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Die Erde ist ein großes Buch, jeder mit Begriffsvermögen ausgestattete Mensch kann aus ihm entnehmen, was ihn befähigt, auf den rechten Weg und zur „Großen Botschaft” zu gelangen.
(Bahá’u’lláh)
Mensch, Gott, Prophet. (von Lidja Zamenhof)
In dunklen Momenten der Krise, wenn die Menschheit wie eine Herde blinder Schafe in wegeloser Wüste umherirrt, dann erscheinen diejenigen, welche wir als Propheten bezeichnen, sie führen die vom Wege Abgekommenen aus der Stätte des Irrtums heraus. Ein unsichtbarer Nimbus umgibt ihre Häupter, nichthörbare Musik erklingt, nicht wahrnehmbare Düfte steigen aus mystischen Gärten empor. Sie erscheinen in menschlicher Gestalt und sprechen im Namen Gottes, drohen und segnen in Seinem Namen. Was ist ein Prophet? Mensch oder Gott? Ein Tier aus der Gattung „homo sapiens” oder das Ewige Geheimnis, verkörpert in menschlicher Form? Zunächst überlegen wir kurz, was ist ein Mensch und was ist Gott? Irgendwann in der Biologiestunde erfuhren wir, daß der Mensch aus Wasser, Kohle, Kalk usw. besteht. Viele wollen im Menschen nichts weiter sehen als eine mehr oder weniger vollkommen organisierte Masse von Materie, die, wenn ihre Organisation irgendwie verletzt wird, nicht wirklich umkommt, weil die Physik lehrt, daß die Materie nicht untergeht, sondern von der Erde, Gewächsen, Würmern und der Luft aufgesogen wird – untergehen aber würde für immer der bewußte Mensch mit allen seinen Empfindungen und seinem Streben. Klein, sehr klein würde also der Unterschied sein zwischen Mensch und Tier, zwischen Buddha und einem Wurm, der sich seinen Weg unter der Erde bohrt. Nun betrachte ich euch und sehe verschiedene Personen: große und kleine. Kann ich glauben, daß irgendjemand, der sagen wir 50 Kilo wiegt, ausschließlich 35 oder ungefähre Kilogramm Wasser, eine verhältnismässige Menge von Kohle und anderen Elementen ist, daß wir alle Nichts sind als derartige Gebilde? Nein, es besteht etwas außer der Materie, etwas, das uns befähigt, zu fühlen, wünschen, leiden, weiter etwas, das uns von den Tieren unterscheidet, uns Verstand gibt, erlaubt zu denken. „Ich denke also existiere ich”, sagt der Philosoph. Sprach er nur über die physische Existenz der Materie? Es ist also im Menschen außer dem physischen Körper etwas höheres vorhanden, das man nicht mit den Augen und Ohren wahrnehmen kann, das uns trotzdem, wenn wir nur selbst es nicht verhindern, meistert, über alle Stufen des Seins emporhebt und aus uns gewissermaßen eine Brücke bildet zwischen der niederen Welt der Geschöpfe und der höchsten Welt des Schöpfers. Ein Mensch ist das vollkommenste in der Reihe der Geschöpfe. Nicht wegen seiner physischen Eigenschaften, denn eine Eiche lebt länger als er lebt, ein Löwe ist stärker als er, ein Adler sieht besser, ein Pferd läuft schneller, ein Hund hat einen besseren Geruchssinn. Er übertrifft die Reiche der Minerale, Gewächse und Tiere durch etwas, das wir nicht mit mathematischen Formeln noch mit zutreffenden Worten erklären können und das
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wir allgemein mit dem Wort „Geist” bezeichnen. Ein Mensch ist das Höchste, aber nur im Bereich der Schöpfung. Ein Geschöpf ist eine Auswirkung des Schöpfers. Wo eine Wirkung ist, muß eine Ursache sein, wo ein Geschöpf ist, muß ein Schöpfer sein. Und wenn sogar alle logischen Beweise zusammenbrechen sollten, würde noch einer übrig bleiben – vielleicht der stärkste: das Empfinden für Gott, unvergleichlich in seiner Verallgemeinerung, jene unbeirrte, treue Empfindung, welch sogar der Materialismus der letzten Epoche nicht zu entwurzeln vermochte. Wer ist Er und wo ist Er, den wir den Herrn der Welt, die Eine Ursache, das ewige Geheimnis usw. nennen, was ist Seine Natur, was ist Sein Wesen? Werde vor ein Bild von Leonardo da Vinci gestellt und frage es, welches der Autor ist, wo er geboren wurde, woher er kam. Das Bild, selbst wenn es zu sprechen wüßte, würde nicht antworten. Es könnte nur sprechen über das geniale Talent des Künstlers, über die Kraft der Eingebung, über seinen künstlerischen Eifer und Fleiss, aber nichts über seine Person. Es würd nur über die Eigenschaften des Schöpfers sprechen, nichts über ihn selbst, weil ein Geschöpf den Schöpfer nicht versteht, der außerhalb von ihm ist. Nur der Schöpfer hat volles Bewußtsein über sein Geschöpf. Wen wir sogar nichts wüßten über die Persönlichkeit von Leonardo da Vinci, und nur seine Werke kennen würden, genügte das vollauf, um ihn einen Genius zu nennen. Ein Künstler drückt sich durch seine Kunst aus, ein Schöpfer durch Schöpfung. Und wir und die ganze Welt, und das ganze Reich der Schöpfung ist ein Zeugnis für den Schöpfer, der, während Er Allem Existenz gibt, selbst außerhalb und über Allem bleibt. Sein Wesen können wir nicht erkennen, wir können ihn nur durch Seine Schöpfung erkennen. Wenn wir den Grad der Genialität eines Künstlers erkennen wollen, beurteilen wir ihn nach seinem vollkommensten Werk. Nehmen wir also, um den Schöpfer zu erkennen, sein erhabenstes Geschöpf – einen Menschen, und betrachten wir nicht den physischen Teil eines Menschen, weil er in dieser Hinsicht oft von Tieren übertroffen wird, betrachten wir seinen Geist, weil mit Recht Gott diesen Geist nach Seinem Bilde schuf, Sich ähnlich. Jener Geist ist gewissermassen ein Wasser, in dem sich alles wiederspiegelt, was daneben ist. Wenn es ruhig seinen bestimmten Weg fließt, dann wird seine Oberfläche wie ein Spiegel sein, der die Gesichter getreu abbildet, welche sich darüber beugen. Aber wenn starke Winde irdischer Leidenschaften seine Oberfläche wellen und die Wasser wogen, dann werden anstatt dem Spiegelbild auf den unruhigen Wellen irgendwelche, dem Betrachter unähnliche Formen, zerrissen und verzerrt, erscheinen, die sich zusammen mit der Wellenbewegung irgendwo verbergen, verschwinden wollen. Um das klarste Wasser, das vollkommenste Bild zu finden, wenden wir uns dem Propheten zu. Was ist ein Prophet? Ist er nur ein Mensch, nur edler als andere, oder Gott – das Ewige Wesen, welches die Sphäre Seiner Herrlichkeit verließ, sich in menschlicher Form verkörperte? Ein Geschöpft, welches ähnlich uns allen essen, trinken, schlafen muß, welches zusammen mit uns lebt, mit uns leidet, unsere Sprache spricht, dessen Hände sich zu Fäusten ballen beim Anblick des entweihten goldenen Kalbes, oder von Nägeln durchschlagen am Kreuze bluten, dessen Füsse von eisernen Ketten schwellen, ist es ein Geschöpf wie ein Mensch? Aber ein Geschöpf, das eine Schar von Sklaven aus dem Lande der Gefangenschaft herausführt und sie schließlich erhöht über alle damaligen Nationen, ein Zimmermanns Sohn, welcher selbst noch am Kreuz mit dem Tode ringend, verlassen, auf den Ruinen einer alten Zivilisation eine neue errichtet, ein
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ungelehrter Kameltreiber, welcher von allen Seiten von Feinden verfolgt, seine wilden Stammesgenossen unterrichtet und zivilisiert, ein Verbannter aus fürstlicher Familie, der zu lebenslänglicher Gefangenschaft verurteilt, in einem der entsetzlichsten Gefängnisse der Welt nicht gebrochen wird, sondern mit Majestät und Kraft von unvergänglicher Herrschaft die Herrscher der Erde ermahnt und warnt, welcher aus den stärksten, undurchdringlichsten Mauern seine fernsten Anhänger inspiriert und vom Ort der Finsternis Strahlen des Neuen Tages in die Welt sendet – sind solche Geschöpfe nicht mehr noch als Menschen? Im kalten, dunklen Raum kreist unser Planet. Irgendwo, weit entfernt, brennt ein gigantischer Globus, die Sonne. Die Sonne bleibt an ihrem Ort und die Erde verläßt ihren Weg nicht. Keinerlei Kontakt würde zwischen den beiden Himmelskörpern sein und immer würde unsere Erde dunkel und kalt bleiben, wenn ihr die Sonne nicht ihre Strahlen durch den geheimnisvollen Aether, durch Regionen absoluter Kälte senden würde. So vollzieht es sich in der Welt der Natur und so vollzieht es sich in der Welt des Geistes. Die Ewige Quelle des geistigen Lichts ist in für uns unvorstellbaren Sphären und dunkel wäre unsere Welt, wenn nicht goldene Strahlen aus dieser Quelle zu uns kämen, die erwärmen, erleuchten und uns geistiges Leben geben, daß die Sonne dort ist, verstehen wir dann vielleicht darunter, daß der gigantische Himmelskörper seinen Ort verließ und in unser kleines Zimmerchen übersiedelte? Nein, er blieb wo er war, und zu uns kam nur sein Bote – ein Strahl. Aber dieser Strahl überbringt uns das, was an der Sonne am wesentlichsten ist – Licht und Wärme. Ein solcher Sonnenstrahl in der geistigen Welt ist ein Prophet. Ein Prophet ist wie der Mond, der seinen Schein auf die Erde wirft, aber sein Schein ist nicht aus ihm selbst. Er sendet nur das auf die Erde, was er selbst von der Sonne empfangen hat. Ich kann nicht umhin, hier die Wort Christi anzuführen, der, als er über den kommenden Geist der Wahrheit sprach, sagte: „er wird nicht von sich selbst sprechen, sondern was immer er hören wird, das wird er sprechen”. Also ein Prophet ist nicht Gott, weil Gott nicht in einen menschlichen Körper hineingeht, wie die Sonne aus ihrer Höhe nicht in unser Zimmerchen hineingeht. Es ist nur ein Abglanz von jenem gewaltigen, lebenspendenden Gestirn, er ist nur ein Echo, das die Töne der Musik der Ewigkeit zu unseren Ohren trägt. Stelle dich in einen Wald oder Gebirge und schreie „ich”. Die Bäume und Felder werden im Echo wiederholen „ich” und werden deine Stimme dorthin tragen, wohin sie selbst nicht gelangen könnte. Bedeutet das, daß die Bäume und Felsen falsch riefen, daß sie irgendjemandes Wort mißbrauchen? Nein, nach der Wiederholung der Bäume und Steine ist es immer die Stimme des Rufers – nicht sie sprachen, sondern er. Und sooft ein Prophet in seiner Rede „ich” sagt und dies groß geschrieben wird, spricht er nicht in seinem Namen, noch beansprucht er Gott zu sein. Er ist nur ein gehorsames Echo, welches wiederholt, was es gehört hat. Auf solche Weise unterscheiden wir in einem Propheten zwei Elemente: Das menschliche und das Göttliche. Ein Prophet-Mensch wird geboren, leidet und stirbt und Jahrhunderte und Jahrtausende nach ihm kommt ein anderer Prophet-Mensch. Obgleich dieser Andere in einem andern Lande und in einer anderen Zeit erscheint, ist er dennoch nur den Elementen nach neu. Der göttliche Strahl, welcher in der alten Fackel leuchtete bleibt immer derselbe, wenngleich in einer neuen Lampe. Mit einem neuen Mund spricht die alte Stimme, die Ewige Musik spielt ein neues Instrument. Wenn die Stimme,
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die Melodie die gleichen sind, was bedeutet dann die Verschiedenheit des Mundes, der Instrumente? Wenn die Lehre dieselbe ist, was macht es, daß sie ein neuer Lehrer predigt? Aber manche werden den Einwand erheben, daß die Lehren nicht immer die gleichen sind. Wir nehmen als Beispiel eine Schule: In der Vorbereitungsklasse erfährt ein Kind, daß zwei und zwei gleich vier ist. Wird in der folgenden Klasse dieses Wissen geändert? Nein, nur bereichert. Wenn anstatt eines langen Zusammenzählens gleicher Zahlen ein Lehrer die entsprechende Multiplikation verlangt, so ist das kein Wechsel, sondern ein Fortschritt. Wenn ein Lehrer anstatt schwieriger Multiplikation von vielzifferigen Zahlen ein System von Logarithmen darbietet, ist dies etwa gegen die vorher erkannten Regeln? Ebenso bestehen in den wesentlichen Lehren der Propheten keine Gegensätze; eine ist nur die Fortsetzung von früheren, und jeder Prophet ist ein Erzieher, der nach dem Programm des einen Allerhöchsten Lehrmeister unterrichtet. Manchmal können sich die Programme der verschiedenen Schulen etwas voneinander unterscheiden; das Programm kann mehr humanistisch oder mehr real sein, mehr theoretisch oder mehr praktisch, aber alles hängt ab von der Fähigkeit der Zöglinge, von ihren späteren Berufen, von den Bedürfnissen der Gesellschaft in der sie leben, und weise ist der Lehrmeister, der den Lehrplan nicht starr einhält, sondern ihn abwechselnd, je nach Bedürfnis gestaltet. Das Ziel ist immer dasselbe: gebildete Menschen und gute Glieder der Gesellschaft zu erziehen. Es besteht tatsächlich kein Unterschied zwischen den Lehren der verschiedenen Propheten. Sie alle sind Träger von einem Evangelium, Strahlen von einer Sonne, Echo von einer Stimme und singen immer den gleichen Gesang. Das Leitmotiv dieses Gesanges ist Liebe. Als Christus gefragt wurde, welches in der Reihenfolge der Gesetze das wichtigste ist, antwortetet er: „Liebe den Ewigen, deinen Gott mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Liebe und mit deinem ganzen Sinn”. Und er fügte das Zweite hinzu: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst”. Liebe lehrt Buddha und Bahá’u’lláh und stellt sie als Grund und Ziel der Schöpfung dar, wie hier Gott durch seinen Mund spricht: „Verhüllt in Mein nicht vorstellbares Wesen und in urzeitliche Ewigkeit Meines Wesens wusste Ich Meine Liebe zu dir, darum erschuf Ich dich, gestaltete in dir Mein Bild und offenbarte dir Meine Schönheit.” Diese Liebe hat Gegenseitigkeit zur Voraussetzung und Er sagt: „Liebe Mich, damit Ich dich liebe.” Und vollkommen, selbstlos muß diese Liebe sein: „Wenn Ich dich liebe, wende dich weg von dir selbst, und wenn Meine Zufriedenheit dich sucht, kümmere dich nicht um das Eigene, damit du stirbst in Mir und Ich ewig in dir lebe.” Lehrt Christus nicht die gleiche Hingabe, indem Er sagte: „Wer nicht sein Kreuz nimmt und folgt Mir nach, der ist Meiner nicht würdig. Wer sein Leben findet, der wird es verlieren und wer sein Leben verliert wegen Mir, der wird es finden.” Lange schon sind die großen Propheten der Vergangenheit aus unserer materiellen Welt verschwunden. Doch nur die Propheten-Menschen sind es, die verschwunden sind. Himmel und Erde werden vergehen, aber ihre Worte werden nicht vergehen. Der Göttliche Geist, welcher durch aller Mund sprach, starb nicht. Solange wie ein Phönix wird er immer aus der eigenen Asche wiedergeboren. Jetzt an diesem Tage erklang sein Gesang von neuem. Wer Ohren hat zu hören, der höre.
 
XI.45.150