkeit jedes Menschen

- Einheit der Menschheit

anderen

mögen



die Entwicklung psychologischchhcoricn der letzten hundertjahre zu vcrfolgcn. Er waist daraufhin, daß dic56 sich gréBtcnteils auf eine

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Faktor Zeit

- Gegenwart ‘ (Hier und Jetzt)

- Sterblichkeit

- Unsterblichkeit

- Trennung

Einheit


Liehe - Selbstbezogenheit - Selbstakzeptanz - Wachstum/Entwicklung d. Selbst Akzeptanz des Eimuhlungsver innere Einheit

Primareinheit

- Zweite, geistige

SCHAUBILD

»Ein integriertes Schema der grundlegenden menschlichen Fähigkeiten und der elementaren menschlichen Bezugspunkte unter gesunden Umstfindenu

(aus Danesh: »The Psychology of Spirituality<<, p. 81):

In >>The Psychoogy of Spirituaitw entwickelt H.B, Danesh eine neue Theorie der menschichen Psychologie: er setzt die >>Grundfähigkeiten<< Wissen, Liebe und WiHen mit den drei >>e|ementaren menschbiChen Bezugspunkten<< des \chs, der menschlichen Außenbeziehungen und der Zeit in Beziehung Jeder Schmttpunkt der TabeHe kennzeichnet mehrere Stufen menschlichen Wachstums und menschicher Entwickung. Die \etzte Stufe dieses Wachstums beschreibt Danesh mit dem arabischen Begriff >>Movasat<< (Nachstemiebe, UnexgennUtzigkeit): >>...die höchste Stufe der menschlichen Reife, ein Zustand, in dem der einzelne anderen Vorzug laßt ohne Hoffnung auf Belohnung.<<

Grundlegende menschliche Fihigkeiten

Wille

_ SelbstkontroHe

— Selbstvertrauen - Eigenverantwortlichkeit \ - Wettbewerb/ ‘ Konkurrenz - Zusammenarbeit und Gleichheit - Movasat (siehe ‘ Erlauterung)


‘ — Wunsch 1- Entscheidung ‘ — Handeln


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H.B. Danesh The Psychology of Spirituality

280 Seiten. Paradigm Publishing Victoria, Canada

(deutsche Ausgabe in Vorbereitung)

H.B. Danesh beschéftigt sich seit vielen Jahren mit der Frage der Grundwerte des Menschen und der menschlichen Gesellschaft. Bitd rechts: Ansprache Über >>Grundwerte fUr eine neue Weitordnung<< bei einer Tagung aus Anlaß des 50jährigen Bestehens der Vereinten Nationen


H. B. DANESH, M D.


ONE COUNTRY § 4/1995


stand und Armut,Aggression und Krieg als unvermeidlich und Vielleicht sogar notwendig angesehen. Danesh bietet eine alternative Erklärung fiir den komplexen und dynamischen Zustand, den wir Bewußtsein nennen: die letztendliche menschliche Realitét ist geistiger Art.

Er gibt zu, daß viele Menschen diese Sichtweise nur schwer werden akzeptieren können. >>Zunachst einmal ist schon der Begriff Geistigkeit verdeiChtig<<, schreibt er. >>Wir leben in einer Zeit, in der Viele Wissenschaftler die Giiltigkeit solcher Begriffe wie Seele, Geist Oder Geistigkeit verneinen Oder in Frage stellen.\X/eiterhin haben Viele Religionen ihrAnsehen verloren, weil sie nur aufblinden Glauben bauen und weil ihre Briiuche und Riten voller Aberglauben undVorurteile sind Oder zu sein scheinen. Und doch, so schreibt er, können cine Reihe der theoretischen Wie praktischen Probleme einer rein materialistisch orientierten Psychologie nur durch die Erforschung solcher Begriffe wit: Seele und Geist befriedigend beantwortet werden. So fiihrt er aus, daß ein rein materialistisches Model] der menschlichen Natur davon ausgeht, daß die Menschen zufrieden sein müßten, sofern nur ihre materiellen Oder Trieb—Bediirfnisse sowie ihre Bediirfnisse nach Freiheit und intellektuellen Kenntnissen befriedigt sind.]edoch sind es, wenigstens in den westlichen Gesellschaften, gerade jene in materiellemWohlstand lebenden Menschen, die einen Therapeuten aufsuchen.


Das menschliche Grundbediirfnis nach Geistigkeit


>>Es gibt jedoch einen sehr grundlegenden Unterschied zwischen Mensch undTiem, schreibt Danesh. >>Tiere weichen nicht von den Gesetzen des Instinkts ab. Menschen





























haben offensichtlich eine Wahlmöglichkeit. Unsere Reaktion auf Grundinstinkte wie Hunger, Schmerz, Flucht, Kampf Oder Sex ist ganz anders als bei Tieren.Wir können uns entscheiden, 0b wir lieber fasten Oder Vielleicht entsprechend einer Diiit leben als Vie] zu essen. Einige mögen sich entscheiden, bis zum Tode zu fasten, um etwas zu erzwingen, 0ft auf der Suche nach GerechtigkeitAndere essen nicht, obwohl der Hunger gestiflt werden könnte und Nahrung zur Verfiigung steht (wie bei Anorexie nervosa). Noch andere teilen ihre Nahrung nicht mit den verhungernden Massen, auch wenn sie mehr Nahrung haben als sie selbst brauchen. Dies sind allein menschliche Verhaltensweisen. Weit über den psychologischen Zusammenhang hinaus weist Danesh daraufhin,daß eine rein materialistische Sicht der Psychologie des Menschen unzureichend ist,um den Fortschritt der menschlichen Kultur zu erkliiren, und zwar betrifft das den Drang zum Schaffen von Werken auf den Gebieten V0n Kunst, Musik und Architektur, wie auch in Bezug auf »geistigc Eigenschaften<< wie Liebe, Opferbereitschaft und Selbstlosigkeit, die dem Zusammenhalt von Gesellschaften dienen.Andererseits geht Danesh der Frage nach, wie das Fehlen geistiger Eigenschaften und die daraus resultierende Gier Korruption und Egoismus bewirken und sogar zum Niedergang einer Kultur führen können.

Eine alternative Theorie der menschlichen Psyche

Aber Daneshs Theorie ist mehr als bIOBe Kritik des Materialismus. Sie ist auch eine ausfijhrliche und neuartige Darstellung einer alternativen Theorie der menschlichen Psych010gie.Kurz gesagt, Danesh umreiBt drei grundlegende Fiihigkeiten der menschlichen Seele:Wissen, Liebe und Willem. Diese Fähigkeiten unterscheiden uns von denTieren. Alles menschliche Tun, das über die Sicherung des rein körperlichen Überlebens hinausgeht, kann im Rahmen jener Grundfiihigkeiten verstanden werden.

»Wissen, Liebe undWillen sind besondere, einzigartige Kräfte.Wissen hat die Kraft, dieWirklichkeit aller Dinge zu entdecken und darzustellen. Es wirkt wie die Sonne, unter deren Strahlen die Eigenschaften aller Dinge sichtbar und verständlich werden. Liebe ihrerseits besitzt die bemerkenswerte Kraft der Anziehung, jene Kraft, die Menschen, Dinge und Ideen zusammenfiihrt. So ist es die Anziehungskraft unter den verschiedenenTeilen der Atome, die die physische Welt funktionieren léBt.Was Familien und Gesellschaften zusammenarbeiten läßt, ist ebenfalls die


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Kraft der Anziehung. Dasselbe gilt fijr Gedanken und Weltanschauungen. Anziehung ist die Macht der Liebe und das, was sie zumWirken bringt.Wille, die dritte Eigenschaft der menschlichen Seele, hat ebenfalls eine eigene Kraft: die Kraft zu wiihlen, zu entscheiden und zu handeln. Schließlich sollten wir, wann immer wir überWissen Oder Liebe Oder Willen sprechen, daran denken, daß sie am wirksamsten sind, wenn sie gemeinsam angewendet werderm

Bezugspunkte des Menschen

Diese drei Fähigkeiten können mit drei elementaren menschlichen Bezugspunkten korrelicrt werden. Danesh bezeichnet diese Bezugspunkte als das Ich, die menschlichenAußenbeziehungen (dieWelt) und die Zeit. Dann setzt er die drei »F':ihigkeitem und die drei „Bezugspunkte“ in einem Diagramm zueinander in Beziehung und kommt so zu einem Modell, mit dem er zeigt, wie jede Querverbindung, neben einigen neuen Elementen, verschiedene Stufen enthält, die in vielen Fillen den Stufen menschlicher Entwicklung entsprechen, Wie sie schon früher von psychologischenTheoretikern umrissen wurden. Danesh benutzt ein einfaches Schaubild, um dieses Modell zu veranschaulichen.

Man sieht, daß jeder Schnittpunkt der Tabelle mehrere Stufen menschlichenWachstums und menschlicher Entwicklung kennzeichnetViele Probleme der Psyche und auch Krankheiten rühren vomVersagen eines Menschen her, sich über mehr als nur ein Oder wenige Stufen zu entwickeln. Das Zusammenspiel des Ichs mit demWissen findet z.B. in drei Stufen statt: Selbsterfahrung, Selbstentdeckung und Selbsterkenntnis.W§hr€nd der Kindheit ist es angemessen, daß die Menschen ichbezogen sind, die Reifezeit fiihrt zur Selbstentdeckung, und als reifer Erwachsener schließliCh bewegen sie sich auf die Selbsterkenntnis zu.Wenn jedoch dieser normale Verlauf der geistigen Entwicklung gestért wird, etwa weil jemand es verséumt, über die Ichbezogenheit Oder einfache Selbstentdeckung hinauszuwachscn, entstehen Probleme.

>>Durch Selbsterkenntnis werden wir uns der grundsétzlichen Vornehmheit unseres Wesens bewußt, beginnen damit, die geistig6 Natur unserer Wirklichkeit zu bestétigen und verleihen unserem Leben Sinn und Bedeutung<<, schreibt Danesh. >>Ohne Selbster _ *zzfiv 3

kenntnis wird unser Leben vonAngst geplagt, verwirrend, furchterzeugend und schmerzV011. Deshalb werden Menschen, die in Bezug auf Selbsterkenntnis nicht die Möglichkeit einer gesunden, ganzheitlichen Entwicklung hatten, über sich selbst, die Natur ihrer Wirklichkeit und den Sinn ihres Daseins verwirrt. H.B. Danesh charakterisiert dann die Stadien der Entwicklung, die sich in jedem der neun Schnittpunkte zwischen >>Fiihigkeiten<< und >>Bezugspunkten<< ergeben. Dann entwikkelt er dieses Modell zu einem therapeutisghen Prozeß, um Menschen zu helfen, eine Übereinstimmung all dieser Bereiche zu erreichen und setzt diese Elements überzeugend in Beziehung zu den neuesten Entdekkungen der Körper—Gehirn—Geist—Forschung.

Danesh — Autor zahlreicher Bücher, Berater mehrerer UN—Organisationen, Initiator der >>Associatior1 0fBahá'i—Studies«, einige Jahre als Generalsekretér der Bahá’í-Gemeinde V011 Kanada teitig und zur Zeit Direktor der Landegg Academy in Wienacht, Schweiz, sowie des Institute of International Education and Development - weist darauf hin, daß die Quelle Vieler seiner Gedanken das private Studium der Weltreligionen und im besonderen der Bahá’í—Religion ist. Dieses Buch ist jedoch keineswegs der Versuch einer falschenVermischung von Psychologie und Religion. Es ist Cher, in bester Tradition der Koestlerschen Kreativitiit, ein aufrichtiger Versuch, die Erkenntnisse eines Lebens des Studiums einer Disziplin (Psychiatric) mit den Einsichten eines Lebens des Dienstes (Religion) zu verbinden. D


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Dr. HlB. Danesh gilt als international angesehener Spezialist fUr das Thema Entstehung und Überwindung von Gewalt in der Familie und der Gesellschaft. Bild oben: Grundsatzreferat von H,B. Danesh bei einer UNICEF-Konferenz zum Thema »Entwicklung einer gewaltfreien Familie«.

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Wendepunkt


Zusammenfassung

der Erklärung dér Internationalen Baha'iGemeinde zum 50‘ Jahrestag der GrUndung der Vereinten Nationen Oktober 1995