Bahai Studienblätter/Nr 1/Text

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[Seite 1]Studien-Blätter Nr. 1

Bahä i-Lehre und Christentum

Gelegentlich eines Besuches in Paris im Jahre 1913 wurde. ’Abdu/l-Bahä, der langjährige Mittelpunkt der Bahä’i-Bawegung, zu einer Aussprache im theologischen Seminar von Pastor Monnier eingeladen, in der Professoren, Geistliche und Studenten der Theo- logie anwesend waren. Die Aussprache fand am 17. Februar 1913 statt, die Fragen wurden von Pastor Monnier gestellt und «von "Abdu’l-Bahá beantwortet.

Pastor Monnier: Wir schätzen uns glücklich, jemanden unter uns zu haben, der im Auftrage Gottes gekommen (ist und uns eine göttliche Botschaft gebracht hat.

"Abdul-Bahä: Wer mit der Gabe des Gehörs ausgestattet ist, empfängt die Geheimnisse Gottes durch alle Dinge, und alle Kreatur übermittelt ihm die göttliche Botschaft.

Pastor Monnier: Wenn Sie gestatten, möchten wir eine Frage stellen: da wir Studenten der Theologie sind und den Reihen der Geistlichkeit angehören, interessiert es uns, Ihren Glauben über Christus kennenzulernen, wer er war und {was er war.

Abdul-Bahä: Unser Glaube über Christus steht voll zit dem Bericht des Neuen Testaments im Einklang, doch erläutern wir die Frage und sprechen darüber nicht dem Buchstaben nach ‚oder in einer Art, die auf blindem Glauben beruht. So ist z. B. im ‚Evang. Johannes berichtet: „Am Anfang war das Wort, das Wort war bei Gott und das Wort war Gott. Die meisten Christen nehmen diesen Satz buchstäblich, während wir ihm eine logische ‚Erklärung geben, bei der niemand Grund zur Ablehnung zu suchen braucht.

Die Christen haben die Erklärung des „Wortes“ der Dreieinig- keit zugrunde gelegt, aber die Philosophen stellen fest, daß die Dreieinigkeit im Hinblick auf die Einzigkeit Gottes unmöglich sei.

Wir erklären diese Frage wie folgt: Unter dem „Wort“ ver- stehen wir, daß die Schöpfung in ihrer unendlichen Form Buch- staben gleich ist, und auch die einzelnen Glieder der Menschheit sind gleich Buchstaben. Ein einzelner Buchstabe hat keinen Sinn, keine selbständige Bedeutung, aber die Stellung Christi entspricht der Be- deutung "des Wortes. Deshalb sagen wir, daß Christi das „Wort“ — eine vollkommene Bedeutung — ist. Die allumfassende Hingabe Gottes ist in Christus offenbart. Die Wirklichkeit Christi ist der Sammelpunkt aller unabhängigen Vortrefflichkeiten und unendlichen. Bedeutungen.

Diese Lampe z.B. verbreitet Licht, und der Mond erleuchtet die Nacht mit silbernen Lichtstrahlen, aber keines der beiden Lichter ist selbst geschaffen.

Seine Heiligkeit *) Christus ist gleich der Sonne; sein Licht ent- sprang seiner eigenen Wesenheit. Er empfing es nicht von einer anderen Person — daher geben wir ihm den umfassenden Namen das. „Wort“. Damit meinen wir die allumfassende Wirklichkeit und den Stapelplatz der unendlichen göttlichen Eigenschaften. Dieses ‚Wort‘ hat einen bildlichen und keinen zeitlichen Anfang. So’ sagen wir, daß jemand allen voraus sei. Diesen Vorrang erhält er durch seine

  • Fine im Orient gebräuchliche Formel der religiösen Ergebenheit.

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Stellung und Würde im Leben, aber es ist kein zeitlicher Vorrang. In Wirklichkeit hat das „Wort“ weder Anfang noch Ende. Die Buchstaben des „Wortes“ sind jene Eigenschaften, die in Christus erschienen sind und nicht sein irdischer Körper. Diese Merkmale waren aus Gott und wurden gleich den Strahlen der Sonne wider- gespiegelt in einem reinen Spiegel. Die Strahlen, das Licht und die Wärme der Sonne sind die Eigenschaften, die sich im Spiegel offen- baren. Augenscheinlich sind diese Eigenschaften immer in Gott ge- wesen und auch in diesem Zeitpunkt in ihm, sie sind unzertrennlich in ihm, weil die Gottheit kein teilbarer Gegenstand ist. Die Teilbar- keit ist das Zeichen der Unvollkommenheit und Gott ist die einzige Vollkommenheit.

Es ist klar, daß die Eigenschaften der Gottheit gleichbedeutend und gleichbestehend mit dem Wesen sind. Auf dieser Stufe ist un- bedingte Einheit. Dies ist kurz die Erklärung der Stellung Christi.

Pastor Monnier: Welche Aehnlichkeit ist zwischen der Sache Christi und derjenigen Bahä’u’llah’s, oder in welcher Beziehung stehen sie zueinander? -

Abdul-Bahä: Die Grundlage der Religion Gottes ist eine. Dieselbe Grundlage, die von Christus gelegt und später vergessen worden ist, hat Seine Heiligkeit Bahä’u lläh erneuert. Jede göttliche Offenbarung besteht aus zwei Teilen: Der erste Teil ist wesentlich und betrifft die dwige Welt. Er ist die Erklärung des Sinnes und der Wirklichkeit. Er ist der Ausdruck der Liebe Gottes, des göttlichen Wissens. Er ist eins in allen Religionen, unveränderlich und unab- änderlich. Der zweite Teil ist nicht ewig, er dient dem praktischen Leben, Handel und Geschäften und ist veränderlich gemäß der Ent- wicklung des Menschen und den Erfordernissen der ‚Zeit eines jeden Propheten. Diese Gesetze sind die Widerspiegelung des göttlichen Gesetzes auf dieser Ebene und versinnbildlichen ein Mittel, die menschlichen Gedanken der Gerechtigkeit zuzuwenden. Die weltlichen Gesetze wandeln sich mit der Erweiterung, des menschlichen Gesichts- kreises, bis sie das Weltall umschließen.

Während der Tage Seiner Heiligkeit Moses z. B. waren die Grund- lagen und der Ursprung der Religion Gottes die Moral, und sie ist durch die Verordnung Christi nicht abgeändert worden, ‘aber gewisse Unterschiede ge durch den Wandel des zweiten Teils der Religion hineingekommen. Während des mosaischen Zeitalters wurde jeman- dem, der einen kleinen Diebstahl begangen hatte, zur Strafe die Hand abgeschlagen. Das war das Gesetz „Auge um Auge und Zahn um Zahn“. Es war dem Geist des Zeitalters gemäß, aber da dieses Ge- setz der Zeit Christi nicht mehr dienlich war, so wurde es abge- schafft. Gleicherweise wurde die Ehescheidung so allgemein, daß - keine festen Ehegesetze mehr übrigblieben. Deshalb hat Seine Heilig- keit Christus die Ehescheidung verboten.

Gemäß den Erfordernissen der Zeit offenbarte Seine Heiligkeit Moses zehn Gesetze, die Hauptstrafen vorsahen. Es war in jener Zeit unmöglich, die bürgerliche Gesellschaft ohne diese strengen Maß- regeln zu beschützen, zu bewahren und zu sichern, denn die Kinder Israels lebten in der Wüste Tah, in der es keine Gerichte noch Ge- fängnisse gab. Aber dieses Buch der Rechtleitung ‚war zur Zeit Christi nicht mehr erforderlich. Die Geschichte des zweiten Teiles der Reli- gion ist unwesentlich, weil er sich nur auf die Gebräuche dieses [Seite 3]3

Lebens bezieht; aber die Grundlage der Religion Gottes ist eine, und Seine Heiligkeit Bahä’u’lläh hat diese Grundlage erneuert.

Die Sache Christi war völlig geistig. Er änderte lediglich den Sabbath, gewisse Führungsgesetze und das Gesetz der Eheschei- dung ab.

Alle Vorschriften Christi handeln von dez Erkenntnis Gottes, der Einheit der Menschheit der Welt und den 'sittlichen Beziehungen der Herzen untereinander und der geistigen Empfänglichkeit. Seine Hei- ligkeit Bahä’u’lläh schuf die barmherzigen Gefühle in der vollkom- mensten Form und legte sie in die Herzen der Menschen. ‚Dies ist jm Einklang mit der Lehre Christi, weil es die Wahrheit list und die Wahrheit sich nicht ändert. Kann man sagen, daß die göttliche Ein- heit oder die Erkenntnis Gottes, die Einheit der Menschheit, allge- meines Recht, die Solidarität der menschlichen Rassen teilbar sind — sind sie je Gegenstand der Umwandlung?

Nein, ich erkläre bei Gott, sie sind unveränderlich, denn sie sind die Wahrheit.

Pastor Monnier: Worin besteht die Beziehung Christi und Bahä’u’lläh’s zu Gott?

’Abdu’l-Bahá: Seine Heiligkeit Christus sprach: ‚Der Vater ist in mir.“ Dies müssen wir durch logische und wissenschaftliche Beweise verstehen. Denn wenn die religiösen Grundsätze nicht mit Wissenschaft und Vernunft übereinstimmen, so können sie nicht die Herzen mit Zuversicht und Gewißheit begeistern.

Es wird erzählt, daß Johann Chrisostomus einst am Meeresstrand entlang ‘wandelnd über die Frage der Dreieinigkeit nachdachte und sie mit seiner begrenzten Vernunft in Einklang 'zu bringen versuchte. Seine Aufmerksamkeit wurde auf einen Knaben gelenkt, der am Ufer saß und Wasser in einer Tasse hatte. Er näherte sich ihm tınd sprach- „Mein Kind, was 'machst du da?‘ „Ich versuche, das Meer in die Tasse zu bringen“, war die Antwort. „Wie töricht bist du‘, sprach Jo- hannes, „zu versuchen, was unmöglich ist.“ Das Kind erwiderte: „Deine Arbeit ist törichter als die meine, denn du mühst dich, dem menschlichen Verstand mit Gewalt den Begriff der Dreieinigkeit bei- zubringen.“

Laßt uns frei von vergangenen Ueberlieferungen die Wahrheit dieser Sache erforschen. Was ist der Sinn von Vater und Sohn?

Diese Vater- und Sohnschaft sind allegorisch und sinnbildlich. Die messianische Wirklichkeit ist gleich einem Spiegel, in dem sich die göttliche Sonne widergespiegelt hat. Wenn dieser Spiegel sagen würde, „das Licht ist in mir“, so wäre der ‚Ausdruck berechtigt. Deshalb konnte Jesus mit Recht sagen: „Der Vater ist in mır.“

Die Sonne am Himmel und die Sonne im Spiegel sind eins, nicht wahr? Und doch sehen wir augenscheinlich zwei Sonnen.

Die Juden erwarteten das Kommen des Messias, wehklagten Tag und Nacht und sprachen: „O Gott, sende zu uns unsern Befreier!“ Aber da sie auf dem Dogmenweg und nicht in der Wirklichkeit wandelten, so widersprachen sie dem Messias, als er erschien. Hätten sie die Wirklichkeit erforscht, so hätten sie ihn nicht gekreuzigt, son- dern ihn sofort anerkannt.

Pastor Monnier: Ist die Vereinheitlichung der Religionen möglich’? Wenn ja, wann, wie und durch welchen Kanal wird sie erfolgen? [Seite 4]wi

'Abdu’-Bahä: Wenn die religiösen Frömmler ihre Dogmen und Gebräuche ablegen werden, wird die Vereinheitlichung der Reli- gion am Horizont erscheinen und die Wahrheit der heiligen Bücher entschleiert werden. In diesen Tagen herrschen Aberglaube ‘und Miß- verständnisse. Werden sie beseitigt sein, so wird die Sonne der Ein- heit herabscheinen.

Als ich in San Francisco war, wurde ich eingeladen, in einer jüdı- schen Synagoge zu sprechen. Ich sagte: „Seit etwa zweitausend : Jah- ren haben zwischen euch und den Christen dunkler Aberglaube und Mißverständnisse geherrscht, die die Augen verblendet haben. Ihr glaubt, daß Seine Heiligkeit Christus der Feind Moses, der Zer- störer des Pentateuch, der Beseitiger der Verordnungen, der Bibel gewesen sci. Beachtet aufmerksam, daß Christus in einer Zeit er- schienen ist, in der nach euren eigenen Geschichtsschreibern die Ge- setze der Thora vergessen und die Grundlagen der Religion und des Glaubens erschüttert waren. Nebukadnezar war gekommen und hatte die ganze Bibel verbrannt und viele Juden in Gefangenschaft ge- trieben. Alexander der Große war als zweiter gekommen, und Titus, der römische General, hatte das Land zum drittenmal zerstört, die Juden erschlagen, ihr Eigentum geraubt und die Kinder gefangen- genommen.

In solcher Stunde und unter so traurigen Zuständen erschien Seine Heiligkeit Christus und sprach: „Die Thora ist das göttliche Buch, Moses ist der Mann Gottes, :Aron, ‘Salomon, Jesaija, Zacharias und alle die israelitischen Propheten gelten und sind wahr. Ueber alle Gegenden verbreitete er das Alte Testament, das bis dahin in fünfzehnhundert Jahren nicht aus Palästina herausgekommen war. Wäre es nicht durch Christus geschehen, der Name Moses und sein Buch wäre nicht nach Amerika gekommen; vor fünfzehnhundert Jahren war die Thora nur einmal übersetzt. Es war Christi bestäti- gende Billigung, die dazu führte, daß sie in 600 Sprachen übersetzt wurde. Nun seid gerecht, war Christus der Freund oder Feind Moses?

Ihr sagt, er hat die Thora abgeschafft, aber ich sage, er "hat die Thora erweitert, die zehn Gebote und alle die Fragen, die Bezug haben auf seine sittliche Welt. Er änderte nur das Folgende: die Strafe für einen kleinen Diebstahl sollte nicht im Abhauen (der Hand des Verbrechers bestehen, wenn eine Person eine andere blendet, sollte sie nicht wieder geblendet werden, oder wenn jemand einem andern den Zahn ausbricht, so sollte ihm nicht gleichfalls ein Zahn ausgebrochen werden. Ist es recht, heutigen Tages die veralteten Gesetze Auge um Auge, Zahn um Zahn beizubehalten? Christus änderte jenen Teil der Mosaischen Religion, der nicht mehr dem Geist seiner Zeit entsprach. Er hat nicht die Absicht gehabt, die Thora aufzulösen.

Ist es etwa nicht wahr, daß die Christen an Moses als 'Propheten Gottes und an alle israelitischen Lehrer als die Boten Gottes und der Bibel als das Buch Gottes glauben? Hat dieser ihr Glaube ihre Religion verletzt? Wenn ihr im Ilerzen sagt, daß Christus das Wort Gottes ist, so werden all diese Verschiedenheiten schwinden. Die Ver- folgungen der letzten zweitausend Jahre sind auf Grund der Tat- sache erfolgt, daß ihr nicht gewillt gewesen seid, die wenigen Worte zu verkünden. Ich hoffe, daß es für euch erwiesen ist, daß Moses keinen besseren Freund hatte als Seine Heiligkeit Christus.

Zu beziehen durch Fortseßung folgt.

Verlag des Deutschen Bahä’il’-Bundes, Stuttgart, Alexanderstr. 3. �