Zeit für Geist/Nummer 21/Text

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[Seite 1]ZEIT R“ GEIST

BA H A‘ i

Gedanken fflr eine bessere W E L T

No 21 1999

Die Herausforderungen des 21. J ahrhunderts


INHALT:

Unsere Identitfit;

Keine globale Gleichmacherei!

Was lühmt uns?

Die Lfihmung überwinden; Unsere gemeinsame Chance;

Die Dritte Welt: eine soziale Atombombe; Chancen und Gefahren; Hunger und Umweltprobleme; Frauen brauchen gleiche Entwicklungschancen; Wer zu spit kommt, den bestraft das Leben;

Die Suche nach einem neuen Weltethos;

Die Erde ist nur ein Land und alle Menschen sind seine Bürger;

Weltreligionen suchen Zusammenarbeit .

C}

Gesprfichsrunde: Qewafi.‘ gegen frauen

Samstag, 13. Mfirz, 20 Uhr Centre Bahá’í, All.Goebel,l7 Lux-Stadt (Détails Seite 8)

[Seite 2]Zeitfür Geist 21

,,1;s wird oft Eeftauytet,

oflzss cfurch die Verwiréficfiung einer Weftidéntitat die einzefnen Qfiecfer ifire figenstéincfigkeit,

ifire Icfentitdt verfieren.

Das Qegenteifist cfer }a[£

Je mefir einzefne .Menscfien

gewifli.“ und in cfer Lage sinzi Welüofcantitdt zu entwicléefn,

ofesto mefir sinafsie auch in (fer Lage, ilire nationalé, vcbféiscfie und Eommunafe Icfentitat zupffegen. Wamm so[[te dér genuss von W/Veftfiteratur den Qenuss von 5-feimatfiteratur ausscfifiessen?

Das gfeicfie gift im £Bereic/i von Zlvlusié, Kunst, Spracfie und Tradition frfalirungsgemalss Eefierrscfit man cfie eigemz Spraclie um so besser,

je intensiver man sicfi aucfr

mit 3-remdkyracften

— spatter cfer W/Ve[tfügsspracüe auseinancfersetzt. Je Eesser man (fie flrcfziteétur entfernter W/(if/éer wurcfigen uncfgeniessen Eann,

ofesto grdssere Jcapazitaten sinaffrei, das eigema éulifureffe frfie

in cfiesem Bereicfi verstefienof uncfwürafigenofzu erfefien.“ "

‘ Unsere Identitüt

Obwohl sich immer mehr Lebensbereiche léingst auf globaler Ebene organisiert haben, tun wir uns schwer, unsere Identitéit und unser Denken über die Grenzen des Nationalstaates hinaus konsequent auf die globale Ebene anzuheben. Wir erkennen noch immer nicht, wie national - egoistisches Denken in einer interdependenten Welt Auswirkungen hat, die durchaus mafios zu nennen sind: Wir bereichem uns auch dann noch hemmungslos auf Kosten der Armsten der Erde, wenn diese daran Verhungern. Da diese Menschen femen Nationen zugehören, empfindet dies kaum jemand als Skandal. Denken in Nationalinteressen erweist sich heute als eine Hauptblockade fiir fairen intemationalen Interessenausgleich, Frieden und Gerechtigkeit. Je mehr wir die genannten Denkkategorien ideologisch verklären, desto mehr machen wir uns blind fijr ihre Folgen und Schwachstellen.

Keine globale Gleichmacherei!

Die Idee einer Weltidentitéit ist weit entfemt Von einer globalen Gleichmacherei. Im Gegenteil, gerechte globale Rahmenbedingtmgen künnen eine freie Entfaltung regionaler Eigenheiten .weitaus besser garantieren als eine nationalstaatliche Ordnung. In Afrika, wo Volk und Nation nirgendwo deckimgsgleich sind, ist die Sparmung zwischen Mehrheiten und Minderheiten ein ständiges Konfliktpotential. Wenn Nationen in einer zusammenrückenden Weltgesellschafi unwichtiger werden, wird diese ihre ,,Minderheiten“ weit eher als wertvolle Bereichenmg ihrer Weltkultur empfinden denn als eine Bedrohung, für die es dann keine Grundlage mehr gibt. Regionale Selbstbestirnmung wird erst dann ihre Chance erhalten, wenn sie durch einen gemeinsamen globalen Willen und entsprechende globale Gesetze und Institutionen vor jeder Art Von Von*nachtstellung geschfitzt wird.

Was léihmt uns?

Wir denken in den uns gewohnten Kategorien von Marktwirtschafi, Sozialismus, Nationalstaat oder anderen Denkstrukturen und merken nicht, wie sehr die Ideologisierung dieser Denkkategorien in unseren Kfipfen zur Hauptursache unserer heutigen Probleme geworden sind. Der Markt gilt als geeignet fiir die Optimierung privater Initiative und sch6pferischer Kreativitéit. Er machte uns reich, und so fzillt es schwer zu begreifen, warum gerade marktwirtschafiliche Mechanismen den Süden in immer tiefere Abhéingigkeit, Verschuldung und Verarmung getrieben haben sollen.


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Marktwirtschaft hat - bei allen sonstigen Vorteilen -die Tendenz zur Polarisierung Von Arm und Reich. Wenn zwischen zwei Partnem völlig ungleiche Startvoraussetzungen gegeben sind und keinerlei Regulative den Schwächeren schützen, so etabliert Marktwirtschafi einen brutalen Kreislauf der Ausbeutung. Auf globaler Ebene sind bis heute in keiner Weise die Voraussetzungen für eine faire und funktionierende Marktwirtschaft geschaffen Worden.

Die Léihmung überwinden

Wir brauchen heute neue Konzepte, die globale Verantwortung mit kreativer Gestaltung verbinden. Voraussetzung hierfiir ist, die Léihmung durch ideologisiertes Festhalten an einseitigen Konzepten zu überwinden. Gerade in den hochentwickelten Industrieléindem feillt uns dies besonders schwer, weil wir (noch) die grossen Nutzniesser ideologisierten marktwirtschaftlichen und nationalstaatlichen Denkens sind. Dies wird sich aber mit Sicherheit schon relativ kurzfristig éindem, denn die unauflialtsame globale Vemetzung zieht uns unwillkfirlich in einen Zusammenbruch der Okonomie und Okologie der

ganzen Welt hinein, wenn wir so weitermachen als bisher.

Unsere gemeinsame Chance

Der Nord-Süd-Konflikt ist seinem Wesen nach bei weitem nicht nur ein finanzielles Problem. Mit Geld allein lassen sich weder Probleme wie Korruption und Menschenrechtsverletzungen noch Gewaltherrschaft oder Regenwaldrodung beseitigen. Solange in vielen Léindem der Dritten Welt noch Regierungen an der Macht sind, die nicht demokratischer Ausdruck des Willens ihrer Vülker sind, konnen auch noch so umfangneiche Finanzprogramme nicht greifen. Solange nationales und intemationales Wirtschaftsrecht nicht wirksam gegen Korruption vorgeht, wird jedes Entwicklungsprogramm mehr oder minder stark pervertiert. Solange wir im Norden unseren seelischgeistigen Hunger nicht anders als durch die Sucht nach materiellen Befiiedigimgen stillen konnen, wird auch die Spiegelseite, der nackte Uberlebenshunger im Süden nicht aufl16ren.Wir müssen ein globales Verantwortungsgefiihl entwickeln, das Von dorther alle Aspekte des Zusammenlebens auf dem einen Planeten Erde neu ordnet. Dies fiihrt irn Norden zweifelsohne zumindest vorübergehend zu einem Weniger an der uns gewohnten Art Von Lebensqualität und irn Süden zu einem Mehr an Lebenssicherheit.

Aber vielleicht finden wir schliesslich als eine Welt ’ gesellschafi gemeinsam zu einer andem Lebens qualität, von der wir alle ein Mehr an Glück haben. Dies ist unsere einzige gemeinsame Chance.

Die Dritte Welt: eine soziale Atombombe

Eine der grossten Herausforderimgen des neuen J ahrhunderts ist die Dritte Welt, wo die Gefijhle Von Ausweglosigkeit und Entwijrdjgung in den letzten Jahren erheblich zunahmen. Menschen ohne Hoffnung und ohne Wijrde neigen zu immer verzweifelterem, irrationalem Verhalten, so dass Experten das sich hier entvvickelnde Konfliktpotential bereits in den neunziger Jahren als ,,soziale Atombombe“ bezeichneten. Die Ausweglosigkeit der Länder der Dritten Welt zeigt sich vor allem darin, dass sich inzwischen praktisch jeder ihrer Schritte als falsch erweist und die Probleme nur noch vermehrt. Es entsteht eine strukturelle Ausweglosigkeit.

Die Entwürdigung der Menschen beschränkt sich bei weitem nicht nur auf den sogenannten Teufelskreis der Arrnut. Auch ihre gesamte Sinngebung, ihre traditionellen Werte, ihre Kultur und Religion werden von der Magie unserer westlichen Konsumgesellschafi nlit allen ihren Mitteln, Von hohlen Werbeversprechen bis hin zu Pomo- und GewaltVideos, unterspült. Zurück bleibt ein Gemisch aus Unterlegenheits- und Sinnlosigkeitsgefiihl, das Apathie hervorrufi und jederzeit in Wut, Hass, Gewalt oder sonstige Ausbrüche umschlagen kann.

Chancen und Gefahren

Die Schere zwischen den Anfordenmgen einer globalisierten Gesellschafi und ihren realen Steuerungsmoglichkeiten ist nur durch neues Denken irn Sinne einer politischen Weltordnung wieder zu schliessen." Hierin liegt die intellektuelle Herausforderung der nächsten Jahre, nicht aber in der leider noch immer medienwirksarnen Rationalisierung der unbewussten Angst vor jeder Weltordnung. Die nächsten Jahre müssen bestimrnt sein von einer globalen Diskussion über Werte, Ziele, Strukturen und Institutionen dieser neuen Weltordnung.

Hunger und Umweltprobleme

Während Leid und Zerstéirungen des Ost-WestKonflikts langsam verschwinden, wächst das Elend des Süd-Nord-Konflikts ins Unfassbare: Fast alle Kriege seit 1945 waren Kriege in der Dritten Welt.


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Weftweiter Hunger, /éein unfiisbares £Pro5[érn: Scfum eine refativ geringe ,,.’}-fungersteuer" auf die weftweit Eonsumierten .KosmetiIéa wfirdé ausreicflen, dim scftfimmsten Hunger zu Eeseitigen

Allein die Zahl der Hungertoten dieses Jahrhunderts ist grosser als die der Verluste irn zweiten Weltkrieg. Wahrend wir die Umweltprobleme des Nordens langsam in den Griff bekommen, wachsen die armutsbedingten Umweltzerstorungen im Süden rasend schnell und haben jene des Nordens - im Gesamten gesehen - léingst überfliigelt. Athiopien war früher z.B. zu 80% bewaldet, 1991 waren es rlur noch 3%.Der Schreckensbericht des Club of Rome über die Begrenztheit der Rohstofle irn Jahre 1972 fiihrte nicht zu grosserer Besonnenheit, viehnehr sanken dank einer gezielten Politik die Preise für viele endliche Ressourcen immer weiter ab. Letztlich wird hier nicht nur die Dritte Welt, sondem die einzige Welt die Wir haben, bis zur Erschopfung ungebremst ausgemergelt.

Der ,,Dritte-Welt-Krieg“ ist léingst irn Gange und wir tun alles, ihn in einen ,,Dritten Weltlvieg“ weiterzuentwickeln. Ein schlirnmeres Versagen der für die Globalpolitik Verantwortlichen ware wohl kaum denkbar, als dass man zuerst ein einmaliges Konfliktpotential erzeugt und dieses dann mit den modemsten Waffen bestückt.

Wir haben letztlich keine andere Wahl, als einen gewaltigen Interessenausgleich auch mit dem Süden zu schaffen und diesen durch eine neue demokratische Weltordnung abzusichem. Anstatt uns wachzurt'1tteln, nehmen wir selbst die schlimrnsten Schreckensmeldungen aus dem Nord-Süd-Verhältnis merkwürdig passiv hin. Dabei sind Hunger und Elend die schlimmste Entwürdigung, die wir uns in dieser Welt des Uberflusses leisten. Der erste Ansatz jeder Hilfe fiir den Süden muss daher in der sofortigen Beseitigung dieser krassen Ungerechtigkeit bestehen. Denn Hunger zerstort nicht nur Menschenleben, sondem auch die bis dahin funktionierenden Wirtschafisund Sozialstmkturen. Und nicht zuletzt ist der Hunger eine der Hauptursaehen unwiederbringlicher Umweltzerstonmgen. Dort wo Hunger droht, wird auch die letzte Erdkrume ausgelaugt und der letzte Baum gefallt. Der weltweite Hunger ist kein unlésbares Problem. Ein Bruchteil der Gelder, die der Norden beispielsweise für Rüstung, oder zur Stütznng unrentabler

Industrien in seinen Léindem ausgibt, würde zur Ausrotttmg des weltweiten Hungers ausreichen.

Frauen brauchen gleiche Entwicklungschancen Dass nur ein geringer Teil der heutigen Rüstungsausgaben nötig ware, urn allen Kindem der Welt Bildungs- und Ausbildungsstéitten und damit die Basis für die wirkungsvollste Selbsthilfe zur Verfiigung zu stellen, wurde oft vorgerechnet. Relativ neu ist jedoch die Erkenntnis, class gleich mehrere Probleme gleichzeitig angegangen werden, wenn in den armsten Regionen vor allem die Bildung der Frauen gefordert wird. Bereits 1989 veroffentlichte die UNO eine Untersuchung, nach der Frauen eher geneigt sind, ihr Wissen an ihre Kinder weiterzugegeben und sie bei deren schulischem Fortschritt aktiv zu unterstützen. Mit der Bildung der Frauen, so zeigte sich, wächst auch eine verantwortliche Familienplanung. Femer nehmen in Gebieten mit besserer Ausbildung der Frauen private, soziale und 6kologische Initiativen rasch zu. In Kenia wird z.B. eine landesweite Organisation für Baumpflanzungen allein von Frauen getragen. Gleiche Entwicklungschancen der Frauen ist auch in der Dritten Welt einerder zentralen Ansatzpunkte für die Gesundung der Gesellschafi.

Die Investition in die sofortige und umfassende Beseitigung des Hungers ist zudem die bestmögliche globale Umweltpolitik und die wirkungsvollste Weltbevolkerungspolitik. Selbst irn nach wie vor rapide wachsenden Indien hat sich gezeigt: das Bev6lkertmgswachstum kommt überall dort zum Stillstand, wo der Hunger zurn Stillstand kam.3) Auch eine sinnvolle globale Gesundheitspolitik konnte sich sehr schnell und wirktmgsvoll auf das Problem der Uberbevolkerung auswirken. Wenn das Uberleben und die Gesundheit der Kinder gesicherter ist, tragt dies dazu bei, die eigene soziale Sicherheit anders als durch eine grosse Kinderzahl zu suchen. Diese Grundwerte gipfeln in der Einsicht:

Die "Welt ist die eine }{eimat. Allie Jvlenscften sincfvon Qrumfaufgléicfiwertige Bürger cfieser einen .7-feimat

Wer zu spüt kommt, den bestraft das Leben

Die heutige Weltordnung ist Spiegelbild der Wettunordnung in unseren Kopfen. Oder positiv formuliert: Die künftige Weltordnung muss Spiegelbild einer neuen Wertordnung sein, die mit der Gleich wertigkeit allerMenschen dieses Planeten radikal emst macht.

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In einer Welt, in der zusammenwdchst, was zusammen geh6rt- nämlich die Gattung Mensch-, müssen auch die Religionen ihre Rolle entsprechend dieser Leitlinie neu definieren. Theologischer Wortstreit und sophistische Abgrenzungen werden über diese Herausforderung, in die wir zwangsweise gemeinsam gestellt sind, irnmer weniger Interesse finden. Entsprechend dem Satz von Gorbatschow: ,,Wer zu spüt kommt, den bestraft das Leben“, müssen die Religionen ihre Leistung heute auf die Qualität des weltweiten Zusarnrnenwachsens konzentrieren. Bahá’u’lláh formulierte im vergangen Jahrhundert den Massstab für unser Denken und Handeln in diesem Zeitalterglobaler Interdependenz so:

,,1)ie Wofi,gafi1*t der .Menscfifieit, ifir j-"riedé umf ilire Sicfzerlieit sirwfuneweicfifiar, werm umf efie nicfit ifire finfieit fest Eegründét ist". 4’

Die Suche nach einem neuen Weltethos

Die Suche nach einer neuen Ordnung und Dynamik, die der inneren Einheit der Menschheit und der Erde Rechnung trägt, muss den friedlichen, ja kooperativen Wettbewerb der Religionen in den nächsten Jahren bestimmen. Dies würde ja ihre, vielleicht rlur menschengemachten Gegensdtze, immer nnwichtiger machen und ihnen helfen, sich auf eine gemeinsame globale Ethik zuzubewegen. So würden dann auch die Religionen irgendwann ihre Einheit nicht nur in ihrem Ziel, sondem auch in ihrem Ursprung erkennen.

Die Erde ist nur ein Land und

alle Menschen sind seine Bürger

Dieser Leitgedanke, der von Bahá’u’lláh Vor über einhundert Jahren bereits formuliert wurde, zeigt die Notwendigkeit einer neuen Weltordnung. Genauso wie keine nationale Ordnung ohne Legislative, Judikative und Exekutive auskommt, karm auch die intemationale Verflechtung schon lfingst nicht mehr ohne entsprechende intemationale Ordnungsorgane funktionieren. Die Frage ist léingst nicht mehr, ob wir eine neue Weltordnung brauchen oder nicht, sondem wie wir sie endlich demokratisch und human gestalten konnen. Hafez Sabet *

Ans seinem Buch: Die Schuld des Nordens, der 50-Billionen-Coup

Horizonte Verlag GmbH, Frankfurt/M. ISBN 3-926116-34-X

g zuellennachweisz

1) Effendi Shoghi, Dieweltordnung Bahá‘u‘llé.hs, S296, Bahá’í-Verlag

Hoflieim/Tns.;

2) Sabet Huschmand, Weltidentitm, Horizonte-Verlag;

3) Bohm Kari-Heinz; Eine Welt - ein Schicksal. Ein Handbuch, Bad Konig; 4) Bahá’í|éh, Ahnenlcsc 131:2 Bahá’í-Vcflag, Hotheim/Tns.

5) Titelbild: Peter Spiegel

Weltreligionen suchen Zusammenarbeit

Brief der Religionen an die Religionen in Deutschland

Dieser Brief wurde auf Initiative der Konferenz der Religionen für den Frieden (WCRP) verfasst. Er wurde am I 7. Dezember von Repréisentanten der in Deutschland vertretenen Religionsgemeinschafien in Mairzz unterzeichnet. Dieses Schreiben richtet sich an führende Persdnlichkeiten, Gemeinden und Gruppen der einzelnen Konfessionen und betont ihre Mitverantwortung ,, für das gesellschafiliche Zusammenleben in unserem Land. “

Die Redaktion von Zeitfiir Geist empfindet diesen oflenen Brief als eine zeitgeméisse und lobenswerte Aktion, die sie ihren Lesern nicht vorenthalten m0'chte. Zur Nachahmung empfiohlenl

Es ist an der Zeit, aufeinander zuzugehen. Die Religionsgemeinschafien fühlen sich mitverantwortlich fiir das gesellschafiliche Zusammenleben und sind sich der Bedeutung der Religionen für das 6fientliche Leben bewusst. Religion ist nicht nur Privatsache. Die Frage der religiosen Unterweisung an den öffentlichen Schulen wird in vielen Léindem der Bundesrepublik gestellt. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet — zumal in seinen grundlegenden ersten Artikeln — zu einem konstruktiven Zusammenwirken, nicht nur zu einer éiusserlichen Toleranz. Wir konnen die F ragen nach einem solchen Zusammenwirken aus solchen Grimden, Vor allem aber aus unserem je eigenen Selbstverständnis heraus, nicht länger hinausschieben.

Wir wenden uns mit diesem Brief zunächst an die eigenen Religionsgemeinschaften, ihre führenden Personlichkeiten, ihre Gemeinden und Gruppen. Wir wissen, dass es nicht mehr ausreicht, 1edigIich nebeneinander her zu leben. Immer noch belasten uns Feindbilder, Vorurteile und Missverständnisse, die sich in der Gesamtgesellschafi auswirken. Wir erfahren irnmer stärker, dass die Fragen, die uns unbedingt angehen, nicht mehr gestellt werden. Wem gegenüber fühlen sich die Menschen darm aber wirklich Verantwortlich?

Uns eint der Bezug auf eine letzte, unbedingte Wirklichkeit, die Juden, Christen, Muslime, Bahá’í und Menschen in andem Religionen Gott nennen und die uns in die Verantwortung stellt.


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Es gibt in Teilen unserer Bevülkerung Angste:

0 Zum einen vor moglicher kultureller Uberfrerndung durch Menschen, die aus anderen Ländern und unterschiedlichen Religionen starnrnen.

0 Umgekehrt gibt es in Minderheitsgruppen Angste, von der Mehrheitsgesellschafi und den in ihr dominierenden Kriifien abgelehnt und abgewertet zu werden.

0 Es gibt die Angst, die eigenen Wertetraditionen in einer pluralistischen, zur Beliebigkeit neigenden Gesellschafi nicht mehr verwirklichen zu konnen.

0 Schliesslich gibt es die Angst vor fundamentalistischer Bedrohung der Freiheit.

Wir stehen gemeinsam vor einer Fülle von Fragen, auf die wir antworten müssen.

0 Wie konnen wir uns mit unseren religiosen Anliegen und unseren ethischen WerlInassstéiben in einer Gesellschafi Gehor verschaffen, die weitgehend diesseitig-séikularisiert orientieit und Von okonornischen Gesetzen gepréigt ist?

0 Wie konnen wir in einer pluralen Welt Heranwachsenden Orientierung geben in Sinnfragen des Lebens und sie zu verantwortlichem Handeln ermutigen?

0 Wie konnen wir Menschen begegnen, die nicht glauben wollen oder konnen, zumal solchen, die den Religionen resigniert gegenüberstehen und daher skeptisch und agnostisch ihren Lebensweg zu gehen suchen?

0 Wie konnen wir uns als Religionsgemeinschafien den Anforderungen der wachsenden Globalisierung — den Fragen nach Gerechtigkeit, Frieden und dem weltweiten Schutz der Lebensgrundlagen — stellen und das Zusammenleben im ,,globalen Dorf“ rnitgestalten?

0 Wie konnen wir rassistischem, fremdenfeindlichem, intolerantem Gedankengut entgegentreten, und wie ist mit Gruppen umzugehen, die solches verbreiten?

Wir stehen somit vor gemeinsamen Aufgaben:

0 Wir kennen uns immer noch zu wenig. Wir müssen aufeinander zugehen und uns besser kennenlemen, im praktischen Leben wie in unseren religiosen Lehren.

Der Dialog der Religionen steht bei uns immer noch am Anfang und ist bisher keine Sache der breiten Bevolkertmg. Vieles verbindet uns.

V Doch soll das, was uns verbindet, nicht zu der

Auffassung führen, am Ende seien doch alle Religionen gleich.

Der Dialog ist ein Lemprozess, in den wir alle hjneingehen müssen mit dem Willen, voneinander und miteinander zu lemen.

Wer im Dialog steht, Weiss, dass niemand herauskommt, ohne gelemt zu haben und bereichert zu sein.

Der Dialog zeigt auch, wo wir aus unserem eigenen Glauben und unseren eigenen Uberzeugtmg heraus gemeinsam handeln und dabei die Gemeinschafi mit allen Menschen guten Willens suchen konnen, seien sie religios oder nicht.

An vielen Orten und zwischen einigen Religionsgemeinschaften gibt es Bemijhungen, die Verständigung und die Kooperation zu üben. Freilich sind solche Bemühungen noch sehr vereinzelt und préigen nicht das gesamtgesellschafiliche Bewusstsein.

Daher rufen wir mit diesem Brief dazu auf:

Gehen wir aufeinander zu! Besuchen wir uns in unseren Gottesdienst,Gebets-und Meditationsréiumen! Dort konnen wir erkennen, was unseren Glauben und unser Leben préigt. Wo wir uns personlich kennenlemen und bei einander zu Gast sind, entsteht Vertrauen, werden Gespräche moglich, horen wir einander zu — ohne Angst, übervorteilt oder in die Enge getrieben zu werden.

Uben wir den Dialog!

Wer in den Dialog eintritt, muss sich mit seinem Glauben und seiner Uberzeugung in das Gespräch einbringen. Streitfragen dürfen nicht einfach ausgeklammert werden. W0 sie behandelt werden, muss es im Respekt voreinander und in der ehrlichen Bemijhung um die Suche nach Wahrheit geschehen. Die Verpflichtung zu gegenseitiger Wertschätzung und zur liebevollen Zuwendung gerade zurn Fremden und Anderen ist in den Religionen verankert, so dass sie falschen Vorurteilen und der Geringschätzung des Fremden und

Anderen entgegenwirken müssen.


[Seite 7]Zeitfür Geist 21

Nur im Dialog léisst sich entdecken, wo wir in Grundauffassungen miteinander übereinstimmen und verbunden sind.

Suchen wir die Zusammenarbeit!

In allen Religionen gibt es vom Glauben her die Verpflichtung zur Achtung vor allem Lebendigen, zur Uberwindung zerstorerischer Gewalt, zur Suche nach dem F rieden, zur Solidaritüt mit Schwachen und Leidenden, zum Einsatz für eine gerechte Gesellschafis- und Wirtschafisordnung, zum Schutz der Familie, zur verantwortlichen Pannerschaft Von Mann und Frau, zum Ausbau des Erziehungs- und Bildungswesens.

Es ist eine Fülle von Aufgaben, die die gemeinsame Arbeit der Religionen erfordert.

Wir bitten unsere Religionsgemeinschafien, diesen Brief wo immer moglich und besonders auf lokaler Ebene zur Kenntnis zu nehmen, zu diskutieren und nach Wegen der Umsetzung zu suchen. In diesem Sinne soll der Brief zu Dialog und gemeinsamem Handeln vor Ort errnutigen.

Gerade, wenn Menschen verschiedenen Glaubens gemeinsam aufireten, ist das ein ermutigendes Zeichen der Hoffnung. Wo immer das bereits

geschieht, erleben wir positive und erfreuliche Reaktionen.

Wir möchten also die bestehenden Intiativen ermutigen, auf ihrem Wege fortzufahren und zugleich zu neuen Initiativen aufrufen.


Die am Mainzer ,,Runden Tisch“ versammelten Vertreter der Führungskreise verschiedener

Religionsgemeinschafien unterstützen diese Bemühungen nachdlficklich und setzen sich auch selbst in diesem Sinne ein.

Reichen wir uns die Hände und offnen die Herzen fiireinander, auf class in das neue J ahrtausend hinein die Welt gerechter und friedvoller werde!

Mainz, I 7. Dezember 1998

Vorsitzender des Nationalen Geistigen Rates der Bahá’í: Dr. F. Zülzer Vorsitzender der deutschen Buddhistischen Union: Dr. A. Weil Von der evangelischen Kirche: Bischofl. Kohlwage Bischof Dr. R. Koppe Dr . U. Dehn Hinduismus: Prof Dr. R. A. Mall Vorsitzender des Islamrates: H. ézdogan Prüsident des Zentralrates der Juden in Deutschland: Ignatz Bubis Van den orthodoxen Kirchen: Archidiakon Dr. Dr. W. Klein Von der r¢')mischkatholischen Kirche: Bischof Dr. H. J. Spital Weihbischof Dr. H. J. Jaschke Prof Dr. Dr. H. Waldenfels SJ Vorsitzender des Zentralrates der Muslime : Dr. N. Elyas

Der .Men.9cfi muss cfils £icfit fiefien, gfeicfigüftig,

wolier es éommt. Zr muss cfie Rose fiefien,

gleicfigüftig,

in wefc/iem Baden sie wdcfist. {Er muss ein Sucfier nach Wafir/ieit sein,

gflaicflgfiltig, aus wefcfter Queffe sie ffiesst...

j¢ll5du[-Ba/ici


[Seite 8]Zeitfür Geist 21

fllfiscfüecf V011 cfer Qewafi‘

Gewalt gegenüber Frauen, vor allem in der Familie, ist ein weit verbreitetes und schichtübergreifendes Problem. Das tatsächliche Ausmass der Gewaltsituation triflt nicht an die Offentlichkeit sondem bewegt sich in Dunkelziflem.

Schmerzhafier als physisches Leid ist jedoch der demütigende Moment, in dem eine Frau die Grenze vom Menschen zum Opfer überschreitet. Frauen, die diesen Psychoterror tagtäglich erleben müssen, verlieren auf Dauer jegliches Selbstwertgefiihl und werden ihrer menschlichen Würde beraubt.

Gewalt wird erlemt. Kinder, die Zeugen von Gewalt in der Familie werden, neigen in weit grosserem Masse zu gewalttätigem Verhalten als ihre Altersgenossen. Das Bekéimpfen der Gewalt muss daher auf verschiedenen Ebenen stattfinden.

Ist sich die Gesellschafi des Ausmasses der Gewalt bewusst und behandelt sie das Thema mit dem nötigen Ernst? Was sind die verschiedenen Erscheinungsfonnen von Gewalt und was sind ihre Auswirkungen auf Familie und Gesellschafi? Reichen die gesetzlichen Massnahmen aus, die Frau zu schützen? Wie konnen wir das Problem in den Griff bekommen? Wo müssen wir ansetzen?

finfacfung

Im Rahmen der Sensibilisierungskampagne des Frauenministeriums

Gewalt gegen J-"rauen undflwakfcfien organisiert die Z/7222272 Iuxernfiouryeoire céyfernflzey $czfla„ze.v ein Rundtischgesprach zum Thema:

Jilfiscfiiecfvon der Qewaft I Samstag, 13. Marz um 20 Uhr im CENTRE BAHA’I 17, Allée Léopold Goebel L-1635 Luxemburg-Stadt

.MitwirEenc[e :

Isa6e[[e Tfioss-Klein, psycfiobgue, attacfiée cfe Qouvernement 1"‘ en rang, Ministére die [21 Promotion féminine

-l- mama: Gewalt -jetzt ist Sc/ifuss !

Joéilé Scfiranlé, coorafinatrice rfi femmes en Détresse ¥- Tfiema: gewafi ist nie gerecfitfertigt I

faridéli .7-fiypertz, Dr. en rriédécinepyycfiofligue

-I Tfiema: gewafl - Traurnafiir .Kc'2'1yer umfseeié fari Kfiafiiryour, Dr. en psycfiobgie (CETOS) it-Tfiema: Qewalifreie .Konf[i£t&)sung

Ezmt man in diar familie It Moderation : .Manette Duyong, journafiste RT£ -I-film Zlcfavier: Martine Wiftfgeri, Trix supérieur, Conservatoire ail»: musique d’7;scfi/fllfzette

an fintrittfrei at

In der Vergangenlieit wurrfi fie Weft afurcfi gewaft regiert, alier scfion neigt sicfi afie Waage, gewafit verüert ifir Qewicfit urufgeistige Regsamkeit, Intuition umfdie geistigen figenscfizgften (fer Lieüe unafdés Dienens, in wefizlien die frau stark ist, gewinnen an finffixss. _7-oglicfi wirzfdizs new: Zeitaflter weniger 1minn[icFL umfmefir van weilificfien Leitfiilifern Jurcfizfrungen sein, odér genauer gesagt, es wircfein Zeitaüfer sein, in cfim die mdnnlicfien uncfweißliclien Jlspeéte dér .Ku[tur Eesser ausgegüc/ien sein werzfin.

‘fllfiafuf-Bafici

IMPRESSUM:


ZEI T ftir GEIST erscheint alle 2-3 Monate und ist aus chlorfrei gebleichtem Papier. Jede Nummer befasst sich mit den verschiedenen Facetten eines aktuellen Themas. Herausgeber:“ Bahá’í-Arbeitsgruppe Gedanken fur eine bessere Wel “, a.s.b.l

Druckerei: Imprimerie Print-Service, Lux-Ville

Ziele der Zeitung:

Völkerverständigung und Weltburgerethos; Brücken bauen zu andem Glaubens- und Denkrichtungen; Impulse geben zu ’ friedlicher Zusammenarbeit mit allen andem Gruppen deren Interessen in die gleiche Richtung gehen; informieren über Vorstellungen, Ziele, Plane und Frilchte der Bahá’í - Religion, hier und in der Welt, über andere Religionen und den Wert der Religion schlechthin; Dialog- und Begegnungsmoglichkeiten schaffen. Verantwortlich für die veroffentlichten Artikel zdie Autoren , für die Text- und Artikelauswahl : die Redaktion.

Das Wort an die Leser :

Wir danken unseren Lesem, dass sie den Beitrag zur Völkerverständigung der Bahá’í-Arbeitsgruppe Gedanken für eine bessere Welt - die kostenlose Geschenkaktion-Jahresabonnement auf diese Zeitung - so gut aufgenommen haben. S011ten Sie den Wunsch haben, noch weitere Freunde mit dieser Zeitung bekannt zu machen, so senden Sie uns bitte die Adressen, ihre Freunde bekommen dann die Zeiting kostenlos per Post zugeschickt. Bitte sagen Sie uns auch, wenn Sie diese Zeitung nicht haben möchten. Wir werden in beiden Fallen Ihren Wunsch erfüllen. Wir freuen uns sehr über ihre Zuschriften und danken im voraus.

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